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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Hüzün Die türkische Melancholie AutorIn: Patrick Batarilo Redaktion: Petra Mallwitz Regie: Sendung: Donnersta...
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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Hüzün Die türkische Melancholie

AutorIn:

Patrick Batarilo

Redaktion:

Petra Mallwitz

Regie:

Sendung:

Donnerstag, 07.01.10 um 10.05 Uhr in SWR2

Wiederholung:

Mittwoch, 30.04.14 um 10.05 Uhr in SWR2

__________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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MANUSKRIPT

Atmo: Türkische Instrumentalmusik Sprecher 1: Beginnen wir mit einem persönlichen Erlebnis. Als ich zum ersten Mal nach Istanbul reiste, sprach ich dort mit einer deutschen Freundin, ein Erlebnis hatte sie verwirrt. Am Morgen hatte sie ihren türkischen Freund weinend vor dem Küchenradio vorgefunden, am Frühstückstisch. Türkische Musik war zu hören. Ein Mann, der offen weint - mit Selbstverständlichkeit und sogar einer Spur von Genuss? Das fand die Freundin erstaunlich. Ich auch. Am selben Tag stieß ich in einem Buch von Orhan Pamuk auf ein Wort: "Hüzün" - die türkische Melancholie. Zitator: "Wenn man dieses Gefühl, das von allen Ecken und Winkeln und Menschen ausgeht und sich über die Stadt verströmt, erst einmal tief in sich aufgesogen hat und es wirken lässt, dann wird man irgendwann, wohin man auch blickt, in der Lage sein, es förmlich zu sehen, so wie man an kalten Wintermorgen, wenn plötzlich die Sonne durchbricht, über den Wassern des Bosporus zitternd einen hauchdünnen Dunst aufsteigen sieht. Hüzün - das ist nicht die von einer Einzelperson empfundene Melancholie, sondern das von Millionen Menschen zugleich verspürte schwarze Gefühl, der "hüzün" einer ganzen Stadt, ein Gefühl, das stolz verinnerlicht und Tag für Tag gemeinschaftlich erlebt wird." Sprecher 1: Melancholie, für mich war das bislang immer ein Gefühl, verbunden mit Einsamkeit und irgendwie auch mit Scheitern. Ein Gefühl das sich einstellt, wenn mein Leben auf eine vage Art nicht ist, wie es sein sollte. Wenn selbst die Trauer misslingt, weil Trauer sich auf etwas bezieht, ich aber gar nicht weiß, was los ist. Ich schäme mich und will mich verstecken, gleichzeitig will ich etwas ändern und kann nicht. Die Türken, scheint es, empfinden ihre Melancholie anders. "Die Türken"? So etwas ist natürlich ein Klischee. Aber wie anders kann eine Suche beginnen? Träge schaukelt die stählerne Ruine eines unlängst gesunkenen Schiffes im Wasser. Özay Fecht, die erste Person, die ich Istanbul treffe, lebt auf der asiatischen Seite des Bosporus. Vor ihrer Wohnung weitet sich die Meerenge in einem weichen Bogen zum Marmarameer, Tanker ziehen vorbei. Anfang der 70er Jahre, mit 18 Jahren, hat Özay Istanbul verlassen, seit drei Jahren lebt sie wieder hier. Özay Fecht: Ich begegne diese Hüzün zum Beispiel in der Musik, türkische Musik, die ist sehr melancholisch. Und wenn die Leute hier sitzen und trinken, werden sie sehr melancholisch. Einerseits sind es traurige Lieder, traurige Texte, aber die mögen das. Gerade wenn sie betrunken sind und so. Komm, jetzt trinken wir noch einen, unser Leben ist so beschissen! Und das Lied ist schrecklich und dann trinken sie noch mehr. (...) Das ist eine Zeremonie, so macht man das eben. Und am nächsten Tag würden sie sagen: Mein Gott haben wir geweint und getrunken! Das ist ihre Art, Spaß zu haben!

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Sprecher 1: Özay ist Schauspielerin und Sängerin. Eine lebenshungrige Frau Mitte 50, die Stillstand nicht erträgt und der Arbeit wegen wieder in Istanbul lebt. Özay Fecht: Ich gebe Schauspielunterricht. Und meine Schüler sind alle zwanzigjährige, so in dem Alter. Auch an ihren Gesichtern merke ich diese Melancholie. (...) Mir fehlt bei diesen Jungendlichen, die bei mir Unterricht nehmen, die Energie, die Fröhlichkeit fehlt mir. Sie finden immer wieder eine traurige Geschichte, was sie heute traurig macht! Ich hab das Gefühl dass sie das sogar wollen. Sprecher 1: Özay, die lange im Westen gelebt hat, spürt den Hüzün der Türken überall. Er gefällt ihr nicht. Sie nimmt Hüzün als Mangel an Initiative wahr, als Ziel- und Mutlosigkeit. Und sie spürt vor allem eine Ursache heraus: die hohen Erwartungen, den BinnenDruck, den türkischen Familien ausüben, gerade auf die Kinder. Özay Fecht: Ich mache ja zum Unterrichtsanfang einen Kreis. dann frage ich jeden, wie geht’s dir heute: dann sagen sie: "Ja meine Mutter hat Kopfschmerzen gehabt heute!" Irgendwann war ich so sauer, dass ich gesagt habe: wo ist euer Leben? Ihr erzählt mir, meine Tante ist im Krankenhaus, mein Vater hat Zahnschmerzen. Ich hab gesagt: wo seid ihr denn? Das ist nicht nur sie, dass sie sich Sorgen machen um Mutter, Tante, Großmutter. Sondern die Familie sagt auch: ich hab heute Kopfschmerzen, ich bin krank. Ich hab auch das Gefühl, dass die Türken sehr gerne krank sind, so in meinem Alter, ich bin 50, schon ab 40. "Mein Kopf tut weh, mein Arm, ich kann nicht laufen..." Habe ich das Gefühl - die wollen gerne krank sein. "Ich kann nicht, ah, ich bin krank." Das gefällt denen krank zu sein ...Mitleid! Man muss Mitleid haben. (...) Kind fühlt sich verantwortlich, ich kann heute nicht glücklich sein, fröhlich sein weil meine Urgroßmutter, was weiß ich, Zahnschmerzen hat! Geben Kindern das Gefühl, dass sie sich um sie kümmern müssen. (...) Das ist halt diese Familienzusammengehörigkeit. Wenn einer ein Problem hat, müssen alle leiden. Sprecher 1: Özay hält Hüzün für eine Art familiäres Druckmittel. Darin stecke die indirekte Botschaft: Verlass mich nicht, kümmer Dich um mich, geh nicht Deinen eigenen Weg, ich brauche Dich doch - sieh, es geht mir doch so schlecht. Aber auch Özay liegt Hüzün nicht völlig fern. Nur versucht sie sich dagegen zu wehren. Özay Fecht: Ich bin auch melancholisch geworden langsam. Obwohl ich das gar nicht mag und bin. (...) Als ich das gemerkt habe, habe ich gesagt nein, du darfst das nicht machen. und habe mich wieder aufgepäppelt. (...) als ich hier war, am Anfang. Da wurde ich langsam auch wie die. Da habe ich gemerkt, nein, nein, nein, ich darf mich nicht so runterkriegen lassen. Gott sei dank. Statt dass sie mich runtermachen, ich hab ja sehr viele Schüler hier, die zu mir kommen, zum Essen und so ... bei mir ist immer etwas los, wir tanzen, ich mach die etwas energischer! Es macht Spaß und die kommen auch gerne her.

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Sprecher 1: Doch nicht alle Türken verurteilen Hüzün. Für die meisten ist es einfach ein Teil der türkischen Kultur, etwas was in den "genetischen Code" der Türken eingebrannt sei so drückt es zum Beispiel Fatih aus, ein blonder schlacksig gerader Mittdreißiger. Als ich ihn nach Hüzün frage, erzählt er gleich von einem Ritual aus seiner Heimatstadt im Westen der Türkei. Fatih: There is a wedding. One night before the wedding there is night called the KinaNight. Kina is Henna (...) the girls do it not the boys, mostly girls. It is made at the girls house, the girl and their familiy. On the girls hand, after they make the henna, she is hidden after a red scarf and she cries! And the family members and freidns, cousins, mothers, aunts, they turn around the girl and they sing the sad songs and they cry. Oh the lovely girl is going out of the house and leave the mother. They make a night of Melancholy. They try to make the girl cry. I ve seen it many times. If the girls does not cry, they try it harder. Overvoice-Sprecher Fatih: Wenn es eine Hochzeit gibt, dann findet am Vorabend eine Feier statt. Wir nennen das die "Henna-Nacht". Es geht nur um die Braut, deswegen findet es im Haus ihrer Familie statt. Die Braut bekommt Henna auf die Hände, dann wird sie unter einem schönen roten Tuch versteckt. Die Frauen aus ihrer Familie, Mutter, Cousinen, Tanten und Freundinnen tanzen um die Braut herum. Sie singen traurige Lieder und sie weinen. "Oh, unser liebes Mädchen verlässt unser Haus, oh unser liebes Mädchen verlässt seine Mutter!" Sie feiern eine Nacht der Melancholie! Es geht darum, die Braut zum Weinen zu bringen. Ich habe das oft erlebt. Wenn das Mädchen nicht anfängt zu weinen, versuchen sie es wieder und wieder! Sprecher 1: Hüzün - am Vorabend des "glücklichsten Tags im Leben". Aber Hüzün wird von Fatih nicht als etwas empfunden, was Freude dämpft oder Menschen trennt - Hüzün verbindet, es stärkt den Zusammenhalt, es steigert die Gefühle. In seiner Kindheit hat Fatih Hüzün überall erfahren, auch in seiner Familie. Atmo: Musik Fatih: I remember people listening to some songs and cry. It might seem crazy but I dont think it is crazy, actually it happens to anyone. This is some kind of a life style in my childhood. Musical style called the arabeske. Because there is some arab patterns in the music. And they usually feel very sad. And slow. The people they used to listen to this music. Lyrics about very sad things. Poor people. I wish I never loved. My best friend is my graveyard. And people listenning to these kind of songs and crying. 5:00 my father he is a very big Orhan Gencebay fan! My childhood I spend listening to this music. (...) My father: crazy! He used to have his instrument, saz, he used to try to play Orhan Genzebay songs. He is still trying, now he is more than sixty. He lived in Germany for five years. He worked, a gastarbeiter. In frankfurt. He worked in different jobs. (...) He is crazy about history and philosophy. But he still is crazy about orhan Gencebay. 4

Overvoicesprecher Fatih: Ich erinnere mich, wie die Leute immer bestimmte Lieder hörten und dazu weinten. Ich weiß, es klingt verrückt, aber das ist es nicht! Es kann jedem passieren, dass er da weint! Vor allem wenn man Arabesk-Musik hört. Die heißt so, weil sie arabische Rhythmen einfließen lässt. Arabesk-Musik klingt sehr traurig. Auch die Texte. "Ach, hätte ich nur nie geliebt!" "Mein bester Freund ist mein Friedhof!" Mein Vater war schon immer ein Riesen Fan von Orhan Gencebay. Meine ganze Kindheit über habe ich die Musik gehört. Mein Vater versuchte immer, auf der Saz, der türkischen Laute, die Lieder von Orhan Gencebay nachzuspielen. Er war auch mal Gastarbeiter in Deutschland. Er liest Bücher über Geschichte und Philosophie. Und trotzdem liebt er diese Musik! Atmo: Musik Zitator: Niemand ist ohne Fehler, mit all meinen Fehlern liebe mich! In unserem Leid finden wir Kraft, zeig mir den Weg zu dieser Kraft Ich habe mich verloren, bitte! finde mich, Ich bin so müde vor Einsamkeit, ohne Halt, komm und nimm mich mit! Nicht einmal zu klagen habe ich Kraft genug, höre mich, ohne dass ich klagen muss! Den Liebenden zuliebe, liebe mich, Liebe mich. Sprecher 1: Musik ist ein äußerst wichtiges Ausdrucksmittel für Hüzün. Nicht nur für die Älteren. Die Arabesk-Musik ist bei jüngeren Türken sehr beliebt. So wird auch im Internet, der Kult der Tränen mit Hingabe begangen. Fatih: My brother likes it very much too. He expresses himself this way. The boy of the pain. When your are abandoned by some one. He likes this very much! Around me he tries to keep more ... quiet. But for example when he is on the Internet, when he is chatting. I see all the windows he makes for his chatting, for facebok for the internet, all the pictrues of Orhan Gencebey, Ibrahim Tatlises and Müslim Gürces, and many of them. The lyrics of their songs. They write them, they read them, they like them as poetry. Overvoicesprecher Fatih: Mein kleiner Bruder zum Beispiel, der steht da sehr drauf. So will er rüberkommen als "der Schmerzensjunge". "Oh, sie hat mich verlassen!" Mir gegenüber hält er sich zurück, aber zum Beispiel im Internet, wenn ich ihm über die Schulter schaue, beim Chatten, oder wenn er auf Facebook ist - überall Bilder von Orhan Gencebay und anderen Sängern dieser Art! Seine Freunde und er, die mailen sich die Texte dieser Lieder sogar zu, das ist Poesie für sie! Sprecher 1: Deutlich wird: Hüzün ist keineswegs etwas Altbackenes, etwas für die Hinterzimmer der türkischen Kultur. Im Gegenteil: man darf Tränen zeigen, auch in der türkischen Pop- und Jugendkultur, gerade unter männlichen Jugendlichen. 5

Ich denke an den türkischen Freund der deutschen Freundin, der am Frühstückstisch vor dem Radio in Tränen ausbrach. Ein deutscher Junge hält es für cool, jedes Gefühl, das weich wirken könnte, zu verstecken. Für einen türkischen Jugendlicher kann es cool sein, öffentlich zu leiden, meint Fatih. Wobei es Zeiten gab, fügt er hinzu, die besonders von Hüzün geprägt waren. Zum Beispiel die 80er Jahre. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde in der Türkei das Kriegsrecht verhängt und alle politischen Parteien verboten. Eine schwere Zeit mit vielen Einschränkungen. Man fühlte sich gefangen - war unfrei zu handeln, unfähig Pläne zu machen. Bei Fatihs Familie etwa, erzählt er, kam zweimal die Woche die Polizei vorbei und suchte in den Regalen nach verbotenen Büchern - auch das ein Grund für seinen Vater, nach der Saz zu greifen und traurige Lieder zu singen. Was sollte er sonst tun? Das Auf und Ab von Hüzün, die Dichte des Melancholiestroms, wenn man so will, das ist also auch ein Spiegel der türkischen Geschichte. Die Freiburger Orientalistin Erika Glassen spürt den Wurzeln des Gefühls sogar noch weiter nach als Fatih - sie sieht den Urgrund im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: der Zeit des Untergangs des Osmanischen Reichs. Erika Glassen: Das, glaube ich, ist die Zeit, wo dieser Begriff Hüzün zum Tragen kam. Weil da mehr diese Nostalgie der Geschichte zum Tragen kam. "Wir sind nicht mehr die Bürger eines islamischen Großreiches, sondern das ist alles untergegangen. Hier sind die Reste. Wir leben in Ruinen, aber wir sind eigentlich eine große Kultur und danach hat man Sehnsucht." Sprecher 1: Atatürk, der Gründer der Türkischen Republik, setzte nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg auf Westorientierung. Seine Reformen brachen mit dem orientalischen Erbe der Türkei. Die arabische Schrift wurde durch die lateinische ersetzt. Der Islam, bislang im Zentrum der osmanischen Identität, wurde aus dem öffentlichen Bereich verdrängt. Aus einem Vielvölkerstaat, in dem Kurden, Armenier, Griechen und viele andere nebeneinander gelebt hatten, wurde ein Nationalstaat nach westlichem Vorbild. Die gewaltigen Reformen brachten einen Modernisierungsschub - und zwangen die Türkei in eine tief sitzende Identitätskrise, aus der sie sich bis heute nicht befreit hat. Erika Glassen: Atatürk so sehr ich ihn schätze, er hat auch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem er alle Traditionen, "Krk!", wie mit dem Messer durchgeschnitten hat. (...). Das ist, denke ich mir, auch ein Urgrund dieses Lebensgefühls. Und dann dieser furchtbare Zwiespalt, das ist wirklich ganz tragisch. (...) Dieser Zwiespalt bei allen Intellektuellen, sie schätzen den Westen, die westliche Kultur (...) und immer das Gefühl: Gott, verlass ich jetzt meine Kultur, ganz? Geb ich die ganz auf?

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Sprecher 1: Atatatürk, der ausgezogen war, um der Türkei den Orient auszutreiben und nebenher auch den Hang zur Melancholie, zu - wie er es sah - Untätigkeit, Träumerei, Antriebslosigkeit, Atatürk, der einen anderen aktiven Menschentyp forderte - Atatürk zwang das ganze Land hinein in eine Situation mit höchstem Hüzün-Potential: eine Gefühlslage, in der man sich von der Familie der westlichen Nationen nicht aufgenommen fühlte und gleichzeitig von der eigenen Vergangenheit abgeschnitten. Orhan Pamuk schreibt dazu: Zitator: Um begreiflich zu machen, was mich im Istanbul meiner Kinderjahre so melancholisch werden ließ, muss aufgezeigt werden, wie sich in den Bewohnern Istanbuls und den Bilderbuchansichten der Stadt der Untergang des osmanischen Reichs widerspiegelte. Neben den großen Moscheen und geschichtsträchtigen Bauten erinnern an allen Ecken auch zahllose Gewölbe, Brunnen und kleinere Moscheen, wie vernachlässigt, unbeachtet und zwischen Betonklötzen eingepfercht sie auch sein mögen, die zwischen ihnen lebenden Millionen von Menschen schmerzlich daran, dass sie Überbleibsel eines großen Reiches sind. Im Unterschied zu Westeuropa werden in Istanbul allerdings vom Untergang eines großen Reiches zeugende Geschichtsdenkmäler nicht wie Museumsstücke behandelt und stolz zur Schau gestellt, sondern man lebt ganz einfach mitten unter ihnen. Dieser Umstand, an dem so mancher westlicher Reiseschriftsteller oder Tourist nicht wenig Gefallen findet, erinnert dagegen empfindlich veranlagte Istanbuler in erster Linie daran, dass mit dem Zerfall jener Kultur auch ihre Macht und ihr Reichtum verlorengegangen sind. Und dass das heutige Leben ungleich ärmer und orientierungsloser ist. " Atmo: Musik Atmo: Gesang in Meyhane (Raki-Restaurant) Bahtiyar: Manchmal vermisse ich Hüzün. Wo gibt es hier ein bisschen Melancholie? Man braucht es manchmal. Sonst wird man wie eine Maschine. Erika Glassen: In der islamischen Kultur darf man nicht unterschätzen, dass alles auch Genuss bringt, was wir nicht so schätzen. Auch eine unerfüllte Liebe ist eigentlich der Standard der Liebe, weil da liegt Genuss drin. Immer zu suchen, zu klagen, da ist auch was davon, von Hüzün. Bahtiyar: Wenn man was Menschliches fühlen soll oder will. Melancholie ist da drin. Ich glaube, ohne Melancholie gibt es kein Gefühl in der Welt. (...) Ohne Melancholie gibt es kein Leben, glaube ich.

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Sprecher 1: Baytiyar blinzelt mir zu, lacht schelmisch. Ein Mitvierziger, aus einer Kleinstadt am Schwarzen Meer, der auch schon in Deutschland gelebt hat. Dreimal am Tag fühle er zwanzig Minuten Hüzün, sagt er. Und wenn es ihn so oft packe, wie dann erst die, denen es wirklich schlecht gehe? Auf dem Tisch vor uns drängen sich Teller mit Auberginen-Mus, Tintenfischen, klein geschnittenen Tomaten - man muss viel essen, wenn man Raki trinken will, den typischen Anisschnaps, verdünnt mit Wasser. Gemeinsam mit Freunden sitzen wir im Vorhof einer Meyhane, eines traditionellen Lokals. Drinnen hängen an der holzgetäfelten Wand Bilder von Atatürk, matt wie aus einer weit entfernten Zeit. Hier draußen wird neben uns gerade ein Fischmarkt abgebaut, in Zeitlupe scheint mir. Es ist ein Hüzün-Ort. Hinter uns halten sich Männer im Arm. Bahtiyar weist mich darauf hin, ihm ist wichtig: Hüzün ist keine gescheiterte Trauer, und auch keine deutsche Melancholie, etwas was man mit sich alleine austrägt. Hüzün, sagt er, bedeutet Gemeinsamkeit, selbst wenn man alleine ist. Hüzün ist etwas Positives - selbst wenn es um das Schlimmste geht, zum Beispiel den Tod eines wichtigen Menschen. Bahtiyar: Mit Hüzün muss man nicht in der Ecke bleiben. Man erklärt Grund und die anderen wollen gerne mitfühlen. Das Beispiel: Der Vater ist nicht mehr da. Es wäre schön, wenn er da wäre, einer sagt das, z.B. die Mutter. Fünf Minuten alle ruhig. Einer sagt: Jetzt trinken wir wegen ihm! Dann geht das Hüzün wieder weg. Es dauert nur fünf Minuten, aber ein schönes fünf Minuten für jeder, nicht negativ, ein wunderschönes Gefühl! Fatih: (...) after at night you cry, the next day they feel more calm, they feel lighter, not as heavy as the day before. They feel like something, like they are purified by crying. (...) like tragedy or comedy they help you get purified from sins and sadness. I think for Turkish people crying and melancholy is a way to purify, a very important way. Sprecher 3: Wenn du eine Nacht lang weinst, dann fühlst du dich am nächsten Tag ruhiger, leichter. Nicht so schwer. Weinen reinigt. Im Theater sollen die Tragödie und die Komödie die Menschen von ihren Sünden und ihrer Trauer reinigen. Ich glaube, in der türkischen Kultur ist das Weinen, das Hüzün-Fühlen, das traditionelle Mittel sich davon zu reinigen. Ein sehr wichtiges Mittel! Bahtiyar: Man kann es schenken. Zum Beispiel wenn etwas früher war, kann ich dich einfach anrufen. Wenn ich Hüzün gekriegt habe, wegen der Geschichte. Hallo, ich hab das und das gedacht darüber ... das ist ein Geschenk für dich. Ich will dieses Hüzün nicht allein leben. Wenn es dich interessiert, kann ich dich anrufen und gemeinsam dieses Hüzün leben. Das kann ein schönes Geschenk sein. Sprecher 1: Milchig-weiß trübt sich der Raki, als das Wasser ihn trifft. Bahtiyar hebt sein Glas. Er spricht von seinem verstorbenen Bruder und dessen Kindern. Ein mit Bahtiyar befreundeter Schauspieler erzählt vom Tod seiner Schwester und von den schweren Zeiten in den achtziger Jahren nach dem Militärputsch. Auch er hebt das Raki-Glas auf die Kunst! 8

Sprecher 4: Hüzün ist auch eine kreative Kraft! Ich habe oft Hüzün. Aber wenn viele Leute dieses Gefühl teilen, dann machen sie etwas daraus! Einen Witz, ein Gedicht, ein Theaterstück, Musik ... Es kann etwas dauern, aber dann entsteht durch Hüzün der Impuls etwas zu schaffen, sich auszudrücken. Und dadurch entsteht auch eine neue Verbindung zwischen den Menschen! Atmo: Musik Zitator: Dieser Schmerz, diese Sehnsucht, tötet mich, liebe mich. Auch wenn es aus der Ferne ist, ich bin es zufrieden, liebe mich. Ich bin es zufrieden, liebe mich. Sprecher 1: Wehmut als kreative verbindende Kraft. Für meine deutschen Ohren ist das erst einmal erstaunlich. Es gibt zwar das Bild des traurigen romantischen Dichters. Aber als Westler, gerade unter dem Einfluss Amerikas, sind wir auf Optimismus geeicht. Darauf daß Lebensglück machbar ist. Wir können alles - wir müssen nur unsere Ängste beherrschen. Trauer darf sein, aber bloß nicht zu lange. Es gilt sie möglicht schnell zu überwinden. Hauptsache wieder aktiv werden. Besser sich rühren, als gerührt sein. Hüzün dagegen schließt nichts ab oder aus, es erlaubt Trauer und Freude gleichzeitig und das immer wieder. Der Schmerz nach dem Verlust eines Menschen muss nicht bewältigt werden. Er darf noch nach vielen Jahren geteilt werden. Nicht zuletzt weil das Gefühl aus einer Zeit seine Kraft bezieht, in der das Individuum nicht das Maß aller Dinge war. Ein kleines bisschen Hüzün fühle ich am nächsten Tag auch - das kann aber an den Nachwirkungen des Raki liegen, der keinen Unterschied zwischen West und Ost macht, wenn er morgens an die Schädeldecke pocht. Als letztes treffe ich Mehmet, der als Jugendlicher mit seiner türkischen Familie von Frankfurt nach Istanbul zurückgekehrt ist. Mehmet hat sehr klare Vorstellungen von Hüzün - und den Unterschieden zwischen dem Westen und der Türkei, die sich darin äußern. Mehmet: Es ist nun mal so, dass in der westlichen Zivilisation, vor allem in den vergangenen 50 Jahren, Absicherung, finanzielle Absicherung eine große und wesentliche Rolle darin spielt, wie man sich sein Leben plant. Hier ist das anders. Hier, soziale Absicherung ist ein Begriff, der für die creme de la creme gültig ist. Es hängt so viel vom Zufall ab, in diesem Land. Weil, ein Beispiel ... die Gefahr im chaotischen Verkehr hier, dass man überfahren wird, wenn man die Straße überquert, die Gefahr ist nun mal viel, viel größer. (...) Es ist diese Unberechenbarkeit des nächsten Tages. Ich glaube, dass Hüzün auch damit zu tun hat. Sprecher 1: Mehmet tat sich schwer, als er plötzlich ein Leben in Istanbul führen sollte, als Jugendlicher. Fast dreißig Jahre ist das her. In der ersten Zeit fühlte er sich von allem Wichtigen in seinem Leben abgeschnitten, verfrachtet, wie er sagt, in ein "riesiges Open-Air Gefängnis". Dann veränderte sich sein Verhältnis zu Istanbul - und dabei auch sein Blick auf den Westen. Hüzün spielt dabei eine Schlüsselrolle. 9

Mehmet: Eine Feststellung habe ich gemacht: Freunde von mir aus Deutschland oder Frankreich, die in Istanbul waren und eine gewissen Zeit in Istanbul verbracht haben. Es handelt sich überwiegend um sehr einfühlsame Menschen, sensible Geister, die sehr schnell in Berührung gekommen sind mit Hüzün, was diese Stadt umfasst. Die anfangs nicht wussten, worum es geht, was es ist, was sie nach Istanbul zieht. Es ist schmutzig, chaotisch, laut. (...) Aber etwas ist da, was die Menschen anzieht. Ich hab das ja selbst erlebt, wenn ich in Deutschland bin, gerade zur Weihnachtszeit, dieser große Konsumdrang, ich finde die ganze westliche Gesellschaft als sehr große Konsumgesellschaft, in der viele Menschen vereinsamen. Ich sehe Menschen, die mit Plastiktüten auf Einkaufsstraßen herumstehen, orientierungslos wirken, es ist fast eine Agonie. Keine Melancholie ... eine Agonie. Ich kann mir vorstellen, dass diese Menschen, wenn sie hierher kommen sehr bewegt sind, sehr schnell von dieser Istanbul eigenen Melancholie eingefangen werden, weil dieses hier ... da ist zwar ein gewisser Schmerz da, aber Wehmut ist immer noch besser als gar nichts zu empfinden. Diese innere Leere! Man hat schon alles, man will nichts mehr - das ist irgendwie anders als wenn man irgendetwas vermisst! Sprecher 1: Während ich Mehmet zuhöre, merke ich: Ich empfinde es als etwas Besonderes, mit den Menschen in der Türkei über Hüzün reden zu dürfen. Das Thema öffnet eine Tür in ihnen, zumindest einen Spalt weit. Wie im Bosporus immer zwei Wasserschichten übereinanderliegen, eine warme und eine kalte, so mischen sich in Hüzün die Erfahrung, dass Verlust, Scheitern, Ausgeliefertsein zum Leben gehören. Und zugleich eine mal mehr, mal weniger stark empfundene Freude, die aus der gemeinsamen selbstverständlichen Erfahrung des Leids stammt. Ein Stolz in der Wehmut, auf die Wehmut. Auch ein Stolz gegenüber dem Westen, der sonst in der Türkei oft in so vielem zum Modell erhoben wird. Hüzün erinnert daran, dass die westliche Kultur beim Run in eine bessere Zukunft, über ihrer oft zwanghaften Beschwörung einer perfekten Welt, eines perfekten Glücks womöglich auch etwas vergessen hat. Etwas, was es uns völlig unverständlich erscheinen lässt, wenn wir morgens am Frühstückstisch einen jungen Mann wehmütig vor dem Radio sitzen sehen. Mehmet: Du empfindest eine gewisse Wehmut, die du dann ausdrücken willst. Die dich spüren lässt, du bist ein Mensch, du bist verletzbar, du bist kein Superman. Dir wird bewusst, du kannst dich noch so gesund ernähren, du kannst keine einzige Zigarette rauchen, du kannst jeden Tag ins Fitnessstudio gehen und trotzdem kannst du am nächsten Tag umfallen. Ich sag mal so, dieser große Überlebensfetischismus, komisches Wort, lacht der ist nicht so ausgeprägt wie im Westen. Atmo: Musik Zitator: "Hüzün ist wie der Dampf, der sich an einem kalten Wintertag auf einem Fenster niederschlägt, vor dem ein Teekessel kocht. Beschlagene Scheiben stimmen mich melancholisch. Ich sehe sie gerne an und stehe dann auf, um mit dem Finger etwas darauf zu zeichne. 10

Durch mein Zeichnen und Schreiben auf der beschlagenen Scheibe komme ich in bessere Stimmung, und schließlich wische ich alles ab und kann nach draußen schauen." Sprecher 1: Auch in der Türkei lebt der Dichter seine Melancholie in seiner Kammer - Hüzün bringt ihn zum Schreiben, schnell vergängliche Zeichen auf einem beschlagenen Fenster; oder Bleibendes, Buchstaben in Büchern, die zur Welt sprechen. Die anderen tragen ihren Hüzün in die Meyhanes, die Restaurants und Bars, wo sie Raki trinken, tanzen, singen, jammern - und sich glücklich weinen. Atmo: Musik Atmo: Bosporus, Galata Brücke Sprecher 1: Am Ende meiner Reise kehre ich noch einmal an den Bosporus zurück. Ein für jeden Besucher melancholischer Anblick sind die langen Reihen der Angler, die bewegungslos auf einer der Brücken stehen, fast Schulter an Schulter, die Arme auf das Geländer gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet. Zitator: "Durch den Nebel tönende Dampfschiffsirenen. Möwen im Regen auf muschel- und moosüberzogenen verrosteten Pontons. Männer, die von der Galata-Brücke aus angeln." Sprecher 1: So liest man es bei Orhan Pamuk. Hüzün ist hier mit Händen greifbar. Und der Fischer, den ich darauf anspreche, weiß sofort was ich meine. Atmo: Bosporus, Galata Brücke Fischer (auf türkisch) Overvoice-Sprecher Fischer: Es gibt Leute, die in die Meyhanes gehen und trinken und weinen und so ihren Hüzün abbauen wollen. Er empfiehlt sich aber, wenn man traurig ist, hierher auf die Galata-Brücke zu kommen! Es empfiehlt sich, hier an der frische Luft zu angeln anstatt den Wirt der Meyhane reich zu machen! Hierher kommen reicht völlig, wenn man Hüzün hat! Atmo: Musik

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Buchtipp: Orhan Pamuk und Gerhard Meier Istanbul Erinnerungen an eine Stadt Broschiert 432 Seiten für 9,95 Euro Fischer Verlag Frankfurt ISBN-13: 978-3596177677

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