Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2?

SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Den Abgrund denken Philosophische Versuche über das Böse Autor: Udo Marquardt Redaktion: Detlef Clas ...
Author: Nikolas Schmid
5 downloads 2 Views 119KB Size
SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Den Abgrund denken Philosophische Versuche über das Böse

Autor: Udo Marquardt Redaktion: Detlef Clas Regie: Tobias Krebs Erst-Sendung: Freitag, 7. Januar 2005, 8.30 – 9.00 Uhr Wiederholung: Freitag, 8. Juli 2011, 8.30 – 9.00 Uhr __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem kostenlosen Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

__________________________________________________________________

Besetzung: Zitator Sprecher Sprecherin Zitatorin 1

Zitator: Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meer verschlungen … Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen miteinander zugrunde. Sprecher: So schreibt Johann Wolfgang Goethe in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“. 1755, als die Erde in Lissabon bebte, war Goethe gerade sechs Jahre alt. Als „Dichtung und Wahrheit“ 1811 erschien, 62 Jahre. Doch auch in der Rückschau nach weit über einem halben Jahrhundert spürt man in seinem Bericht noch die Erregung, die das Erdbeben bei ihm ausgelöst hat. Damit war Goethe nicht allein, wie aus seinem Text hervorgeht. Zitator: Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichen nicht fehlen. Ansagerin: „Den Abgrund denken – Philosophische Versuche über das Böse“, eine Sendung von Udo Marquardt. Sprecherin: Tatsächlich hat das Erdbeben von Lissabon Europa wie kaum ein anderes Ereignis erschüttert und zahlreiche metaphorische Nachbeben in Literatur, Philosophie und Theologie verursacht. Der Schrecken hatte zwei Ursachen. Zunächst die reinen Ausmaße des Unglücks. In einer Welt, in der es noch keine Massenvernichtungswaffen gab, war nur eine außerordentliche Naturkatastrophe in der Lage, so viele Menschen auf einmal zu töten. Dann aber vor allem: Am ersten November 1755 wurde nicht nur eine Stadt zerstört, sondern ein Weltbild. Sprecher: Für die Gläubigen und Theologen warf das Erdbeben von Lissabon die Frage auf, wie ein guter Gott ein solches Übel zulassen konnte. Entweder war Gott nicht gut oder nicht allmächtig und wollte beziehungsweise konnte die Katastrophe nicht verhindern. Beide Erklärungen führten in die Aporie, in die philosophischtheologische Ratlosigkeit. Denn an Gottes Güte und Allmacht war kein Zweifel möglich. Am Untergang der Stadt allerdings auch nicht. Sprecherin: Die Philosophen der Aufklärung dagegen mussten nach Lissabon an ihrem Fortschrittsoptimismus zweifeln. Bislang war die Welt für sie ein Buch gewesen, das langsam aber sicher entziffert werden konnte. Dahinter stand die Auffassung einer grundsätzlich sinnvollen und der Vernunft zugänglichen Natur. Das Erdbeben aber war in keiner Weise vernünftig.

2

Sprecher: Das Problem, vor das sich die Zeitgenossen gestellt sahen, war die Manifestation des Bösen. Aus heutiger Sicht erstaunt das einigermaßen, denn ein Erdbeben ist eine Naturkatastrophe. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht furchtbar ist, aber es lässt sich nicht mit moralischen Kategorien wie gut und böse erfassen. Diese gelten für menschliches Verhalten. Erdbeben dagegen geschehen einfach. Sie sind ein Unglück – aber nicht böse. Wenn heute diese Unterscheidung gemacht wird, ist das eine Folge der Diskussionen, die Lissabon ausgelöst hat. Denn bis dahin gab es sie nicht, so die amerikanische Philosophin Susan Neiman, die das Einstein-Forum in Potsdam leitet. Susan Neiman: Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein hatte man ein Wort – und zwar wahlweise „Böse“ oder „Übel“ – für das, was man das natürliche Böse nannte, das heißt Erdbeben, Fluten … und für das, was wir heute Böses nennen, das ist alles, was von Menschenhand kommt. Natürlich hat man dazwischen unterschieden, aber nicht prinzipiell. Das war alles böse. Sprecherin: Die Unterscheidung zwischen natürlichem Bösen und moralischem Bösen, die Susan Neiman hier vornimmt, ist das Ergebnis einer langen Debatte über das Problem des Bösen in der Welt, die in der Antike beginnt und mit Augustinus einen ersten Höhepunkt hat. Insofern löste Lissabon keine völlig neue Diskussion aus. Aber die Katastrophe zwang die Menschen dazu, den Abgrund neu zu denken. Sprecher: Der Schöpfungsbericht der Bibel erzählt vom Eindringen des Bösen in die Welt. Nachdem Gott diese aus dem Nichts geschaffen hat, ist sie vollkommen und gut, ein Paradies. Ein sehr merkwürdiges allerdings, denn in seinem Zentrum steht der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, dessen Früchte bei Androhung schwerster Strafe nicht gegessen werden dürfen – ein wahrlich seltsames Verbot, denn es offenbart die Existenz des Bösen bereits im Paradies. Sprecherin: An dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Güte Gottes auf. Ein allwissender Gott muss gewusst haben, was geschehen würde. Doch er greift nicht ein, als Eva Adam die verbotene Frucht anbietet. Es hat den Anschein, als habe er die Vertreibung aus dem Paradies gewollt beziehungsweise billigend in Kauf genommen. Ist Gott also doch nicht gütig? Oder ist er nicht allwissend? Sprecher: Möglicherweise kommt an dieser Stelle aber auch schon das in Religionen angelegte Gewaltpotential zum Vorschein. Die Geschichten des Alten Testaments sind voller Grausamkeit. Vor dem Heil steht das Kreuz. Und ins Politische gewendet, kosten Religions- beziehungsweise religiös motivierte oder verbrämte Kriege bis heute unzählige Menschenleben: Im Mittelalter waren es die Kreuzzüge, in der frühen Neuzeit und bis ins 20. Jahrhundert hinein war es die Christianisierung der Welt. Heute sind es fanatische Islamisten, die in angeblich heiligen Kriegen Unschuldige töten oder religiöse Nationalisten, die „ihren“ unabhängigen Staat herbeibomben wollten, Beispiel Sri Lanka. 3

Sprecherin: Wenn auch das Böse im Paradies scheinbar noch nicht vorhanden war, als Verhängnis war es schon angelegt. Und zwar in dem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Denn Gott hat es seinen Geschöpfen nicht etwa unmöglich gemacht, diese Früchte zu genießen. Er hat es ihnen „nur“ verboten und ihnen damit die Freiheit der Wahl gelassen, wissend, welche Entscheidung sie treffen werden. Darin liegt, so der Philosoph Rüdiger Safranski, eine tiefe anthropologische Einsicht. Rüdiger Safranski: Weil genau da ja eigentlich erzählt wird in diesem Mythos, dass die Geburtsstunde des Bösen die Freiheitsmöglichkeit doch ist. Also diese innige Verknüpfung von Freiheit und „das Böse wählen können“, ja, dass das Erwachen aus dem Naturzustand bedeutet, die Karriere des Bewusstseins beginnt, die Karriere von all dem, was mit Bewusstheit zusammenhängt, die ganze Karriere der Zivilisation und so weiter – das alles beginnt. Aber es beginnt auch, dass die Zeit der Unschuld vorbei ist. Sprecherin: Die alttestamentarische Geschichte vom Sündenfall will erklären, wie das Böse in die Welt gekommen ist: als Folge der Freiheit des Menschen. Wer wählen darf, kann sich auch verwählen. Genau das ist geschehen. Das Böse ist durch die falsche Wahl des Menschen in die Welt gekommen. Rüdiger Safranski: Man kann versuchen, das Böse zu definieren, man wird aber ein Gefühl des Ungenügens haben, weil es ein so komplexes Phänomen ist. Aber man kann Unterscheidungen treffen und sich dadurch auch annähern. Zum Beispiel die Unterscheidung: Kann ein Tier böse sein? Ich denke, ein Tier, das dadurch definiert ist, dass es von seinen Instinkten und seinem biologischen Verhaltensprogramm gesteuert ist, kann nicht böse sein, weil ihm die Freiheit fehlt. Und da haben wir es schon: Als das spezifisch Böse bezeichnen wir genau das, was in irgendeiner Weise mit der Freiheit des Menschen zusammenhängt, was eine freie Tat ist. Sprecherin: Doch auch wenn man das Böse nicht definieren kann – an seiner Existenz lässt sich kaum zweifeln. Entsprechend ist die christliche Tradition bis ins Mittelalter geprägt durch manichäische Weltbilder. Diese trennen die Welt klar in gut und böse. Das Böse ist der Teufel, ein Gegenspieler Gottes. Zwischen beiden herrscht ein ständiger Kampf um die Seelen der Menschen. Sprecher: Augenfällig wird das an der Gestalt Hiobs. Er ist die Symbolfigur dieses universellen Kampfes, indem er zum unschuldigen Opfer eines Experiments wird, das Gott und Satan mit ihm unternehmen. Hiob ist ein rechtschaffener Mensch. Er ist fromm und meidet das Böse. Vor allem aber: Es geht ihm gut. Er hat eine große Familie, Land, er ist reich und gesund. Satan nun fordert Gott heraus: Zitator:

4

Bist du es nicht, der ihn, sein Haus und all das Seine ringsum beschützt? … Aber streck nur deine Hand gegen ihn aus, und rühr an all das, was sein ist; wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen. Sprecherin: Gott lässt sich auf das Experiment ein. Er setzt dabei ganz auf Hiobs Frömmigkeit. Der Teufel auf den Leidensdruck. Im Lauf des Experiments verliert Hiob erst sein Geld, dann seine Knechte und seine Kinder, schließlich auch noch die Gesundheit. Über und über ist er mit Schwären bedeckt. Seine Freunde sehen in seinem Leiden die Strafe für ein begangenes Unrecht. Doch er ist unschuldig und leidet trotzdem. Den „Frevlern“ aber geht es gut. Aus Hiobs Klage wird schließlich eine Anklage gegen Gott. Die Welt ist ungerecht, sie ist verkehrt und völlig aus dem Lot geraten. Genau an diesem Punkt wird aus dem Einzelfall der Fall der Welt. Schließlich mischt sich Gott selbst ein. Er weist Hiob darauf hin, dass dieser nichts wisse. Zitator: Ich will dich fragen, du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es nur, wenn du Bescheid weißt. Sprecher: Natürlich hat Hiob darauf keine Antwort. Er muss zugeben, dass er nichts weiß, also auch kein Urteil darüber abgeben kann, ob die Welt nun gerecht ist oder nicht. Am Ende geht die Geschichte für ihn gut aus. Er wird wieder gesund, und es geht im besser als je zuvor. Die Welt ist wieder im Lot. Allerdings um den Preis, dass die wahren Hintergründe dafür verborgen bleiben. Mit Vernunft ist der Welt offenbar nicht beizukommen. Sprecherin: Innerhalb der Geschichte des Bösen ist die Hiob-Erzählung von enormer Wirkungsmächtigkeit. Doch es ist nicht das versöhnliche Ende, das ihre Bedeutung ausmacht. Es ist die Tatsache, dass hier Gott zum ersten Mal auf der Anklagebank sitzt und sich rechtfertigen muss für die Welt, wie sie ist. Hiob hat Gott den Prozess gemacht. Andere werden ihm folgen. Sprecher: Einer von ihnen war Alfons X., König von Kastilien, genannt Alfons der Weise. Er lebte im 13. Jahrhundert und war einer der gelehrtesten Fürsten des Mittelalters. Nach jahrelangen astronomischen Studien kam er zu dem schlichten Schluss:

Zitator: Hätte ich bei der Schöpfung in Gottes Rat gesessen, würde vieles besser geordnet sein. Sprecher: Das erinnert an einen Satz des rumänisch-französischen Philosophen Emile Cioran, der die Meinung des Schöpfergottes von seinem Werk – Und er sah, dass es gut war – mit den sarkastischen Satz kommentierte: Zitator: 5

Er hätte nur einmal richtig hinschauen müssen. Sprecherin: Alfons ist eine Art Nebenkläger im Fall Hiob. Er greift Gott mit Argumenten an, die diesem nicht eingefallen waren. So wunderbar ist die Schöpfung ganz offensichtlich nicht, dass man nicht eine ganze Menge hätte verbessern können. Zitator: Wenn wir, wie der König Alphons urteilen, so wird man uns, meine ich, antworten: Ihr kennt die Welt erst seit drei Tagen. Ihr seht wenig weiter, als eure Nase reicht und Ihr findet daran zu tadeln; wartet bis ihr sie besser kennt und beobachtet vornehmlich die Teile, welche ein vollständiges Ganze darstellen, wie z. B. die organischen Körper, und ihr werdet da ein Kunstwerk und eine Schönheit antreffen, welche über alle Vorstellung geht. Wir wollen also daraus die Weisheit und Güte des Schöpfers aller Dinge, auch für die Dinge, die wir nicht kennen, annehmen. Sprecherin: Es ist der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der Gott gegen die Anklagen Alfons des Weisen verteidigt. 1710 erscheint seine „Abhandlung zur Theodizee“ über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Nachdem Hiob und Alfons Gott angeklagt hatten, eine verkehrte Welt geschaffen zu haben, macht sich Leibniz zu Gottes Anwalt und versucht, den Widerspruch zwischen Gottes Allmacht und Güte und dem in der Welt vorhandenen Leiden zu erklären. Sprecher: Die Argumente, die Leibniz hier vorträgt, erinnern stark an Gottes Rede zu Hiob. Angesichts seiner göttlichen Allwissenheit verbietet sich jede Kritik an seinem Werk, die eben nur eine Kritik vom Standpunkt eines beschränkten menschlichen Wissens ist. Sprecherin: Mit diesem Argument stützt Leibniz auch die These, dass die Welt keineswegs aus dem Lot ist. Vielmehr leben wir in der besten aller möglichen Welten. Das sagt nichts darüber aus, wie gut die Welt ist, aber jede andere wäre schlechter. Wer hierzu eine begründete Gegenposition einnehmen will, muss sich wieder sagen lassen, dass er dafür nicht genug wisse. Sprecher: Ein weiterer zentraler Punkt in Leibniz’ Verteidigung Gottes ist die Unterteilung des Bösen oder Übels in drei Kategorien. Zitator: Man kann das Übel metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit; das physische Übel in den Schmerzen und das moralische Übel in der Sünde. Sprecherin: Das metaphysische Übel bezieht sich zunächst einmal darauf, dass die Welt eben nicht vollkommen ist. Alles ist endlich. Und das bereitet Schmerzen, etwa wenn ein Mensch stirbt. An dieser Unvollkommenheit lässt sich nichts ändern. Relevant für die 6

Verteidigung Gottes dagegen sind das physische und das moralische Übel. Physische Übel sind Naturkatastrophen, Krankheiten und ähnliche Dinge. Das moralische Übel dagegen ist das Böse, das der freie Mensch sich und seinesgleichen selbst zufügt. Leibniz zieht nun eine eindeutige Verbindung zwischen dem physischen und moralischen Bösen. Zitator: Von dem physischen Übel kann man sagen, dass Gott es oft als eine der Schuld zukommende Strafe will und oft auch als ein Mittel für einen Zweck, d. h. um größere Übel zu hindern oder um größere Güter zu erlangen. Die Strafe dient auch zur Besserung und Abschreckung und das Übel lässt oft das Gute mehr empfinden und trägt auch manchmal zu einer größeren Vervollkommnung des Leidenden bei. Sprecher: Etwas Böses geschieht, weil etwas Böses getan wurde. In diesem Sinne wäre das Erdbeben von Lissabon nicht mehr und nicht weniger als eine Strafe. Rüdiger Safranski: Rüdiger Safranski: Dieser Zusammenhang zwischen dem sogenannten natürlichen Bösen und dem menschlichen Bösen, der ist für frühere Jahrhunderte deswegen so wichtig gewesen, weil Gott immer im Spiel war. Man musste sich ja dann sagen: gut das Erdbeben ist nicht böse, aber ein Gott der alles vorhersieht – warum tut der das den Menschen an? Das heißt, das Zurückgehen auf einen spiritus rector und einen Schöpfer, ja, das Zurückgehen eben auf Gott, stellte im Verhältnis zu den furchtbaren Naturkatastrophen und diesem Gott das Verhältnis von Tat und Täter her. Sprecherin: Leibniz’ Unterscheidung zwischen dem natürlichen und dem moralischen Bösen wurde paradigmatisch. Sie ist so fundamental, dass sie lange Zeit als natürliche Gegebenheit angesehen wurde, obwohl sie historisch ist. Problematisch war die Verbindung zwischen beiden Positionen. War das natürliche Böse tatsächlich eine von Gott verhängte Strafe? Das hätte zur Folge, dass er mit Naturkatastrophen zum Beispiel Gerechte und Ungerechte gleichermaßen strafte. Eine Vorstellung, die nicht mit einem gerechten Gott zu vereinen war. Sprecherin: Voltaire, ein Zeitgenosse Rousseaus, setzt in seinem berühmten Roman „Candide“ Leibniz’ Theorie von der besten aller möglichen Welten sehr handfeste Argumente entgegen. Candide, der Held der Geschichte, ist zunächst, als er noch in einem Schloss wohnt, davon überzeugt, dass er in der besten aller möglichen Welten lebt. Aber dann wird er aus dem Schloss gejagt. Damit setzt eine abenteuerliche Irrfahrt ein, die ihn auch nach Lissabon führt. Dort hat gerade das Erdbeben stattgefunden, und man ist dabei, die Dinge mittels eines Autodafès, das übrigens tatsächlich stattgefunden hat, wieder ins rechte Lot zu bringen. Candide gerät in die Hände der aufgebrachten Menge. Zitator: Candide wurde während des Gesangs nach dem Takte gepeitscht; der Biskayer und die beiden Leute, die keinen Speck hatten essen wollen, wurden verbrannt und 7

Pangloß gehängt (…). Denselben Tag erfolgte ein neues Erdbeben mit furchtbarem Getöse und den verheerendsten Wirkungen. Vor Betäubung und Entsetzen ganz außer sich, blutend und an allen Gliedern bebend sprach Candide zu sich selbst: „Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, wie mögen dann erst die andern aussehen?“ Sprecher: Das Erdbeben von Lissabon forderte zur Deutung heraus. Wenn das natürliche Böse die Strafe für das moralische Böse war: Was für ein furchtbares Verbrechen hatte man sich zuschulden kommen lassen, dass eine solche Strafe gerecht war? Wie immer man es betrachtete: Es ließ sich keine Beziehung zwischen einem moralischen Bösen und dem Erdbeben herstellen. Das hatte zur Folge, dass die Vorstellungen vom Bösen grundsätzlich revidiert werden mussten, wie Susan Neiman schreibt: Zitatorin: Seit Lissabon hat das natürliche Böse keine passende Beziehung mehr zum moralischen Bösen, und folglich hat es überhaupt keinen Sinn mehr. Naturkatastrophen sind Gegenstand von Prognose und Kontrolle, nicht aber von Deutungen. Sprecherin: Mit anderen Worten: Es macht keinen Sinn, der Natur Bosheit zu unterstellen. Der Begriff ist auf sie nicht anwendbar. Susan Neiman: Böse heißt das, was Menschen tun. Naturkatastrophen passieren eben, daran ist niemand schuld. Böse ist das, was mit böser Absicht geschieht. Sprecher: Dennoch ist die Natur als Protagonist damit noch nicht ganz aus dem Spiel, wie Rüdiger Safranski betont. Rüdiger Safrankski: Auf einer anderen Weise ist das Böse in der Natur – jetzt in Anführungszeichen – jetzt für den Menschen doch nach wie vor da, nämlich als Ungerechtigkeitszumutung. Damit müssen wir uns nun wirklich auseinandersetzen. Ich hab’s nicht entschieden, in welchem Körper ich jetzt stecke und welche Krankheiten schon in ihm ticken, welche Katastrophen damit verbunden sind. Das heißt, dieses Gefühl, die Menschen können ja untereinander versuchen, eine gerechte Gesellschaft zu machen, aber die Natur spielt so erstmal gar nicht mit, ist natürlich die stete Herausforderung von Sinnlosigkeitsgefühlen, von Vergeblichkeitsgefühlen, dass man eigentlich in einem grausamen Kontext drinnen steckt. Sprecherin: Das Fatale ist, dass diese Ungerechtigkeitszumutung durch die Natur, dass die natürliche Verschiedenheit der Menschen auch politisch missbraucht werden kann. Das 20. Jahrhundert steht im Zeichen eines solchen Missbrauchs, an dessen Ende unser Begriff vom Bösen erneut revidiert werden muss. 8

Zitator: Adolf Eichmann ging ruhig und gefasst in den Tod. (…) Er war ganz Herr seiner selbst – nein, er blieb ganz er selbst. Davon geben die letzten Worte unter dem Galgen … ein überzeugendes Zeugnis: „Es lebe Deutschland. Es lebe Argentinien. Es lebe Österreich. Das sind die drei Länder, mit denen ich am engsten verbunden war. Ich werde sie nicht vergessen.“ Im Angesicht des Todes fiel ihm genau das ein, was er in unzähligen Grabreden gehört hatte: das „Wir werden ihn, den Toten, nicht vergessen.“ Sein Gedächtnis, auf Klischee und erhebende Momente eingespielt, hatte ihm den letzten Streich gespielt: er fühlte sich „erhoben“ wie bei einer Beerdigung und hatte vergessen, dass es die eigene war. In diesen letzten Minuten war es, als zöge Eichmann selbst das Fazit der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit … – das Fazit von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert. Sprecher: So endet Hannah Arendts Bericht vom Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann Anfang der 1960er Jahre in Jerusalem. Die darin geprägte Formel von der „Banalität des Bösen“ ist der Versuch, einen völlig neuen Typus des Verbrechens auf den Begriff zu bringen. So wie Lissabon im 18. Jahrhundert dazu gezwungen hatte, radikal anders über das Böse nachzudenken, verlangten dies die Vernichtungslager der Nazis im 20. Jahrhundert. Die Konzentrationslager von Auschwitz, Treblinka und Majdanek markieren eine neue Epoche in der Geschichte des Bösen. Sprecherin: Aber ist Auschwitz banal? Genau das meint „Banalität des Bösen“ nicht. Hannah Arendt ging es nicht darum, die Verbrechen der Nazis zu bagatellisieren oder das Leid der Opfer zu schmälern, wie ihr vorgeworfen wurde. Auschwitz ist und bleibt über die Maßen schockierend. Davon war auch Hannah Arendt überzeugt. Banal sind die Verbrecher selbst – und zwar gerade dann, wenn man sie am Ausmaß des Leides misst, das sie verursacht haben. Bis Auschwitz war man davon ausgegangen, dass „große“ Verbrechen auch „große“ Verbrecher verlangen – große in Anführungszeichen. Genau das aber war ein Adolf Eichmann nicht. Er hat nicht einen Menschen eigenhändig umgebracht. Er saß am Schreibtisch und organisierte Transporte, die für die Transportierten mit dem Tod endeten. Sprecher: Natürlich hat es in Nazi-Deutschland auch Hauptverbrecher gegeben: Hitler, Himmler, Bormann, Heydrich, Göring und viele, viele andere. Aber sie allein wären nie in der Lage gewesen, in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft sechs Millionen Menschen umzubringen. Der Holocaust war nur möglich, weil er wie eine moderne Industriegesellschaft arbeitsteilig organisiert war. Rüdiger Safranski: Das Böse daran, das wird gleichsam aufgesplittert in viele kleine Aktionen: der Mann an der Eisenbahn, ja, der die Züge lenkt, der die Fahrpläne macht in Berlin, ja und so weiter … Ein sehr subtiles Geflecht an Handlungen wird in die Gesellschaft hier eingeführt, um ein verbrecherisches Projekt zu realisieren auf dem Wege dieser ganz zivilen, normalen Arbeitsteilung. Und das ergibt noch mal was zusätzlich Grausiges, ja, weil es dann auf einmal wie so eine kalt funktionierende Maschinerie erscheint, 9

und jeder Einzelne in dieser Maschinerie kann sich auf sein ganz kleines Segment von unmittelbarer Verantwortung zurückziehen und kann den Täteranteil minimalisieren. Sprecherin: Gerade weil der direkte Täteranteil vor Ort, von dem Safranski hier spricht, relativ gering war, gerade weil die eigene Verantwortung so gering schien, war Auschwitz möglich. Sprecher: Dies ist das eigentliche Problem, vor das uns Auschwitz stellt. Die Mörder waren weder besonders brutal noch besonders rücksichtslos – im Gegenteil: Sie waren – leider - völlig normal. In einem System, das den Mord zu einem Verwaltungsakt macht, kann jeder mitmachen. Susan Neiman: Susan Neiman: Was aber nach Auschwitz wirklich unleugbar war, ist, dass man sehr viel Böses auch ohne böse Absicht verrichten kann. Um den Holocaust durchzusetzen, braucht es Massen von Menschen, die nicht von irgendwelchen dämonischen Zielen getrieben worden sind, nicht voller antisemitischer Hassvorstellungen, keine große sadistische Lust am Mord hatten – die „nur“ – sage ich – nur ihren Job machen wollten. Und diese neue Qualität, dieses banale Böse ist wieder ein Punkt, wo wir unsere Begriffe revidieren müssten. Sprecherin: Seit den Anschlägen vom elften September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon ins Washington hat das Böse erneut Konjunktur. Seitdem, heißt es, sei nichts mehr, wie es war. Bezogen auf die Politik mag das stimmen. Das Böse hat in Bin Laden ein Gesicht bekommen, und der Kampf gegen ihn hat die politischen Entscheidungen nach dem elften September wesentlich mitbestimmt. Sprecher: Im Bezug auf das Böse hat der elfte September freilich nichts geändert. Gegen die Todesindustrie der Nazis wirken die Terroranschläge auf das World Trade Center nur atavistisch. Das alte Böse hat sein Haupt wieder erhoben. Susan Neiman: Diejenigen von uns, die über das Böse nachgedacht haben, haben uns eher auf das unsichtbare Böse, auf das banale Böse konzentriert, auf die Sachen, die man tun kann, fast ohne sie vorher ganz zu wollen, ganz zu beabsichtigen. Und auf einmal passiert etwas. Wir haben das Böse gesehen an dem Tag, das Böse wurde sichtbar. Und es ist klar: Die Terroristen haben auf eine wirklich sehr altmodische Weise ihr Ziel genau vor Augen gehabt; [haben] alles dafür getan. Die wussten genau, was sie wollten: möglichst viel Zerstörung, möglichst viel Angst verbreiten.

**.**.**.**.**

10

Suggest Documents