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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst Volksabstimmung über Europa Fluch oder Segen für die europäische Integration? Autor und Sprecher: Wolf ...
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst

Volksabstimmung über Europa Fluch oder Segen für die europäische Integration?

Autor und Sprecher: Wolf J. Schünemann * Redaktion: Ralf Caspary Sendung: Sonntag, 25. August 2013, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Wissen/Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

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Ansage: Mit dem Thema: „Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen?“ Immer wieder wird darüber diskutiert, ob man nicht die EU-Bürger stärker und direkter an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, durch Volksentscheide, Volksabstimmung, Referenden, wie immer man das nennen mag. Die EU-Bürger könnten dann eben direkt die Klimapolitik mitbestimmen oder die Finanzpolitik. Das Thema ist umstritten, Befürworter der plebiszitären Elemente versprechen sich mehr Demokratie, mehr Bürgernähe, ein Europa für die Menschen, Kritiker befürchten rein subjektiv geprägte Interessenkonflikte, die Bürger würden ja sowieso eher nach dem Bauchgefühl entscheiden, nicht nach sachlichen Punkten. Volksabstimmungen also ein Fluch oder Segen? Der Politikwissenschaftler Dr. Wolf J. Schünemann von der Universität Koblenz-Landau beantwortet die Frage.

Wolf J. Schünemann: Wenn man sich über europapolitische Volksabstimmungen Gedanken macht, dann kommt einem Deutschland als Beispiel bislang nicht in den Sinn. Stattdessen schaut man auf die europäischen Partner- und Nachbarländer, in denen solche Referenden in den vergangenen 20 Jahren seit der Maastricht-Reform abgehalten worden sind. Darunter finden sich Irland und die skandinavischen Staaten sowie Frankreich, Spanien, daneben aber auch die Niederlande mit ihrer Volksabstimmung über die EU-Verfassung 2005. Seit Anfang dieses Jahres denkt man bei diesem Thema vielleicht als erstes an die Briten. Deren Premierminister, gedrängt von einer starken euroskeptischen Strömung innerhalb seiner Partei, sah sich genötigt, eine Volksabstimmung über den Verbleib seines Landes in einer womöglich reformierten EU bis zum Jahr 2017 zu versprechen. Das Thema europapolitischer Volksabstimmungen erfährt derzeit eine gewisse Konjunktur, nicht allein im traditionell integrationsskeptischen Großbritannien, sondern in vielen Ländern des Kontinents. Dies trifft selbst für die deutsche Debatte zu. Es ist nun etwas über ein Jahr her, dass im Kontext der europäischen Staatsschuldenkrise auch hierzulande eine politische Diskussion über eine mögliche Volksabstimmung über die Zukunft der EU entbrannte. Auslöser dafür war insbesondere ein Interview von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit dem Magazin Spiegel, in dem dieser einen Volksentscheid über weitere Schritte der europäischen Integration in Aussicht gestellt hatte. Mit dieser für Schäuble selbst sowie die CDU insgesamt untypischen Position rannte er, so schien es, überwiegend offene Türen ein. Und immer mehr Stimmen wurden vernehmbar, die gerade im Rahmen der Europapolitik für eine Einführung direktdemokratischer Entscheidungsverfahren plädierten. Dies gilt in besonderem Maße für die Schwesterpartei CSU. Ihr Vorsitzender Seehofer hatte sich schon früher für europapolitische Volksabstimmungen ausgesprochen. Im Hinblick auf die Stabilisierung der Gemeinschaftswährung und die umfangreichen Garantien, die Deutschland in diesem Rahmen zu übernehmen hatte, brachte auch der ehemalige SPD-Finanzminister und – zum damaligen Zeitpunkt freilich noch nicht gekürte – Kanzlerkandidat der SPD Steinbrück, die Erwartung zum Ausdruck, in den SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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kommenden zwei Jahren müsse es zu einer Volksabstimmung über die Zukunft der EU kommen. Sein Parteivorsitzender Sigmar Gabriel griff einige Wochen später einen Vorschlag aus der Wissenschaft auf, wonach angesichts der Etablierung einer Haftungsgemeinschaft nachholend eine legitimatorische Grundlage zu entwerfen wäre, über die dann die Völker Europas in Referenden entscheiden können müssten (FAZ 3.8.2012). Es soll hier freilich nicht der Eindruck entstehen, als würden sich alle politischen Kräfte in Deutschland klar zu direktdemokratischen Entscheidungen im Allgemeinen oder europapolitischen Volksabstimmungen im Besonderen bekennen. Die derzeit kursierenden Wahlprogramme der im Parlament vertretenen Parteien zeigen in dieser Frage keine einheitliche Linie. Am klarsten fällt eine entsprechende Forderung noch im „Bayernplan“ der CSU, dem Programm für die Landtagswahl, aus: Darin findet sich ein Plädoyer für bundesweite Volksabstimmungen für drei europapolitische Entscheidungsfälle: nämlich die Übertragung neuer Kompetenzen auf die europäische Ebene, die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten sowie finanzielle Hilfen für die Partnerländer im Rahmen der Krisenpolitik. Eine vergleichbare Forderung ist im Programm von CDU/CSU für die Bundestagswahl indes nicht zu finden. Dasjenige der SPD enthält zwar einen Vorschlag zur Einführung bundesweiter Volksentscheide und -begehren. Dieser ist aber nicht speziell auf die Europapolitik gerichtet. Ähnlich verhält es sich im Programm der Linken. Bündnis 90/Die Grünen fordern ebenfalls Volksentscheide auf Bundes- und auf europäischer Ebene. Im Hinblick auf die Entwicklung der EU sehen sie indes die Notwendigkeit von europaweiten Volksabstimmungen. Das FDP-Programm beschränkt ein ähnliches Bekenntnis zu einer ebenfalls europaweiten Volksabstimmung auf die langfristige Vision der Gründung eines europäischen Bundesstaats. Trotz der abweichenden Positionen lässt sich festhalten: Die Thematik europapolitischer Volksabstimmungen ist zu einem Gegenstand der politischen Diskussion auch in Deutschland geworden. Deshalb scheint eine Auseinandersetzung mit dem Instrument der Volksabstimmung und mit der Frage, ob dieses Fluch oder Segen für die europäische Integration bedeutet, allemal geboten. Die folgenden Ausführungen können als Anstoß in diese Richtung verstanden werden. Sie beruhen auf meiner eigenen Forschungstätigkeit, die sich im Allgemeinen mit der europäischen Integration und im Besonderen mit europapolitischen Volksabstimmungen beschäftigt. Im Folgenden werde ich in drei Schritten Überlegungen zum Thema vortragen. Zunächst werde ich einen kurzen Einblick in die normative Theorie der direkten Demokratie geben. Schon immer kreist nämlich auch die wissenschaftliche Debatte um die Frage, ob direktdemokratische Entscheidungsverfahren im Sinne einer gleichsam gelebten Volkssouveränität eingeführt werden sollen oder ob sie das Funktionieren einer Demokratie eher gefährden. Im Anschluss daran möchte ich in einem zweiten Teil auf die Vielfalt direktdemokratischer Entscheidungsinstrumente eingehen. Welche Verfahren sind denkbar? Welche sind möglich? Welche sind insbesondere für Deutschland geeignet? Zuletzt möchte ich in einem dritten Teil die Besonderheit europapolitischer Referenden beschreiben. Ich möchte argumentieren, dass es sich hierbei um ganz spezielle Entscheidungssituationen handelt, in denen die strukturellen Gegebenheiten des Mehrebenensystems EU einen Vorteil für Integrationsgegner begründen können. SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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Im Mittelpunkt der Diskussion über den sinnvollen Einsatz direktdemokratischer Entscheidungsverfahren stehen die Vernunft und das Wissen, oder aus kritischer Perspektive eher: die Unvernunft und das Unwissen, des durchschnittlichen Wählers. Als handlungsleitende Disposition des Individuums ist dessen politisches Wissen, dessen aufgeklärte Informiertheit, dessen Fähigkeit zur vernünftigen Entscheidung Kernbestandteil jeder politischen Anthropologie, die letzten Endes darüber entscheidet, welches Beteiligungsniveau dem Einzelnen im politischen Prozess zugetraut oder – wie es diesbezüglich raffinierter argumentierende liberale Demokratietheoretiker formulieren würden – zugemutet werden kann. An den Polen eines normativen Großkonflikts um die Sinnhaftigkeit direktdemokratischer Verfahren stehen sich Anhänger liberal-repräsentativer Demokratievorstellungen und Befürworter einer tatsächlichen Selbstregierung des Souveräns oder zumindest einer „Starken Demokratie“ im Sinne Benjamin Barbers (vgl. Barber 1994) weitgehend unversöhnlich gegenüber. Die Anhänger eines positiven Menschenbilds, das sich von Aristoteles über Rousseau bis hin zu Pateman und Barber übertragen hat, tendieren dazu, die Selbstregierung des Volks in die Tat umzusetzen und die existierenden Strukturen politischer Repräsentation, wo nicht aufzuheben, da doch zumindest stark zu beschneiden. Ebendiese Selbstregierung ist den Verfechtern einer skeptischen politischen Anthropologie, die von Hobbes über Madison und Mill bis zu Schumpeter und Sartori reicht, eine gefährliche Illusion. Die direkte politische Partizipation des Einzelnen ist aus dieser Perspektive äußerst riskant und daher auf den gelegentlichen Wahlakt zu reduzieren, wobei die eigentliche politische Entscheidungsarbeit den gewählten Repräsentanten, den Eliten und Experten im Sinne aller Beteiligten zu überlassen sei. Was aber lässt sich von Seiten liberal-repräsentativer Demokratietheorie gegen die – zumindest gelegentliche – direkte Meinungsabfrage beim eigentlichen Souverän, gegen das Zurücktragen – so die wörtliche Übersetzung von lat. referre – von politischen Entscheidungen zu der in einer Demokratie ja in der Tat nie gänzlich suspendierten Legitimationsinstanz, dem Volk, einwenden? Das vorherrschende Argument gegen eine stärkere Partizipation der Bürger im politischen Entscheidungsprozess ist, dass diese nicht über das nötige Wissen, nicht über die kognitiven Fähigkeiten oder – etwas neutraler formuliert – die Aufmerksamkeitsressourcen verfügten, um über komplexe Sachfragen in modernen, ausdifferenzierten Staatswesen eine kompetente Entscheidung fällen und damit dem voraussetzungsreichen Anspruch der Selbstregierung gerecht werden zu können. Kaum ein anderer Vertreter des politischen Denkens hat die grundlegende Skepsis gegenüber einem umfassenden, in seinen Augen idealisierten Demokratieverständnis und den kognitiven Fähigkeiten der Durchschnittsperson für die politische Tätigkeit so klar, eingängig und polemisch formuliert wie der Ökonom Joseph Schumpeter in seiner politiktheoretischen Hauptschrift „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (Schumpeter 2005). In seiner Auseinandersetzung mit den klassischen Lehren der Volksherrschaft stellt Schumpeter die rhetorische Frage, wie es dem Volk überhaupt möglich sei zu herrschen (S. 389). Darauf gibt er selbst die nüchterne Antwort, Zitat: „das Volk herrscht in Tat und Wahrheit nie, aber durch Definition kann es immer dazu gebracht werden“ (S. 391). Warum die tatsächliche Selbstregierung des Volks Schumpeter zufolge allerdings auch alles andere als wünschenswert wäre, wird spätestens deutlich, wenn seine politische Anthropologie einige Seiten darauf ihren polemischen Zenit erreicht. Dort heißt es nämlich: SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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„So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig“ (ebd. 416-417). Die Unterstellung affektiven Handelns und emotionaler Entscheidungen findet sich bis heute in viel beachteten Arbeiten der Demokratietheorie und -forschung, wenngleich sie nicht überall mit gleicher Polemik vorgetragen ist. So machen etwa, anknüpfend an die ökonomische Demokratietheorie des Anthony Downs, Lupia und McCubbins die Frage nach Wissen und Information gar zum Ausgangspunkt dessen, was sie in ihrer gleichnamigen Studie als „Demokratisches Dilemma“ bezeichnen (Lupia/McCubbins 1998). Dieses besteht nach ihrer Auffassung darin, dass die Bürger, von denen im demokratischen Prozess eine vernünftige Entscheidung erwartet wird, nicht in der Lage sein könnten, ebendiese zu fällen. Gerade europapolitische Referenden, etwa Abstimmungen über die Ratifizierung einer Vertragsreform, erscheinen vielen Beobachtern als Entscheidungen über besonders komplexe Gegenstände, weshalb die Annahme nahe liegt, dass die Bürger zu einem aufgeklärten Votum über europäische Vertragstexte im Grunde genommen nicht imstande seien. Die liberale Skepsis gegenüber den kognitiven Fähigkeiten der Massen geht allerdings zu weit. Sie steht zu Recht im Verdacht eines elitären Dünkels, der mit einer demokratischen Grundhaltung nur schwer vereinbar ist. Die begründungstheoretischen Fundamente demokratischer Gesellschaftsordnung sind aus guten Gründen nicht auf die wie und von wem auch immer durchzuführende Wissens- und Vernunftevaluation der Legitimationssubjekte gebaut. Auch besteht eine gewissermaßen paradoxe Erwartung einer bekennend minimalistischen Demokratietheorie darin, dass man demselben Bürger, von dem man bezüglich politischer Sachfragen unvernünftiges Verhalten befürchtet, doch zutraut, das politische Spitzenpersonal durch Wahl zu legitimieren. Überzeugender scheinen demgegenüber pragmatische Einwände, die auf Effizienz und Effektivität politischer Prozesse abheben. Dabei ist das traditionelle pragmatische Argument, das besagt, dass in modernen Massengesellschaften sich nicht mehr alle Bürger wie in der attischen Demokratie gleichsam auf der Agora einfinden, beraten und entscheiden könnten, mit den modernen Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien nahezu hinfällig geworden. Es gibt mittlerweile technische Lösungen, die eine Beteiligung aller Bürger eines Landes auch praktisch ermöglichen würden. Es bedarf also schon eines näheren Blicks auf den politischen Prozess, um die weiterhin bestehenden Vorteile repräsentativ-demokratischer Praxis zu bewerten. In der Tat lässt sich – etwa mit dem italienischen Demokratietheoretiker Giovanni Sartori (vgl. Sartori 2006) – für Verfahren der Repräsentativdemokratie in der Regel eine Mäßigung der politischen Auseinandersetzung und insbesondere eine größere Bereitschaft zu Kompromiss und Verhandlung annehmen, als wenn einzig oder überwiegend nach partizipatorischen Verfahren und damit über isolierte Entscheidungsgegenstände

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sowie im grellen Scheinwerferlicht der Medienöffentlichkeit debattiert und entschieden würde. Sind europapolitische Volksabstimmungen also aufgrund von Effizienz- und Effektivitätsvorteilen repräsentativer Verfahren eher abzulehnen? Meines Erachtens nein. Denn es handelt sich bei den Entscheidungssituationen, für die Referenden dieser Art bisher in Betracht gezogen worden sind -also Vertragsreformen, Erweiterungen, neuerdings finanzielle Hilfen an Partnerländer-, ja nicht um irgendwelche politischen Sachfragen, sondern sie haben allesamt eine gewisse konstitutionelle Dimension. Es geht hier tatsächlich um die Gestalt und das weitere Funktionieren eines politischen Verbands, der EU. Ich möchte also argumentieren, dass angesichts dieser besonderen Abstimmungsgegenstände an einem gewissen Punkt des Integrationsverlaufs die EU-Politik eine direktdemokratische Legitimation einholen und die dazugehörigen Debatten aushalten können muss. Falls ihr dies gelingt, wären europapolitische Volksabstimmungen für die EU angesichts ihres bisherigen Mangels an demokratischer Legitimität gewiss als Segen zu bewerten. Wie aber könnte ein Referendum in Deutschland aussehen? Damit möchte ich mich im folgenden Abschnitt befassen. In der Debatte um direktdemokratische Verfahren im Allgemeinen und europapolitische Volksabstimmungen im Besonderen geraten die Begrifflichkeiten mitunter durcheinander. Deshalb möchte ich nun kurz einige typologische Unterscheidungen vornehmen und damit hoffentlich zur kategorialen Klarheit beitragen. Dies tue ich anhand von vier Begriffspaaren: nämlich 1. Referendum vs. Volksinitiative, 2. prädisponiert vs. nicht-prädisponiert, 3. obligatorisch vs. fakultativ, 4. rechtsverbindlich vs. konsultativ. 1.2.1 Referendum versus Volksinitiative Im Sinne einer klaren Begriffsdefinition kann bereits mit dem Referendumsbegriff eine analytische Trennung vorgenommen werden, nämlich anhand des Kriteriums, von wo aus eine Volksabstimmung initiiert wird. Ergreifen einige Bürger oder zivilgesellschaftliche Gruppen selbst die Initiative, indem sie eine direkte Konsultation meist mittels Unterschriftenkampagnen aktiv auslösen, dann handelt es sich um eine Volksinitiative. Kommt es zu einem Bürgervotum aber aufgrund der sei es freiwilligen, sei es verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Auslösung durch eine Regierung, aus dem Parlament oder durch sonstige Angehörige des politischen Apparats, jedenfalls nicht aus der Gesellschaft heraus, nur dann spricht man im engeren Sinn von einem Referendum. Mit Blick auf das deutsche Verfassungsrecht lässt sich feststellen, dass im Grundgesetz bisher kein Referendum vorgesehen ist. Ausnahmen bilden die Verfassungsgebung nach Artikel 146 sowie auch die Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29, bei dem allerdings nur die Bevölkerungen der betroffenen Bundesländer abzustimmen hätten. 1.2.2 Prädisponiert versus nicht-prädisponiert

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Eine bloße Verfassungsvorschrift zur Durchführung eines Referendums reicht nicht aus, um ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen. Die Durchführung von Referenden muss bis ins Detail geregelt werden, damit Wahlkampfmodalitäten und Ergebnis von allen Seiten akzeptiert werden. In Ländern mit Referendumstradition sind diese Regelungen – zusammengefasst möchte ich von einem Referendumsdispositiv sprechen – längst etabliert und werden gegebenenfalls immer wieder angepasst. Referenden in diesen Ländern sind also prädisponiert. In Staaten ohne eine entsprechende Referendumstradition – zu ihnen zählt Deutschland – müssten diese Regeln für den Präzedenz- oder sogar Einzelfall erst beraten und beschlossen werden. Solche Referenden lassen sich also als nicht-prädisponiert bezeichnen. Doch was gilt es im Einzelnen in Vorbereitung einer Volksabstimmung zu regeln? Die entsprechenden Regelungen in anderen Ländern enthalten verbindliche Aussagen dazu, wer den Termin und die Frage eines Referendums bestimmt; wer ggf. für die Verbreitung von neutralen Informationen zuständig ist; ob und in welcher Höhe öffentliche Mittel zu Kampagnenzwecken aufgewendet werden dürfen; ob und in welcher Weise öffentliche Mittel an Parteien und andere kollektive Akteure verteilt werden; wie viel Sendezeit und Raum den Kampagnen in Rundfunk und Fernsehen gewährt werden muss oder darf; u.v.m. Ich führe diese Elemente an dieser Stelle vor allem deshalb auf, weil sie deutlich machen, dass in der Tat nicht zu erwarten ist, dass sich ein Referendum quasi über Nacht beschließen und in kurzer Frist durchführen lässt. Sollte eine solche Option für Deutschland gewählt werden, müsste mit großer Wahrscheinlichkeit die Verfassung geändert werden. Im Anschluss daran müsste ein Referendumsdispositiv verhandelt und rechtswirksam beschlossen werden. Dann erst könnten Termin und Frage festgesetzt und eine Debatte in Gang gesetzt werden. Zumindest also für die derzeit üblichen Eilentscheidungen im Rahmen der Euro-Krisenpolitik scheint ein Referendum als bundesdeutsche Premiere mithin ungeeignet und unwahrscheinlich. 1.2.3 Obligatorisch versus fakultativ Eine wichtige dritte Unterscheidung ergibt sich aus der Frage, ob ein Referendum zu einer politischen Sachfrage verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist oder ob die Durchführung in der Entscheidungshoheit eines politischen Akteurs liegt. Ein Referendum, das sich direkt aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen ableitet, wie z.B. in Irland, wird in vielen Typologien als obligatorisches Referendum bezeichnet. Demgegenüber wird ein Referendum, das zwar als möglich vorgesehen, aber nicht verbindlich vorgeschrieben ist, in der Regel fakultativ genannt. Ein fakultatives Referendum sieht z.B. die französische Verfassung vor. Auf dieser Verfassungsgrundlage fand die Abstimmung über die EU-Verfassung 2005 statt. Das niederländische Grundgesetz enthält indes keinerlei Bestimmungen zu einem nationalen Referendum. Ähnlich wie in Deutschland gibt es in den Niederlanden bis heute keine verfassungsrechtliche Regelung zur Durchführung eines Referendums. Dennoch wurde im Kontext des europäischen Verfassungsprozesses durch einfaches Gesetz beschlossen, die Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrags dem Volk vorzulegen. Ein solcher Weg ließe sich unter Umständen auch in Deutschland beschreiten, um die hohen Hürden einer Grundgesetzänderung im Einzelfall zu umgehen. 1.2.4 Rechtsverbindlich versus konsultativ SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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Diese Überlegung führt mich direkt zu meiner vierten und letzten Unterscheidung: rechtsverbindlich versus konsultativ. Sie betrifft den Unterschied zwischen rechtlich bindenden Voten und solchen, über die sich andere Verfassungsorgane, meist das Parlament, in einem ggf. nachgeschalteten Entscheidungsprozess theoretisch hinwegsetzen können, indem sie einen gegenteiligen Beschluss fällen. Im letzteren Fall wird das Volk gewissermaßen nur angehört oder konsultiert, weshalb eine solche Abstimmung verbreitet als konsultatives oder nicht-bindendes Referendum bezeichnet wird. Das Attribut „konsultativ“ ist vorzuziehen, denn in der Praxis gibt es im Grunde kein nicht-bindendes Referendum. Die politischen Akteure sind in der Regel nicht in der Lage, Autorität und Legitimität eines direktdemokratischen Votums einzuholen, ganz gleich, was der Verfassungstext vorschreibt. Die Unterscheidung zwischen konsultativen und rechtsverbindlichen Referendumstypen ist dennoch praktisch relevant. In den Niederlanden war der konsultative Charakter des Referendums die notwendige Bedingung seiner verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Die Freiheit des Abgeordneten hätte eine Bindungswirkung durch ein Referendum nicht erlaubt. Ebenso konnte das Parlament in der Gesetzgebung anders als im Fall des französischen Referendums auch nicht umgangen werden. In ähnlicher Weise ist auch für Deutschland nur die Einführung eines konsultativen Referendums denkbar. Eine Umgehung des Parlaments oder eine Art imperatives Mandat für den Einzelfall des Referendums scheinen mit dem Grundgesetz, insbesondere dem freien Mandat des Abgeordneten nach Art. 38, unvereinbar. Es ist allerdings noch einmal festzuhalten, dass auch dieser Referendumstyp in der Realität bindende Wirkung entfaltet. Betrachtet man die Erfahrungen in anderen Ländern, so brauchen sich die politischen Akteure also nicht einzubilden, sie könnten eine Volksabstimmung kontrollieren und behielten im Zweifelsfall das letzte Wort. Das Referendum ist keine besonders aufwändige, öffentliche Meinungsumfrage, sondern schafft ein in der Regel uneinholbares politisches Momentum. Abschließend möchte ich noch auf eine Forderung eingehen, die in der europapolitischen Diskussion immer wieder zu hören und wie gezeigt auch in den Wahlprogrammen von Bündnis 90/Die Grünen sowie der FDP zu finden ist: ein europaweites Referendum. Sie klingt angesichts des europäischen Entscheidungsgegenstands zunächst nur konsequent und nimmt eine gemeinschaftliche Identitätsbildung gleichsam vorweg. Auch hier stellen sich allerdings einige politische und rechtliche Fragen, die tiefe Zweifel an der Möglichkeit eines solchen Vorhabens begründen. Nach welchen rechtlichen Regeln sollte eine solche Volks- oder besser: Völkerabstimmung durchgeführt werden? Wie könnte sie allseits akzeptable und verbindliche Ergebnisse produzieren? Müssten hierzu erst neue europäische Regeln gegeben werden, wäre dies kaum unterhalb der Schwelle einer Vertragsänderung möglich, deren Aussichten auf einstimmige Annahme seitens der Mitgliedstaaten, gelinde gesagt, nicht zum Besten stehen. Doch selbst wenn man sich auf eine europarechtliche Grundlage und darüber hinaus noch auf ein gemeinsames Verfahren, einigen könnte, was bliebe von der Einigkeit nach Ausgang der Abstimmung? Nehmen wir einmal an, eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer stimmte für eine EU-Vertragsreform, aber die sicher publikumswirksam veröffentlichten Resultate für einzelne Länder, etwa Frankreich, Großbritannien, Tschechien, zeigten abweichende Mehrheiten: Wäre es in einer solchen Situation denkbar, dass sich Franzosen, Briten, Tschechen in Anerkennung eines SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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europäischen Demos der gemeinschaftlichen Mehrheitsentscheidung unterwürfen? – Nach heutigem Stand der gleichsam mentalen Integration eher nicht. Diese Zweifel bezüglich europaweiter Volksabstimmungen bilden eine gute Überleitung zum letzten Teil dieses Vortrags. In diesem Abschnitt möchte ich noch zu den strukturellen Besonderheiten europapolitischer Referenden kommen. Dieser Aspekt berührt in gewisser Weise die Quintessenz meiner eigenen Forschung zum Thema. Viele Arbeiten zu EUReferenden haben sich an der Frage abgearbeitet, ob europapolitische Volksabstimmungen tatsächlich auf der Basis des eigentlichen Gegenstands, zum Beispiel eines EU-Reformvertrags, geführt werden oder ob die Wahlbürger über alles Mögliche abstimmen, europapolitische Referenden also nur nationale Nebenwahlen oder Wahlen zweiten Ranges darstellen. Meine eigenen diskursanalytischen Untersuchungen von EU-Vertragsreferenden haben die Annahme einer nationalen Nebenwahl bisher nicht bestätigen können. Insbesondere die von Integrationsbefürwortern oft in durchaus parteiischer Weise gegen missliebige Referendumsergebnisse gerichtete zugespitzte Hypothese, wonach vor allem die Vertragsgegner in der Referendumsdebatte gegenstandsferne Argumente gebraucht hätten, hat mit Blick auf die empirische Realität von Referendumsdebatten keinen Bestand gehabt. Im Gegenteil hat sich gezeigt, dass es in vielen Fällen gerade die Ratifizierungsgegner sind, die europapolitische und rechtliche Details in den Referendumswahlkampf ziehen und sie mit Verfassungsrecht und Verfassungspraxis sowie mit anderen kollektiven Wissensbeständen der nationalen Gesellschaft konfrontieren. Diese Differenzen werden von den Vertragsgegnern ganz bewusst aufgezeigt. Sie verfügen damit über eine potentiell wirkungsvolle Kampagnenstrategie, welche den Befürwortern einer europapolitischen Reform notwendig versperrt bleibt. Diese haben oft nur die Möglichkeit, die nicht von der Hand zu weisenden Unstimmigkeiten zwischen europäischem Text und nationalem Kontext als oberflächliche Erscheinungen der im europäischen Zusammenhang gegebenen kulturellen Vielfalt und internationalen Kompromissfindung herunterzuspielen. Was folgt daraus nun für europapolitische Referenden im Allgemeinen? Aufgrund der Mehrebenenstruktur der Europäischen Union und einer nicht oder bestenfalls fragmentiert vorhandenen europäischen Öffentlichkeit ergibt sich in europapolitischen Volksabstimmungen ein im Zweifelsfall entscheidender struktureller Vorteil für die Gegner einer Reform. Ihnen gelingt es leichter, ihre Argumentationen und ihre Kampagnenstrategien an die nationalen Kontexte anzuschließen. In diesem Befund zeigt sich ein fundamentales Risiko für die europäische Integration. Es entsteht immer dann, wenn ein auf Gemeinschaftsebene ausgehandeltes Kompromisspaket auf die nationale Ebene zurückgetragen wird – wir erinnern uns an die lateinische Herkunft des Wortes referre. Das Ergebnis, das im Zuge der Vorbereitungen einer Volksabstimmung in die nationale Arena politischer Auseinandersetzung überführt wird, ist dort, und d.h. überall, zwangsläufig ein Fremdkörper. Das bedeutet freilich nicht den unbedingten Sieg des Nein in europapolitischen Volksabstimmungen; in Wahlkämpfen wirken viele andere Faktoren, die kompensierend wirken können. Mein Argument ist allein, dass die SWR2 Aula vom 25.08.2013 Volksabstimmung über Europa – Fluch oder Segen für die europäische Integration? Von Wolf J. Schünemann

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Reformkritiker in derartigen Auseinandersetzungen die bessere Ausgangsposition haben, die Befürworter hingegen ein erhöhtes Risiko zu tragen haben. Sind europapolitische Referenden deshalb also doch ein Fluch für die europäische Integration? – Die EU krankt merklich an einem Mangel demokratischer Legitimität. Sie wird sich nicht weiter entwickeln und in die Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten eingreifen können, wenn sie nicht irgendwann die vorzugsweise in einem direktdemokratischen Wahlakt ausgedrückte Unterstützung der Bürger erhält. Aus dieser Sicht stellen europapolitische Referenden also ganz grundlegend eine Notwendigkeit. Zur Bewertung als Fluch passt also die Unausweichlichkeit einer Legitimitätsabfrage, ebenso auch der beschriebene strukturelle Vorteil von Integrationsskeptikern und -gegnern in Referendumssituationen. Im europäischen Mehrebenensystem mit seiner fragmentierten Öffentlichkeit lastet dieser gegnerische Vorteil tatsächlich wie ein Fluch auf der EU-Politik. Sie kann ihn nicht abschütteln, sondern muss lernen ihm zu begegnen. Eine daraus resultierende neue Offenheit der EU-Politik für die Bedenken, ja den Unmut großer Teile der nationalen Gesellschaften, könnte sich wiederum als großer Segen für die europäische Integration erweisen. Verwendete Literatur: Barber, Benjamin R.: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994. Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D.: The democratic dilemma. Can citizens learn what they need to know?, Cambridge [u.a.] 1998. Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, 3. Aufl., Darmstadt 2006. Schumpeter, Joseph Alois: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl., Tübingen [u.a.] 2005.

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* Zum Autor: Wolf J. Schünemann, geb. 1982, ist seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Politikwissenschaft der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen europäische Integration, Diskursanalyse und Netzpolitik. Seiner Tätigkeit in Landau ging ein Studium der Politischen Wissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und Medien sowie der Philosophie an der Universität Kiel sowie an der Sciences Po in Rennes/Frankreich voraus. Im November 2012 hat er seine Promotion abgeschlossen. Voraussichtlich im Herbst 2013 wird die Dissertation mit dem Titel „Subversive Souveräne“ im Verlag Springer VS erscheinen.

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