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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst Figuren in Weiß Über Ärzte in der Literatur Autor und Sprecher: Professor Jürgen Wertheimer * Redaktion...
Author: Berthold Weiner
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst

Figuren in Weiß Über Ärzte in der Literatur

Autor und Sprecher: Professor Jürgen Wertheimer * Redaktion: Ralf Caspary Sendung: Donnerstag, 30. Mai 2013, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Wissen/Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

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Ansage: Mit dem Thema: „Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur“. Es gibt sie an zwei Fronten: Einmal sind es die schreibenden Ärzte wie Gottfried Benn oder Arthur Schnitzler, zum anderen sind es die berühmt gewordenen ArztFiguren wie die in Thomas Manns "Zauberberg". Irgendwie scheint sich der Dr. med. gerade im fiktionalen Bereich sehr wohl zu fühlen, irgendwie scheint es viele Berührungspunkte zwischen Literatur und Medizin zu geben. Hier wie dort blickt man hinter die Kulissen, man seziert, untersucht, diagnostiziert, man sucht die Wahrheit und wird immer wieder mit dem körperlichen Verfall konfrontiert. Jürgen Wertheimer, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen, erklärt, was Ärzte in der Literatur zu suchen haben.

Jürgen Wertheimer: Das Thema ist brisant, wer wollte das leugnen? Aber Literatur, ausgerechnet Literatur, was könnte sie dem Thema geben, was kann sie überhaupt noch geben? Was kann sie dem ewig gleichen Spiel „Arzt – Patient“ hinzufügen, das nicht längst bekannt wäre? Nehmen wir ein Beispiel für dieses besondere Verhältnis – ein Verhältnis der besonderen Art. Richter und Henker, Lehrer und Schüler, Tod und Teufel, Priester und Herde sind auch Relationen der besonderen Art. Doch wenn Arzt und Patient einander gegenüberstehen und sich ins Auge sehen, sind das Momente von herausgehobener, subtiler Dramatik. Kein Pathos, keine großen Effekte – dramaturgisches Understatement pur. Und doch Hochspannung: subkutan, selbst im Normalfall. „Dr. K. begrüßte (ihn) mit jener gewissen, stämmigen und aufmunternden Herzhaftigkeit, als wolle er andeuten, dass Auge in Auge mit ihm jede Befangenheit überflüssig und einzig fröhliches Vertrauen am Platze sei.“ Die kleine Handreichung aus der Feder Thomas Manns ist ein Muss für jeden „Medizinmann“, diese Fähigkeit, Vertrauensvorschuss bedingungslos abzurufen und die Frage nach der Grundlage dieses Vertrauens als geradezu „absurd“ auszuschalten bzw. als nachgerade „unseriös“ zurückzuweisen. Ohne Thomas Manns Zauberberg als medizindidaktisches Kompendium missbrauchen zu wollen, gleich noch eine zweite goldene Regel aus dem Gespräch zwischen Dr. Krokowski und Hans Castorp als Stellvertreter des „Patienten schlechthin“. Nämlich die: Patienten kommen nicht einfach – es gilt sie herzustellen. Und wer könnte das besser als ein Arzt: Man leite das Gespräch mit einem herzlichen Grußwort ein und stelle en passant eine Frage wie: „Herr Castorp. (…) Sie kommen zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“

SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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In den meisten Fällen wird der so Angesprochene zwar zunächst ebenso perplex wie trotzig das Angebot zurückweisen und die absurde These seiner „Gesundheit“ in den Raum stellen. Dann tut der Arzt gut daran, Nachsicht zu zeigen, freundlich zu bleiben und dem Betreffenden Zeit zu geben. Dr. Krokowski verhält sich in diesem Sinn musterhaft, indem er die Gesundheitsbeteuerung Castorps mit geschulter Freundlichkeit aufnimmt, hinnimmt, – und zugleich ihre Haltlosigkeit dezent offenbart: „Wahrhaftig?“, fragte Dr. Krokowski, indem er seinen Kopf (…) schräg vorwärts stieß und sein Lächeln verstärkte (…) „Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen.“ Es ist ratsam, das Thema nun eine Zeit ruhen zu lassen, es in das Bewusstsein ihres zukünftigen Patienten wie ein wohltuendes Narkotikum einwirken, einsickern zu lassen. Und zugleich jene kleine Spur oder Dosis Gift zu verabreichen, von der Musil sagt, sie sei die wichtigste Essenz zum Erreichen eines gesteigerten, grenzgängerischen Lebensgefühls. Am besten also, man flicht plaudernd eine kurze Sequenz über die Familienverhältnisse, den Beruf u. ä. ein, um dann in einer gezielten Schlusssequenz spielerisch-versiert, zugleich gnadenlos präzise zuzustoßen: „… Und Sie werden also keinerlei ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in körperlicher noch in psychischer Hinsicht?“ „Nein, ich danke tausendmal!“, sagte Hans Catorp und wäre fast einen Schritt zurückgewichen. Da brach das Lächeln Dr. Krokowskis wieder siegreich hervor, und indem er dem jungen Mann aufs Neue die Hand schüttelte, rief er mit lauter Stimme: „Nun, so schlafen Sie wohl, Herr Castorp – im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und – auf Wiedersehen!“ Es ist unnötig zu sagen, dass die subtile Intoxikation bald Wirkung zeitigen wird. Bereits im Verlauf der eben herbeigewünschten guten Nacht schliddert der Patient in spe in eine traumatische und dramatische Veränderung seiner Befindlichkeit. Das Morgengrauen findet den jungen Mann an einem Punkt, den man nur als den Anfang vom Ende, auf jeden Fall als das Ende des gesunden Anfangs sehen kann. Von nun an wird er, der nur für ein paar Tage und nur auf einem Besuch in dem Sanatorium „Zauberberg“ zu bleiben beabsichtigte, zu einem Dauergast auf sieben Jahre werden und alle, wirklich alle Krankheitsstadien exemplarisch durchlaufen. Ich räume ein, der Fall Castorp ist ein Idealfall, und Dr. Krokowski steht für einen ganz besonderen Arzttypus, einen besonders „fragwürdigen“ möglicherweise, aber doch in Realiter vorhanden. Ich spreche nicht vom Halbgott-in-Weiß-Klischee der Trivialromane. Aber wir kennen ja alle, wissen es ja alle, dass dieser Habitus, Blick, Gestus uns domestiziert, bannt, lähmt, hilflos macht und ermutigt, kooperativ und widerständig zugleich zu sein, vernünftig und hoch emotionalisiert alles über uns ergehen zu lassen. Wenn es darum geht, sich in die Rolle des Subjekts und des Objekts, des Täters und des Opfers zugleich hineinzudenken, ja Täter und Opfer, Arzt und Patient zugleich zu sein, sind Autoren prädestinierte Doppelbegabungen. Häufig sind Autoren Ärzte, noch häufiger sind sie Patienten, wobei ihr Lebensstil sogar zu einer besonders SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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intensiven Erfahrungsdichte, was diesen Zustand betrifft, führt. Ich denke dabei gar nicht an Alkoholexzesse oder Nikotindämpfe, sondern an etwas noch tiefer Sitzenderes, Abstrakteres. Obwohl dieses Wort – Abstraktion – in Anbetracht der Materie, mit der wir es zu tun haben, eigentlich nicht zutreffend ist, weil in diesem Metier, mehr als in allen anderen, Materie, biologische Materie und zugleich auch: Geistiges, Seelisches – Empfindungen, Gedanken – in einer Weise aufeinander stoßen, ineinander verwachsen sind wie in keinem zweiten Arbeitsfeld. Überall sonst überwiegt jeweils die eine oder die andere Komponente des Lebewesens Mensch, in der Theologie, der Technologie, den Geisteswissenschaften, selbst in der Juristerei. In der Medizin aber ist jeder Gedanke in Fleisch gearbeitet, jede Nervenfaser aber auch mit einer Idee verbunden. Und die Ärzte unter den Autoren (natürlich nicht nur sie, sie jedoch ganz besonders) haben ein extrem waches Sensorium für diesen Aspekt der Schnittstelle Mensch. Ob Schnitzler, Büchner oder Benn, sie alle schreiben (mit zum Teil bestürzender Präzision) und vollständig unbekümmert um moralische Tabus, wobei die Provokation ein Produkt der wissenschaftlichen Genauigkeit und nicht wie gemeinhin Resultat eines gezielten Verstoßes ist. Es fällt nicht ganz leicht, das Verfahren, die Technik dieses klinischen Blicks auf die Natur des Menschen zu beschreiben. Das Verfahren hat weder mit Kälte noch mit sadistischer Lust an der Vivisektion zu tun. Es handelt sich meines Erachtens eher darum, die Dinge weder erbarmungslos noch erbarmungsvoll, noch auch erbärmlich darzustellen, sondern sie einfach so präzise wie möglich zu beschreiben. Und es handelt sich weder darum, dieses Ding „Mensch“ ans Licht zu zerren noch auch es in ein schonendes Halbdunkel zu rücken, sondern es – schattenlos, voll ausgeleuchtet – zu belichten, zu durchleuchten. Friedrich Schiller, Autor und Mediziner, den man sich – gedankenträge und bequem wie man nun mal ist – angewöhnt hat, als „Idealisten“ zu sehen, seziert z. B. in seinen Räubern das gesamte „Räderwerk“ der Maschine Mensch. Der junge Arzt hat auch als Dramatiker die erklärte Absicht, sich „tief in die Seele seiner Figuren zu begeben“, „scharf ins Herz“ ihrer Empfindungen zu „schneiden“. Im Gegensatz zu zartbesaiteteren Kollegen will er die Moral sezieren, die Gefühle „skelettieren“, den Menschen „häuten“. Das geht in die Muskeln und Nervenbahnen bis tief ins Mark, Rückenmark, unter die Haut dessen, was man als Figur auf die Bühne stellen kann. Mitten im wohlanständigen, aufgeklärten 18. Jahrhundert, wo jede Körperlichkeit doppelt und dreifach kodiert war, stellt er ein Wesen auf den Prüfstand seiner theatralischen Anatomie. Und exponiert die Figuren, ohne auf Kategorien wie „gut“ und „böse“, „taktlos“ oder „dezent“ auch nur im Entferntesten zu achten. Vierzig, fünfzig Jahre später wird ein 24-Jähriger, von dem ein Kollege später sagen wird, die Musen hätten ihm von Geburt an die Augenlider weggeschnitten, Georg Büchner, in seinen Stücken und Erzählungen solche wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden gleichzeitig verwenden, konkretisieren und einer Kritik unterziehen. Und zwar nicht zuletzt dadurch, dass er den Arzt selbst, das Menschenexperiment selbst zum Gegenstand der Erkundung auf offener Bühne macht. Woyzeck, umgeben von einem Heer ebenso wissenschaftsgläubiger wie skrupelloser Ärzte, die sich des Patienten als eines Objekts bedienen, ihn zum Befehlsempfänger ihrer Untersuchungen degradieren und wie ein Stück biologische Masse ausschlachten. Aus der Feder eines Autors, der in seiner Habilitationsschrift SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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die Nerven der Flussbarben sezierte, den Befund auf das Gehirn und die Seele der Menschen hochrechnete und ebenso kühl wie provokant en passant ein neues, rein organologisches Menschenbild skizzierte; Theologen und Teleologen aller Couleur mögen sich mit verkrampften Händen an den Fakultätstischen festgehalten haben als der junge Dozent 1836, vermutlich mit leicht blasierter Selbstverständlichkeit, Ungeheuerliches behauptete. Was er postulierte, war eine perfekte Widerlegung des Traums von der besten der Welten, ist ein scharfer Schnitt in die „Blase“ der idealistischen Wünsche, denn:) „(…) die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist, oder, um ein anderes Beispiel zu geben, wir haben nicht Hände, damit wir greifen können, sondern wir greifen, weil wir Hände haben. (…). Die Natur handelt nicht nach höheren Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zielen auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da. (…).Bei den geistreichen Versuchen, die sie (die Philosophie) gemacht hat, weiter zu kommen, muß sie sich mit der Resignation begnügen, bei dem Streben handle es sich nicht um die Erreichung des Ziels, sondern um das Streben selbst.“ Büchner legt eine Spur, die sich bis in das lyrische Kabinett von Dr. med. Gottfried Benn, einem Protagonisten der Moderne verfolgen lässt. Wobei gerade bei ihm die Kehrseite des nur wissenschaftlich grundierten Blicks auf den Menschen zum Vorschein kommt: Pathologischer Befund und psychopathologische Monomanie des Arztes als Autor stimulieren einander auf nicht ungefährliche Art. Ein glatter, gewollt zynischer Materialismus der Wahrnehmung gerinnt zur provokanten Pose, zum Habitus einer professionellen Verachtung, der schaudern macht und machen soll. „Mit vierzig fängt die Blase an zu laufen-: Meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde Von Sonne bis zum Mond -? Was kläfft ihr denn? Ihr sprecht von Seele – Was ist eure Seele? Verkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett – Schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu, (…) Mit Pickeln in der Haut und faulen Zähnen Paart das sich in ein Bett und drängt zusammen Und säet Samen in des Fleisches Furchen (…) Das Allgemeine wird gestreift. Gott Als Käseglocke auf die Scham gestülpt -: Der gute Hirte - !!.-.- Allgemeingefühl! -: Und abends springt der Bock die Zibbe an.“ Dass derselbe Poet und Wissenschaftler sich dem NS-Staat in peinigender Weise anzudienen versuchte, ist sicher weder Zufall noch Marginalie. Es ist im Übrigen der NS-Partei geschuldet, dass aus dem Pakt mit einem „Entarteten“ nichts wurde.

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Verlassen wir nun dieses Terrain, das wichtig ist, jedoch den Rahmen dieses Essays dezidiert überschreiten würde. Mit dem Skalpell sich ins Leben einzuschreiben, einzuschneiden ist immer ein wenig grenzwertig, und mit der Kälte zu kokettieren, kann leider nicht nur peinigend, sondern auch peinlich werden. Man muss nicht in die Moderne vorstoßen, um das Gefährdungspotential, das mit dem Arztberuf verbunden ist, wahrzunehmen. Um das Bild des Arztes im Licht der Literatur jedenfalls war es seit langer Zeit nicht unbedingt positiv bestellt. Besonders wenn er in Personaleinheit mit dem Pfarrer auftritt. Das resignierte Abwinken des Einen verbunden mit dem Auftritt des Anderen glich einem Todesurteil. Selbst ein Voltaire geriet da für einen Augenblick bei solch massivem Auftritt von Sterbehelfern ins Schwanken. Aus persönlicher Erfahrung kennt man es, dass der Arzt nichts sagt, der aus dem Krankenzimmer entschwebende Geistliche alles. In Schnitzlers Professor Bernardi wird genau dieser Moment zur Schlüsselszene: Das Eindringen des Geistlichen zerstört den letzten euphorischen Traum einer Sterbenden und beschleunigt ihren Tod. Der Versuch des jüdischen Professor Bernardi scheitert nicht nur am Widerstand der christlich-gläubigen Kollegen – der kleine Vorfall löst eine ganze Lawine aus, die eine gewaltige weltanschauliche Debatte nach sich zieht – vergleichbar in etwa mit der Beschneidungsdiskussion heute. Daneben finden wir den Arzt meist noch in anderen, auch nicht sonderlich angenehmen Rollen, als geschwätzigen Profiteuer, der den Patienten nur als Kunden sieht und bedingungslos ausbeutet. Oder als Pseudowissenschaftler, der für seine oft ebenso skurrile wie dubiose Forschung im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen geht. Der Held des Romans Doktor Katzenbergers Badereise von Jean Paul bezieht alles im Leben auf sein Spezialgebiet, einen Zweig der Anatomie, und schart um sich ein wahres Gruselkabinett an Monstrositäten, Ausgeburten und Fehlentwicklungen. Ein grauenhafter Fundamentalist einer seelenlosen Hi TechMedizin, den Marcel Reich-Ranicki zutreffend als den ersten Fachidioten der deutschen Literatur – wohlgemerkt nicht der deutschen Medizin – beschreibt. Ein Typus von gnadenloser Wissenschaftsgläubigkeit, der sich bis zu den sadistischen Ärzten Büchners durchzieht. Ein Literat der Zeit, Börne, vermerkt, dass „weniger Menschen an wirklichen Krankheiten sterben als an der Systemsucht der Ärzte: Es sei die traurigste aller Todesarten, wenn man an einer Krankheit stirbt, die ein anderer hat“. Da lobe ich mir den vergleichsweise gesunden satirischen Skeptizismus eines Molière, der ja eher aus der Sicht eines Patientenvertreters avant la lettre argumentiert. Ich wage hier und heute nicht zu entscheiden, ob seiner satirischen Attacke auf die Medizin eine Art autoaggressiver Impuls zugrunde lag. Und ob man sich selbst dafür bestraft, doch immer wieder – und heute vielleicht mehr denn je – einem System zu vertrauen, von dessen Wirkungslosigkeit man zutiefst überzeugt ist. Wie heißt es hierzu so wunderbar in Molières Hypochonder („malade imaginaire“), als eine Figur sich darüber ereifert, dass manche Patienten partout nicht davon abzubringen seien, Krankheit, Heilung und den Beruf des Arztes in einen kausalen Zusammenhang bringen zu wollen? „(…) das ist köstlich; man untersteht sich und will von den Doktoren gesund gemacht werden. Dazu sind die Ärzte nun wirklich nicht da, (…) sie haben Medikamente zu SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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schreiben und Kasse zu machen. Zum Gesundwerden sind die Patienten da, nicht die Ärzte.“ Folgt man Molière, gleicht ein idealtypisches Arzt-Patienten-Verhältnis einem hochaustarierten Spiel zwischen zwei Parteien, besser gesagt zwischen zwei professionellen, eingespielten Teams. Dilettanten haben hier nichts zu suchen, denn hier gilt allein die Wissenschaft: „(…) es ist ein Vergnügen, sein Patient zu sein. Ich würde lieber an seiner Behandlung sterben als an der eines andern genesen; denn wie es auch immer enden mag, bei ihm hat man die Gewißheit, daß es nach den Regeln der Kunst zugeht (…). Man hat (..) das erhebende Gefühl, daß man mit Methode gestorben ist.“ (S. 189) Methodisches Sterben, ein klinischer Tod aus der Hand hochqualifizierter Spezialisten – ein abschreckendes Bild – hoffentlich – fern der Wirklichkeit, nicht nur zeitlich, sondern auch in der Sache. Von einem „Roman der Medizin“ spricht Molière ausdrücklich und verweist damit alle mit Medizin verbundenen Ängste wie auch Hoffnungen ins Reich der Fabel: „Wenn ein Arzt zu dir von Hilfe, von Rettung, von Entlastung deines Körpers spricht, wenn er der Natur entziehen will, was ihr schadet, wenn er ihr geben will, was ihr fehlt, wenn er sie wiederherstellen und ihr die volle Beherrschung ihres Wirkens wiedergeben will, wenn er dir sagt, daß er dein Blut reinigen, deine Eingeweide und dein Gehirn säubern, deine Milz abschwellen lassen, deine Brust entlasten, deine Leber heilen, daß er dein Herz stärken, die natürliche Körperwärme wiederherstellen und bewahren will und daß er das Leben noch durch viele Jahre zu erhalten vermag, dann hörst du von ihm nichts anderes als den Roman der Medizin. Wenn du dich aber der Wahrheit und der Erfahrung gegenübersiehst, findest du nichts von all dem, wie bei einem schönen Traum, der dir beim Erwachen nur das Unbehagen hinterläßt, an ihn geglaubt zu haben.“ So interessant dieser Typus des bisweilen skurrilen, bisweilen dämonischen, oft auch verbrecherischen Arztes auch sein mag – gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt – nicht zuletzt aufgrund der Fortschritte der Medizin – ein radikaler Umschwung des Arztbildes ein; das frühere „Der Arzt geht – der Pfaffe kommt“ wird zu etwas anderem: „Der Pfaffe kann gehen, denn der Arzt kommt.“ Kommt und hilft. Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts wird der Arzt zu einer Projektions- und Symbolfigur, in der sich Humanität, Fortschrittsglaube und Technologie zu begegnen scheinen, zu einem Repräsentanten einer Theologie ohne Gott. Ärzte werden zu Heilsbringern stilisiert. Ein Hauch davon mag bis in die Gegenwart weiterwirken, zumindest was die Erwartungen betrifft. Jedenfalls können wir Verbraucher an uns immer wieder beobachten, dass der Blick des Arztes uns bannt, ob er es will oder nicht. Der Patient verwandelt sich bis zu einem gewissen Grade in ein hilfloses, pflegebedürftiges kleines Menschenwesen, das bereit ist, sich in die Hände auch der gefährlichsten Maschinerie zu begeben, sich weit über die Grenzen seiner sonstigen Widerstände auszuliefern, hinzugeben, zu kooperieren. Bis auf wenige Widerständler, die dann oft recht schnell dem Verdacht des Querulantismus ausgesetzt sind. SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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Gottlob ist die Phase des irrationalen Verklärens von Ärzten als Schamanen in Weiß weitgehend überwunden. Was die Problematik der Wechselbeziehung nicht geringer macht. Man weiß ja, dass das Wegbrechen von Autorität ein höchst ambivalentes Phänomen darstellt. Einerseits ist es natürlich ein erwünschter, geradezu befreiender Akt. Andererseits stellt sich die Frage: Was tun mit der neu gewonnenen Freiheit? Und der daraus resultierenden Verantwortung? Was tun mit einem Theologen im Freizeitlook, der von „Sünde“ nur mehr als urzeitlichem Petrefakt spricht, was heißt spricht, therapeutisch plaudert? Was mit einem Richter, der nicht mehr dein Henker ist, sondern dein Sozialpartner? Was mit einem Arzt, der einfach helfen will? Ein Wertevakuum öffnet sich, Weltbilder geraten ins Schwimmen. Wo die Autorität fehlt, beginnt das Chaos. Keine Angst, ich will nur spielen und hemmungslos übertreiben. Und spintisieren. Längst hat eine ebenso überflüssige wie offenbar dennoch überfällige Gesundheitsreform das Leitbild „Arzt“ in einem Maße verändert und entzaubert, dass sich Patient und Arzt auf überraschende Weise unvermutet auf Augenhöhe wieder finden: beide als Opfer des Systems – jedoch nicht der Wissenschaft, sondern eines Bürokratismus, der beide gnadenlos vor sich hertreibt. Der Patient wurde zur Kundennummer 08/15 geschrumpft, der Arzt zum Winzling in Weiß gedeckelt. Aus dem Herrschaftsverhältnis wurde eine Notgemeinschaft auf Augenhöhe, eigentlich der Beginn einer „Solidargemeinschaft“ wie sie als Traum so vielen Dichtern – ex negativo – vorgeschwebt haben mag. Lassen Sie uns das nochmal für einen Augenblick durchspielen, diese Dreiheit (Trialog) von Patient, Arzt und Autor. Manchmal verteilt auf drei Rollen. Nehmen wir den Fall Theodor Storm, Dichter und Krebs-Patient in einer Person. Er bricht vollständig zusammen, als die Ärzte ihm die Diagnose eröffnen. Unter dem Eindruck des desaströsen Zusammenbruchs entschließen sie sich zu sagen, es hätte sich um einen Irrtum, eine Fehldiagnose gehandelt. Der Patient „gesundet“ – vollendet sein Meisterwerk und stirbt erst dann. Ähnlich bei Theodor Fontane. Man ist im Begriff, ihn mit der Diagnose „hochgradige Gehirnanämie“ stationär einzuweisen. Da entschließt sich ein Arzt zu einem anderen Vorgehen: Er setzt alle Medikamente ab, empfiehlt eine leichte Schreibtherapie. Auch Fontane wird gesund und vollendet sein Meisterwerk, Effi Briest, dessen Hauptfigur am Eine eines eigentümlichen, unheimlichen und zugleich ästhetisierten Todes stirbt. Sie verlischt aufgrund eines tuberkulös grundierten Selbstauflösungsprozesses, eine Todesart, die im Übrigen fast allen Frauen, die sich im kultivierten 19. Jahrhundert in den Augen der Gesellschaft eines Deliktes schuldig gemacht hatten, auf den Leib geschrieben wird. Sozusagen die weiche Art der Steinigung. Ich weiß nicht, ob das in Zeiten der vollständigen Dokumentation, der Dokumentation der Dokumentation noch geht. Wenn nicht, sollte der moderne Arzt sie trotzdem versuchen: die hohe, durchaus artistische Kunst der subtilen Täuschung, der humanen Dosierung von „Wahrheit“ und man weiß inzwischen, dass die Verabreichung von Placebos nahezu dieselbe „Wirkung“ hat wie die bitterer Pillen. Er sollte seinem Patienten bisweilen ein paar Tropfen des wichtigsten Placebos gewähren: dem der Hoffnung. Ich weiß: Die Präzision des Befundes ist wichtig. Die Deutung des Befundes verlangt bereits mehr als nur Fachwissen, verlangt Gespür, Zusammenhänge zu sehen, sehen zu wollen. Die Kommunikation der Diagnose SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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schließlich ist das Feld, in dem ein Arzt sein Fachgebiet nicht nur verlässt, sondern verlassen muss. Er betritt in diesem Moment das Reich der Sprache, des Sprechens, des Dialogs, des Erzählens von Geschichten, des Übersetzens. Des Übersetzens von Technologie in Lebenswirklichkeit, von Fallstudien in Erfahrung von Individuen, einzelnen Menschen. (Gleichwohl ich, dies sei hinzugefügt, die Fähigkeit von Medizinern, sprachkreativ tätig zu sein, in Metaphorik zu schwelgen, nicht gering einschätze, spreche ich hier von der Sprache als eher fremdem Territorium). Mehr als andere Berufsstände spiegelt der des Arztes den Zeitgeist und die gesellschaftlichen Grundeinstellungen der Moderne. Jedenfalls verbindet kein anderer Berufszweig Technik, Humanität und Gesellschaft so unmittelbar. Und – wie gesagt – nirgends ist die Dreiheit und Austauschbarkeit von Subjekt, Objekt, Medium (Arzt, Patient, Text) so dicht und so flexibel wie hier. Man kann sagen, die Medizin wird in der Moderne zum Simulationsraum der Wirklichkeit. Die Literatur ist dies seit jeher: Simulationsraum für Vivisektion ohne Blut. Die Medizin wiederum repräsentiert die in Fleisch gearbeitete Variante. Ich fürchte, Sie werden sagen, na ja, Soft Science, Philologie, Sonntagsrede, Nostalgie. All das meine ich nicht. Ich spreche nicht von vager Sehnsucht, Ethos: Ich plädiere aber für eine auf den einzelnen Menschen bezogene Anatomie der Unbestechlichkeit. Ein überaus erfolgreicher, junger Arzt und Autor, Uwe Tellkamp, hat das besser, als ich es je sagen könnte, ausgedrückt, was ich meine – und dabei kommt ein vielleicht überraschender Parallelismus zwischen der Arbeit des Autors und des Arztes zum Vorschein (der vielleicht dazu ermutigen könnte, mehr zu kooperieren) voneinander zu lernen: Auf die Frage ob es Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Berufen gibt, antwortet Uwe Tellkamp: „Was mir gemeinsam zu sein scheint bei Ärzten, die auch Schriftsteller waren – seien es Benn, Döblin oder Bulgakow und Tschechow – ist der relativ nüchterne, in gewissem Sinn klinische Blick. Das heißt: Der Arzt kennt den Körper – in seiner Schwäche, im Altwerden und gleichzeitig weiß er um die Schwierigkeit der Diskretion. Als Arzt sieht man den Patienten nackt, verletzbar und muss immer wieder eine Balance finden zwischen dieser Körperlichkeit, dieser Nacktheit und der Diskretion, die dazugehört und mich als Arzt begleitet. Das ist ein sehr schwieriger Zustand (…). Ein ähnlicher Zustand ist auch beim Schreiben da. Meine Figuren sind in einem gewissen Sinne nackt, während ich als Autor bekleidet bin. Mir geht es immer wieder darum, Diskretion gegenüber Figuren zu bewahren und ihnen nicht zu nahe zu treten. Eine zweite Gemeinsamkeit ist die Ähnlichkeit zwischen Diagnose und Diagnoseverfahren, Annäherung, Vortasten und meiner Art zu schreiben.“ Eine objektive Diagnose, die keine Simplifizierung darstellt, sondern in eine Steigerung der Komplexität der Phänomene mündet und keine Entwürdigung des Objekts beinhaltet. Vom Blick des Arztes wollte ich reden. Jetzt rede ich von dem des Autors. Beides in der Hoffnung, Sie dazu anzuregen, darüber nachzudenken, ob man vielleicht doch beide Blickwinkel braucht, auch um ein guter Arzt zu sein. Worum sonst sollte es gehen als um ein nüchternes, ernsthaftes Sich-Herantasten, diagnostisches SWR2 Aula vom 30.05.2013 Figuren in Weiß – Ärzte in der Literatur Von Professor Jürgen Wertheimer

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Wechselspiel aus drei Blickwinkeln, eine Obsession, unter die Haut zu gehen und dennoch nicht zu verletzen, sondern zu heilen und auf alle „Weltanschauungen“ zu verzichten, zugunsten des Prinzips „Leben“ oder, einen Grad weniger pathetisch, des „Prinzips Überleben“ von jedermann und: Koste es, was es wolle! Ein frommer Wunsch? Möglicherweise. Denn längst befindet sich auch die Medizin im Zeitalter ihrer medialen Reproduktion. Wird der Mythos ihrer Perfektibilität wirkmächtig ins Bild gesetzt. Der letzte Schrei: eine Doku-Soap zum Thema BypassSetzen, vorgeführt vom Kardiologen im OP von einer TV-Moderatorin reportageartig kommentiert – atemlos wie eine Fußballübertragung. So als würde die tagtägliche Arbeit Tausender von Kliniken erst wirklich wahr, wenn auch sie im Fernsehen vorkommt. – Grotesk.

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* Zum Autor: Jürgen Wertheimer studierte Germanistik Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte an den Universitäten München, Siena und Rom, promovierte (summa cum laude) und habilitierte sich an der LMU München, wo er auch zum Privatdozenten ernannt wurde. Er folgte einem Ruf an die Universität Bamberg und 1991 an die Universität Tübingen. Dort hat er den Lehrstuhl für Internationale Literaturen/Neuere deutsche Literatur inne. Bücher (Auswahl): – Die Venus aus dem Eis: Wie vor 4.000 Jahren unsere Kultur entstand (zusammen mit Nicholas Conard). Btb-Verlag. 2013. – Schillers Spieler und Schurken. Konkursbuchverlag. 2012.

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