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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Zeig was du kannst Die Portfolio-Methode im Unterricht Autorin: Marion Kranen Redaktion: Christoph...
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

Zeig was du kannst Die Portfolio-Methode im Unterricht

Autorin:

Marion Kranen

Redaktion:

Christoph König

Regie:

Felicitas Ott

Sendung:

Samstag, 28.11.09 um 08.30 Uhr in SWR2

Wiederholung:

Samstag, 12.02.11 um 08.30 Uhr in SWR2

___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Leben (Montag bis Freitag 10.05 bis 10.30 Uhr) und SWR2 Wissen am Samstag (8.30 Uhr bis 8.58 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem kostenlosen Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

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MANUSKRIPT

O-Ton-Collage 1 Schülerin 1: Das Portfolio dokumentiert halt den ganzen Werdegang bis hin zur Präsentation letztendlich und den Aspekt danach, was man eben gelernt hat, und so ne kleine Zusammenfassung. Schülerin 2: Das besteht aus Informationen, aber auch Kreativität steckt dahinter. Man sammelt Informationen und kreiert dazu ne Mappe mit Bildern, Comics, Hintergrundgeschichten. Schüler 1: Man schreibt ja auch Reflektionen rein und die Gedanken und alles, und da ist halt wirklich alles drin. Schülerin 3: Ich würde auch sagen, dass Portfolioarbeit eine Projektarbeit ist, bei der Schüler lernen, selbstständig in Gruppen Themen zu erarbeiten und über ihre Arbeit zu reflektieren. Ansage: Zeig, was du kannst! - Die Portfolio-Methode im Unterricht. Eine Sendung von Marion Kranen. Sprecherin: Schüler sprechen über Portfolio, eine neue, vielversprechende Art von Unterricht. Im Prinzip beinhaltet die Portfolio-Methode vier Kern-Elemente: Dokumentieren und Sammeln, Reflektieren und Präsentieren. „Portfolio“ leitet sich aus dem Italienischen ab und bezeichnete bereits in der Renaissance eine Mappe, die Architekten und Künstler mit sich führten, um sich zu bewerben. In der Mappe hatten sie Dokumente, die ihre bisherigen Arbeiten, ihren Stil und ihre Entwicklung dokumentierten. Angeregt durch erste Praxisberichte aus den USA in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Idee des Portfolios seit Beginn der 90er-Jahre auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst. In der Reformpädagogik finden sich historische und methodische Anknüpfungspunkte für die Idee. Das neue Konzept konnte sich insbesondere in einem bildungspolitischen Klima entwickeln, in dem individuelle Förderung, selbstständiges Lernen und veränderte Leistungsbewertungen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Und das ist in Deutschland seit der PISA-Studie der Fall. Gerade Lehrer haben sich in den vergangenen Jahren überlegt, wie sie ihre Schüler besser fördern können und beschäftigen sich deshalb auch zunehmend mit der Portfolio-Methode. O-Ton Collage 2

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Lehrer 1: Es ist die schülerzentrierteste Form des Unterrichts, die ich bisher kennengelernt habe. Lehrerin 1: Es kann eine Methode unter vielen sein, aber sie erfordert schon ein anderes Denken, dass die Lehrperson sich zurücknehmen kann. Sie erfordert schon, dass man die Schüler einbeziehen muss. Lehrerin 2: Portfolio ist plötzlich eine Sache geworden, wo man mehr macht als nur reinzugehen ins Klassenzimmer, sich berieseln zu lassen und wieder gehen. Sondern die Schüler merken plötzlich: Ich kann initiativ werden. Lehrerin 3: Ein Ziel, warum man Portfolio in Schule einsetzt, ist, die Schülerinnen und Schüler näher an ihr eigenes Lernen heranzubringen. Sprecherin: Portfolioarbeit in der Schule bedeutet ein verändertes Verständnis von Lernen und Unterrichten. Will man, wie Lehrerin Christine Biermann sagt, „an das eigene Lernen heranführen“, so setzt das voraus, dem Lernprozess viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als das im Schulalltag üblich ist. Zitator 1 Thomas Häcker: Portfolios dienen dem Zweck, das eigene Können (wie auch den eigenen Arbeitsstil und die eigene Entwicklung) anhand von ausgewählten Leistungsprodukten darzustellen. Portfolioarbeit ist Ausdruck eines auf Schülerbeteiligung zielenden Unterrichtsverständnisses. Sie betreibt „Spurensicherung“, um Lernwege und Lernergebnisse der Reflexion verfügbar zu machen. Sprecherin: Thomas Häcker ist Professor am Institut für Schulpädagogik der Universität Rostock und befasst sich seit Jahren mit Unterrichtsentwicklung und Portfolio. Die Geschichte des Lernens erzählen - so die bildhafte Umschreibung der Portfolioarbeit. Wie aber sieht das konkret im Unterricht aus, zum Beispiel in Mathematik? Christine Biermann: Wir haben ein Portfolio zu Traumwohnungen gemacht in einem 7. Jahrgang. Traumwohnungen als Anlass, um mit Flächen zu rechnen, um den Teppichboden auszurechnen in diesen Traumwohnungen, die Wände mit Farbe zu versehen, aber auch so etwas wie Umfangsberechnung für die Fußleisten zu machen usw. Und wir haben uns vorher darüber unterhalten, wie wohl diese Traumwohnung aufgezeichnet sein muss, was man dabei beachten muss. Wir haben uns Architektenzeichnungen auch angeguckt: Wie wird ein Fenster, wie eine Tür gezeichnet? Also bestimmte Vorgaben, die sozusagen von ihnen als Qualitätsmerkmal von außen akzeptiert wurden. Sie haben aber auch Geschichten zu diesen Traumwohnungen geschrieben, in welcher Situation sie sich gerade befinden: Sind sie noch Kind? Sind sie schon erwachsen, haben Familie? 3

Atmo Schule Bielefeld (Stimmengemurmel) Sprecherin: Christine Biermann ist Lehrerin und didaktische Leiterin an der Laborschule Bielefeld. Dort hat die Arbeit mit Portfolios schon 2001 begonnen. Die Portfolios zur Traumwohnung in ihrem Mathematikunterricht sind höchst unterschiedlich geworden, so unterschiedlich wie die Kinder, die die Häuser erfunden und berechnet haben. Hier eine ausführliche Beschreibungen der Einrichtung, dort ein knapper etwas holpriger Text. Mal sind Zahlen durchgestrichen, mal ordentlich untereinander aufgereiht. Die Formel der Flächenberechungen aber haben alle Schüler der 7. Klasse gelernt. Und auch wozu man sie braucht, ist ihnen klar geworden. Auf lange Zeit wird für sie die Flächenberechnung mit der Erinnerung an ihre Traumwohnungen verbunden sein. Nachzuschlagen in ihren Mappen, die in der Schule für alle gesammelt werden. Die Laborschule in Bielefeld ist eine Ganztagsschule mit reformpädagogischem Ansatz, anderem Stundentakt, anderer Raumgestaltung. Wo, wenn nicht an einer solchen Schule, sollten neue Konzepte und Methoden ausprobiert werden! Allerdings ist seit einigen Jahren ein wachsendes Interesse am Portfolio zu beobachten - auch an Regelschulen. Und so finden sich Beispiele für das Konzept an allen möglichen Schultypen und Orten. Atmo Klassenzimmer Oberhausen (Stimme Siyli und Stimmengemurmel) Sprecherin: Semra Siyli unterrichtet Deutsch an einer Gesamtschule in Oberhausen. Die Rahmenbedingungen hier unterscheiden sich deutlich von Bielefeld: keine Reformpädagogik, ganz normaler 45-Minuten-Takt, Abitur nach Klasse 12. Und wie an anderen Schulen auch ist die junge Deutschlehrerin an Lehrpläne gebunden. Semra Siyli: Was mir bisher nicht gefallen hat war, dass es häufig so sein konnte, dass die Schüler unglücklich sind, wenn sie jetzt im Stil gut sind, aber den Inhalt nicht so gut zusammenfassen können. Das, was man da sitzen hat, das ist ja auch ein Potential der eine ist in Geschichte gut, der andere ist vielleicht vom Stil her sehr gut, der andere ist sensibel, was die Sprache angeht. Und dieses Potential nutzt man als Lehrer. [Natürlich muss man denen auch einen Schritt voraus sein, aber man lernt viel dazu, weil mehrere Perspektiven zusammenkommen, und die ergeben ein viel facttenreicheres Bild, als das, was ich da quasi vorsetze.] Sprecherin: Semra Siyli war auf der Suche nach einer Arbeitsform, die mehr Eigenständigkeit zulässt und auch die Klasse bei der Aufgabenstellung mehr einbezieht. Vom Portfolio hatte sie im Referendariat gehört. Praxiserfahrung aber hatte sie keine. Im vergangenen Schuljahr wagte sie den Schritt und probierte im Alleingang diese neue Arbeitsform im Deutschunterricht einer 9. Klasse aus. Die Schüler und Schülerinnen entscheiden sich für den Roman „Das Parfüm“ von Patrick Süskind. Tim erinnert sich: Tim: Wir haben alle zusammen die Themen festgelegt. 4

Das war ja ganz neu, normalerweise gibt ja immer die Lehrerin oder der Lehrer die Themen vor und wir haben selber bestimmt, was drankommt und was wir überhaupt wissen wollten darüber, z.B. geschichtliche Hintergründe. Die Lehrerin hat uns auch freigestellt, dass wir auch selber bestimmte Themen machen, z.B. ich konnte eins nicht, dafür habe ich über was anderes geschrieben, über Düfte oder so was. Das fand ich auch gut, dass wenn man eins nicht kann, dass man das ausgleicht mit was, was man selber gut findet. Sprecherin: Tim hat - anstatt einen Comic zum „Parfüm“ zu zeichnen - lieber einen Text über die Duftstoffgewinnung geschrieben. Andere Aufgaben waren beispielsweise: - der Vergleich des Romans mit seiner Verfilmung - eine Darstellung von Paris im 18. Jahrhundert und heute - eine Kurzgeschichte schreiben, in der ein Mord geschieht - ein Titelbild entwerfen - eine Buchempfehlung fürs Internet schreiben. Die Schüler und Schülerinnen haben also ein breites Spektrum möglicher Themen entwickelt. Schreiben und Gestalten war in jedem Fall nötig. Und Lehrplanvorgaben wie Textanalyse und Textaufbau sind dabei selbstverständlich mit eingeflossen. Semra Siyli: Das war für sie das große Plus, dass sie gesagt haben: Wir haben uns die Ziele gesetzt, [wir haben die Aufgaben mit Ihnen formuliert] und wir wollten diese Aufgaben dann auch wirklich machen. Die Auswahl war ja wirklich so, dass sie hingehen konnten und sagen konnten: Wo sind meine Neigungen, was kann ich besser, kann ich einen Text eher analysieren, kann ich eher was zum Hintergrund schreiben oder bin ich eher der Kreative? Das war ihnen ja freigestellt. Sprecherin: Die Klasse hat die Arbeit am Portfolio als überaus positiv und frei gestaltbar erlebt. Und noch etwas ist Tobias und Pascal aufgefallen: Tobias: Das ging ja über mehrere Wochen, ich glaub über einen Monat, und da lernt man auch über einen längeren Zeitraum und nicht nur eine Woche wie für ein Referat, irgendwas vortragen. Man lernt dann über einen längeren Zeitraum, alles selbst zu machen. Pascal: Vor allem beim Referat ist das so, man lernt dann für den Vortrag und wenn man den gehalten hat, hat man meistens alles vergessen. Und bei dem, weil man da länger dran arbeitet, behält man auch manches. Atmo Schulflur, Pausenglocke Sprecherin: Länger an einem Thema arbeiten und davon mehr behalten als sonst - das hört sich gut an. So wie den Jugendlichen aus Oberhausen geht es auch Lisa und Steven. Sie haben an einem Gymnasium in Hockenheim bereits seit längerem Erfahrung mit Portfolios gesammelt. 5

Lisa: Am Anfang, wo wir das in der 6. Klasse angefangen haben, war das eher so: Was machen wir denn jetzt? Was soll das? Bringt mir das jetzt überhaupt was? Aber je mehr Portfolios man gemacht hat, desto mehr hat man gesehen, wie man lernt, selbstständig was zu erarbeiten. [Weil in der Schule ist das ja meistens so, dass man den Stoff so vorgesetzt bekommt, man muss halt einfach nur zuhören, man bekommt das so häppchenweise serviert - ist ja wunderbar. Nur bei den Portfolios war das eben so, wir mussten dann uns selber Themen suchen, mussten uns selber was erarbeiten.] Und ich finde, dass das schon was bringt, dass man diese Art selbstständig zu arbeiten lernt damit und dass das im Lauf der Portfolios immer besser geworden ist. Steven: Ich fand das auch, dass man diese Methodik gelernt hat, dass man in der Gruppe auf ein Ziel hin gearbeitet hat und mit den verschiedenen Charakteren auch klarkommen muss, weil anders geht das ja nicht. Das hat uns bei der ersten Präsentation ja auch das Genick gebrochen, meiner Gruppe, die war sehr schlecht, das war legendär. Da standen wir halt alle drei am Tisch und haben herumgedruckst. Das war lustig für alle, nicht für uns. Aber wir haben halt viel draus gelernt und das zweite lief auch viel besser. Das war auch mein Portfolio-Erlebnis, dass man sich so steigern kann, wenn’s mit der Gruppe nicht klappt. Sprecherin: Lisa und Steven haben ihre Schulzeit fast beendet und können aus einer gewissen Distanz zurückblicken. Sie haben gelernt, sich ihre Aufgaben zu organisieren und das Gelernte als Gruppe zu präsentieren. Zum Portfolio gehört aber auch das genaue Beschreiben der eigenen Arbeitsschritte. Das hat auch Hanno erfahren. Er geht in die 9. Klasse der Laborschule in Bielefeld, und er gehört keineswegs zu den begeisterten Anhängern der Portfolioarbeit. [Oft scheint es ihm zu zeitaufwändig und wie reine „Schönschreiberei“.] Hanno: Ich persönlich mag Portfolios nicht so gerne, weil ich schlampe gerne bei den Arbeiten ein bisschen rum. Aber ich verstehe schon den Sinn dahinter. Wenn man mal was nachschlagen will, dann ist es natürlich praktisch, das nachschlagen zu können. Das finde ich manchmal echt nicht schlecht, noch mal darüber nachzudenken, wo hatte man Probleme und wieso hatte man Probleme. Weil so im Nachhinein hatte ich bei jeder Arbeit mindestens ein größeres Problem, aber hätte ich mir das nicht noch mal in den Kopf gerufen, hätte ich es innerhalb von nem Monat wieder vergessen und bei der nächsten Arbeit würde ich es wieder, den gleichen Fehler machen. Sprecherin: Den Schwachpunkt, den Hanno benennt, kennen viele - auch außerhalb und lange nach der Schule. Hanno: Zeiteinplanung, da hab ich am Anfang nicht so ganz besonders viel gearbeitet, dachte, ach, wir haben noch was weiß ich wie viel Stunden Zeit, also muss ich das jetzt nicht so ganz angehen und im Endeffekt war ich dann so unter Zeitdruck, dass ich viel mit nach Hause nehmen musste. 6

Das habe ich bei den ersten Arbeiten immer wieder gemerkt, dass mir das passiert ist und jetzt versuche ich mich da zu bessern - ich bessere mich auch nach und nach. Aber es geht natürlich nicht mit einem Mal. Sprecherin: Mit seiner klaren Selbsteinschätzung beschreibt der Neuntklässler ziemlich treffend, worum es beim Portfolio geht: Darum, den eigenen Lernweg zu reflektieren, ihn nachzuvollziehen. Fast von selbst, so scheint es, kommen dann Fähigkeiten hinzu, die über den Stoff aus dem Lehrplan hinausgehen. Zitator 2: Von den Schülerinnen und Schülern wird bei der Portfolioarbeit erwartet, dass sie sich mit ihren Lernprozessen und Lernprodukten intensiv auseinandersetzen, dass sie immer wieder aus den Arbeitsprozessen heraustreten, in die Distanz gehen und selbst Einschätzungen vornehmen. [...] Die Portfolios sollen dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler sich bezüglich der bearbeiteten Aufgaben als selbstwirksam und kompetent erleben können. Sprecherin: … schreibt das „Netzwerk Portfolioarbeit“, ein Zusammenschluss von Pädagogen und Wissenschaftlern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Schüler, die sich als „selbstwirksam und kompetent“ erleben, scheinen im normalen Schullalltag eher die Ausnahme zu sein. Genau an diesem Punkt aber wird besonders deutlich, dass Portfolio mehr ist als eine neue Unterrichtsmethode. Portfolio beinhaltet eine völlig neue Auffassung von Bildung. Sylvia Pfeifer: Portfolio für mich als Lehrer bedeutet, dass ich auch einen Schüler seinen Weg gehen lasse. Natürlich wissen Sie viele Dinge besser als Schüler. Natürlich können Sie sagen, da, guck mal, ich hab ein schönes Buch für dich. Aber genau das ist der falsche Weg. Der Schüler soll seine Sachen finden. Und wenn er ein anderes Buch findet, das nicht so gut ist, dann hat er es trotzdem selber gefunden. Da kommen wir nämlich zum Thema Fehlerkultur. Ich sehe vielleicht: Der Weg, den der Schüler sich aussucht, ist steinig und der führt in eine Sackgasse. Aber ich hab schon so oft erlebt, dass ein Schüler eine ganz elegante Wendung macht und plötzlich auf einem Weg, von dem ich selbst nicht wusste, dass er irgendwie zum Ziel führt, da angekommen ist, wo ich ihn anders hingeschickt hätte. Aber davon hat er so viel gelernt, dass es die Zeit, die er - in Gänsefüßchen - verloren hat, durch Erfahrung wettmacht. Sprecherin: Silvia Pfeifer beschreibt hier eine deutlich andere Lehrerrolle. Mehr als die Schüler müssten nämlich die Lehrer umdenken und ihren - so Silvia Pfeifer selbstironisch angeborenen Hang zum Kontrollieren und Steuern ablegen. Die Englischlehrerin am Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Hockenheim weiß, wovon sie spricht. Seit fünf Jahren leitet sie schulinterne Fortbildungen zum Portfolio. Sie selbst hat die Portfolioarbeit im Jahr 2000 kennengelernt und Schritt für Schritt in der Schule mit eingeführt. Kontrolle abgeben, die Schüler ihren eigenen Weg gehen lassen - schön und gut. Auf der anderen Seite hat die Erfahrung gezeigt, dass Vorgaben und Orientierung seitens der Lehrer notwendig sind. 7

Verbindliche Angaben über Zeitraum und Umfang beispielsweise. [Ein Balanceakt zwischen klaren Rahmenbedingungen einerseits und Freiraum andererseits.] Sylvia Pfeifer: Dieser freie Unterricht ist sehr strukturiert. Das sieht man jetzt von außen gar nicht so, aber sobald ich freien Unterricht mit ungeregeltem Freiraum verwechsle, habe ich nur noch das Chaos. Ich lege das Dachthema fest, ich lege den Zeitraum fest, wann das Portfolio abgegeben werden muss. Ich lege fest, was ich vom Schüler erwarte. Ich lege als Lehrer sämtliche Kompetenzen fest, die ich im Verlauf dieses Projektes den Schülern vermitteln will. All diese Dinge sind fertig, geplant, fixiert, bevor ich das Klassenzimmer zum ersten Mal betrete. Sprecherin: Karl-Ludwig Matz ist von seiner Kollegin Silvia Pfeifer in die Portfolio-Methode eingeführt worden und hat inzwischen selbst Erfahrungen damit gesammelt. Seiner Meinung nach macht Portfolio zwar mehr Arbeit im Vorfeld, aber dafür gibt es weniger Stress während der Unterrichtsstunden, in denen der Lehrer plötzlich eine ganz neue Rolle einnimmt: Karl-Ludwig Matz: Ich bin anwesend und bin Ansprechpartner für die verschiedenen Gruppen ... Ich guck mir an, was ihr Problem ist. Aber ich geb keine Antworten, das ist ganz, ganz wichtig. Ich geb nen Impuls, das kann eine Frage sein, in welcher Form auch immer, der den Schülern helfen soll, wieder selbstständig weiterzuarbeiten. Die Selbstständigkeit ist das, was im Zentrum steht. Sprecherin: Dabei bleiben Lehrpläne der Jahrgangsstufen keineswegs unberücksichtigt. Steht bei Erdkundelehrer Matz Nordeuropa auf dem Lehrplan, dann können die Schüler und Schülerinnen aus diesem Oberthema ihre jeweils eigenen Fragen entwickeln. Beim Thema Fischfang im Nordatlantik haben sich ein paar Schüler mit Fischarten, Aquakulturen und Überfischung beschäftigt. Beim Thema Island interessierten sie vor allem Gletscher und Vulkane. Sylvia Pfeifer: Die Dinge, die sich Schüler selbst erarbeiten, z.B. im Lauf eines Portfolioprojektes, dass die Ergebnisse viel nachhaltiger, noch ein Jahr später präsent sind, als wenn man im normalen, lehrerzentrierten Unterricht irgendwelche Sachverhalte mitteilt. Schüler können Wissen besser speichern, das sie von Grund auf selbst erarbeitet haben. Ich werde nie die Motivation eines Schülers wecken können, wenn ich ihn nur Dinge herausfinden lasse, die ich als Lehrer längst weiß. Die Wahl des Gruppenthemas und die Wahl der Forschungsfrage sollte eigentlich Schülerinteressen widerspiegeln. Und schon allein, dass ich als Schüler einem Lehrer etwas erzählen kann, was der nicht weiß, ist so ne Motivation, dass wir das einem Schüler nicht nehmen sollten. Sprecherin: In der Praxis bedeutet der Unterricht mit Portfolios für die Lehrer also ein komplexes Wechselspiel von Vorbereitung und Freiraum, klaren Vorgaben und Zurückhaltung.

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Oswald Inglin unterrichtet Englisch und Geschichte an einem Gymnasium in Basel und ist im Netzwerk Portfolioarbeit aktiv. Die komplexe Beziehung von Unterricht und Portfolio hat er sehr genau untersucht. Und kann sie in wenigen Worten beschreiben: Oswald Inglin: Es gibt drei verschiedene Konzepte von Portfolioarbeit. Die erste ist: Das Ganze läuft zu Hause und hat mit dem Unterricht nur am Rande zu tun. Das zweite ist, man lässt die Portfolioarbeit einfließen von den Schülern in den Unterricht rein und der Unterricht hat Auswirkung auf die Portfolioarbeit der Schülerinnen und Schüler. Und die dritte Variante ist Portfoliounterricht ist Regelunterricht. Das dritte geht nicht. Also ich möchte als Lehrer oder Lehrerin die Klasse als Klasse unterrichten, manchmal auch tatsächlich frontal und gerade zur Literatur mit den Schülern etwas erarbeiten, wo ich sehr stark Einfluss nehmen möchte. Also eine gute Mischung ist ganz, ganz wichtig. Sprecherin: So wie Lehrer auch mal etwas erzählen wollen, so wollen Schüler zeigen, was sie in der Gruppe oder allein zum Thema erarbeitet haben. Denn die schönste Sammelmappe nützt nichts, wenn sie keiner anschaut, würdigt oder nachfragt. Deshalb ist Präsentation ein wesentlicher Bestandteil des Portfoliokonzeptes. In den Gesprächen mit Schülern und Schülerinnen kommt heraus, dass dieser Teil der Arbeit zwar mit der meisten Aufregung verbunden ist. Aber wichtig ist sie trotzdem, die Präsentation vor einer kleineren oder größeren Öffentlichkeit, meinen Anna und Valerie aus Hockenheim: Anna: Eigentlich finde ich das gut, dass man das macht, weil es ist auch so, da lernt man frei zu sprechen, vor ner großen Menge und es fördert auch die Gruppen, dass die zusammenhalten. Wobei - das ist auch viel Arbeit, das Recherchieren und alles. Valerie: Ich bin auf jeden Fall selbstbewusster geworden dadurch. Ich kann mich noch erinnern, dass ich total aufgeregt war und gezittert hab und geschwitzt habe und total rot war und keine Ahnung beim Vortragen. Und jetzt ist das so ne Normalität für mich, jetzt geh ich halt nach vorne und trag auch mal was Kurzes vor, ohne mich wirklich drauf vorzubereiten. Oswald Inglin: Man muss sie präsentieren können, man sollte darauf stolz sein können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Portfolio nur aus Zwischenprodukten besteht. Dieses Endprodukt ist dokumentiert. Es sind beide Sachen, die Entwicklung und das Resultat müssen beide im Portfolio ersichtlich sein, entweder mit Belegen oder mit einer Schilderung, wie es dazu gekommen ist. Wenn ich die Zwischenprodukte sehe und im Gespräch gewisse Mängel zum Beispiel klar werden oder gewisse Stärken klar werden und dann abgemacht wird, wie dieses Produkt in eine endgültige Form gebracht wird, ist das ein sehr konstruktiver Prozess. Sprecherin: Der konstruktive Prozess, den Oswald Inglin hier beschreibt, setzt auf Schülerseite voraus, dass sie selbst ihren Arbeitsweg im Blick haben und beschreiben, dass sie mit Mitschülern und Lehrern darüber sprechen. 9

Aufseiten der Lehrer bedeutet es, den Schülern regelmäßig Rückmeldungen zu geben und ihre Arbeit kontinuierlich zu begleiten. Für Lehrer, die an solch dialogischen Formen interessiert sind, für Schulen, die auf der Suche sind nach anderen Leistungsbewertungen - für die bietet das Portfoliokonzept gute Ausgangsbedingungen. So setzen einige Waldorfschulen seit Neuestem Portfolios ein, um waldorfspezifische Abschlussdokumente zu präsentieren. Und auch an Regelschulen aller Art - von der Grundschule bis zum Gymnasium - werden entsprechende Erfahrungen gesammelt. An der Regionalschule in Bad Doberan hat das Portfolio 2008 Einzug gehalten - im Rahmen des sogenannten „Produktiven Lernens“. Dieses Projekt ist erstmals 2005 an einigen Gesamtschulen und Regionalschulen in Mecklenburg-Vorpommern eingeführt worden. Kern des „Produktiven Lernens“ ist die enge Verzahnung von fachbezogenem Lernen in der Schule und Lernen an selbstgewählten „Praxislernorten“ außerhalb der Schule. Das Portfolio mit seiner individuellen und variablen Ausrichtung passt hier gut dazu. Anke Weymann unterrichtet Kunst und Mathematik in Bad Doberan. Seit rund einem Jahr sind sie und ihre Kolleginnen nun dabei, die Arbeit mit Portfolios an ihrer Schule einzuführen. Anke Weymann: Für uns ist eine wichtige Basis gewesen, dass wir überhaupt zum Portfolio gekommen sind, zu merken, dass es viel wichtiger ist, Lernerfahrung zu machen. Es ist nicht immer erforderlich, genau diese Formel zu wissen oder jenes. Und in diesem Zusammenhang sind diese Lernerfahrungen wirklich ganz doll wichtig, weil das nicht nur kognitives Wissen beinhaltet, sondern gleichzeitig auch: Was habe ich im Umgang mit Menschen gelernt? Was habe ich gelernt, um Arbeiten zu organisieren? Was sind also Dinge, die ich können muss, damit ich mich selbst organisieren kann, Verantwortung für mich selbst übernehmen kann? [Und diesen Aspekt, den finde ich unwahrscheinlich wichtig.] Sprecherin: In der aktuellen Schul- und Bildungsdebatte geht es immer wieder um das Fördern von Kompetenzen. Genau da setzt für Anke Weymann die Portfolio-Arbeit an. Indem die Schüler und Schülerinnen zurückblicken und beschreiben, können sie begreifen, was sie eigentlich gelernt haben - ob im Blumengeschäft, in der Zahnarztpraxis oder beim Kundengespräch. Sie lernen, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen. Sie erhalten Anerkennung auch für solche Aufgaben und Ergebnisse, die nicht zum klassischen Unterrichtsstoff zählen. Anke Weymann: Wenn ich dieses Beispiel eines Schülers von uns sehe, der eigentlich ganz, ganz große Schwierigkeiten im Lesen hat, der gar nicht gerne schreibt und immer Angst hat, das, was er aufschreibt, könnte als nicht gut befunden werden. Und wenn der dann schafft, wirklich ganz ehrlich eine halbe Seite zu seinen Lernerfahrungen aufzuschreiben, dann ist das für diesen Schüler ein Riesenerfolg, ein Riesenschritt. Sprecherin: Die Fähigkeiten des Einzelnen in den Blick nehmen - bestärken statt be- oder gar ver-urteilen: Auch das ist Portfolio, betont Pädagogikprofessor Thomas Häcker aus Rostock: 10

Zitator 1 (Thomas Häcker): Konventionelle Formen der Leistungsfeststellung und -beurteilung richten ihr Augenmerk auf das, was nicht richtig gemacht wurde und zu verbessern ist. Durch Lehrende hervorgehoben wird meist das, was falsch ist in Rechtschreibung, Sprache, Stil usw. ... Demgegenüber setzt Portfolioarbeit ... bei den Kompetenzen an und lädt beide, Schüler und Lehrer, dazu ein zu zeigen, was die Schüler können. Sprecherin: Zeigen, was man kann. Von Fähigkeiten ausgehen, statt von Fehlern. Und sich dafür auch noch Zeit lassen. Wie soll das alles im normalen Schulalltag Raum finden? Vorbehalte und Skepsis bleiben bei solch einem neuen Ansatz nicht aus. KarlLudwig Matz aus Hockenheim: Karl-Ludwig Matz: Es bedarf der Lehrer, die bereit sind, sich drauf einzulassen. Viele haben Angst und sagen: Das kostet unheimlich viel Zeit, das sind zehn Doppelstunden, ich hab nur zwei Stunden Erdkunde. Oh Gott, ich komme mit meinem Stoff in der 6. Klasse gar nicht durch. Die Angst hatte ich natürlich auch. Meine Erfahrung war dann aber die, dass ich die Zeit, die ich am Anfang verliere, leicht am Schluss wieder einhole, weil Schüler nach einem Portfolio völlig anders arbeiten und viel zielgerichteter auch arbeiten, methodisch effektiver arbeiten als sie das vorher getan haben. Und ich muss sagen, der Zeitfaktor spielt für mich mittlerweile keine Rolle mehr. Sprecherin: Die Vorbehalte sind ernst zu nehmen. Denn in der aktuellen Bildungsdebatte werden ständig neue Methoden und Arbeitsformen gefordert, kursieren eher zu viel als zu wenig Schlagworte: Standards und individualisierter Unterricht, Evaluation und selbstständiges Lernen. Für die Schulen gibt es also genug zu tun. Portfolioarbeit jedoch bedeutet einen Prozess in Gang zu setzen, der Zeit braucht. Semra Siyli, die Einzelkämpferin aus Oberhausen, weiß darum, ist aber trotzdem optimistisch: Semra Siyli: Das ist ein langer Weg und ich arbeite da jetzt ein halbes Jahr dran. Und da sind viele, die arbeiten schon jahrelang dran und die sagen immer noch: Es verändert sich und man lernt dazu. Und das hat mich beruhigt, erleichtert und bestätigt. Sprecherin: Auf Dauer kann dieser Prozess nur gemeinsam gelingen, davon ist Christine Biermann überzeugt. Als didaktische Leiterin in Bielefeld kommt es ihr darauf an, die Aufmerksamkeit für Schul- und Unterrichtsentwicklung zu schärfen. Christine Biermann: Es wird ja immer dieser hohe Anspruch erhoben, dass Portfolio-Unterricht auch verbessern soll, dass das innerhalb der Unterrichtsentwicklung eingesetzt wird. Da ist jetzt wieder die andere Seite der Medaille: Wie muss Unterricht aussehen, damit Portfolio eingesetzt werden kann oder was kann Portfolio auch bewirken?

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Wobei ich glaube, dass eine besondere Güte von Unterricht da sein muss, um Portfolio einzusetzen. Als reine Methode, als eine Alternative zu den Noten und zu Klassenarbeiten wäre mir Portfolio zu wenig, dazu macht es zu viel Mühe. Da glaube ich tatsächlich, dass man den Unterricht und das Arbeiten mit Portfolio wirklich miteinander verschränken muss und sich darüber auch in einer Schule klar wird und nicht nur als Einzelperson, was das bedeutet. Sprecherin: Schul- und Unterrichtsentwicklung spielt auch für Felix Winter, Hochschulprofessor für Schulpädagogik in Zürich, eine zentrale Rolle. Nicht zufällig gehört er zu den langjährigen Verfechtern der Portfolioarbeit. Denn hier geht es um Lernkultur: Zitator 2 (Felix Winter): Wenn das Pflänzchen Portfolio nur langsam wächst und manchmal auch etwas schlapp aussieht, hängt das - meiner Ansicht nach - nicht zuletzt damit zusammen, dass es ihm an einem geeigneten Nährboden fehlt. An einer pädagogischen Kultur des inhaltlichen Interesses an den Schülerinnen und Schülern sowie ihren Leistungen, einer Kultur, die sich auf die Stärken der Schülerinnen und Schüler konzentriert und nicht auf ihre Fehler und Defizite, einer Kultur, die der Förderung verpflichtet ist und nicht der Selektion. Sprecherin: Für alle, die Erfahrungen mit der Portfolioarbeit haben, enthält dieses Konzept ein enormes Potential, um anders zu lernen und zu lehren. Es bietet Raum für offenen Unterricht, für andere Leistungsbeurteilungen, für individuelles Lernen und eine angemessene Würdigung von Schülerarbeiten. Es wäre voreilig, von einem Trend zu sprechen. Aber es gibt bereits viele Beispiele für erfolgreiche Portfolio-Arbeit im Unterricht. Und es ist gut, wenn sie Schule machen.

Literaturhinweis: Aufsatz "Vielfalt der Portfoliobegriffe. Annäherung an ein schwer fassbares Konzept" Aufsatz "Ein Medium des Wandels in der Lernkultur",

in: Ilse Brunner, Thomas Häcker, Felix Winter (Hg) Das Handbuch der Portfolioarbeit Kallmeyer 2006 Broschiert 272 Seiten für 21,95 Euro ISBN-13: 978-3780049414

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Netzwerk Portfolio Aufsatz: "Was gehört zu guter Portfolioarbeit?" ausgearbeitet vom Netzwerk Portfolioarbeit, Redaktion Felix Winter , S. 7/8. auf: www.portfolio-schule.de unter „Material“, Orientierungspunkt und Qualitätskriterien

Silvia Pfeifer / Joachim Kriebel Lernen mit Portfolio Neue Wege des selbstgesteuerten Arbeitens in der Schule Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 2007. Taschenbuch 145 Seiten für 14,95 Euro ISBN-13: 978-3525315378

Felix Winter Aufsatz "Portfolios zur Individualisierung des Lernens und des Beurteilens" Vortrag zur Eröffnung der gleichnamigen Tagung der ÖFEB-Sektion "Schulforschung und Schulentwicklung" am 6.6.08 in Linz, S. 8/9. auf: www.portfolio-schule.de unter „Material“

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