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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Überlebensagentur Ein Café als Heimat Autor: Peter Meisenberg Redaktion: Nadja Odeh Regie: Maidon Bader Sendu...
Author: Eike Koch
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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Überlebensagentur Ein Café als Heimat

Autor:

Peter Meisenberg

Redaktion:

Nadja Odeh

Regie:

Maidon Bader

Sendung:

Mittwoch, 22.07.15 um 10.05 Uhr

Wiederholung vom 19.04.13

_________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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MANUSKRIPT

Musik Astor Piazzola: Tristeza, Separacion Gerardo D’Ambrosio: Es gibt das Café Sur und es gibt den Südkreuz-Stern. Eigentlich wir wollten den Namen „Café Sur“ als „Café Estrella del Sur“ nehmen. Und dieses Südkreuz, das hab ich mir mit meinem Bruder überlegt, das ist eine Sache, was wir in Argentinien, wo wir herkommen, da siehst du fast jeden Abend, wenn Sterne in dem Himmel sind, siehst du diese wunderschöne Konstellation. Alessandro Palmitessa: Ich bin ’97 in Köln gekommen. Und diese Entscheidung habe ich getroffen nach meinem Abschlussdiplom in Jazz- und Klassik-Musik in meiner Stadt Monopoli, in Süditalien. Arbeit in Nord-Italien und in Süditalien war für Musiker nicht einfach zu finden, und auch besondere Projekte zu realisieren, war auch nicht einfach. Erzähler: 1997 werden sich die Wege der beiden jungen Männer zum ersten Mal kreuzen. Im Frühjahr dieses Jahres hatte der italienischstämmige Argentinier Gerardo D’Ambrosio gemeinsam mit seinem Bruder Horatio in der Kölner Südstadt das „Café Sur“ aufgemacht. Im Herbst des gleichen Jahres kommt der Jazz-Saxophonist Alessandro Palmitessa in der Domstadt an. Alessandro Palmitessa: Und das war auch, wo ich erinnere, die Zeit, wo Berlusconi auch langsam an die Macht gekommen ist. Und unabhängig von das hab ich gesagt: Okay, ich versuche woanders, vielleicht nach New York oder Paris oder London zu fahren. Musik Keith Jarret: Köln-Konzert Alessandro Palmitessa: Und zufälligerweise habe ich eine deutsche Freundin in Bari kennengelernt, und sie hat mich über Köln erzählt, und dann kam diese Stadt in Erinnerung, weil ich immer die Platte von Keith Jarret gehört habe, das Köln-Konzert. Und das fand ich eine schöne Platte und schöne Musik und dachte: Vielleicht kann ich mich auch von dieser Stadt inspirieren lassen. Gerardo D’Ambrosio: Damals, als wir aufgemacht, ist das Film „Sur“ mit Piazzolla, Goyeneche und Solana geschrieben worden - und die Leute hatten direkt diese Assoziation mit dem Film gemacht: „Café Sur“. Und nicht „Café Estrella del Sur“. Aber in dem Logo ist zu erkennen, wie „Café Sur“ gemeint war. Aber ist auch in Ordnung. „Café Sur“ oder „Café Estrella del Sur“... Musik Astor Piazzola: Tristeza, Separacion

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Erzähler: In dem Film „Sur“ hatte sich der Regisseur Fernando Solanas mit der bis 1983 dauernden Militärdiktatur in Argentinien auseinandergesetzt. „Sur“ – „Süden“ – war darin die Metapher für ein besseres, ein freies Leben. Zentraler Schauplatz des Films ist eine kleine Bar namens „Sur“, vor der die Kapelle des Bandoneonisten Astor Piazolla spielt. Alessandro Palmitessa: Mein Plan in Köln war einfach, Musik zu machen. Ich war ausgebildet, und ich wollte mit der Musik arbeiten. Ich hatte schon Visionen. Ich wollte hier einfach mich musikalisch entwickeln, ich wollte meine Karriere weiterbringen. - Und in der ersten Zeit, als ich in Köln war, war sehr schwierig. Ich dachte, dass in Nordeuropa viel einfacher ist, Menschen kennenzulernen, aber das war nicht der Fall. - Dachte ich, okay, ich geh in Proberäume oder Jam-Sessions und versuch ich einfach, Kontakt zu machen. Das ist aber leider nicht so gewesen, ich habe Musiker kennengelernt, und ich habe versucht, mit denen Kontakt zu nehmen. Und wir haben so die Telefonnummer getauscht, ich habe angerufen und gesagt: Hast du Lust, heute was mit mir was zu probieren. Aber habe immer das Wort gehört: Leider keine Zeit. Das hat wirklich ewig gedauert, bis ich verstanden habe, dass in dieser Kultur muss man so langfristig einen Termin – auch mit Freunden – planen. Musik Alessandro Palmitessa: Cafe Sur Alessandro Palmitessa: Ich habe musiziert, aber es war alles so geregelt oder geplant, und es gab nicht diese offene Tür für mich. Es war sehr schwierig. Gerd Köster: Das hab ich hier entdeckt, wie der Laden gerade aufhatte und hab gedacht: Ach du Scheiße, der arme Kerl. Weil hier waren vorher schon Lokale drin, die nie funktioniert haben. Und da hab’ ich gedacht: Do hätt der wahrscheinlich Pech gehabt, - aber das ging dann innerhalb von kurzer Zeit doch recht schnell. Erzähler: Der Sänger Gerd Köster gehört seit der Eröffnung des „Café Sur“ zu seinen Stammgästen. Gerd Köster: Der Kaffee ist gut, das sollte man nicht unerwähnt lassen, konnte man immer schön was essen, konnte man damals auch noch rauchen hier drin! (lacht) Und das Publikum war bunt gemischt, so, wie man es sonst nicht so in Cafés hat. Gerardo D’Ambrosio: Zuerst wir haben gedacht, wir machen ein Konzept, genau wie unsere Eltern in Argentinien gemacht haben, ein bisschen für Europa angepasst. Meine Eltern hatten fast vierzig Jahre ein Lebensmittelgeschäft gehabt in Argentinien und eine Bar. So ähnlich wie Café Sur. - Mein Papa ist Italiener. Mein Papa hatte offene Türen und offene Gedanken – und hier genau das gleiche: Bei uns sind sehr viele unterschiedliche Menschen, von ganz einfachen Menschen bis ganz intellektuell, aber es ist alles ein Gast! Und es sind alles Menschen und sind Menschen geblieben bei uns, und das ist sehr wichtig. 3

Gerd Köster: Und dann ist auch ein bisschen Zufall, dass du hier schon mal plötzlich – im Sommer sitzt man ja draußen – schon mal Konstellationen am Tisch sitzen hast, die du sonst nirgendwo findest. Wo schon mal der Finsterpützer neben dem Schriftsteller sitzt oder so. So, als wäre das normal. Und plötzlich ist es auch normal. Und so was habe ich immer sehr geschätzt, wenn es sich so dem Viertel entsprechend auch ein bißchen mischt. Musik Alessandro Palmitessa: Cafe Sur Erzähler: Und in dieses Café stolpert eines Abends im Spätherbst 1997 auch der Saxophonist Alessandro Palmitessa, frustriert von vergeblichen Versuchen, in der Musikszene der Stadt Kontakte zu knüpfen. Alessandro Palmitessa: Und der einzige Ort, die mich diese Situation erleichtert hat, war das Café Sur. Weil das Café Sur eine kleine Café ist, mit kleine Tische, manchmal viele Leute und sind alle sehr nah. Und auch den Gerardo, und den ehemaligen Besitzer, den Bruder von Gerardo, Horatio, die waren sehr höflich mit mir, und die haben auch mit mir italienisch gesprochen, und die haben auch das ganze Café mich vorgestellt, - als Musiker. Ich habe Gerardo und Horatio erzählt, was ich für Musik mache, meine CD gegeben, sie waren auch fasziniert. Und dann haben sie so für mich Werbung gemacht. Erzähler: Das Kaffeehaus, schreibt der österreichische Dichter H.C. Artmann, sei eine magische Botansiertrommel, in der man die seltsamste Flora der Stadt finden könne: Zitator: Gescheite und Dumme, Hässliche und Schöne, Arme und Reiche, Junge und Alte, Bezaubernde und Bezauberte, Stotternde und Wohlredner und weiß Gott, was dort alles noch seinen kleinen Braunen trinkt, oder, wann’s geht, einen französischen Cognac. Stammgast, Lehrerin: Hier sind ganz viele verschiedene Menschen, junge, alte, und alle sind willkommen. Das merkt man. Kinder sind willkommen. Die behinderten Kinder unserer Schule kommen oft hierhin. Die sind genauso willkommen wie irgendein Promi. - Die Menschen, die berühmt sind, die sind in der Regel hier als Privatpersonen. Die werden auch nicht angequatscht oder angemacht, sondern die können so sein wie sie sind, die treffen sich dann hier und reden. Erzähler: Die Lehrerin aus der benachbarten Waldorfschule bezeichnet das „Café Sur“ als ihr „zweites Wohnzimmer“. Ganze 75 Quadratmeter ist es klein, die acht Tische stehen dicht beieinander und sind fast rund um die Uhr besetzt.

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Stammgast, Lehrerin: Hier sind sehr viele natürlich aus Südamerika oder spanisch sprechende Menschen. Die bringen ein ganz anderes Temperament mit. Aber da wir das in der Schule auch haben, ist das nicht neu sondern eher angenehm. Es ist fast familiär. Also nicht ganz, es hat noch die Distanz, die man vielleicht braucht, ab und zu, aber eben auch dieses Aufgenommenwerden. Es ist schon toll. Guillermo Malfitani: Gibt es Stammkunden, klar, aber es kommen auch neue Leute. Jetzt zum Beispiel die, denen es in Spanien nicht so gut geht. Kommen viele Leute aus Spanien oder Argentinien, die sich trauen, weiter in die Kälte zu kommen, so wie ich damals. Erzähler: Guillermo Malfitani ist wie Gerardo, der Inhaber des „Café Sur“, ein italienischstämmiger Argentinier. Er arbeitet als bildender Künstler und hat bei der Ausstattung der Räumlichkeiten mitgewirkt. Guillermo Malfitani: Die Café Sur, das ist auch mein Werk. Ich habe hier – was Sie alles sehen: Die Wände, die Tische und die Decke, ist meine Arbeit, mein Entwurf. Café Sur ist ein Kind von mir (lacht) teilweise. Gerardo D’Ambrosio: Immer wieder, dass viele Menschen durch die politische Situation, kommen immer mal wieder hierher und fragen: Wo kann ich? Wo ist das Standesamt? Wo finde ich das Bezirkshaus? Oder wo treffen sich die Spanier? Immer mal wieder. Wenn ich nicht den Tipp selber weiß oder geben könnte – ich kenn ordentliche Leute hier, wo man ein bisschen helfen kann. Musik Astor Piazzola: Vuelvo al Sur, Gesang: Roberto Goyeneche Erzähler: Das Vorbild für den Charakter seines Cafés als „verlängertes Wohnzimmer“ der Menschen aus dem Viertel und als eine Art Beratungs- und Vermittlungsbüro, hat Gerardo D’Ambrosio aus der Bar seiner Eltern in einem Dorf 300 Kilometer von Buenos Aires mitgebracht. Gerardo D’Ambrosio: Dieses von meinen Eltern war genau dasselbe: Das war ein Treffpunkt für die Gauchos; wenn Arbeit gesucht wurde und es kam ein Estancero, das ist ein Grundbesitzer in Argentinien, und sucht jemand, um die Pferde zu reiten, - und so ist das hier auch. Hier sind es Musiker und haben sich Musiker zusammengetroffen oder Künstler. Oder Leute, die einen Maler brauchen... genau das gleiche: Einfach unverbindlich Menschen zu verbinden. Gerd Köster: Das war ja früher mal und ist es teilweise immer noch so eine Art Büro, wo man sich trifft, um irgendwas zu besprechen. Es gibt keine festen Zeiten. Ich bin hier ab und zu auch abends noch, nach einem Gig, wenn es noch aufhat, - der hat ja abends nicht so lange auf, ist ja mehr so Tagesgeschäft. Manchmal, wenn er noch auf hat, geh ich schon mal nach einem Gig auf ein Gläschen. Es gibt keine festen Zeiten. 5

Michael Horbach: Ich hab’ ja nun Kunsträume, präsentiere Ausstellungen, zurzeit über Kuba, und ich muss mich natürlich auf dem Laufenden halten. Und das kann ich einmal, indem ich die Zeitungen hier studiere, und indem ich mit dem einen oder anderen darüber rede. Und ich treffe mich hier auch mit Kunstkritikern, mit Galeristen usw. Wo ich dann einfach sage: Ja, Café Sur. Und manche, die eben das sehr Edle gewohnt sind, die gucken zuerst mal. Ich sage: ja, komm rein hier, ist genau in Ordnung, das ist wunderbar. Alles stimmt. Erzähler: Der Stammgast, der das Café Sur von all seinen vielen Stammgästen wohl am meisten frequentiert, ist der die Hälfte des Jahres in Spanien lebende Ausstellungsmacher Michael Horbach – zumindest im Winter. Michael Horbach: Ich würd’ sagen, ich bin dadurch Stammgast, dass ich sehr oft schon um neun Uhr hier warte und hoffe, dass Gerardo kommt und die Tür öffnet. Also ich würd sagen im Durchschnitt drei, vier Mal am Tag schau ich rein, trink meinen Cortado, ab und zu ess’ ich mittags auch ein paar leckere Nüdelchen, lese vor allen Dingen die Zeitungen, die ja hier zahlreich vorhanden sind, und, was mich besonders erfreut, es gibt eben hier auch eine spanische Zeitung. Zitator: Das Wiener Kaffeehaus stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugängliche Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann. Erzähler: Die „Institution“, die Stefan Zweig in der „Welt von gestern“ beschreibt, ist ganz offensichtlich im „Café Sur“ wieder auferstanden. Denn für viele seiner Gäste ist z.B. die große Auswahl an Tageszeitungen - das Markenzeichen des alten Kaffeehauses - ausschlaggebend für ihren täglichen Besuch hier. Wie z.B. für den Künstler Raimund Luckwald, der jeden Morgen auf dem Weg ins Atelier für eine Stunde hier vorbeikommt: Raimund Luckwald: Jeder, der eigentlich hierhin geht, den ich kenne, schätzt, dass man hier vor allen Dingen sich hinter der Zeitung verkriechen kann. Ehrlich gesagt war es für mich ein wichtiger Punkt: Ich hab’ die Kinder in den Kindergarten gebracht und danach brauchte ich meinen Ausflug ins Erwachsenenleben und hab mich gefreut, dass es großformatige Zeitungen gibt, die ich nicht kaufen muss, sondern ich kaufe einen Kaffee und erkauf mir dadurch die Möglichkeit, für eine halbe oder eine Stunde abzutauchen in die Dinge, die man sonst, wenn man Frühstück gemacht oder Windeln gewechselt hat, nicht mehr so dazu kommt.

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Peter Sutter: Ich gehe natürlich hierher auch auf dem Arbeitsweg Kaffee trinken, - also Atelier in die andere Richtung und zögere den Arbeitsbeginn etwas hinaus. Und ich les dann hier die FAZ. Und weil ich immer als Erster hier bin, genau um neun, hab’ ich die auch meistens. Außer dann kommt Rainer und dann muss ich sie seufzend weglegen, - weil wir dann miteinander reden. (lacht) Erzähler: Peter Sutter ist ein Künstlerkollege von Raimund Luckwald. Raimund Luckwald: Wir beide legen immer die Zeitung weg, wenn der eine den anderen sieht. Aber sehr oft bin ich ja hier und freu mich, dass ich nur die Zeitung habe. Aber gleichzeitig unter Menschen sitze, den Kaffee nicht selber machen muss. Musik Miles Davis: Round Midnight Michael Horbach: Man kennt sich, aber man redet nicht so viel. Wenn man Lust dazu hat, okay. Es gibt so einen schönen Spruch: „Man kommt ins Café, um alleine zu sein. Dazu braucht man aber die anderen.“ (lacht) Genau so ist es. Erzähler: Und genau so geht es auch Katharina von Bormann, die ebenfalls seit Jahren Stammgast im „Café Sur“ ist. Katharina von Bormann: Also für mich ist das Café Sur vor allen Dingen ein Ort, wo ich sehr gut alleine hingehen kann, ohne das Gefühl zu haben, ich muss mich jetzt irgendwie schämen, wenn ich hier jetzt alleine rumsitze oder die Pärchen gucken mich merkwürdig an. Und das ist hier im Café Sur überhaupt nicht. Also da gibt’s ganz viele Leute, die allein hingehen, man kann da schön brav seine Zeitungen und Zeitschriften lesen oder vor sich her arbeiten – oder eben doch Freunde treffen. Zitator: Ein Wiener Café hat jene meditative Stille und das Zweckfreie Vergehenlassen der Zeit in sich aufgenommen, die jeder kennt, der ein orientalisches, ein türkisches Café besucht hat, und nicht aus Neugierde; sondern, wie die Anderen, als isolierter, inselbildender Gast, der sich möglichst weit weg setzt von allen übrigen Gästen. Zugleich doch ist es, das Café, unsere eigentliche Öffentlichkeit, ein in hunderte von kleinen Teilen zersprungenes Forum, aber überall und für jedermann betretbar. Erzähler: Die Gleichzeitigkeit von Öffentlichkeit und Alleinseinkönnen ist das, was den Charakter des klassischen Cafés ausmacht, wie ihn der österreichische Schriftsteller und notorische Kaffeehausgänger Heimito von Doderer beschreibt. Dazu gehört eine Kultur des In-Ruhe-Gelassen-Werdens.

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Heike Brauska: Ich könnte zu Hause einen Kaffee in Ruhe genießen. In Ruhe, mit mir alleine, in meiner Wohnung, stört keiner etc. Aber das ist ja nicht, was man manchmal will, manchmal möchte man ja schon den Blick aufs Leben, auf das, was um einen herum passiert, aber man möchte ihn alleine genießen. Und ich kann hier ins „Sur“ kommen... Erzähler: Und das tut Heike Brauska fast täglich. Heike Brauska: Ich kenn hier das eine oder andere Gesicht, Gerardo kenn ich ja, da sagt man sich Guten Tag, dann setz ich mich aber hin und nehm mir meine Zeitung und les erst mal in aller Ruhe, oder ich habe ein Buch dabei und lese. Oder ich hab’ was zu schreiben dabei und schreib was. Und so lange ich diese Tätigkeiten mache, wird auch kein anderer mich anquatschen. Auch Leute, die mich kennen oder näher kennen. Das ist so Ruhezone. Wenn ich das weglege, dann kann man auch miteinander reden. Und ich denke, das respektiert hier – ohne, dass es ausgesprochen wird – jeder. York Dippe: Das stimmt. Wenn man weiß, es kommt jemand rein, der morgens seinen ersten Kaffee in Ruhe trinken will und Zeitung lesen, - das merkt man schon. Erzähler: Wie die Maler Peter Sutter und Rainer Luckwald gehört auch York Dippe zu den morgendlichen Stammgästen und ist darauf erpicht, auch immer „seine“ Zeitung zu ergattern. Für gewöhnlich sitzt er am Tisch neben dem der Maler. York Dippe: Auch bei den Freunden und Bekannten aus der Nachbarschaft, die reinkommen und schon wissen: Der ist womöglich zum Zeitunglesen hier und dass man sich dann auch nur kurz begrüßen und dazusetzen, aber dann auch wieder in Ruhe lassen kann. Das ist ganz gut, dass ein bisschen das Ritual eingehalten wird und die Absprache stimmt. Aber ich finde eben und das strahlt das Café auch aus, - es ist so ein Einheitspublikum, man kennt sich untereinander, aber das heißt nicht unbedingt, dass man sich jetzt in langen Gesprächen irgendwie vertiefen muss. Raimund Luckwald: Zu meinem eigenen Erstaunen bin ich auch jetzt schon fast 20 Jahre an diesem Ort und stell dann fest, dass man plötzlich nach 10 Jahren Besuch dann - nicht unbedingt täglich, aber doch regelmäßig – dann doch mit jemanden ins Gespräch kommt, den man mindestens schon fünf Jahre lang vielleicht so mit einem Augenzwinkern gegrüßt hat. Also es sind langsame Prozesse. Aber ganz angenehm. Mit viel Zurückhaltung. Das schätze ich hier sehr. York Dippe: Und wenn man in den Sommerferien mal irgendwie weg gewesen ist, spätestens danach, wenn man wiederkommt, wird man angesprochen: Mensch, dich habe ich aber lange nicht gesehen und dann kommt man ins Gespräch und hinterher weiß man dann mindestens auch den Vornamen und die Geschichte oder fragt dann beim nächsten Mal nach: Was machst du eigentlich. Und auf diese Weise und über die 8

Jahre hat man wirklich viele Leute sehr gut natürlich kennengelernt. - Es ist Heimat. Es ist Nachbarschaft. Dadurch wird’s ja zum Dorf hier, gerade wenn man im Sommer draußen sitzt und das Treiben mit betrachtet. Es ist wirklich Heimat, es ist so der Dorfmittelplatz hier. Musik Alessandro Palmitessa: Cafe Sur Erzähler: Auch für den inzwischen in der Kölner Musik-Szene bekannten und erfolgreichen Saxofonisten Alessandro Palmitessa ist das Cafe Sur nach 16 Jahren zur Heimat geworden. Er hat ihm eine seiner Kompositionen gewidmet. Alessandro Palmitessa: In Café Sur mach’ ich alle meine beruflichen Termine oder auch Privattermine, das ist so mein zweites Büro. Ich komme oft hier, um Projekte zu besprechen oder zu konzipieren. - Für mich bedeutet es, eine neue Heimat hier zu haben, einen Zentralpunkt meiner Lebensqualität, kann ich auch sagen. Weil dieses Haus und diese Räumlichkeiten sind für mich ein Gefühl wie zu Hause, ich fühle immer, dass ich in diesem Café Sur herzlich willkommen bin. Peter Sutter: Aber um das Wort Heimat aufzugreifen: Ich als Ausländer, Schweizer, neige auch im Ausland nicht dazu, mich mit anderen, Schweizern, zusammenzutun. Da denk’ ich eher: Zu Hause würde ich auch nicht mit dem reden. Insofern sind natürlich auch nicht alle Besucher dieses Cafés meine Freunde. Also da würde ich, weil die jetzt auch ins Café Sur gehen, würd’ ich noch lange nicht mit ihnen reden. Erzähler: Allerdings gedeiht dort, wo Heimat ist, nicht nur die Freundschaft. Auch die Pflege von Feindschaften gehört ins Kaffeehaus. Der Schriftsteller Friedrich Torberg, vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg ein unermüdlicher Kaffeehausbesucher, kann ein ganzes Buch mit der Schilderung solcher Feindschaften füllen. Zum Beispiel über eine Begegnung im berühmten Wiener Café Herrenhof, kurz bevor es 1960 schloss und von immer weniger Gästen besucht wurde: Zitator: Eines Nachmittags waren es im Ganzen nur zwei. Am ersten Fenstertisch saß der aus Haifa gekommene Leo Perutz, und weit hinten in der linken Ecke, mit dem Rücken zu ihm, saß der in Wien lebende Otto Soyka. Die beiden hatten sich in den Zwanzigerjahren miteinander verkracht und konnten selbst unter den jetzt gegebenen Umständen, selbst als die einzigen Gäste des Café Herrenhof, nicht zueinander finden. Zwei der letzten Überlebenden von ehedem, boten sie in der trostlosen Leere des schemenhaft hingedehnten Raumes ein gespenstisches Bild. Raimund Luckwald: Wir sitzen hier, weil wir uns den Ort zu einem vertrauten Platz machen und weil die Mischung stimmt, aus den schon besagten Vorzügen. Und weil sich dann gerade im Sommer herrlich lästern lässt, wenn man vor Fenster hockt und mit den Augen eben doch mal über die Zeitung guckt. Da bietet das einem doch schon Vergnügen, falls dann ein Gespräch entsteht, denjenigen auf die Schippe zu nehmen. Auch zum Beispiel Leute, die man beharrlich ignoriert – und irgendwann sind sie weg. 9

Musik Astor Piazzola: Vuelvo al Sur, Gesang: Roberto Goyeneche Erzähler: Frühbesucher und Spätbesucher, Cortado oder Cappuccino, Geselligkeit und Alleinsein, FAZ oder Süddeutsche, Reden und Schweigen, Freundschaften und Feindschaften, Rituale aller Art, – auf seinen 75 Quadratmetern entfaltet das „Café Sur“ einen ganz eigenen kleinen Kosmos. Mag das Band zwischen seinen Stammgästen auch bloß lose geknüpft sein, - es kann auch Situationen geben, wo sie alle zusammenhalten. Zum Beispiel, als vor ein paar Monaten das Atelier des Künstlers Guillermo Malfitani abbrannte und neben seinen Materialien sein komplettes Werk – 440 Gemälde – den Flammen zum Opfer fielen. Guillermo Malfitani: Ich kam mit der schrecklichen Neuigkeit hierher, an dem Tag war auch Alessandro Palmitessa hier und Gerardo sowieso. Und dann haben die gesagt: Guillermo, wir planen was für dich, ein Konzert, muss mal mit den Künstlern und Musikern hierher kommen, machen wir was. Alessandro Palmitessa: Und jetzt bin ich in Köln erwachsen und hab ich gesagt, okay, jetzt muss ich was für Guillermo organisieren und mit Gerardo haben wir gesprochen und haben wir eine Veranstaltung organisiert mit dem Titel „Kunst in Flammen“. Und dort haben wir Künstler eingeladen, die tatsächlich ins Café Sur auch kommen. Wie Gerd Köster... Musik Gerd Köster: Dunn dat Alessandro Palmitessa: Und es war eine Erfolg-Veranstaltung, die in Café Sur konzipiert, geplant war für Guillermo, und es war rappelvoll, auch ein Erfolg für Guillermo, hat über 5.000 Euro gesammelt für seine neue Werkstatt. Erzähler: Das, was der alten Kaffeehauskultur den Garaus gemacht hat, schreibt Friedrich Torberg, ist: Die Zeit. Die Zeit nämlich, die den potentiellen KaffeehausStammgästen fehlt. Sie haben sie nicht mehr. Zitator: Und Zeithaben ist die wichtigste, die unerlässliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur, am Ende wohl jeglicher Kultur. Auch die Stammgäste der früheren Literatencafé waren beschäftigt: Zum Teil damit, im Kaffeehaus zu sitzen, zum Teil mit Dingen, die sie im Kaffeehaus erledigen konnten und wollten. Dort schrieben und dichteten sie. Dort empfingen und beantworteten sie ihre Post. Dort wurden sie telefonisch angerufen und wenn sie zufällig nicht da waren, nahm der Ober ihre Nachricht entgegen. Dort lebten sie. In ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus. Michael Horbach: Ich hab den Luxus, dass ich vor 10 Jahren meine Firma verkauft habe. Genau aus dem Grund. Ich wollte mehr Zeit haben. Ich wollte Gespräche führen, wenn ich Lust dazu hatte, ich wollte im Café sitzen, Kaffee trinken, Zeitung lesen, wenn ich dazu 10

Lust hatte. Und das genieße ich. Es ist ein Privileg, - aber ich denke, jeder Mensch hat eigentlich die Zeit dazu. Ich meine, die Kaffeekultur geht daran zugrunde, dass immer mehr so Standard-Cafés in die Welt gesetzt werden, eine Kette nach der anderen, - und dementsprechend – ist mein Gefühl – sind auch die Besucher. Das ist ein Brei, dasselbe, es ist nicht das Individuelle, was zum Beispiel hier im Café Sur ist. Musik Astor Piazzola: Tristeza, Separacion

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