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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Erster Akademiker der Familie Die Initiative Arbeiterkind Autor: Otto Langels Redaktion: Petra Mallwitz Regie: ...
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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Erster Akademiker der Familie Die Initiative Arbeiterkind

Autor:

Otto Langels

Redaktion:

Petra Mallwitz

Regie:

Tobias Krebs

Sendung:

Mittwoch, 18.04.12 um 10.05 Uhr in SWR2

__________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. In jedem Fall von den Vormittagssendungen. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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MANUSKRIPT

Atmo: Musik Doof gebor’n ist keiner Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, der hat nicht nachgedacht. Aylin Rieger: Meine Mutter war damals Sekretärin, bevor sie Kinder bekommen hat, und mein Vater war Soldat. Also direkte Linie meiner Eltern, da hat niemand studiert. Andreas Neubauer: Eine weiterführende Schule war bei mir in der Familie kein Thema, was ich sehr, sehr schade gefunden habe. Es war auch auf der Realschule kein Thema. Also wir wurden schon drauf getrimmt, uns zu bewerben und eine Ausbildung zu beginnen. Atmo: Musik Doof gebor’n ist keiner Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, vor dem nehmt euch in acht. Erzähler: Aylin Rieger kommt aus einem kleinen niederrheinischen Ort an der holländischen Grenze, Andreas Neubauer aus einem Dorf in der Nähe von Passau. Er lebt heute in Heidelberg, sie in Berlin. So wie Katja Urbatsch: Katja Urbatsch: Ich komme aus Ostwestfalen, ich würde sagen, aus einer ganz normalen Mittelschichtsfamilie, meine Eltern haben aber eben nicht studiert, und aus meiner Familie hat vorher auch niemand studiert. Meine Eltern haben beide eine Banklehre gemacht bei der Sparkasse, also da würde man jetzt sagen, ich bin kein Arbeiterkind im engeren Sinne, aber bei uns geht es ja eben darum, dass es um die ersten ihrer Familie geht, die die Chance haben zu studieren. Erzähler: „Bei uns“ - ist die Initiative Arbeiterkind.de, vor vier Jahren gegründet von Katja Urbatsch. Katja Urbatsch: Wir von Arbeiterkind möchten vermitteln, dass jeder, der studieren möchte, es auch kann, und dass es auch, wenn man von zu Hause keine finanzielle Unterstützung hat oder auch keine emotionale, dass man das schaffen kann, dass es Möglichkeiten gibt, und da möchten wir eben unterstützen. Zitat: Warum studieren? Gute Gründe für ein Studium.

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Erzähler: Aus der Website von Arbeiterkind.de. Zitat: Weil nur ein Studium zu Deinem Berufsziel führt, weil ein Hochschulabschluss viele berufliche Möglichkeiten eröffnet, weil der Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften wächst, weil Akademiker am wenigsten von der Arbeitslosigkeit betroffen sind, weil Hochschulabsolventen häufig mehr verdienen, weil es sich langfristig immer lohnt, in Bildung zu investieren! Gertraud Neubauer: Ich bin Raumpflegerin im Klinikum Passau, i bin mittlerweile 15 Jahre dort. Helmut Neubauer: I bin gelernter Elektromechaniker, arbeite bei der Caritas als Hausmeister im Altenheim. Erzähler: Gertraud und Helmut Neubauer, die Eltern von Andreas, eines der wenigen Elternpaare, das sich öffentlich zu dem Thema äußert. Gertraud Neubauer: Der Älteste wollte schon zur Realschule gehen, und da hat die Lehrerin zu Hause angerufen: Er ist nicht reif dafür. Beim Jüngsten war’s das Gleiche. Andreas Neubauer: Ja, ich musste dann eben die Aufnahmeprüfung machen, hatte die auch bestanden und war dann eben auf der Realschule gelandet. Ich hatte in der Grundschule einen ziemlich guten Freund, dessen Papa war Ingenieur, und bei dem hieß es von Anfang an, gut, du musst aufs Gymnasium gehen, du musst! Und die wurden dann eben ab der Grundschule schon ausgesiebt mehr oder weniger. Musik : Doof gebor’n ist keiner Erika ist mies und fad, doch Papi ist Regierungsrat, drum macht die ganz bestimmt das Abitur. Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, vor dem nehmt euch in acht. Andreas Neubauer: Der Wechsel zum Gymnasium stand bei mir eher weniger zur Debatte. Es war ja auch möglich, direkt nach der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln, und die Möglichkeit wurde eben gar nicht angesprochen, wobei sich meine Klassenlehrerin da sehr vehement gewehrt hat, dass ich nicht zur Realschule geh, ich wäre nicht geeignet. Helmut Neubauer: Der Jüngste, ja da war es schwierig, der wollte gern Bürokaufmann lernen, aber haben wir nicht bekommen, ja, und dann ist er Kfz-Mechaniker geworden.

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Andreas Neubauer: Nach der Realschule hatte ich dann eine Ausbildung begonnen zum Kfz-Mechaniker, die ich dann auch ziemlich gut abgeschlossen hatte. Ich bin dann mehr oder weniger zufällig über die Berufsoberschule gestolpert, und dachte, he, das hört sich doch ganz interessant an, wollte erst nur die Fachhochschulreife erlangen und dann eben an der FH studieren, aber während des 12. Schuljahrs dachte ich, okay gut, jetzt bist du dabei, machst du mal Abitur, bietet ja doch viel mehr Möglichkeiten. Und was ich genau studieren wollte, wusste ich jetzt ehrlich gesagt nicht. Helmut Neubauer: Ich hab eigentlich befürchtet, dass er das nicht durchhält, er hat doch Realabschluß gehabt und dann das Abitur nachmachen musste, usw. usf. und bis zur Uni, das ist natürlich ein weiter Weg gewesen. Aber er hat’s geschafft. Die Studiengebühren, das ist natürlich schon ein harter Brocken gewesen, aber na gut, wir haben‘ geschafft. Gertraud Neubauer: Wir haben das nicht geglaubt, weil er in der normalen Schule mit dem Lernen nicht so viel Spaß hatte. Er lässt das wieder fallen, dass er dann doch irgendwann sagt, er will nicht, aber er hat das alles durchgezogen, Respekt. Aylin Rieger: Also für mich war klar, dass ich Journalistik, Kommunikationswissenschaft studieren würde, Germanistik in dem Fall als Hauptfach. Und das gab’s damals in Bamberg. Erzähler: Nach der Wahl des Studienortes und -faches stand Aylin Rieger vor dem Problem, wie sie ihr Studium finanzieren sollte. Der Vater verdiente so viel, dass die staatliche Bafög-Unterstützung relativ gering ausfiel. Die Eltern wollten bzw. konnten ihr aber nicht zusätzlich unter die Arme greifen. Aylin Rieger: Das, was dann letztlich bei mir ankam, war so viel, dass ich die Miete zahlen konnte vom Studentenwohnheim, das war relativ günstig. Und dann hatte ich mir dann ausgerechnet, weil ich irgendwie hinkommen musste, ich hatte fünf Mark am Tag für alles, für Essen, Trinken. Kleidung, Bücherkaufen, das konnte ich am Anfang nicht. Erzähler: Niemand hat damals Aylin Rieger auf die Möglichkeit eines Stipendiums hingewiesen, dann hätte sie nicht jede Mark zweimal umdrehen müssen. Auch Katja Urbatsch fehlten die nötigen Informationen. Katja Urbatsch: Im Nachhinein, so fünf Jahre später beim Klassentreffen habe ich dann festgestellt, dass der Sohn des Direktors für die Studienstiftung vorgeschlagen wurde, er hatte auch das beste Abitur und sehr viel Engagement, aber andere wurden überhaupt nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass es sowas gibt. Also ich hatte selber auch ein Einser-Abitur, und ich wurde sogar ausgezeichnet beim Abitur für mein ehrenamtliches Engagement in der Schule. Und mich hat niemand darauf aufmerksam gemacht, dass ich auch mich hätte um Stipendien bewerben können. Oder es hat auch bei den Lehrern eigentlich keine Rolle gespielt. Niemand hat mit uns darüber gesprochen, wie es eigentlich weitergeht nach dem Abitur. 4

Und da hatte man das Gefühl, es war eigentlich egal. Und beim letzten Klassentreffen habe ich eben festgestellt, dass es genau statistisch so funktioniert: Alle, die aus akademischen Elternhäusern kamen, haben dann auch sofort studiert, und viele, die aus nichtakademischen Haushalten kamen, haben dann eben nicht studiert. Es gibt eben diese Statistik, die zeigt, dass von 100 Akademiker-Kindern 71 studieren, und von 100 Nichtakademiker-Kindern schaffen ungefähr 48 das Abitur, also knapp die Hälfte, aber nur 24 gehen studieren. Atmo: Musik - Doof gebor’n ist keiner Einigen hilft alle Welt, doch den meisten fehlt das Geld, die müssen dauernd kämpfen um ihr recht. Darum Kinder, aufgepasst. Dass ihr euch nichts gefallen lasst, denn keiner ist von ganz alleine schlecht. Doof gebor’n ist keiner Erzähler: Seit das Grips Theater in seinen Anfängen diesen Song gesungen hat, hat sich viel verändert. Aber an manchen Stellen dann doch erschreckend wenig. Obwohl die politisch Verantwortlichen in Deutschland immer wieder den Stellenwert von Bildung betonen, ist der Anteil der ‚Arbeiterkinder‘ unter den Studierenden in den vergangenen Jahrzehnten sogar gesunken. Erst in den letzten Jahren ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Die groß angekündigten Bildungsoffensiven kommen in den Familien ohne akademischen Hintergrund nicht an. Erklärungsversuche: Aylin Rieger: Die Schwierigkeit war das Geld, nicht der intellektuelle Hintergrund meiner Eltern. Und wer mehr Geld hatte, hatte das sicherlich im Alltag leichter, klar zu kommen. Erst hatte ich Glück, dass ich an der Uni arbeiten konnte, und später habe ich dann richtig im Kino gearbeitet, also nach einem Job gesucht. (Neubauer) Also als ich mit der Schule angefangen habe, waren die Reaktionen meiner Eltern erst sehr zurückhaltend, sie dachten ehrlich, hm, ob das denn überhaupt was bringt und was ich anschließend machen wollte, ob ich dann irgendwie eine Arbeit finden würde. Und als dann der Gedanke vom Studium kam, konnten sie gar nichts damit anfangen. Dieses Informationsdefizit ist ein großer Grund dafür, dass die Zahlen rückläufig sind. Katja Urbatsch: Häufig herrscht in den Familien auch die Haltung, die sagt, man macht keine Schulden, und es fällt ihnen schwer, Bildung als Investition zu empfinden. Für die sind das dann Schulden, keine Investition. Sie können sich nicht vorstellen, dass man davon hinterher mal profitieren kann und dass man das zurückbekommt. Für die ist ein Studium erst mal wahnsinnig teuer und man hat nichts davon. Und das ist nur für diejenigen, die sich das leisten können. Also, da gibt’s immer noch so viele Vorurteile, dass Akademiker arbeitslos werden und auf der Straße stehen, obwohl die Statistiken ja ein ganz anderes Bild vermitteln. Die Arbeitslosenquote von Akademikern liegt bei 3 %, wenn nicht sogar darunter. In anderen Ländern ist das besser, die Frage ist jetzt, woran das liegt.

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In skandinavischen Ländern bekommt man einfach einen Pauschalbetrag, und dann kann man unabhängig entscheiden. Und dann ist natürlich auch die Frage, was hat das für eine Kultur in anderen Ländern, ob man an die Uni geht oder nicht. Zitat: Kannst Du Dir ein Studium leisten? Erzähler: Aus der Website von Arbeiterkind.de. Zitat: Allein das zu finanzieren, was man so zum Leben und Studieren braucht, ist eine Herausforderung. Und dann kommen in einigen Bundesländern auch noch die Studiengebühren obendrauf. Lass Dich von den Kosten für ein Studium nicht abschrecken! Insbesondere, wenn Deine Eltern zu wenig verdienen, um Dich während des Studiums unterstützen zu können, hast Du sehr gute Chancen, staatliche Fördergelder zu bekommen. Daher möchten wir Dir die verschiedenen Möglichkeiten der Studienfinanzeirung aufzeigen. Katja Urbatsch: Was mir aufgefallen ist, ist schon, dass wir in Deutschland häufig erwarten, dass alles schon immer da ist. Man muss eigentlich immer schon alles können. Und was ich auch merke, dass schon sowohl finanziell als auch inhaltlich erwartet wird, dass die Eltern mitmachen. Und ich denke, dass sollte vom Staat auch ausgehen, dass das einem vom Staat beigebracht wird und nicht von den Eltern. Erzähler: Materielle Hürden und die zögerliche Unterstützung staatlicher Stellen sind nicht die einzigen Probleme. Die Kinder „kleiner Leute“ müssen auch emotionale und kulturelle Barrieren überwinden. Katja Urbatsch: Natürlich mit Nordamerikastudien, was ich jetzt studiert hab, da hatten sie schon ihre Schwierigkeiten. Da wurde immer gefragt auf jeder Familienfeier, was studierst du eigentlich, und warum machst du nicht erst mal eine Ausbildung und verdienst Geld. Und du liegst deinen Eltern auf der Tasche, und du wirst doch hinterher Taxifahrer. Ich meine, ich konnte denen nicht erzählen, was ich in der Uni mache, ich konnte das nicht vermitteln. Da sitzt man da und schweigt und hat keine Gesprächsthemen. Jungs können dann häufig noch über Fußball sprechen, aber das ist nicht ganz einfach, wenn man sich dann so anschweigt, oder wenn die Eltern Angst haben zu fragen, was man da eigentlich macht. Ja, dies Gefühl, die oder der gehört eigentlich gar nicht mehr zu uns. Die hat sich jetzt irgendwie entfremdet. Atmo: Musik - Es leben die Studenten Es leben die Studenten Stets in den Tag hinein, wär‘n wir der Welt Regenten, sollt immer Festtag sein, fürwahr, fürwahr, das ist ja sonderbar.

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Aylin Rieger: Eine Entfremdung gab’s streckenweise schon dadurch, dass ich einfach eine Lebensform durch das Studium hatte, vielleicht auch besonders durch ein geisteswissenschaftliches Studium, die meinen Eltern fremd war. Und ich glaube, sie haben oft nicht verstanden, wie ich da meinen Alltag gestalte, haben vielleicht auch Klischees im Kopf gehabt, dass ich da nur abhänge und Vergnügen nachgehe, waren dann irritiert, wenn ich morgens um zehn Uhr noch erreichbar war zu Hause. Umgekehrt haben sie aber akzeptiert, dass sie mich nicht vor zehn anrufen. Das war so ein ambivalentes Verhältnis, aber es war immer auch - hatte ich das Gefühl - ein Unverständnis da. Und das ist mir auch nicht gelungen, das zu vermitteln, was ich da mache. Katja Urbatsch: Wir haben leider auch Fälle, wo Studenten Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren, weil sie das nicht mehr ertragen können, diese Konflikte, und immer dieses Rechtfertigen. Oder wir haben auch Fälle, da haben auch Studenten mit ihren Eltern brechen müssen, die haben überhaupt keinen Kontakt mehr, nur weil sie angefangen haben zu studieren, weil die Eltern das nicht verstehen konnten. Und das ist natürlich schon ein großer Schritt, wenn man dann überlegt, ist es das wert, meine Beziehung zu meiner Familie aufs Spiel zu setzen für ein Studium? Erzähler: Eine Frage, vor der häufig auch Kinder von Migranten stehen. Rund 20 Prozent der Deutschen haben einen Migrationshintergrund, unter den Studierenden sind es nur elf Prozent. Von diesen brechen fast die Hälfte ihr Studium ab, von allen Studierenden lediglich rund ein Viertel. Katja Urbatsch: Wir merken auch, dass natürlich noch mal zusätzliche Probleme dazu kommen, z.B. sprachliche Probleme, dass es viel schwieriger ist, überhaupt das Abitur zu erreichen mit Migrationshintergrund, weil man einfach von Anfang an sprachliche Probleme hat, die man aufholen muss und schnell dann auf einer anderen Schulform landet. Und dann gibt es natürlich auch kulturelle Probleme z.B. bei Frauen, das haben wir auch schon gemerkt, dass es dann schwieriger ist für junge Frauen, von zu Hause auszuziehen und zu studieren, weil die Eltern das nicht so gerne möchten. Erzähler: Erstaunlich ist allerdings der Anteil der Migrantenkinder aus hochschulfernen, einkommensschwachen Familien. Er ist fast drei Mal so hoch wie bei Studierenden aus den gleichen sozialen Schichten ohne Migrationshintergrund. Zuwandererkinder aus ärmeren Verhältnissen sind offensichtlich besonders zielstrebig und bildungsorientiert. Atmo: Musik Gaudeamus igitur Erzähler: Akademikerkinder kennen die Universität aus den Erzählungen ihrer Eltern oder weil sie sogar an der Hochschule unterrichten. Arbeiterkinder aber betreten mit der Immatrikulation Neuland.

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Andreas Neubauer: Für mich waren eben die Professoren sehr, sehr große Respektpersonen, fast unnahbar. Ich wusste gar nicht, wie spreche ich die Leute jetzt an, wenn ich Fragen hab. Oder wie schreib ich die per Email an, oder darf ich die eigentlich ansprechen? Der Umgang von den Akademikerkindern war natürlich ein ganz anderer. Wir hatten viele, deren Eltern auch Professoren waren, und die kamen mit der Situation viel besser klar, die sind damit viel lockerer umgegangen. Wenn man fragt, he, was machen deine Eltern, ich nehm da kein Blatt vor den Mund. Natürlich gibt’s ein, zwei Kommilitonen, die das dann eben belächeln, so ungefähr, hm, hm, was machen denn deine Eltern? Es sind meine Eltern, sie haben mich stets unterstützt, bestmöglich, wie sie eben konnten. Und sollten da doofe Bemerkungen kommen, ich mein, da steh ich drüber. Aylin Rieger: Diese ganzen Strukturen sind einem ja völlig unbekannt. Und da hat sicherlich jemand, der aus einem Elternhaus kommt, wo die Eltern studiert haben, für die ist da klar, da kann man eine Wohnung mieten oder eine WG oder in ein Studentenwohnheim gehen, aber das musste ich alles rausfinden. Und wenn man das vorher vermitteln würde, spart man Kraft, weil die Leute viel Kraft brauchen dafür. Katja Urbatsch: Ich hab mich häufig nicht getraut, Professoren anzusprechen, ich habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich dann preisgebe, dass ich eigentlich hier nicht hingehöre und dass ich das alles nicht weiß, die anderen wissen das alles. Ich hab auch gemerkt im sprachlichen Ausdruck, dass viele da mit Fremdwörtern um sich geworfen haben, die ich nicht verstanden habe. Erzähler: Inzwischen hat Katja Urbatsch ihr Nordamerikanistik-Studium an der Freien Universität Berlin erfolgreich abgeschlossen und promoviert an der Universität Gießen über nordamerikanische Literatur. Nach dem Studium hat sie die Initiative Arbeiterkind.de gegründet. Katja Urbatsch: Wenn ich von der Uni gehe und meinen Abschluss mache, ist dieses ganze Wissen und meine ganze Hilfe für andere eigentlich weg. Und deswegen dachte ich, eigentlich müsste man all diese Informationen, die ich mir erarbeitet habe und ich gerne früher gehabt hätte, mal auf eine Internetseite packen. Und dann habe ich diese Idee eben entwickelt. Und dann habe ich irgendwann auch überlegt, wie könnte man das denn nennen. Dann habe ich einen alternativen Begriff für Nichtakademikerkind gesucht, weil das ja sehr defizitär ist. Und da habe ich aber keinen gefunden, der diese Zielgruppe beschreibt der ersten in der Familie, die studieren. Und dann habe ich irgendwann mal beim Frühstückstisch morgens die Idee gehabt, Arbeiterkind.de, und hab nachgeguckt, ob das noch frei ist. Das war noch frei, hab das reserviert. Also das ist dann zu einer Community geworden, das hätte ich aber nie gedacht. Eigentlich wollte ich nur meine Webseite machen.

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Zitator: Während des Studiums lernst Du, wissenschaftlich zu arbeiten bzw. wissenschaftliche Arbeiten wie Referate oder Hausarbeiten zu verfassen. Erzähler: Aus der Webseite von Arbeiterkind.de. Zitator: Doch häufig werden an den Hochschulen leider keine Grundkurse im wissenschaftlichen Arbeiten angeboten. Da wir uns noch sehr gut daran erinnern können, mit welchen Problemen wir bei unseren ersten Arbeiten gekämpft haben, möchten wir Dir unsere Erfahrungen und einige hilfreiche Tipps an die Hand geben. Katja Urbatsch: Also wir haben jetzt in unserem eigenen sozialen Netzwerk, über das wir uns organisieren, über 4.500 Mitglieder, natürlich sind die nicht alle aktiv, und dann gibt’s die aktiven, die in 80 lokalen Ortsgruppen, die wir in Deutschland haben, wirklich aktiv sind und in die Schulen gehen, Infostände machen, Emails beantworten, Anfragen beantworten, telefonieren oder Vorträge halten, also da gibt’s ganz viele Möglichkeiten, sich zu engagieren. Erzähler: Bis auf eine Handvoll bezahlter Mitarbeiter sind alle Mitglieder von Arbeietrkind.de ehrenamtlich tätig. Gefördert wird die Initiative u.a. vom Bundesbildungsministerium und vom Wissenschaftsministerium in Nordrhein-Westfalen. Die finanzielle Hilfe ist indirekt ein Eingeständnis, dass staatliche Bildungseinrichtungen allein Arbeiterkindern den schwierigen Weg an die Hochschule nicht ebnen können. Unterstützung erhält Arbeiterkind.de außerdem von privaten Stiftungen und Unternehmen. Eine Personalberatungsfirma bietet z.B. kostenlos ein sogenanntes Coaching an, um die Gruppenkommunikation zu fördern und Mentoren auf Beratungsgespräche mit Abiturienten vorzubereiten. Atmo: Treffen Personalberatung Stefanie: Was braucht ihr, um euch so zu fühlen, dass ihr sagt, oh ja, da könnte ich einsteigen, da habe ich ein Gefühl für? Katja: Das Problem, was wir haben, ist, dass dann wirklich bei den Aktionen häufig doch noch Leute fehlen. Stefanie: Überlegt Euch Fragen, die ihr als Schüler hättet. Das ist meine Bitte über den Mittag, vielleicht fällt Euch noch das eine oder andere ein. Denn was wir tun werden, ist im Grunde so eine Art Simulation zu machen, Euch also auch als Klasse zu nutzen.

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Erzähler: Arbeiterkind.de ist vier Jahre nach der Gründung inzwischen in allen größeren Universitätsstädten vertreten, zunächst nur als Webseite geplant, hat die Organisation inzwischen über 4000 Mentoren, ein Hinweis auf entsprechende Defizite der offiziellen Studienberatungen, aber auch ein Indiz, dass viele junge Menschen mit der Herkunft aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“ inzwischen offensiv umgehen. Andreas Neubauer hat sein Studium in Heidelberg längst abgeschlossen, seine Erfahrungen als Arbeiterkind will er weitergeben. Andreas Neubauer: Ich geh regelmäßig zu den Stammtischen, bin auf vielen Messen jetzt dabei gewesen, in Heidelberg z.B. auf der Erstsemestermesse, Studenteninformationstage. Dann gab’s eben noch eine Messe in Mannheim, wo ich auch dabei war. Das schaut dann so aus: Wir haben so einen Informationsstand, wo die Leute einfach auf uns zukommen können, fragen können, oder wo wir auch gezielt Leute ansprechen und einfach fragen, ob sie die Organisation kennen. Und die meisten Leute sind begeistert, fassen das alles sehr positiv auf, und natürlich der Name Arbeiterkind provoziert ein bisschen. Und wir hatten auch schon Fälle, speziell auf der Erstsemestermesse die Leute einfach weiter gelaufen sind: „Oh Gott, Arbeiterkind“. (Lachen) Atmo: Musik - Doof gebor’n ist keiner Peter ist gescheit und schlau, doch sein Vati ist beim Bau, drum geht er bis zur neunten Klasse nur. Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, Olessia: Ja, ich bin Olessia. Ich studiere hier im Master Architektur in Berlin und bin erst seit kurzem hier, hab mein Bachelor vorher in Hannover gemacht und war dort seit anderthalb Jahren bei Arbeiterkind.de, d.h. ist alles nicht neu, ich wechsel bloß die Gruppe. Erzähler: Treffen der Berliner Gruppe von Arbeiterkind.de im Hinterzimmer einer Kreuzberger Kneipe. Eine neue Variante der Studentenbewegung: Statt wie 1968 auf der Suche nach dem Proletariat vor die Fabriktore zu ziehen, gehen die Arbeiterkinder in die Schulen, um ihre Erfahrungen weiterzugeben und größere soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die Tagesordnung des Treffens: Vorstellungsrunde, organisatorische Fragen, Werbekampagnen. Atmo: Treffen Berliner Gruppe Niklas: Ich bin Niklas, seit letztem Sommer in Berlin, davor in Heidelberg gewesen vom Studium her, bin Geisteswissenschaftler, hab in Heidelberg Arbeiterkind schon kennen gelernt, bin aber eigentlich erst hier, als ich in die Stadt kam, gedacht hab, wo kannst du dich engagieren, hab ich mich daran erinnert, berufstätig inzwischen in einer Unternehmensberatung. 10

Linda: Ja, ich bin Linda, ich studiere momentan in den letzten Zügen public history an der FU, bin bei Arbeiterkind seit etwa einem Jahr und mache so ein bisschen die Öffentlichkeitsarbeit, was gerade ein bisschen schwierig ist. Wir freuen uns über jede Unterstützung, gerade bei unseren Messeständen, wir brauchen wirklich jeden jede Stunde. Thomas: Ich bin Thomas, seit 2009 bei Arbeiterkind, war erst in Jena, bin ich aber weggezogen nach Heidelberg, um da anfangen zu arbeiten. Das Ganze hat sich ein bisschen verloren, und hier in Berlin habe ich dann gedacht, so, jetzt muss es sein. Und bin dann hier aufgetaucht und bin inzwischen derjenige, der das Elternprojekt angestoßen hat, heißt, wir wollen nicht nur die Schüler erreichen, sondern auf der anderen Seite auch die Eltern, um denen auch die Ängste zu nehmen, wie finanziere ich überhaupt das Studium meines Kindes, und können wir uns das überhaupt leisten? Die Elternsprechstunde einmal im Monat ist gerade so am Starten, und mal gucken, was draus wird. Wir brauchen bei vielen unserer Projekte einfach Unterstützung, weil wir das so nicht mehr schaffen, d.h. bei den Schulvorträgen, dass wir jemanden finden, der Schulen kontaktiert, der versucht, in Lehrerkonferenzen sich fünf bis zehn Minuten abzwacken zu lassen, um Arbeiterkind vorzustellen, je nachdem, was einem einfällt. Momentan sind wir nur an Gymnasien. Es gibt ja in Berlin auch integrierte Sekundarschulen, wo die Schüler auch Abitur machen können. Und das müssen wir auch noch aufbauen, dass wir auch in die Sekundarschulen gehen. Also weil gerade an den integrierten Sekundarschulen gibt es halt häufig Arbeiterkinder, die eben trotzdem ihr Abitur machen und, glaube ich, echt unsere Hilfe gebrauchen könnten. Atmo: Schulklingel Atmo: Schulbesuch So, meine Damen und Herren, ich denke, es ist Zeit, dass wir anfangen. Von der Organisation - steht jetzt da oben - Arbeiterkind.de, starke Argumente und wertvolle Tipps fürs Studium, vielleicht, Pascal, erwärmen Sie sich ja doch noch dafür, wenn die Polizei Sie nicht nimmt. (Lachen). Ja, gut, also. Erzähler: Eine Lehrerin des Berliner Romain Rolland-Gymnasiums begrüßt vier Mentoren von Arbeiterkind.de zu einem Vortrag vor angehenden Abiturienten. Atmo: Schulbesuch Wir wollen heute mit Euch ein bisschen durchgehen, warum es sich lohnt zu studieren, was man studieren kann und auch diese ganze Problematik der Studienfinanzierung. Wer von Euch weiß denn schon ganz sicher, dass er oder sie studieren wird von Euch? Mal Hände hoch. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Okay. Wer ist sich noch unsicher, ob Studium oder Ausbildung? Eins, zwei, drei, vier auch fünf. Wer ist denn schon ganz definitiv auf eine Ausbildung festgelegt? Eins, zwei, drei. So, erst mal die Dominique.

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Dominique: Das bin ich, hallo. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich auch in einem ähnlichen Raum saß, ich glaube, müssten jetzt so vier Jahre sein, dass ich mein Abi gemacht hab. Ich hab noch zwei Schwestern, eine Friseusin und eine Kosmetikerin, und bin die allererste in meiner Familie seit Generationen, die studiert. Ich krieg Bafög, den Höchstsatz, kann davon gut leben. Mein Bachelor-Studium habe ich jetzt im Oktober abgeschlossen, es ging drei Jahre, und jetzt bin ich im Master. Stipendien: Als ich das zum ersten Mal gehört hab, na, das krieg ich ja sowieso nicht, ich bin nicht so gut, ich bin nicht so schlau. Und wieso soll ich das denn kriegen? Ich krieg auch keins, weil ich mich noch nie beworben hab, aber ich werd’s glaube ich tun, aber Du kriegst eins, nee? Ich bin halt auch die erste, die studiert hat. Meine Eltern haben es bis heute nicht so richtig verstanden, was ich denn eigentlich treibe. Aber ich wollte halt unbedingt nach Berlin kommen und ich wollte unbedingt diesen verfluchten Master machen und hab mich dann halt einfach beworben und hab dann auch ein Stipendium bekommen. Es geht, und es ist eigentlich auch gar nicht so arg. Also man muss die Leute einfach davon überzeugen, warum man dieses Studium studieren will, und warum man gut für die ist, was einen besonders macht. Man kann auch mit Sachen argumentieren, ich hab halt nicht so vieles soziales Engagement und hab mich nicht in 120 Vereinen engagiert und kann auch keine fünf Fremdsprachen, aber es hat auch einfach seine Gründe. Das wurde mir von zu Hause halt nicht so mitgeteilt und deswegen habe ich das auch nie gemacht. Dafür war bei uns zu Hause einfach auch kein Platz, aber ich will es jetzt trotzdem machen, und ich will jetzt meinen eigenen Weg gehen. Wenn ihr euch für ein Stipendium bewerben wollt, da haben wir Leute aus jeder Stiftung, die mit euch das durchgehen können und das richtig optimieren können, damit ihr da richtig gute Chancen habt. Wir machen das alles ehrenamtlich, das kostet euch keinen Cent, sondern das machen unsere Mentoren ganz gerne. Wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr uns gerne kontaktieren und habt keine Angst und seid mutig, wir sind ja noch jung, also man hat nichts zu verlieren. (Beifall) Atmo: Musik - Doof gebor’n ist keiner Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, der hat nicht nachgedacht. Erzähler: „Die Zukunft eines Kindes darf nicht von der Herkunft der Eltern abhängen“, sagt Annette Schavan, die Bundesministerin für Bildung und Forschung. Ein frommer Wunsch. Denn wer aus „kleinen Verhältnissen“ kommt, wie es so schön heißt, hat in Deutschland nach wie vor einen steinigen Weg vor sich, wenn er studieren möchte. Aylin Rieger, Andreas Neubauer und Katja Urbatsch haben es geschafft, aber sie zählen nach wie vor zu den Ausnahmen. Sie haben ihr Studium abgeschlossen, arbeiten heute in einer Kulturstiftung oder an der Hochschule, promovieren und sind hauptberuflich bzw. ehrenamtlich für Arbeiterkind.de tätig. Und von ihren Eltern haben sie sich nicht entfremdet, im Gegenteil. Helmut Neubauer: Er hat sich schon verändert, aber ich kann nur sagen, zum Positiven. Wie soll ich jetzt sagen, er ist aktiver geworden mit der Arbeit und mit der Lernerei. -

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Gertraud Neubauer: Wir haben das akzeptiert und haben praktisch zu ihm hingedacht, es ist keine fremde Welt, wir sind sehr stolz. Andreas Neubauer: Es gab ein paar Leute, die gesagt haben, he, das ist super, und die dann anschließend auch den selben Weg gehen wollten, natürlich gab’s auch einige Leute, die das Ganze belächelt haben und nur mehr oder weniger drauf gewartet haben, bis ich endlich abbreche und wieder „normal“ werde. Heute sind sie schon beeindruckt, sie sagen schon, dass es eine große Leistung war Atmo: Musik Doof gebor’n ist keiner Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, vor dem nehmt euch in acht.

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