Philipps-Universität Marburg WS 2011/2012

Polizei- und Ordnungsrecht - 14 Doppelstunden Lehrbeauftragter RVGH Falko Jeuthe

Dienstag, 25. Oktober 2011 (2 Doppelstunden) A. Einführung Konkretisierung des Vorlesungsinhalts Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht ist ein klassischer Teil des besonderen Verwaltungsrechts. Neben seiner praktischen Relevanz für Staat und Gesellschaft ist es für die juristische Ausbildung und Prüfung von besonderer Bedeutung. Für viele Bereiche des speziellen Gefahrenabwehrrechts (etwa Bauordnungs-, Gewerbe-, Straßenverkehrs-, Immissionsschutz- oder Versammlungsrecht) dient es der dogmatischen Grundlegung und wirkt systembildend. Die Vorlesung ist kein Repetitorium. Im Vordergrund steht nicht die Einübung von klausurund examensrelevanten Fallbearbeitungstechniken, sondern die systematische und möglichst breit gefächerte Stoffvermittlung. Gleichwohl sollen ausbildungswichtige Problembereiche anhand von Fallbeispielen aus Prüfung und Praxis auch eingehender mit Bearbeitungshinweisen behandelt werden. Eine geschlossene Unterrichtseinheit soll sich der Technik der Fallbearbeitung und dem Rechtsschutz widmen. Auch wenn es sich aus der Themenstellung nicht wörtlich ergibt, soll entsprechend dieser Zielsetzung schwerpunktmäßig das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht behandelt werden. Gleichwohl sollen einige spezielle Rechtsgebiete der Gefahrenabwehr exemplarisch vorgestellt werden. Es sollen die dogmatischen Strukturen und Grundlagen des allgemeinen d.h. bundesweiten Gefahrenabwehrrechts herausgearbeitet werden. Gleichwohl soll für die normative Konkretisierung auf die hessische Rechtslage, also vorrangig auf das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) abgestellt werden. Daraus ergibt sich weiter, dass präventiv-polizeiliches Handeln im Mittelpunkt steht und die repressive Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten nur im Rahmen der Abgrenzung thematisiert, aber nicht behandelt wird.

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B. Grundlagen I. geschichtliche Entwicklung des Begriffs, der Aufgaben und der Struktur der Polizei 1. spätes Mittelalter und Absolutismus (15. bis 18. Jahrhundert) a) Ausgang des Mittelalters kam es durch die Entwicklung der Städte zu einer zunehmenden Bevölkerungsverdichtung und Arbeitsteilung. Dadurch entstand eine neuartige Ordnungsproblematik, etwa für Marktregulierung, Straßenreinigung, Bauaufsicht, Feuerschutz oder Nachtruhe. Vom Magistrat, der sich Helfern wie Stadtknechten, Bütteln und Häschern bediente, wurden städtische Ordnungsvorschriften für das gesellschaftliche Zusammenleben erlassen. Der Zustand der „guten Ordnung eines Gemeinwesens“ wurde als „policey“ bezeichnet. Dieser Begriff gründet im griechischen „politeia“, übernommen ins lateinische „politia“, und bezeichnete in der Staatslehre des Aristoteles die Staatsverfassung schlechthin und den Status seiner Bürgerschaft. Damit war (noch) nicht eine Behörde oder deren Tätigkeit gemeint. Auch auf dem Lande entstanden durch den aufblühenden Handel neue Ordnungsprobleme, die mit fürstlichen Landesordnungen und dem vermehrten Einsatz „reisiger Knechte“ bekämpft wurden. Das Heilige Römische Reich erließ drei Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577, für deren Durchsetzung ihm aber ein eigener Apparat fehlte. Bestimmend blieben deshalb neben Städten und Grundherren vor allem die Landesherren, oft auch unter Mitwirkung der Stände. Gegenstand der Polizeiordnungen waren traditionelle Verhaltensregeln für Untertanen und Bürger für nahezu alle Lebensbereiche, etwa für ein gottgefälliges Leben, die Einhaltung der Standesordnung, gegen den Missbrauch in Handel und Gewerbe, gegen Landfriedensbruch und Bettelei, aber auch im „privat-rechtlichen“ Bereich, etwa in Vormundschafts- und Erbschaftssachen, im Vertragswesen und Liegenschaftsrecht. „Sozialdisziplinierung diente als bürgerschützende Prävention“ (Knemeyer S. 2). Ausgenommen waren wenige Bereiche, wie etwa das Münz- und Finanzwesen, die auswärtigen Belange, das Militärwesen und die staatliche Grundverfassung. b) Im Zeitalter des (landesherrlichen) Absolutismus (17. und 18. Jahrhundert) kam es zu einer Erweiterung und Veränderung des Polizeibegriffs. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden von 1648 gab es keine zu erhaltende „gute Ordnung“ mehr, sondern diese musste vom Staat neu gestaltet werden. Es galt mit der den Landesfürsten seit dem Westfälischen Frieden zuerkannten „ius politiae“ (Polizeigewalt als Hoheitsrecht),

3 Wohlstand und Sicherheit des Staates und seiner Bürger zu gewährleisten. Im Zeitalter des Merkantilismus wurde der Polizeibegriff zunehmend ökonomischer und erfasste nahezu die gesamte innere Verwaltung. Die „Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt“ und „der allgemeinen Glückseligkeit“ bedeutete das fürstliche Recht, den Untertanen alles vorzuschreiben und sie im politischen Leben wie auch in ihrer wirtschaftlichen und gewerblichen Betätigung sowie in Sitte und Moral zu bevormunden. Der Einfluss der Stände wurde zurückgedrängt. Der Erlass von Polizeiordnungen erfolgte ohne ihr Einverständnis. Die staatliche Tätigkeit drang in den lokalen Bereich, in dem – zunächst in den Großstädten – staatliche Polizeiverwaltungen (Polizeidirektoren) eingerichtet wurden. Der Begriff „Polizei“ bezog sich nunmehr zunehmend auf bestimmte Personen und Behörden. Die gerichtliche Kontrolle polizeilicher Anordnungen wurde den ständischen Justizkollegien entzogen und auf staatliche Behörden übertragen. Dadurch entfiel die Möglichkeit der Appellation gegen Übergriffe der fürstlichen Obrigkeit an die Reichsgerichte. In dem so entstandenen Polizeistaat, in dem der absolutistische Herrscher mittels seiner Beamtenschaft verbindlich Anordnungen zum gesamten Lebensbereich der Untertanen treffen und für deren Durchsetzung mit Zwangs- und Strafgewalt sorgen konnte, gab es keine verbürgten Rechte der Untertanen und Stände mehr, keine Trennung von vollziehender und gesetzgebender Gewalt und keinen gerichtlichen Rechtsschutz. Der Zweck der guten Ordnung des Gemeinwesens rechtfertigte den weiten Umfang der polizeilichen Mittel und Befugnisse. Erste Systematisierungsversuche der aufkommenden Polizeiwissenschaft führten zur Ausgrenzung einzelner Staatstätigkeiten aus der zunächst global verstandenen Polizei, die von den auswärtigen Angelegenheiten, von Finanz- und Militärwesen und schließlich auch von der Justiz abgegrenzt wurde und damit die gesamte im Innern ausgeübte Staatsgewalt einschließlich des Kirchen- und Erziehungswesens umfasste. Damit waren im Laufe des 18. Jahrhunderts die Bereiche der fünf „klassischen“ Ministerien voneinander getrennt.

c) Im Zuge der Aufklärung und mit dem Ziel der Einschränkung der absoluten Fürstengewalt gingen Forderungen einer Reihe von Autoren dahin, den Aufgabenbereich der Polizei auf die Gefahrabwehr zu beschränken und die Förderung der Wohlfahrt herauszunehmen bzw. ihr nur untergeordnete Funktion zuzuerkennen. Dadurch sollte jedenfalls die ökonomischer Freiheit des Einzelnen erreicht werden.

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Diese Forderungen fanden Niederschlag in dem von dem Juristen Svarez 1794 geschaffenen Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR). In § 10 Titel 17 Teil II ALR hieß es: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey“. Diese Beschränkung der Polizei auf die Gefahrenabwehr konnte sich im Zuge der auf die Französische Revolution ab 1815 nachfolgenden Restauration nicht durchsetzen. Nach einer preußischen Verordnung aus dem Jahre 1808, die die Wahrung und Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt der Polizeigewalt zuordnete, beruhte auch das Preußische Gesetz über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 auf dem Grundsatz einer unbeschränkten Polizeigewalt. Diese Zeit wird deshalb auch als „nachlandrechtlicher Polizeitstaat“ bezeichnet. 2. Liberalismus und Konstitutionalismus (19. Jahrhundert) a) Das 19. Jahrhundert war durch Bevölkerungswachstum, Landflucht, Anwachsen der Großstädte mit zunehmender Kriminalität, die industrielle Revolution und das Entstehen der Arbeiterklasse einerseits und durch eine zahlenmäßige Zunahme und Spezialisierung der Polizei (etwa Gesundheits-, Verkehrs-, Gewerbe-, Kriminal- sowie geheime oder politische Polizei) mit der Zuordnung zu unterschiedlichen Ministerien andererseits gekennzeichnet. Eine klare Trennung zwischen Militär und Polizei (Gendarmerie bzw. Schutzmannschaften) insbesondere bei der Bekämpfung innerer Unruhen fehlte. Der umfassende Polizeibegriff des 18. Jahrhunderts beschränkte sich allmählich auf die uniformierten Amtsträger, die sicherheitspolizeiliche Aufgaben wahrnahmen, während die sonstige Gefahrenabwehr als „öffentliche Verwaltung“ durch Verwaltungspolizeien wahr-genommen wurde. Die Wirtschaftsförderung schied ganz aus diesem staatlichen Aufgaben-bereich aus. Die „Polizeiwissenschaft“ nahm die Bezeichnung „Verwaltungslehre“ an. Diese bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende und sich im 20. Jahrhundert fortsetzende „Entpolizeilichung“ führte zu einem Wandel des Polizeibegriffs.

Der „institutionelle/organisatorische Polizeibegriff“ bezog sich auf die als „Polizei“ firmierenden Behörden (heute: Vollzugspolizei).

5 Der „materielle Polizeibegriff“ beschränkte sich entsprechend der Vorstellung der Rechtsprechung auf die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr. Da der Polizei auch andere Aufgaben übertragen wurden, wie die Gewährleistung der „Leichtigkeit des Verkehrs“ oder die Verbrechensaufklärung, erfasste der „formelle Polizeibegriff“ den Tätigkeitsbereich der „Polizeibehörden“. Teilweise wurde die Polizei auch durch ihre Zwangsbefugnisse als eine Art Vollzugsbehörde des Staates gekennzeichnet.

Der Liberalismus wandte sich – allerdings mit nur bedingtem Erfolg - gegen die Bedrohung der individuellen Freiheit durch die Machtfülle der Polizei, insbesondere gegen Wohlfahrtsund politische Polizei. Immerhin wurde die Administrativjustiz teilweise durch unabhängige Verwaltungsgerichte ersetzt. Die Beschränkung der monarchischen Gewalt durch Verfassungsstaatlichkeit, Grundrechte und Gewaltenteilung vollzog sich zunächst schleppend. Auch mit der Revolution von 1848 setzte nur allmählich eine Einschränkung der Polizeigewalt ein. Neben der angestrebten Beschränkung des polizeilichen Aufgabenkreises auf die Gefahrenabwehr beinhaltete die Idee eines freiheitlichen Rechtsstaates auch die Disziplinierung der Aufgabenerfüllung mit der Forderung, dass Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Ermächtigung eines mit Zustimmung der Volksvertretung erlassenen Gesetzes bedurften; die 1846 eingeführte Staatsanwaltschaft sollte als „Wächter der Gesetze„ fungieren, eine Rolle, die in der Folge der Rechtsprechung zufiel. Die wirtschaftliche und sittliche Förderung der Bürger wurde aber lange noch als zumindest zweitrangige Aufgabe der Polizei betrachtet.

b) In Preußen leitete das „Kreuzberg-Urteil“ des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 1882 (PrOVGE 9 S. 353 = DVBl 1985 S. 219) eine Wende ein: Gegenstand war eine Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung. Das Polizeipräsidium in Berlin hatte eine Polizeiverordnung erlassen, nach der „in dem das Siegesdenkmal auf dem Kreuzberg umgebenden Bauviertel ... Gebäude fortan nur in solcher Höhe errichtet werden (dürfen), daß dadurch die Aussicht von dem Fuße des Denkmals auf die Stadt und deren Umgebung nicht behindert und die Ansicht des Denkmals nicht beeinträchtigt wird“. Wegen Verunstaltung der Aussicht auf die Stadt und auf das Denkmal war die „baupolizeiliche Genehmigung“ für ein vierstöckiges Wohngebäude versagt worden. Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte der Klage stattgegeben. Bauverbot und Verordnung seien durch keine spezielle gesetzliche Grundlage und auch nicht durch die allgemeine Regelung des § 10 II 17 ALR gedeckt, weil sie nicht Gefahrenabwehr, sondern Wohlfahrtspflege durch ästhetische Bauweise bezweckten.

6 Damit hatte das Preußische Oberverwaltungsgericht – unter Berücksichtigung der Entwicklung bis 1850 - die Wohlfahrtspflege aus dem „Beruf der Polizei als solchen“, also aus dem allgemeinen Kompetenzbereich der Polizei eliminiert und diesen auf die Gefahrenabwehr begrenzt. Allerdings beruhte dies nach Äußerungen aus dem Schrifttum auf einem Irrtum, weil § 10 II 17 ALR nach seiner systematischen Stellung im Abschnitt „Von der Gerichtsbarkeit“ nur die Abgrenzung der Polizeigerichtsbarkeit von der Kriminalgerichtsbarkeit und nicht die Eliminierung der Wohl-fahrtspflege aus der Polizei bezweckt habe. Das Gericht habe auch lediglich das selbständige Recht der Polizeiexekutive begrenzt, ohne besondere gesetzliche Grundlage aufgrund der allgemeinen Polizeigewalt Anordnungen zu erlassen, und dadurch den Grundsatz des Vorbehalts des förmlichen Gesetzes für Eingriffe in Freiheit und Eigentum verwirklicht (vgl. Götz S. 7 f.). Weiter wird vertreten, das Gericht habe der durch die zwischenzeitige Gesetz- und Verordnungsgebung eigentlich bedeutungslos gewordenen Vorschrift des § 10 II 17 ALR in Wahrheit neuerliche Geltung verschafft und sie uminterpretiert. Die Reduktion der Polizeiaufgaben auf die Gefahrenabwehr sei im ALR nur als Forderung program-matisch angeklungen. Zudem habe das Gericht aus der reinen Aufgabennorm eine Aufgaben- und Befugnisnorm gemacht. Es habe auch in seiner späteren Rechtsprechung zunehmend die Eignung und Erforderlichkeit polizeilicher Mittel geprüft und dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelt. Diese Gerichtsentscheidung als Signal des Abschieds vom Polizeistaat verdeutliche, dass das deutsche Bürgertum die Demokratie nicht revolutionär, sondern in weitgehender Anpassung an vorgegebene Machtverhältnisse den Rechtsstaat hervorgebracht habe. „Die Franzosen haben die Bastille gestürmt, die Deutschen haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfunden“ (vgl. Pieroth u. a. S. 5 f.). c) In den süddeutschen Staaten vollzog sich die rechtsstaatliche Begrenzung des Polizeibegriffs demgegenüber im Wege der Gesetzgebung. In enger Verbindung zum Strafrecht ergingen Polizeistrafgesetzbücher, die unmittelbar strafbewehrte Verbotsvorschriften und Verordnungsermächtigungen enthielten (Baden 1863/1871, Bayern 1861/1871, Hessen 1847, Württemberg 1839/1871). Durch dieses Rechtssystem war die Polizei schon im 19. Jahrhundert von der allgemeinen inneren Verwaltung getrennt. Während im preußischen Rechtskreis das Ziel der Gefahrenabwehr den polizeilichen Aufgabenkreis bestimmte, wurde hier auf das Mittel der Zwangsbefugnisse zum Eingriff in Grundrechte abgestellt; im Vordergrund standen deshalb nicht Generalklauseln, sondern Spezialbefugnisse. Die Frage einer subsidiären Generalermächtigung war teilweise geregelt, teilweise gewohnheitsrechtlich anerkannt und teilweise umstritten.

7 3. Weimarer Republik (1919 bis 1933) In der Weimarer Zeit wurde sowohl im Landesrecht als auch in der Reichsverfassung vom 11. August 1919 (WRV) an dem in der Zeit der konstitutionellen Monarchie entwickelten liberal-rechtsstaatlichen Polizeibegriff festgehalten, allerdings mit einer zunehmenden Verstaatlichung (Schutz- und Kriminalpolizei) und quantitativen Vergrößerung. Die Reichsverfassung enthielt neben einer – allerdings kaum wahrgenommenen - Ermächtigung der Reichsgesetzgebung zur Regelung des gesamten Polizeirechts („Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“) auch Grundrechte, von denen einige „polizeifest“ waren, d.h. nicht oder allenfalls durch Reichsgesetze eingeschränkt werden konnten. Die vom Preußischen Oberverwaltungsgericht entwickelten rechtsstaatlichen Polizeirechtsgrundsätze wurden im Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 (PrPVG) kodifiziert. Die Aufgaben- und Befugnisnorm der Generalklausel in § 14 Abs. 1 PrPVG lautete: „Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“ In der Polizeiorganisation gab es einen Trend zu weiterer Verstaatlichung, insbesondere im Bereich der Schutzpolizei. Das Verhältnis zum Militär blieb unklar. Art. 48 WRV erlaubte einen Einsatz der Reichswehr im Inneren durch den Reichspräsidenten. 4. Nationalsozialismus (1933 bis 1945) Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde das rechtsstaatliche System der Weimarer Reichsverfassung (Gewaltenteilung, Föderalismus, Individualrechte, Demokratieprinzipien) systematisch zerstört. Unter Auflösung ihrer bisherigen Strukturen wurde die Polizei zu einem Instrument der Gewaltherrschaft umgestaltet. Schon 1933 setzte mit dem allgemeinen Abbau der föderativen Strukturen und der Selbstverwaltung eine Zentralisierung der Länderpolizeien (Verreichlichung) ein. Nachdem die preußische Polizei bereits 1932 von der damaligen Reichsregierung von Papen der Reichsgewalt unterstellt worden war (sog. Preußenschlag), folgten mit Hilfe von Notverordnungen vom Februar 1933 die Polizeien der anderen Länder. 1936 wurden die politischen Länderpolizeien zu einer reichseinheitlichen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zusammengefasst und auch ein Reichskriminalpolizeiamt eingerichtet. Neben der Herauslösung der Polizei aus der allgemeinen inneren Verwaltung fand wieder eine Trennung von Polizei und Gerichtsbarkeit statt.

8 Verfügungen der Gestapo, wie Verhängung von Schutz- und Vorbeugehaft sowie Einweisung in Konzentrationslager, wurden 1936 der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen, die 1939 durch einen Führererlass insgesamt aufgehoben wurde. Polizei im „Sondereinsatz“ unterlag nur einer speziellen SS- und Polizeigerichtsbarkeit, nicht der normalen Strafjustiz. Von dem 1936 durch Führererlass zum „Chef der Deutschen Polizei“ im Reichsinnenministerium eingesetzten Heinrich Himmler wurde die Reichspolizei in zwei Hauptämter gegliedert: Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie und Gemeindepolizei) und Sicherheitspolizei (Kriminalpolizei, Gestapo und ab 1939 SD der SS unter Heydrich). Von Anfang an fand eine personelle Durchsetzung der Polizei mit Pateimitgliedern und schließlich 1936 eine Verschmelzung mit der SS statt. Schon die Aufhebung von Grundrechten durch die auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützte Notverordnung vom 28. Februar 1933 ermöglichte den Einsatz dieses Machtinstrumentes. Auch mit Hilfe der damaligen Staats- und Verwaltungsrechtslehre wurde das überkommene Polizeirecht im nationalsozialistischen Sinne umgedeutet, etwa durch den Kampf „gegen das subjektiv-öffentliche Recht“, die Negierung von Grundrechten, Polemik gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Propagierung sog. justizfreier Hoheitsakte und eine Interpretation der polizeilichen Generalklausel des § 14 PrPVG (u.a. durch Drews und Maunz), wonach eine Untergrabung, Hemmung, Entfremdung gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und gegenüber der „Förderung der deutschen Blutsgemeinschaft“ als „Störung der öffentlichen Sicherheit“ angesehen wurde. II. Rechtsgrundlagen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg (ab 1945) 1. Alliierte Besatzung Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs ging 1945 die gesamte staatliche Gewalt und damit auch die Polizeihoheit auf die alliierten Besatzungsmächte über. Auf die Reorganisation der deutschen Polizei wurden die auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam beschlossenen allgemeinen Grundsätze der Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung Deutschlands angewandt, also insbesondere die Wiederherstellung der Länderhoheit über das Polizeiwesen. Entsprechend ihrer angelsächsischen Tradition (polizeilicher Schutz der Bürger, weniger des Staates) strebten Briten und Amerikaner weiterhin eine Rekommunalisierung an. In der britischen Zone fand eine rigorose Entpolizeilichung statt. Bis dahin der Sicherheitspolizei zugeordnete Materien, wie Melde-, Fremden-, Vereins- und

9 Versammlungswesen, wurden einer neu etablierten Ordnungsverwaltung zugewiesen. Der Polizei wurden die Befugnisse zum Erlass von Verordnungen und Strafverfügungen entzogen. In der amerikanischen Zone gab es Landespolizeieinheiten, in Orten mit über 5000 Einwohnern kommunale Polizei und in Bayern und Hessen eine besondere Grenzpolizei. Die Entpolizeilichung wurde hier nicht strikt durchgeführt. Die französische Besatzungsmacht hielt an der staatlichen, den Landesinnenministerien unterstehenden Polizei fest und ließ die Verwaltungs- neben der Vollzugspolizei bestehen. In Berlin galt das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz fort. In der sowjetischen Zone wurde die Deutsche Volkspolizei zunächst ländermäßig aufgebaut und 1948 teilweise kaserniert.

2. Deutsche Demokratische Republik (1949 bis 1989) Die Deutsche Volkspolizei wurde 1949 als einheitliche, dem Innenministerium der ehemaligen DDR unterstehende staatliche Polizei weitergeführt. Aus ihrem kasernierten Teil wurde 1956 die „Nationale Volksarmee“ herausgelöst. Neben weiterhin bestehenden kasernierten Bereitschaftseinheiten verfügte die Deutsche Volkspolizei bis 1961 über eine besondere Grenzpolizei. Schon 1950 war der sog. Staatssicherheitsdienst (SSD oder „Stasi“) ausgegliedert und einem besonderen Ministerium für Staatssicherheit unterstellt worden. Er unterhielt ein ausgedehntes Spitzelsystem und wurde auch als Exekutivorgan (Verhaftungen, Vernehmungen) tätig. Für die Volkspolizei wurde 1968/1971 die Geltung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes abgeschafft. Die Generalklausel des neuen Volkspolizeigesetzes wurde über die herkömmliche Gefahrenabwehr hinaus auch auf die Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend den herrschenden politischen Wertvorstellungen ausgedehnt. Gegen Entscheidungen der Volkspolizei konnte Beschwerde eingelegt, aber kein gerichtlicher Rechtsschutz begehrt werden. Nach der Revolution von 1989 wurde „die Stasi“ aufgelöst und für die DDR – vor deren Beitritt am 3. Oktober 1990 – am 13. September 1990 ein Polizeigesetz nach westlichem Muster erlassen, das zwischen 1992 und 1996 durch Landespolizeigesetze abgelöst wurde. 3. Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) a) Für Struktur und Aufgaben der Polizei in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland – bis 1955 noch unter alliierten Vorbehaltsrechten – ist in erster Linie die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (GG)

10 maßgebend. Mit der „Restauration“ der deutschen Polizei in den 50er Jahren wurde die kommunale Polizei abgebaut und erneut verstaatlicht. In Übereinstimmung mit dem von den westlichen Alliierten verfolgten Ziel der Dekonzentration sieht das Grundgesetz grundsätzlich keine Gesetzgebungs- und keine Verwaltungskompetenz des Bundes für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht vor, das deshalb nach den „Auffangregelungen“ der Art. 30 und 70 GG grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Länder fällt, die Bereitschaftspolizeien errichteten und Polizeigesetze erließen.

b) Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschränkt sich dagegen auf einzelne, ihm enumerativ zugewiesene Sachbereiche, die selbst dem Gefahrenabwehrrecht zugeordnet werden können oder für die er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls wegen untrennbaren Sachzusammenhangs eine „Annex“-Kompetenz für das einschlägige Gefahrenabwehrrecht hat.

So besitzt der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Abs. 1 GG, in deren Bereich eine Länderkompetenz gemäß Art. 71 GG eine ausdrückliche bundesgesetzliche Ermächtigung voraussetzt, für das Pass-, Melde- und Ausweiswesen (Nr. 3; PaßG, MRRG), den Zoll- und Grenzschutz (Nr. 5; BPolG), den Luft- und Bundeseisenbahnverkehr (Nr. 6 und 6 a; LVG, AEG), die Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalpolizeiamt (Nr. 9 a; BKAG), die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in der Kriminalpolizei (Nr. 10 a), das Waffen- und Sprengstoffrecht (Nr. 12; WaffG, SprengG) und das Kernenergierecht (Nr. 14; AtG). Zum Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 GG, in dem die Landeskompetenz gemäß Art. 72 Abs. 1 GG verdrängt wird, gehören etwa das Strafrecht, die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren (Nr. 1; StGB, GVG, StPO), das Vereinsrecht (Nr. 3; VereinsG), das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer (Nr. 4; AufenthG), das Gewerberecht (Nr. 11; GewO), das Gesundheitsrecht (Nr. 19; AMG, BtMG, IfSG), das Lebensmittel- und Futtermittel-, das Pflanzen- und Tierschutzrecht (Nr. 20; LFGB, PflSchG, TierSG, TierSchG), das Straßenverkehrsrecht (Nr. 22, StVG, StVO), die Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Nr. 24, KrW-/AbfG, BImSchG, FluglärmG) und Naturschutz und Landschaftspflege (Nr. 29, BNatSchG). Seit Inkrafttreten der ersten Stufe der sog. Föderalismusreform am 1. September 2006 gibt es durch Streichung des Art. 75 GG keine Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes mehr und sind u.a. das Versammlungs- und Gaststättenrecht in die Kompetenz der Länder

11 übergegangen. Allerdings ist die Übergangsregelung in Art. 125a GG zu beachten, wonach Bundesrecht bis zur Ersetzung durch Landesrecht fortgilt. Die die Behördenorganisation, die Aufgabenzuweisung und die Verfahrensgestaltung betreffende Verwaltungskompetenz des Bundes für die Gefahrenabwehr bleibt hinter seiner Gesetzgebungskompetenz zurück, weil die Länder nicht nur nach Art. 30 GG die Ländergesetze, sondern grundsätzlich auch die Bundesgesetze nach Art. 83 GG als eigene Angelegenheiten und nach Art. 85 GG ausnahmsweise im Auftrage des Bundes ausführen. In Abweichung von diesem Grundsatz können Bundesgesetze in den in Art. 86 ff. GG aufgeführten Fällen auch in bundeseigener Verwaltung vollzogen werden. Nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG können durch Βundesgesetz Bundesgrenzschutzbehörden, Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen, für die Kriminalpolizei und zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes eingerichtet werden. Die Aufgaben und Befugnisse des 1951 aufgestellten Bundesgrenzschutzes (seit 30. Juni 2005: Bundespolizei) sind durch das Bundespolizeigesetz vom 19. Oktober 1994 u.a. infolge der Wiedervereinigung und des Abbaus der EU-Binnenkontrollen neu geregelt worden. Zu diesen Aufgaben zählen insbesondere der Grenzschutz, die Bahnpolizei, die Gewährleistung der Luftsicherheit, der Schutz von Verfassungsorganen, Aufgaben auf See und im Notstandsund Verteidigungsfall sowie die Unterstützung anderer Bundesbehörden. Obwohl es nach der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern keine allgemeine Bundespolizei geben dürfe, hat das Bundesverfassungsgericht die Umbenennung im Jahre 2005 hingenommen, weil damit keine Aufgabenerweiterung verbunden gewesen sei. Ein weiteres Beispiel für Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Errichtung des Bundeskriminalamtes (BKA), das die Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern im Bereich der Verbrechensbekämpfung koordiniert, im Wege der internationalen Zusammenarbeit für die Verhütung und Verfolgung internationaler Straftaten (Interpol) und als Strafverfolgungsbehörde bei bestimmten Straftaten des international organisierten Verbrechens (Waffen-, Sprengstoff-, Rauschgifthandel und Falschgeldverbreitung) und Personeneschutz zuständig ist. Daneben können auch polizei- und ordnungsrechtliche Verwaltungskompetenzen aus dem Sachzusammenhang mit gesetzgeberischen Sachkompetenzen entstehen und können gemäß Art. 87 Abs. 3 GG im Bereich der Gesetzgebungskompetenz des Bundes selbständige Bundesoberbehörden errichtet werden (vgl. Art. 87 a ff. GG: u.a. Bundeswehr-, Luft- und Eisenbahrverkehrs- sowie Bundeswasserstraßenverwaltung), die auch Gefahrenabwehrmaßnahmen ergreifen können.

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Schließlich können Bundesgrenzschutz/Bundespolizei und Bundeswehr gemäß Art. 35 GG bei Katastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen und gemäß Art. 91 GG bei drohender Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratischen Grundordnung des Bundes oder eines Landes in den Ländern eingesetzt werden. c) In den danach für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht allein zuständigen Ländern der alten Bundesrepublik wurden in einer ersten Periode zwischen 1950 und 1970 neue Polizeigesetze – meist orientiert am Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz – mit den klassischen Elementen des rechtsstaatlichen Polizeirechts (Generalermächtigung, StörerVerantwortlichkeit, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und polizeispezifische Entschädigung) erlassen. Dabei hielten die Länder Baden-Württemberg, Bremen, Saarland und zunächst auch Rheinland-Pfalz am preußischen Einheitsmodell der Gefahrenabwehr nur durch die Polizei fest. Sieben Bundesländer der ehemaligen amerikanischen und britischen Besatzungszone führten dagegen unter Abkehr vom preußischen Modell im Sinne der von den Westalliierten angestrebten „Entpolizeilichung“ eine institutionelle Trennung der Gefahrenabwehr durch. Die Polizeibehörden wurden auf den eigentlichen Vollzugsdienst „vor Ort“ reduziert, während die Gefahrenabwehr “vom Schreibtisch aus“ grundsätzlich an Ordnungs-, Sicherheits- bzw. Gefahrenabwehrbehörden übertragen wurde. Dieses sog. Trennsystem, das bis auf Sachsen auch von den neuen Bundesländern und 1993 auch von Rheinland-Pfalz übernommen wurde, ist in den Ländern Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen am konsequentesten umgesetzt worden; dort sind über die verwaltungsorganisatorische Aufteilung hinaus Aufgaben und Befugnisse der Polizei- und Ordnungsbehörden in getrennten Gesetzen geregelt (vgl. etwa NWPolG und NWOBG). In Berlin, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein bestehen dagegen trotz der organisatorischen Trennung einheitliche Sicherheitsgesetze. Die Unterschiede zwischen Einheits- und Trennsystem sind nicht überzubewerten, weil im Trennsystem für beide Behördenzweige inhaltlich gleiche Grundlagen gelten und auch in den Ländern mit Einheitssystem eine organisatorische Unterscheidung zwischen der Vollzugspolizei bzw. dem Polizeivollzugsdienst einerseits und den (allgemeinen) Polizeibehörden bzw. Polizeiverwaltungsbehörden andererseits gemacht wird. Danach umfasst der institutionelle/organisatorische Polizeibegriff in Ländern mit Einheitssystem alle mit der Gefahrenabwehr befassten Polizeibehörden, dagegen in Ländern mit Trennsystem nur die Vollzugspolizei. In den Ländern mit Einheitssystem decken sich

13 institutioneller und materieller Polizeibegriff. Unabhängig von den terminologischen Unterschieden ist der Polizeivollzugsdienst (im Einheitssystem) bzw. die Polizei (im Trennsystem) in Schutz-, Kriminal-, Bereitschafts- und Wasserschutzpolizei untergliedert. In den 70er und 80er Jahren kam es in einer zweiten Periode zu einer Polizeireform. Veranlasst durch die bereits Ende der 60er Jahre beginnenden studentischen Demonstrationen und Bürgerproteste, den einsetzenden Terrorismus (RAF) und das Anwachsen der Kriminalität in den heutigen Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität wurden Einsatz und Organisation der Polizei verändert, u.a. die Bewaffnung von Bereitschaftspolizei und Bundesgrenzschutz umgestellt, und das Bundeskriminalamt ausgebaut und mit erweiterten Befugnissen versehen. Wegen der organisatorischen und materiellen Abweichungen der bisherigen Polizeigesetze beschloss die Ständige Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder (IMK) 1974 die Vereinheitlichung der Polizeigesetze. Dies führte zu dem im Juni 1976 beschlossenen „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder“, der nach einem „Alternativentwurf“ im November 1977 in einer überarbeiteten Fassung beschlossen wurde. Im Mittelpunkt des Musterentwurfs stand die Erweiterung der sog. polizeilichen Standardbefugnisse, insbesondere im Bereich der Datenerhebung und verarbeitung. Dieses Programm haben die Länder in den 70er und 80er Jahren in ihre Gesetze aufgenommen. Die dritte Periode der Landesgesetzgebung von 1983 bis in die Gegenwart wurde durch das Volkszählungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 (BVerfGE 65 S. 1) mit dem aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingeleitet. Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergab sich die Notwendigkeit, die polizeiliche und ordnungsbehördliche Erhebung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten auf ausreichende gesetzliche Grundlagen zu stellen. Daraufhin erhielt der Musterentwurf 1986 eine geänderte Fassung, die die offene und verdeckte Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Informationen zum Gegenstand besonderer polizei- und ordnungsrechtlicher Befugnisnormen machte und mit der Befugnis zur Rasterfahndung die vorbeugende Verbrechensbekämpfung in das Polizeirecht übernahm. Die nach dem Terrorakt vom 11. September 2001 einsetzende Terrorismusbekämpfung

14 (u.a. Ausweitung von Polizeikompetenzen, Zusammenschluss von Daten und Sicherheitsdiensten, Verwischung der Grenzen von Militär und Polizei) stellt die abwägende Wahrung der individuellen Freiheitsrechte vor neue Anforderungen. III. Organisation, Aufgaben und Zuständigkeiten der Gefahrenabwehr- und Polizeibehörden in Hessen 1. Grundlagen Nachdem in Hessen zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilweise noch das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz und eine Kreis- und Provinzialordnung gegolten hatten, wurde nach 1945 durch die amerikanische Militärregierung eine stark dezentralisierte und kommunalisierte Vollzugspolizei errichtet, der zugunsten der Behörden der allgemeinen Verwaltung Gefahrabwehraufgaben (Gewerbe-, Gesundheits- und Bauaufsicht) entzogen wurden. Das 1954 erlassene Hessische Polizeigesetz (HPolG) sparte noch Organisationsfragen aus. Mit dem HSOG von 1964 wurden das HPolG, das PrPVG und die Kreis- und Provinzialordnung aufgehoben. In diesem Gesetz fielen schon materieller und institutioneller/organisatorischer Polizeibegriff auseinander. Die kommunale Vollzugspolizei wurde zunächst teilweise, dann bis 1974 vollständig verstaatlicht. Mit dem Änderungsgesetz von 1989 wurden in Konsequenz aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1982 die Befugnisse zur Datenerhebung und -verarbeitung sowie zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erweitert. Im Jahre 2000 ergingen Gesetze über die Umorganisation der Polizei (HPUOG) und über den Freiwilligen Polizeidienst (HFPG). Die gleichzeitig in Kraft getretene Verordnung über Organisation und Zuständigkeit der hessischen Polizei wurde durch die Verordnung zur Durchführung des HSOG und des HFPG vom 12. Juni 2007 (HSOG-DVO) abgelöst.

Neben der Gefahrenabwehr durch Bundesbehörden sind in Hessen die drei Bereiche des Brandschutzes, des Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes besonders geregelt (HBKG und HRDG) und nicht bzw. nur ergänzend vom HSOG erfasst. In allen drei Bereichen erfolgt die Gefahrenabwehr grundsätzlich nicht durch Verfügungen an Verantwortliche und deren Vollziehung, sondern durch eigene Maßnahmen der öffentlichen Einrichtungen/Behörden. Feuerwehr und Rettungsdienst erfüllen kommunale Selbstverwaltungsaufgaben, der Katastrophenschutz ist eine Gefahrenabwehraufgabe des Landes, die von Landräten und Oberbürgermeistern als Auftragsangelegenheit wahrgenommen wird.

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2. Behördenorganisation a) Einen Überblick über die in Hessen mit der staatlichen Aufgabe der Gefahrenabwehr betrauten drei Behördentypen ergibt sich schon aus der Aufgabenzuweisung in § 1 Abs. 1 Satz 1 des derzeit (bis 31. Dezember 2014) gültigen HSOG i.d.F. vom 14. Januar 2005. Danach stehen sich einerseits die „Gefahrenabwehrbehörden (Verwaltungsbehörden, Ordnungsbehörden)“ und andererseits die „Polizeibehörden“ gegenüber. Die Gefahrenabwehrbehörden sind wiederum in „Behörden der allgemeinen Verwaltung“ (§§ 82 bis 84) und „Ordnungsbehörden“ (§§ 85 bis 90) aufgeteilt. Die „Polizeidienststellen“ sind in den §§ 91 bis 99 HSOG und im zweiten Teil der HSOGDVO im Einzelnen aufgeführt. Die Unterscheidung zwischen diesen drei Behördentypen durchzieht das ganze Gesetz. Sie ist für die Aufgabenzuteilung und damit für die sachliche Zuständigkeit gemäß §§ 1 und 2 HSOG und für die materiellen Befugnisnormen der §§ 11 ff. HSOG wie auch etwa für die Aufsichtsbefugnisse übergeordneter Behörden, das Vollstreckungsrecht und die örtliche Zuständigkeit von Bedeutung. b) Die Aufgaben der Gefahrenabwehr werden auf der unteren Ebene gemäß § 82 Abs. 1 HSOG von den Landkreisen und Gemeinden als Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung wahrgenommen; dementsprechend handeln für sie als Verwaltungsbehörden bzw. Behörden der allgemeinen Verwaltung nach den entsprechenden kommunalrechtlichen Vorschriften gemäß § 41 der Hessischen Landkreisordnung (HKO) der Kreisausschuss mit dem Landrat als Vorsitzendem und der Gemeindevorstand gemäß § 66 der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) mit dem Bürgermeister als Vorsitzendem (in Städten: Magistrat mit dem Ober/Bürgermeister als Vorsitzendem). Aufsichtsbehörden in dem grundsätzlich dreistufigen Aufbau sind gemäß § 83 HSOG für die Landkreise, kreisfreien Städte und kreisangehörigen Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern das Regierungspräsidium, für die übrigen Gemeinden auf unterer Ebene zusätzlich der Landrat, und als oberste Aufsichtsbehörde die zuständigen Ministerien. Die Weisungsbefugnisse beschränken sich gemäß § 84 HSOG und §§ 4 Abs. 1 HGO und HKO auf allgemeine Weisungen; Einzelfallweisungen können nur bei rechtswidriger Aufgabenwahrnehmung und Nichtbefolgung der allgemeinen Weisungen erteilt werden. c) Die Ordnungsbehörden sind in „allgemeine Ordnungsbehörden“ und „Sonderordnungsbehörden“ aufgeteilt. Nach § 85 HSOG sind die allgemeinen Ordnungsbehörden vierstufig in Landes-(Ministerien), Bezirks-(Regierungspräsidien), Kreis-(Landräte und Oberbürger-

16 meister in kreisfreien Städten) und örtliche Ordnungsbehörden (Bürger/Oberbürgermeister) gegliedert. Auf der unteren Ebene nehmen nicht die Landkreise und Gemeinden selbst durch ihr allgemeines Verwaltungsorgan, sondern die Landräte und Bürgermeister (Oberbürgermeister) die Gefahrabwehraufgaben als Auftragsangelegenheiten nach §§ 4 Abs. 2 HGO und HKO „in alleiniger Verantwortung“ wahr (sog. Organleihe). Landrat, Oberbürgermeister und Bürgermeister sind in ihrer Funktion als allgemeine Ordnungsbehörde selbst die handelnde (kommunale) Behörde (vgl. Kommunalisierungsgesetz vom 21. März 2005). Ihnen können von den Fachaufsichtsbehörden Weisungen auch im Einzelfall erteilt werden; der Aufsichtsbehörde steht u. U. auch ein Selbsteintrittsrecht zu. Die Bedeutung der in § 90 HSOG geregelten Sonderordnungsbehörden außerhalb der allgemeinen Verwaltung ist durch ihre weitgehende Eingliederung gering. d) Die Polizeibehörden im institutionellen/organisatorischen Sinne sind seit 2001 vollständig aus der allgemeinen inneren Verwaltung herausgelöst und zu einer zweistufigen Sonderverwaltung organisiert. Als „Polizeidienststellen“ sind sie in den §§ 91 ff. HSOG mit ihren Aufgaben und u. a. der Aufsicht im Einzelnen geregelt. Nähere Bestimmungen finden sich im zweiten Teil der HSOG-DVO. Nach § 94 HSOG und § 5 HSOG-DVO sind die sieben Polizeipräsidien (Nord-, Ost-, Mittel-, West-, Südost- und Südhessen sowie Frankfurt am Main) für die Sparten Schutz- und Kriminalpolizei in ihren Dienstbereichen grundsätzlich für die Erfüllung aller polizeilichen Aufgaben zuständig, soweit sie nicht einer anderen Polizeidienststelle übertragen sind. Solche besonderen Aufgabenübertragungen finden sich auf der gleichen Ebene in den §§ 92, 93 und 95 HSOG für das Hessische Landeskriminalamt, das Hessische Bereitschaftspolizeipräsidium (Bereitschafts- und Wasserschutzpolizei) und das Präsidium für Technik, Logistik und Verwaltung sowie die Polizeiakademie Hessen. Oberste Polizeibehörde mit Dienst- und Fachaufsichtsbefugnissen ist das Landespolizeipräsidium beim Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Die früheren Bezirkspolizeibehörden bei den drei Regierungspräsidien sind ersatzlos weggefallen. 3) Aufgaben/sachliche Zuständigkeit Nach der allgemeinen Aufgabenzuweisung in § 1 Abs. 1 Satz 1 HSOG haben die Gefahrenabwehrbehörden (Verwaltungsbehörden, Ordnungsbehörden) und die Polizeibehörden die gemeinsame Aufgabe der Gefahrenabwehr. Dabei statuiert § 2 Abs. 1 HSOG für die „Auf-

17 gabenabgrenzung“ den - auch in anderen Landesgesetzen geregelten - Grundsatz der Subsidiarität, wonach Ordnungs- und Polizeibehörden – abgesehen von den erforderlichen Vorbereitungen für die Hilfeleistung in Gefahrenfällen (vorbeugende Gefahrenabwehr, § 1 Abs. 1 Satz 2 HSOG) – nur tätig werden, soweit die Abwehr der Gefahr durch andere Gefahrenabwehrbehörden, also die mit diesen Aufgaben betrauten allgemeinen Verwaltungsbehörden, nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint; dann steht den Ordnungs- und Polizeibehörden die sog. „Eilfallkompetenz“ zu. Da Ordnungs- und Polizeibehörden in einem solchen Dringlichkeitsfall ohne weitere Zuständigkeitsabgrenzung gleichermaßen zuständig sind, gilt für ihr Eingreifen der Grundsatz der Erstbefassung, wonach die mit der Gefahrenlage zuerst konfrontierte Behörde die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen hat. Nach § 1 Abs. 2 HSOG haben die Gefahrenabwehr- und Polizeibehörden über die allgemeine Aufgabenzuweisung hinaus die ihnen durch andere Rechtsvorschriften zugewiesenen weiteren Aufgaben zu erfüllen. Die insoweit bedeutsamste Zuweisung für die „Aufgabenwahrnehmung der allgemeinen Ordnungsbehörden“ ist in § 1 HSOG-DVO geregelt, wonach diese etwa für das Pass-, Personalausweis- und Ausländerwesen, das Versammlungsund Waffenwesen, die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Straßenverkehr und die Angelegenheiten der StVO, die Aufsicht über die Beförderung radioaktiver Stoffe und Lagerung gefährlicher Güter, für die Lärmbekämpfung, die Festsetzung der Sperrzeit und die Bekämpfung der verbotenen Prostitution zuständig sind. Die Polizeibehörden haben gemäß § 1 Abs. 4 und 5 HSOG auch zu erwartende Straftaten zu verhüten sowie für die Verfolgung künftiger Straftaten vorzusorgen (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) und anderen Behörden nach den §§ 44 bis 46 HSOG auf Ersuchen, also nicht von Amts wegen oder auf Weisung, Vollzugshilfe zu leisten. Neben der Hilfe bei angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen zur Identitätsfeststellung umfasst die polizeiliche Vollzugshilfe zugunsten allgemeiner Ordnungsbehörden solche Vollzugshandlungen zur Durchführung ordnungsbehördlicher Maßnahmen, die diese mangels eigener befugter Bediensteter nicht selbst vornehmen können, während sie sich zugunsten anderer Behörden auf die Anwendung unmittelbaren Zwangs und den Schutz der Vollzugsorgane dieser Behörden und zugezogener Zeugen/innen und Hilfspersonen bei zu erwartendem Widerstand beschränkt. Die Polizeibehörden sind nur für die Art und Weise der Durchführung der Vollzugshilfe verantwortlich.

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4) Örtliche Zuständigkeit Die örtliche Zuständigkeit ist in den §§ 100 bis 103 HSOG geregelt. Nach § 101 Abs. 1 HSOG sind Polizeidienststellen im ganzen Landesgebiet zuständig, wobei die Polizeipräsidien und das Hessische Bereitschaftspolizeipräsidium als Wasserschutzpolizei in der Regel in ihrem Dienstbereich tätig werden sollen. Die örtliche Zuständigkeit der Gefahrenabwehrbehörden ist dagegen gemäß § 100 Abs. 1 HSOG grundsätzlich auf ihren Amtsbereich beschränkt.