Alltagslyrik und Polizei von Hartwin Neumann, Kassel

Einführung

Alltagslyrik Während Schriftsteller sich seit den Anfängen der Literatur immer wieder mit der Staatsgewalt auseinander gesetzt haben1 wird in der Literaturwissenschaft Alltagslyrik in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts datiert. Ewers nennt weitere Begriffe wie “Lyrik der neuen Subjektivität” bzw. “neue Sensibilität”2.

Bestimmende Elemente der Alltagslyrik sind die Abkehr von der modernen Lyrik sowie die Alltagssprache. Damit können alltägliche Situationen und Gegenstände bearbeitet und in Gedichte “eindringen”. Scheinbar Banales und Unbedeutsames gewinnt Bedeutung. Ewers sieht darin auch eine “Demokratisierung” von Lyrik, die bis dahin elitär genannt werden kann.

Mit der Aufhebung der Form ist (fast) alles erlaubt, die Distanz zur Prosa ist gewollt, selbst will die Alltagslyrik aber “Lyrik” sein. Später wird deutlich, dass die Autoren der ersten Stunde sich weiterentwickelt, die Alltagslyrik in ihrer einfachen Ausprägung eher eine Durchgangsphase darstellte. So einfach scheint es nun doch nicht.

Der Zeitgeist der Entstehung von Alltagslyrik war geprägt vom “Kalten Krieg” mit “Drohungen”, “Überbewaffnung” u.ä., die ihrerseits auf die Menschen wirkten. 1 2

Pinkert (1976), S. 10 Ewers (1982), S. 6

1

“Auch die Lyrik reagierte auf den Verlust an Sicherheiten und Gewissheiten und spürte den Beschädigungen des Ichs und der Welt nach, die anhand von Beschädigungen der lyrischen Sprache selbst deutlich gemacht wurden”3.

Heute wird Alltagslyrik von vielen Menschen gebraucht, sie ist selbst Gegenstand des Alltags geworden, sie ist /fast selbstverständlich geworden. Ein Blick in einen großen

Internetversandhandel

zeigt

den

Umgang

mit

Alltagslyrik

von

“Befindlichkeiten” bis “Zynismus”.

Alltagslyrik und Polizei Wenn Alltagslyrik selbst zum Gegenstand des Alltags geworden ist, so kann sie auch im Alltag der Polizei Eingang finden. Informell hat sie das längst getan. Das Bedürfnis, sich Erfahrungen von der Seele zu schreiben, großes Interesse am Beruf zu zeigen, sich mit Polizei zu identifizieren ist groß. Das ist recht. Viele Polizeierfahrungen liegen literarisch vor und warten darauf geordnet, systematisch erfasst und damit sinnhaft gebraucht zu werden.

Weit gewichtiger sind polizeifachliche Argumente, auch dieser Literatur einen Ort zu geben. Polizeibeamtinnen und –beamte sind durch das Studium in ihrer persönlichen Entwicklung

zu bilden, weil die polizeiliche Tätigkeit eben wie in kaum einem

anderen Beruf die Persönlichkeit dieser Personen herausfordert. “Zugleich soll das

3

http://www.xlibris.de/Epochen, 2013-06-05

2

Studium der Persönlichkeitsbildung dienen, die soziale und interkulturelle Kompetenz sowie die körperliche Leistungsfähigkeit fördern”.4

Schlüsselkompetenzen wie “Kommunikation” und “Kreativität” sind für den Erwerb polizeilicher Kompetenzen wesentlich, um Situationen und Erfahrungen angemessen einschätzen, rechtmäßig, sozial und rechtsstaatlich umsetzen zu können. Kreatives Schreiben kann hierfür ein Baustein zum Erwerb vollständiger Schreibkompetenz, sein. Besonders gilt dies für Führungskräfte der Polizei, die Texte selbständig entwerfen müssen.

Begonnen hat diese “Kreativität” allerdings nicht subjektiv, sondern höchst politisch. “Das Stichwort “Kreativität” zielt ab Ende der 50er Jahre prinzipiell auf überindividuelle, gesamtgesellschaftlich relevante und verwertbare Innovationskraft. Ausgelöst wurde das Interesse an Kreativität von einem technologisch-politischen Ereignis des Jahres 1957: Als erstes Land der Welt – und vor dem sich überlegen fühlenden Konkurrenten USA – schoß die Sowjetunion in den Zeiten des “Kalten Krieges” einen Satelliten in den Weltraum. Sofort kam es in den USA zu einer technologischen Aufholjagd und zu “einer Art Hochrüstung in Sachen Kreativität”. Der Slogan lautete: Um als Nation zu überleben, muß das Individuum kreativ werden”.5

4 5

APOgD PVD vom 13.7.2010, Staatsanzeiger für das Land Hessen, S. 2100 Brenner (1990), S. 16

3

Damit beginnt der Siegeszug der “Kreativität”, die heute bei schulischen Schreibprozessen, in der Alltagsbewältigung, in Therapien als Copingstrategie bei psychologischen Verarbeitungsprozessen eine Rolle spielt.6

Die Arbeit mit Literatur, mit Schreiben ist eine wertvolle Betätigung, die in einem schreibenden Beruf wie dem des Polizeiberufs nicht nur “eine vornehme Verpflichtung” ist und sein sollte. Die demokratische Verpflichtung Recht – zu – schreiben oder Recht – zuschreiben erfordert neben der Rechtschreibung eine gehörige Portion Schreibkompetenz. Hierfür scheint das Modell nach Bereiter geeignet: 7

Bereiter (1980) unterscheidet fünf Fähigkeitskomplexe, die eine entwickelte Schreibkompetenz kennzeichnen: •

Assoziatives

Schreiben:

Der

Fokus

liegt

auf

dem

Prozess

der

Ideenproduktion und des Hervorbringens von Sprache. Dabei findet keine vorgreifende konzeptionelle Planung statt. •

Performatives Schreiben: Es wird versucht ein Schreibprodukt zu erzeugen, das grammatischen und orthographischen Normen folgt.



Kommunikatives Schreiben: Das Schreiben wird an potentiellen Adressaten orientiert.



Reflektiertes Schreiben: Der Schreibende tritt seinem eigenen Text als kritischer Leser gegenüber und bewertet ihn in Bezug auf die eigenen Ansprüche und Ziele.

6 7

Wenninger, Lexikon der Psychologie Vgl.: Dieter (2007), S. 95

4



Epistemisches Schreiben: Beim Schreiben werden gedankliche Konzepte gebildet und neue Zusammenhänge hergestellt. Das Schreiben wird so zu einem integralen Bestandteil des Denkens.

Im Laufe der individuellen Schreibentwicklung steigt nach und nach die Anzahl der Fähigkeitskomplexe, die innerhalb des Schreibprozesses koordiniert werden können. Da die kognitive Kapazität des Menschen begrenzt ist, können nicht alle Fähigkeitskomplexe gleichzeitig in den Schreibprozess integriert werden. Die Integration neuer Fähigkeitskomplexe wird erst dadurch ermöglicht, dass durch die weitgehende

Automatisierung

bereits

vorhandener

Fähigkeitskomplexe

eine

kognitive Entlastung stattfindet. Dieter unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Schreibkompetenz. Primäre Schreibkompetenzen sind allgemeine, von bestimmten Medien unabhängige Schreibkompetenzen. Aufbauend auf diesen primären Schreibkompetenzen können sekundäre Schreibkompetenzen entwickelt werden. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen Texte zu erstellen, die in Bezug auf Inhalt und Form den Ansprüchen bestimmter schriftbasierter Medien genügen, also z.B. Texte für Zeitungen, wissenschaftliche Zeitschriften oder Websites.8 Somit Texte für die Öffentlichkeit. Mit umgekehrten Vorzeichen, der Bürger schreibt Gedichte, ist der Beginn der „Öffentlichen Meinung“ sehr wahrscheinlich auf das 18. Jahrhundert (1749) festzulegen, als ein paar Gedichtzeilen die Pariser Polizei auf den Plan riefen und in der

Folge

versucht

wurde,

Kommunikationsnetzwerke

von

Königsfeinden

auszumachen:

8

Vgl.: Dieter (2007): S. 94/95

5

„Monstre dont la noire furie.... « 9 (Monster, dessen düstre Wut…) Die deutsche Polizeigeschichte10 bietet viele Möglichkeiten,

sinnhafte Lösungen

öffentlicher Probleme im Verhältnis zur Polizei zu reflektieren. Allein mit der Metropolenforschung im Berlin um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert, lohnt es sich über Gesellschaft, Polizei und Staat zu reflektieren. So sind wahrscheinlich die Berliner Großstadtdokumente11 von Hans Ostwald Vorbild für das Modell „Chicago School“ von Park/Burgess. Balsam für die poetische Seele sind die Milieustudien von Heinrich Zille ebenso wie das Stöbern im Simplicissimus12. Die aktuelle Geschichte in der Polizei beginnt täglich in den Seminarräumen, ich spreche hier aus hessischer Sicht, besonders aber auf den sogenannten „Reflektionstagen“, wenn junge Menschen als Studierende und Polizeianwärter, über theoretische und praktische Erfahrungen reflektieren13. Der vorliegende Text und “Alltagslyrik Polizei” soll eine Anregung für jede Polizeibeamtin und Polizeibeamten zur Auseinandersetzung mit Fragen aus dem Beruf und Studium heraus- fordern.

Schreiben von Texten sowie Alltagslyrik ist ein Gegenstand, dem sich einige Polizeibeamtinnen und –beamte privat oder organisiert widmen. Exemplarisch sind die Polizei-Poeten zu nennen, die seit etwa 10 Jahren nützliche Ziele verfolgen: “Das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit” verbessern, den “Beruf immer wieder neu 9

Darnton (2002), S. 13 Vgl.: http://www.dhpol.de/de/medien/downloads/hochschule/ausstellung/zeitleiste_gesamt_v1.pdf, 11 Jazbinzek/Thies (1997) 12 Vgl.: http://www.simplicissimus.info/ 13 Neumann (2005), S. 125-137 10

6

kennen lernen”, die Kolleginnen und Kollegen “unterstützen” und “ermutigen” wollen (Vgl.: www.polizei-poeten.de).

Mit dem Jahr 2013, dem Erwerb der Gemeinnützigkeit ändern, erweitern sich die Ziele, sie befinden sich nun auf der Grundlage des Vereinsgesetzes. Damit unterliegt die Arbeit des Vereins gesetzlichen Regelungen. Der Vereinszweck verweist darauf:

§ 2 Zweck des Vereins ist die Förderung: •

von Kunst und Kultur,



der internationalen Gesinnung,



der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens,



von mildtätigen Zwecken und



der Kriminalprävention.

Mit dieser Gemeinnützigkeit im Rücken können Reflektionen von Polizeibeamtinnen und –beamten gezielter angegangen werden Die Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung selbst betont die nötige “Reflektionsfähigkeit” (www.hfpv-hessen.de) der Beamten. Darüber hinaus besteht heute in dem neuen Studiengang “Bachelor” die

Möglichkeit,

hochschulische

und

gemeinnützige

Ziele

im

sogenannten

“Wahlpflichtfach”14 zu verknüpfen.

Literatur und Quellennachweis

14

Vgl. Ziele der Studienordnung „Bachelor of Arts“.: Staatsanzeiger für das Land Hessen (2010, S.2469ff)

7

Benn, Josef: Ein Job wie jeder andere? Buchverlag Andrea Schmitz, Overath, Köln, 1994.

Brenner, Gerd: Kreatives Schreiben, Ein Leitfaden für die Praxis, scriptor Verlag, Frankfurt am Main, 1990

Darnton, Robert: Poesie und Polizei, Öffentlche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts, edition suhrkamp, Frankfurt Main, 2002.

Dieter, Jörg: Webliteralität, Lesen und Schreiben im World Wide Web, Inauguraldissertation der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, 2007

(Das) Hessische Ministerium des Innern und für Sport (Hrsg.): Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Studiengänge Bachelor of Arts Polizeivollzugsdienst “Schutzpolizei” und “Kriminalpolizei” (APOgD PVD), in: Staatsanzeiger für das Land Hessen, 14. September 2010, Seite 2099ff.

Lüderssen, Klaus: “...daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine”, Insel Verlag, Frankfurt/Main 2005.

Neumann, Hartwin: Die Theorie-Praxis-Reflektionstage im Fachbereich Polizei in Kassel, in: Distler, Lorei, Reinstädt (Hrsg): Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, Polizeiwissenshaftliche Analysen, Band 8

Neruda, Jan: Aus dem Alltag der Prager Stadtpolizei, Eine Erzählung aus der zeit der k.u.k. Monarchie von Jan Neruda, Vitalis Deutscher Buchverlag, Prag, 1993. 8

Pinkert, Ernst Ulrich (Hrsg.): Büttel, Schutzmann, Prügelknabe, Die Polizei als (Leid)Motiv deutscher Lyrik von 1816 – 1976, Gedichte, Lieder, Balladen, Mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth, Trikont Verlag, München 1976.

Rühl, Werner: Darmstädter Schutzmannsgeschichten, Garuda Verlag, Darmstadt 1987.

Steinbach, Dietrich (Hrsg.): Alltagslyrik und Neue Subjektivität mit Materialien, Auswahl der Texte und Materialien von Hans- Heino Ewers, Klett Verlag, Stuttgart 1994.

Wenninger, Gerd: Lexikon der Psychologie, 5 Bände, 2003

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