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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Zerrissene Existenz Julius Bahnsen und der Pessimismus Autor: Rolf Cantzen Regie: Tobias Krebs Redakt...
Author: Inken Bayer
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Zerrissene Existenz Julius Bahnsen und der Pessimismus

Autor: Rolf Cantzen Regie: Tobias Krebs Redaktion: Ralf Kölbel Sendung: Freitag, 30. November 2012, 8.30 Uhr, SWR2

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

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Musik: Tom Waits: Shore Leave Zitator 1 – Julius Bahnsen: Hier sind alle geladen, die angeekelt von der Fortschrittsfabel einen starken Magen mitbringen für unverblümte Trostlosigkeiten, denn da tritt ja der Pessimismus am echtesten hervor, wo er sich gibt als das radikal Anti-Illusionäre. O-Ton – Winfried Müller-Seyfahrt: Je höher das Glücksversprechen, je höher die Opfer. Das kann man mit Bahnsen nicht machen. Mit Bahnsen kann man kein Glücksversprechen machen und den Menschen aufzwingen. Das geht nicht. Erzählerin: Die Rede ist vom pessimistischen Philosophen Julius Bahnsen. Er lebte zwischen 1830 und 1881 und räumte gründlich auf mit dem Glauben an den Fortschritt, dem Glauben an die Vernunft, an Gott und den Sinn des Lebens. Der Herausgeber seiner Werke Winfried Müller-Seyfarth ist der Auffassung, dass sich auf der Basis seines radikalen Pessimismus heute sehr gut leben lässt. O-Ton – Winfried Müller-Seyfahrt: Die größten Pessimisten sind wahrscheinlich die zufriedensten und ausgeglichensten Menschen, weil sie nicht einer Chimäre, einer irrealen Hoffnung ausgeliefert waren, sondern sie haben sich über ihre Erkenntnis mit der Realität arrangiert. Musik: Tom Waits: Shore Leave Ansage: Zerrissene Existenz. Julius Bahnsen und der Pessimismus. Eine Sendung von Rolf Cantzen. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Am 10. März 1847 war, als ich sinnend in meinem kleinen düsteren Stübchen neben dem Ofen saß, der nihilistische Kerngedanke all meiner späteren Anschauungen in plötzlicher Intuition mir vors Bewusstsein getreten. Erzählerin: ... schreibt Bahnsen rückblickend auf ein Denkerlebnis, das er als 17-Jähriger hatte. Dieser Kerngedanke lautet: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Der Mensch ist nur ein selbstbewusstes Nichts. O-Ton – Winfried Müller-Seyfahrt: ... und kam dann zu der Erkenntnis, die er dann immer wieder ausformuliert und immer wieder bestätigt bekam, dass der ewige Widerspruch, dieses Ewige nicht zu Ende kommende sich nicht Auflösende, sich nicht Erlösende das Grundwesen allen Seienden ist, das heißt der lebenden als auch der toten Materie. Musik: 2

Tom Waits: 16 Shells From A Thirty-ought-Six Erzählerin: Das Leben von Julius Friedrich August Bahnsen – so sein vollständiger Name – verlief unspektakulär. Einige Stichworte: Zitator 2: Geboren 1830 in Tondern, damals Schleswig Holstein, heute Dänemark. Sei Vater war, wie später auch der Sohn, Pädagoge. Seine Mutter starb früh. Musik: Tom Waits: Underground Zitator 1 – Julius Bahnsen: Mir ist die Kindheit ihr Paradies schuldig geblieben! Erzählerin: ... klagt er in autobiografischen Aufzeichnungen. Später spricht er von seinem "verdammten Pech". Zitator 2: 1848: Studium der Philosophie und Philologie in Kiel. 1849/50: Soldat im Schleswig-Holsteinischen Krieg. Erzählerin: Bahnsen kämpfte für die weitgehende Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins von Dänemark. Die Schleswig-Holsteiner unterlagen. Wieder "verdammtes Pech". Musik: Tom Waits: Underground Zitator 1 – Julius Bahnsen: Dass wir als Besiegte abzogen und später als Entwaffnete dem Heimatboden den Rücken zu kehren hatten, musste jedem als irreparables Missgeschick schwer auf dem Herzen liegenbleiben. Erzählerin: Schleswig Holstein wurde nun von Dänemark kontrolliert. Erst nach den sogenannten deutschen Einigungskriegen fiel Schleswig-Holstein an Preußen. Zitator 2: 1851: Studium in Tübingen. Erzählerin: Er studiert die Philosophie Kants und vor allem Hegels. Er macht sich mit der Religionskritik seiner Zeit vertraut, mit dem Materialismus. Abschluss mit Promotion beim damals sehr bekannten Friedrich Vischer. Bahnsen äußert sich begeistert über seinen Lehrer: Musik: Tom Waits: Underground 3

Zitator 1 – Julius Bahnsen: Schönste Jugendideale sah ich verleiblicht vor mir stehen. Die Gestalt gab mir die Bürgschaft, dass ich mir nichts Schöneres hatte denken können als solche akademische Wirksamkeit. Erzählerin: Doch dem von Bahnsen so verehrten Vischer gefällt dessen Doktorarbeit nicht: Zitator 2: Die Polemik wird in einem Tone geführt, der mit Äußerungen von Gemüt und Pietät in tiefem Widerspruch steht. Erzählerin: "Verdammtes Pech". Sein Doktorvater ist irritiert und fördert ihn nicht weiter. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Er war ein sehr radikaler und angriffslustiger Denker und hat sehr wenig Rücksicht genommen auf seine eigene mögliche Universitätskarriere, gleichwohl er ja promoviert war und es versuchte. Erzählerin: Bahnsen fristet zunächst als Hauslehrer sein Dasein. Nach einer Ausbildung zum Lehrer findet er dann vorübergehend eine Anstellung an einer Schule in Anklam in Vorpommern. Gleichzeitig studiert Bahnsen die Philosophie Schopenhauers und besucht den bekannt werdenden Philosophen in Frankfurt. Musik: Tom Waits: Underground Zitator 1 – Julius Bahnsen: Es war die rechte Herzenserquickung, welche ich aus Schopenhauers unerschrockener Polemik gegen allen Spuk mit dem "Absoluten" schöpfte. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Schopenhauer war für ihn selbstverständlich eine Vaterfigur, ein großer geistiger Held, der sich gegen alle vorherrschenden Meinungen und Theorien gewandt hat, der Jahrzehnte sein eigenes Konzept verfolgte. Erzählerin: Ein pessimistisches Konzept. Auch andere Philosophen brachen mit dem optimistischen Zeitgeist: Philipp Mainländer, Eduard von Hartmann und eben – Julius Bahnsen. O-Ton – Michael Pauen: Wenn man sich das ein bisschen genauer anschaut, sieht man einerseits, dass die optimistischen Theorien einfach unter dem Eindruck bestimmter theologischer oder metaphysischer Vorannahmen stehen, also vor allem unter der Annahme, dass diese Welt von einem guten, verständigen, wohlmeinenden und allmächtigen Gott geschaffen worden ist. Das heißt, ein solcher ein Gott kann keine andere als eine 4

gute Welt schaffen und wer das bestreitet, der vergeht sich an fundamentalen religiösen und theologischen Annahmen. Erzählerin: Michael Pauen – er ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin – vertritt in seinem Buch "Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne" die These, dass dieser Pessimismus nicht auf sozio-ökonomische Krisenerscheinungen reagiert, sondern auf den rapiden Machtverlust alter, vor allem christlicher Glaubenswahrheiten. O-Ton – Michael Pauen: In dem Moment, wo diese theologischen Grundannahmen mehr und mehr in Zweifel gezogen werden, kann man sich dann fragen, ist diese Welt wirklich so gut. Und genau diese Frage stellen nun die pessimistischen Theorien – nicht weil die Welt schlechter wird, sondern erst einmal überhaupt Rahmenbedingungen vorfinden, in denen man die negativen Erfahrungen artikulieren kann. Erzählerin: Die christliche Heilsgeschichte setzt sich fort in den optimistischen Geschichtsphilosophien. Philosophen wie Kant, Comte, Condorcet und vor allem Hegel und später Marx und Engels spekulieren, dass es stetig voran gehe mit der Menschheit bis hin zu einem glücklichen Endzustand: Das Leben werde vernünftiger, angenehmer, friedlicher, alles werde besser und schöner. Auch hier werden negative Erfahrungen der Einzelnen und das Leiden in der Welt ausgeblendet oder als hinnehmbarer Übergang auf dem Weg zu einer besseren Welt verharmlost. O-Ton – Michael Pauen: Ich glaube, Hegel ist da das beste Beispiel. Letztlich Hegels Vorstellung, dass Geschichtsphilosophie eine Art von Theodizee sei, Rechtfertigung Gottes, und damit letztlich ein Nachweis, dass diese Welt gut ist, das ist für Hegel noch unbestritten. Und jemand der die Geschichte als Negativ begreift oder die Welt als negativ begreift, der hat einfach nicht verstanden, welchen Sinn das Ganze hat. Erzählerin: Bahnsen bestreitet den Fortschritt hin zum Glück der Menschheit: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Die Geschichte ist das Werden des Nichts aus dem Nichts zum Nichts. Erzählerin: Er und die anderen Pessimisten nehmen das Leiden der Menschen ernst. Sie waren überzeugte Atheisten und glaubten weder an ein jenseitiges noch an ein diesseitiges Paradies. O-Ton – Michael Pauen: Die pessimistischen Theorien geben eben diese Annahme auf, dass alles gut ist, dann besteht die Möglichkeit, eben auf dieses individuelle Leid zu schauen und diesem individuellen Leid Bedeutung beizumessen. Erzählerin: 5

Pessimisten wie Bahnsen bewirkten in der Philosophie so etwas wie einen "Individualisierungs- und Selbstbehauptungsschub". Das einzelne "Ich" rückt in den Mittelpunkt der Philosophie: Zitator 1 – Julius Bahnsen: (Das Ich) ist ein Meer von Widersprüchen und damit zugleich ein unausschöpflicher Abgrund von Schmerzen … Erzählerin: ... und diese Schmerzen muss das befreite Ich gleichsam heldenhaft aushalten. Zitator 1 – Julius Bahnsen: (Es sind) Heldengeister, die sich getrauten, dem Vernichtungsgedanken ins Angesicht zu schauen und es gelernt hatten, einen Gott zu entbehren als Garanten ihrer Hoffnungen wie als Lenker ihres Wollens. Erzählerin: Und Bahnsen kultiviert diese heldenhafte Selbstbehauptung: Zitator 1 – Julius Bahnsen: (Der wahre Held muss) das vergangene Leid überstanden haben – das gegenwärtige aushalten – das zukünftige nicht scheuen. Erzählerin: Optimismus in jeder Form verwirft Bahnsen als erbärmliche Haltung und pflegt so das Pathos des einsamen Helden. Bekannt wurde dieses Pathos durch die Philosophie Arthur Schopenhauers und vor allem Friedrich Nietzsches und ihrer Anhänger. O-Ton – Michael Pauen: Man muss sich natürlich fragen, aus welchen Gründen werden diese Theorien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so populär? Eine der Erklärungen wäre, dass diese Theorien eine Art der Selbststilisierung erlauben. Selbststilisierung desjenigen, der es wagt, diesem Leid in die Augen zu schauen, während alle anderen Feiglinge sich zurechtlügen, dass diese Welt offensichtlich gut sei. Selbststilisierung – nur der Einzige, der hält das eben aus und die anderen sind eben zu feige, diese Selbststilisierung spielt also eine Rolle und auch eine gewisse Faszination des Schrecklichen und diese Faszination des Grauens findet sich dann eben in dem Sich-Ausmalen des Schlechten dieser Welt. Erzählerin: ... so der Philosoph Michael Pauen. Musik: Tom Waits: 16 Shells From A Thirty-ought-Six Erzählerin: Weitere Stichworte zur Biografie von Julius Bahnsen: Zitator 2: 6

1862: Bahnsen wird Lehrer in Lauenburg/Hinterpommern, heute Lebrok in Polen, etwa 50 Kilometer westlich von Danzig. Erzählerin: Weit entfernt vom intellektuellen Leben. Bahnsen unterrichtet in einem Progymnasium Deutsch, Latein, Geschichte und Geografie. Nach dem Wenigen, was man weiß, scheint er ein fürsorglicher Lehrer gewesen zu sein. Er engagierte sich in der Lokalpolitik und führte ein weitgehend angepasstes Leben. 1862 heiratet Bahnsen. Er erlebt diese Ehe als eine Phase des Glücks. Musik: Tom Waits: Underground Zitator 1 – Julius Bahnsen: (Befriedigung findet) das Sehnen nach jenen Gemütsbefriedigungen, wie sie nur eine friedliche Häuslichkeit zu gewähren vermag. Dass mir dies nur ein einziges Mal gestillt werden sollte. Zitator 2: 1863: Bahnsens Frau stirbt im Kindbett. Musik: Tom Waits: Underground Zitator 1 – Julius Bahnsen: Meines Lebens Ziele sanken mir alle schnöde hinab. Erzählerin: Wieder dieses "verdammte Pech", von dem Bahnsen spricht. Zitator 2: 1867: Sein erstes größeres Werk erscheint: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen. Erzählerin: Nur mit Mühe findet er einen Verleger für das sperrige zweibändige Werk, das gleich zu Anfang der mehr als 800 Seiten darauf verweist, dass es alles andere ist als eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit Menschen. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Die "Charakterologie" kann es nicht übernehmen, in dem Sinne zu einem "Bestimmen" jeder beliebigen Individualität anzuleiten, wie etwa eine systematische Botanik oder Zoologie. Erzählerin: In seiner Charakterologie betont Bahnsen vorab: Zitator 1 – Julius Bahnsen: (Es) lässt sich sagen, dass unter allen Menschen, die je gelebt haben, die jetzt leben oder einst leben werden, nicht zwei einander schlechthin gleich sind. 7

Erzählerin: Diese Betonung der Individualität und der Verzicht auf vorschnelle Bewertungen durchzieht das ganze Werk Julius Bahnsens, auch die Charakterologie. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Ich habe mich nie versucht gefühlt, Charaktere zu zerstückeln oder analytisch zu zerpflücken, sondern mich nur bemüht, sie zu verstehen – freilich aus dem heraus, was anderen gerade das absolut Unverständliche davon schien: der innerste Widerspruch ihres eigenen Wesens, als welchem es, näher besehen, bei keinem wahren Charakter fehlen wird. Erzählerin: In späteren Schriften unterscheidet er verschiedene Typen: Etwa den Ritterlichen, den Helden oder – die Biedermänner: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Ihrer Gesinnung haftet viel zu viel Schwerfälligkeit an, als dass sie in irgendetwas sich zu raschen Wechsel entschließen könnten, und noch viel weniger möchte sich die unverbrüchliche Ehrlichkeit in Versuchung führen lassen, vom Pfade der Redlichkeit auch nur eines Haares Breite abzuweichen. Erzählerin: Der Biedermann ist ehrlich, aber nicht besonders scharfsinnig: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Eben darum, weil er vom Anderen nichts begehrt als diese nämliche Simplizität des Denkens, Wollens und Handelns, mag er sich gar nicht recht vorstellen, dass es auch versteckte Heimtücker in der Welt gibt. Erzählerin: Dem ehrlich-schlichten Biedermann scheint Bahnsen den "Selbstquäler" entgegen zu stellen. Hier werden ebenso autobiografische Bezüge erkennbar wie der zerrissene Zustand des intellektuellen und sensiblen Menschen überhaupt: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Nicht minder aber ist (die Selbstquälerei) bedingt durch eine gewisse exakte Schärfe intellektueller Abwägung und ausgebildete Übung selbstobjektivierender Abstraktionsfähigkeit: es wird in ihr das Bewusstsein von der nämlichen Doppelheit durchsetzt, welches auch den Willen zerspaltet: nur weil das identische Ich sich in Akteur und Zuschauer zerlegt, kann die eine Seite des ideellen Sensoriums der anderen deren Hoch- und Wonnegefühl beneiden, bekritteln oder gar zerstören. Erzählerin: Doch auch der Biedermann leidet wie der "Selbstquäler" unter seiner eigenen Widersprüchlichkeit, unter dem Kampf verschiedener Charakterteile in sich selbst. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Der Charakter besteht aus den unterschiedlichsten Bestandteilen. Die Bestandteile sind alle gleich, doch diese Individualität ist so besetzt von diesen partikularen Charaktermöglichkeiten, dass immer wieder eigenständige Persönlichkeiten, einen Charakter mit den unterschiedlichsten Ausformungen entstehen. 8

Erzählerin: Bewusstes und Unbewusstes arbeiten gegeneinander, das Ideal und das individuelle Vermögen, der eigene Wille ist vielfach gespalten. Trotzdem gibt es so etwas wie eine Konstanz in der Widersprüchlichkeit, eine in sich heterogene Basis einer Persönlichkeit. Als Pädagoge empfiehlt Bahnsen – gegen den damaligen Zeitgeist –, dieses Individuelle zu berücksichtigen und zu fördern: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Die Kräftigung des Selbstvertrauens sind die Zauberstäbe, an denen selbst ein in tiefes sittliches Elend Versunkener sich emporranken kann: Wer das verlorene Selbstvertrauen wiederfindet, kann sich selber retten. Das Selbstvertrauen erstarkt nur in der sittlichen Tat und Wirksamkeit selber – niemals im Angesichte der strengen Miene des unerbittlichen Gesetzes. Erzählerin: Auf die Pädagogik bezogen bedeutet dies, wie der Herausgeber seiner Werke Winfried Müller-Seyfarth betont, dass Bahnsen als ... O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: ... ein Stammvater der heutigen Reformpädagogik gilt. Erzählerin: Bahnsens Kritik am philosophischen und theologischen Heilsversprechen und am Optimismus ebnet seinem Denken den Weg dazu, das leidende Individuum und dessen Selbstbehauptung ernst nehmen zu können. Dieser Individualismus bildet die Grundlage seiner Charakterologie und seiner modern anmutenden Auffassung von Pädagogik. Musik: Tom Waits: 16 Shells From A Thirty-ought-Six Erzählerin: Weitere biografische Stichworte seines ereignisarmen Lebens: Zitator 2: 1868: Erneute Eheschließung. Erzählerin: Ein Biograf spricht von einem Martyrium. Scheidung ist im Preußen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein aufwendiger Prozess. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Seine fehlende Anerkennung, sein privates Pech. Er war einmal glücklich verheiratet, seine Frau ist im Kindbett gestorben. Die zweite Frau, wo auch Nachkommen kamen, aber er hat eine ganz unglückliche Ehe geführt. Erzählerin: Bahnsen führt einen langwierigen drei Instanzen durchlaufenden Scheidungsprozess. Er wird schuldig geschieden. 9

Zitator 1 – Julius Bahnsen: Seitdem gab es für mich nichts mehr, was mich irremachen könnte an mir selber, weil ich die schwerste aller denkbaren Proben überstanden hatte. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Er hat die ganzen Dinge, die er als Weltsicht formulierte, durchaus auch auf sich bezogen und hat von seinem Spezialpech gesprochen. Zitator 2: 1876: Die Schrift "Mosaiken und Silouetten" erscheint. 1877: Erscheinen von "Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen". 1880/82: Sein Hauptwerk "Die Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt“ erscheint in zwei Bänden. Erzählerin: Dieses Werk nennen Bahnsen und die Rezipienten seiner Philosophie kurz "Realdialektik". Die Bezeichnung erklärt sich in Abgrenzung von der Philosophie Hegels. Hegels Dialektik ist eine des Geistes und der Begriffe. Bahnsen geht davon aus, dass die Wirklichkeit selbst "dialektisch", das heißt von Widersprüchen und unversöhnlichen Gegensätzen geprägt ist. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Wie der Friede nur wirklich ist als Gegensatz zum Kampf, wie Glück ohne die Möglichkeit des Unglücks kein Glück, und Liebe ohne die Möglichkeit des Hasses keine Liebe ist. Weil also solche Gegensätze nebeneinander existieren, so ist das Eine so mächtig, so absolut, so berechtigt wie das Andere. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Das System, was herrscht, gebiert sich selbst und gleicht sich auch selbst immer wieder aus. Wenn etwas verstärkt wird, gibt es gleich wieder die Gegenkraft, die Gegenbewegung. In den ganz kleinen Teilen wie in den ganz großen Teilen ist das zu sehen. Erzählerin: Im Unterschied etwa zum Dialektikverständnis Hegels gibt es in Bahnsens "Realdialektik" keine Aufhebung des Widerspruchs, keine Entwicklung, schon gar keine zum Besseren, keinen geschichtlichen Fortschritt, kein Paradies, kein Ziel, kein Ende, auch keine Auflösung im Nichts. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Es geht einfach ewig so weiter. Leben ist alles, was sich dem Tod entgegen stellt oder was sich dem Leben entgegen stellt, was wir als Tod, als Sterben bezeichnen inhäriert das Neue, das Gebärende, es gibt kein Auflösen, es gibt keine Ruhe, es gibt keine Harmonie, wo sich die Gegenkräfte nivellieren. Erzählerin: Und dieses ewige weiter so wird als ewiges Leiden verstanden, ähnlich und doch anders als in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Schopenhauer geht davon aus, dass alle Geschehnisse der Welt bestimmt sind durch das, was er "Wille zum Leben" nennt. 10

Zitator 2: Der Wille zum Leben zehrt durchgängig an sich selber und ist in den verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung bis zuletzt das Menschengeschlecht in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart und der Mensch dem Menschen ein Wolf wird. Erzählerin: "Wille" bezeichnet in Schopenhauers Philosophie also nicht das, was alltagssprachlich damit gemeint ist. "Wille" oder – in der vollständigen Formulierung – der "Wille zum Leben" ist ein blinder Drang, der als einheitliche Urkraft dem ganzen Universum zugrunde liegt. Die Hoffnung auf einen Gott oder ein glückliches Dasein in der Zukunft der Menschheit sind bereits bei Schopenhauer aufgegeben. Doch es gibt gleichsam Versöhnungen mit dem leidensbringenden Willen. Sie besteht darin, dass der Mensch nach seinem Tod in ein Nirwana eingeht, dass Schopenhauer als angenehmen Zustand versteht, so der Pessimismus-Experte Michael Pauen. O-Ton – Michael Pauen: Bei Schopenhauer haben Sie noch immer die Vorstellung, dass es einmal innerhalb dieses Weltprozesses immer noch solche Inseln der Seligen gibt, Inseln des selig seins. Das ist die ästhetische Erfahrung. Da wird also dieser Zwang oder die Diktatur des Willens, dieses weltliche Getriebe wird dann erst einmal aufgehoben und man erlebt so eine Art Vorgriff auf die endliche Erlösung, nur eben um den Preis der Vernichtung der Welt, aber immerhin, es gibt die Vorstellung einer Erlösung. Erzählerin: Bei Bahnsen gibt es das alles nicht mehr: Keine Hoffnung auf eine dauerhafte Versöhnung, keine Hoffnung auf ein Ende der Welt. Bahnsens "Wille" ist nichts als der ständige Widerspruch, der nie endende Gegensatz, die ewige Unruhe. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Der Schlingwürgbaum, der zuletzt seine eigenen Stützen mit seinen Einschnürungen erstickt, ist die wahrhaftige Versichtbarung des Willenwesens, das ewig Selbstzerstörung betreibt, ohne je Selbstvernichtung zu erreichen. Erzählerin: Die in sich zersplitterten "Willen" arbeiten gegeneinander, stellen sich in Frage, kritisieren sich, bekämpfen sich. Was bleibt, ist Schmerz und das Gefühl sich nie dauerhaft zuhause fühlen zu können, nicht einmal in der ästhetischen Erfahrung. Im Genuss des Schönen, bei der Betrachtung eines Gemäldes, beim Hören von Musik, beim Lesen guter Literatur belügt sich der Wille selbst: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Aus ein paar Wonneaugenblicken, ungestört von dem die Realität seines ganzen Seins und Werdens durchziehenden Zwiespalt, träumt er sich im idealen Besitz seines seligen Genügens zurück. Erzählerin: Es gibt also in der Kunst keine dauerhafte Suspendierung des Zerrissenheitsgefühls. Doch eine andere Haltung, wie sie Bahnsen versteht, ist frei von Selbstbetrug: der Humor: 11

Zitator 1 – Julius Bahnsen: Denn freilich: Götterrespekt kennt der Humor so wenig, dass er nicht einmal seine eigene Souveränität respektiert, sondern über sich selbst hinausweist in Höhen, wo auch sein freies Spiel dem allgemeinen Verachtungsdekret unterliegt. Denn es sind gar wohl humoristische Selbstpotenzierungen des Humors denkbar, in denen dieser sich selbst persifliert dadurch, dass er das Wesen des Humoristischen selber zum Gegenstand humoristischer Ironie macht. Erzählerin: Auch im Humor gibt es kein Ausruhen, keine Sicherheit, nicht einmal im logischen Denken, in der Rationalität. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Sobald ich versuche, Realität in ein logisches Gesetz oder in eine logische Aussage zu bringen, muss es scheitern. Zitator 1 – Julius Bahnsen: Das Tribunal der gemeinen Logik (ist) ein inkompetentes Forum. Erzählerin: Bahnsen traut der rationalen Erkenntnis offenbar weniger zu als der Intuition: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Die Wahrheit selber ist mit dem Widerspruch behaftet und muss dies sein, weil sonst eine Verschiedenheit bestehen würde zwischen ihrem Inhalt und dem, wovon dieser der Ausdruck sein soll, dem Seienden. O-Ton – Winfried Müller-Seyfarth: Er sagt das an mehreren Stellen, dass die Welt oder das Seiende nicht zu verstehen ist, wir können es nur begreifen. Wir können versuchen, es zu begreifen, was mit uns und der Welt geschieht. Verstehen, warum das so ist, die Ursache – das ist nicht möglich. Erzählerin: Aus dieser wenig erfreulichen Erkenntnis erwächst so etwas wie menschliche Souveränität: Es gibt keinen Gott, keinen Lebenssinn, auch keinen Grund bezüglich des eigenen und des Lebens der Menschheit optimistisch zu sein, doch es gibt den Menschen, der mit allerlei Glücksversprechungen nicht mehr zu manipulieren ist: Zitator 1 – Julius Bahnsen: Ohne Hoffnung zu leben, wie wenn man noch hoffte. Erzählerin: Was bleibt von Julius Bahnsens Philosophie? Die Rezeption seiner Werke hält sich sehr in Grenzen. Das letzte Werk, das sich seiner Philosophie widmete, erschien 1952. Derzeit gibt es ein noch unabgeschlossenes Dissertationsvorhaben an der Universität Mainz: Konstantin Alogas stellt Bahnsens Philosophie in die Tradition des absurden Denkens. Ansonsten beschäftigen sich Autoren mit Bahnsen, die nicht "positiv denken" wollen, deren Interessen außerhalb des optimistisch-fröhlichen Zeitgeistes liegen. Ludger Lütkehaus interpretiert Bahnsens Denken als "Philosophie der Nichterlösung", die das philosophische Staunen durch das philosophische 12

Erschrecken ersetzt hat. Michael Pauen sieht in Bahnsens und der Philosophie anderer Pessimisten eine Reaktion auf die Befreiung des Denkens von theologischen Bezügen, die es endlich erlaubt, das leidende Individuum in den Blick zu nehmen: O-Ton – Michael Pauen: Diese Theorien erlauben es, die individuelle Zerrissenheit zu beschreiben. Diese pessimistischen Theorien und die Aufgabe der Vorstellung eines guten Gottes schaffen die Möglichkeit, diese Zerrissenheit und die negativen Erfahrungen zu artikulieren. Erzählerin: In dieser abweichenden Sicht auf das Leben liegt die Aktualität Bahnsens: Wenn der Arzt und Psychotherapeut Arnold Retzer unter dem Titel "Miese Stimmung" eine Streitschrift gegen das „Positive Denken" verfasst, könnten ihn Bahnsen und andere Pessimisten unterstützen: Retzer spricht von einem Diktat der guten Laune, von einer Verpflichtung zum Glücklichsein, vom Zwang, stets optimistisch zu sein und vom Verbot, sich auch einmal mies fühlen zu dürfen und Zweifel und Ängste zu haben. Der "Terror" des positiven Denkens mache unglücklich. Ein Pessimismus wie der von Bahnsen kann ein Akt der Selbstbehauptung sein gegen die Gesundbeter und notorisch-optimistischen Verteidiger des Bestehenden. Musik: Tom Waits: 16 Shells From A Thirty-ought-Six Erzählerin: Biografische Stichworte: Zitator 2: 9. Dezember 1881: Bahnsen stirbt. Erzählerin: Eine kurze Notiz im "Kreis- und Localblatt" für Lauenburg und Umgebung: Zitator 2: Sterbefall. In der Nacht verstarb hierselbst an Diphtheritis der Oberlehrer des hiesigen Progymnasiums Dr. Julius Bahnsen. Erzählerin: Das "Kreis- und Localblatt" fügte diese Zeilen hinzu: Musik: Tom Waits: 16 Shells From A Thirty-ought-Six Zitator 2: Auch er ging nun dahin in jene Welt, Von der nur bange Ahnung zu uns drang! Ob Du es dort gefunden hast, Gedankenheld, Wie Du es hier geträumt, so bang` Ein graues Nichts und ew`ge Nacht? **.**.**.**.**.** 13

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