Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera

Ausgabe 2/2017

Liebe Leserinnen und Leser, auch in unserem zweiten Informationsbrief des Jahres 2017 sollen wieder einige spannende Episoden aus der Stadtgeschichte Geras schlaglichtartig beleuchtet und damit die inhaltliche Vielfalt unserer Archivbestände unterstrichen werden. Dass für die „Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera“ ein wissbegieriges und aufgeschlossenes Publikum existiert, verdeutlicht die Anzahl der Abonnierenden, die sich nach Erscheinen des ersten Informationsbriefes auf eine Zahl 127 Interessent(inn)en beziffern lässt und so zum Fortführen dieses Bausteins archivischer Öffentlichkeitsarbeit animiert. In chronologischer Reihenfolge sollen in dieser Ausgabe historische Gauner- und Vagabundenbanden im Reußenland, das Wirken Eduard Gottlieb Amthors (1820-1884) sowie des Fotografenmeisters Georg Lothar Tuncsik (1917-1977) in den Blick genommen werden. Ein Gastbeitrag ermöglicht Einblicke in Forschungen über die Veränderung der Industriestruktur Geras in der Zeit von 1880 bis zur beginnenden Weimarer Republik im Rahmen einer Bachelorarbeit an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Bei der Lektüre wünsche ich Ihnen viel Vergnügen! Ihre Christel Gäbler Leiterin Stadtarchiv

Beiträge dieser Ausgabe: Geschichte(n) aus dem Reußenland – Teil 1: Gauner und Vagabunden im reußischen Vogtland ***

Publikationen zur Stadtgeschichte - Teil 2: Eduard Gottlieb Amthors (1820-1884) Wirken in Gera ***

Personen der Stadtgeschichte – Teil 1: Zum 100. Geburtstag des Fotografenmeisters Georg Lothar Tuncsik (1917-1977) ***

Forschungen zur Stadtgeschichte – Teil 1: „Geras Stoffe und Maschinen hört man in aller Welt rühmen“ – Veränderungen der Industriestruktur Geras um 1900

Geschichte(n) aus dem Reußenland – Teil 1: Gauner und Vagabunden im reußischen Vogtland Meyers Konversations-Lexikon versteht in seiner fünften Auflage aus dem Jahr 1897 unter dem Stichwort Gauner „im weitern Sinn gewerbsmäßige Verbrecher überhaupt, im engern den gewerbsmäßigen Betrüger in seinen verschiedenen Gestalten.“ In unterschiedlicher Form konnte das Gaunertum in den deutschen Territorien schon im 15. Jahrhundert nachgewiesen werden. Diese Differenziertheit artikulierte sich insbesondere in der Herausbildung einer eigenen Gaunersprache, den sogenannten „Kochemer Loschen“, die eine wesentliche Kommunikationsgrundlage für Länder übergreifend agierende Betrügerbanden darstellte. Die Bezeichnung „Kochem“ ist dabei als Synonym für Dieb bzw. Gauner und das Wort „Loschen“ als Synonym für Sprache zu verstehen, sodass unter den „Kochemer Loschen“ die verbale Verständigungsgrundlage des professionalisierten Gaunertums gebündelt wurde. Nach und nach sammelten unter anderem Polizeibeamte die gaunersprachlichen Ausdrücke und zeichneten diese in eigenen Wörterbüchern auf. Einige der 1843 im „Wörterbuch der Gauner- und Diebessprache“ festgehaltenen Begriffe finden sich, teilweise in Redewendungen gekleidet, noch in unserem heutigen Sprachgebrauch; dazu zählen unter anderem die Substantive „Klemme“ (Gefängnis), „Maloche“ (Arbeit), „Riecher“ (Nase), „Schabernack“ (Streich), „Schmiere“ (Wache) oder „Schlamassel“ (Missgeschick, Unglück). Neben einer spezifischen Gaunersprache etablierte sich vorrangig im 18. Jahrhundert auch eine eigene Symbolik, die sogenannten „Gaunerzinken“. Die „Zinken“, unter denen unser heute gebräuchliches Wort Zeichen zu verstehen ist, wurden von Verbrechern sichtbar für ihre Komplizen beispielsweise an Hauswänden und anderen geeigneten Stellen hinterlassen, um über die örtlichen Gegebenheiten (z. B. befindet sich ein bissiger Hund im Haus, lohnt es sich aufdringlich zu werden, ist der Bewohner alleinstehend usw.) zu informieren. In modifizierter Form finden die Gaunerzinken auch heute noch Anwendung, sodass sogar Versicherungen an ihre Kunden zur Kenntnis der wichtigsten verwendeten Symbole appellieren:

Beispiele für Gaunerzinken des 21. Jahrhunderts

Eine Wandlung im Gaunertum erfolgte im Nachgang des Dreißigjährigen Krieges, sodass in den Jahrzehnten von 1650 bis 1780 von einer „Romantik des Räuberunwesens, das die Phantasie des Volkes lebhaft erhitzte und seinen hervorragendsten Vertretern die Unsterblichkeit sicherte“, die Rede war. Die gesellschaftliche Allgegenwart des Räubertums inspirierte wohl nicht zuletzt auch den später in Jena als Geschichtsprofessor lehrenden Friedrich Schiller zu seinem 1782 uraufgeführten Werk „Die Räuber“. In den reußischen Territorien ist ein verstärktes Auftreten von Gaunern am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu konstatieren. Angezogen wurden die Verbrecherbanden zunächst dadurch, dass deren Treiben in der Maingegend, im Spessart, im Odenwald und anderen deutschen Gebieten bereits gesetzliche Konsequenzen in Form von Anordnungen mit entsprechenden Zuchthausstrafen nach sich gezogen hatte. Im Reußenland existierten damals jedoch noch keine derart strikten polizeilichen Verordnungen, die diesen Umtrieben ein Ende setzten. Begünstigt durch den großen Stadtbrand in Greiz im Jahr 1802 sowie durch die Kriegswirren infolge der Koalitionskriege (1792-1815) und der damit einhergehenden napoleonischen Besatzungszeit breiteten sich die Diebesbanden über Lobenstein, Ebersdorf, Saalburg, Schleiz und Greiz in Richtung Gera aus. Schnell kundschafteten die Vagabundierenden, zu denen auch marodierende Soldaten verschiedenster Nationalitäten gehörten, die Gegenden aus und erhielten Kenntnis davon, in welchen Orten beispielsweise die Geburtenregister infolge einer Feuersbrust vernichtet worden waren. Mit falscher Identität gaben sich die Fremden nun unter anderem als Handelsleute, Kammerjäger, Kesselflicker oder Hilfsarbeiter aus und erschlichen sich so das Vertrauen der Landbewohner. Die lokalen Behörden sahen sich aufgrund des Fehlens amtlicher Nachweise über die Geburtsorte der betreffenden Personen zur Zuweisung bestimmter Aufenthaltsorte gezwungen. Findig wie die Betrüger waren, hatten sie in ihren Heimatorten natürlich vorsorglich alle Herkunftsnachweise vernichtet. Im Laufe der Zeit konnten unter den Gaunern fünf Hauptgruppen unterschieden werden, die sich vor allem durch ihre mehr oder weniger gewalttätige Vorgehensweise voneinander abhoben. Die brutalste Tätergruppe wurde unter der Bezeichnung „Kawohler“ zusammengefasst. Diese Begrifflichkeit leitete sich vom Verb „kawohlen“ in der Bedeutung von „binden“ ab, was darauf schließen lässt, dass diese Gaunergruppe beim Widerstand ihrer Opfer vor Gewalt bis hin zum Mord nicht zurückschreckte. Zu ihrer Ausrüstung im Rahmen von Beutezügen zählten Pistolen, Brecheisen, Bindestricke, Bohrer, Zangen, Sägen, Dietriche und andere für einen Einbruch zweckdienliche Gegenstände. Bei der Untersuchung der Sozialstruktur des deutschen Gaunertums muss auch betont werden, dass es sich keineswegs ausschließlich um Angehörige einer einzigen Gesellschaftsschicht handelte. Vielmehr gehörten teilweise auch Studenten, die

nach Abschluss ihres Studiums keine Anstellung gefunden hatten und ihren Unterhalt umherziehend verdienen mussten, zu einer Gruppe der Vagabundierenden, die auch unter der Bezeichnung des „Gelehrtenproletariats“ firmierte. Hin und wieder waren die Gauner sogar namentlich bekannt, sodass die Bevölkerung beispielsweise auch in den Presseerzeugnissen der damaligen Zeit, wie der „Neuen privilegirten Geraischen Zeitung“ aus dem Jahr 1807, gezielt vor ihnen gewarnt werden konnte (siehe Abbildung unten).

Annoncen aus der Neuen privilegirten Geraischen Zeitung des Jahres 1807

Das Diebesgut umfasste von Nahrungsmitteln, Wild- und Nutztieren, Alltagsgegenständen, Kleidung, bis hin zu Luxusgegenständen wie Schmuck alles, was nicht niet- und nagelfest war. Zu den bevorzugten Rückzugs- und Aufenthaltsorten der Diebe, die sich oftmals auch zu ganzen Gruppen verbündet hatten, zählten in den wärmeren Jahreszeiten vor allem die dichten Waldgebiete der reußischen Kleinstaaten. Ein neuralgisches Gebiet soll sich vor allem im Wald bei Plothen befunden haben, da an dieser Stelle die Gebietsteile verschiedener Kleinstaaten zusammentrafen und so die staatsbehördliche Zuständigkeit nicht immer einwandfrei geklärt werden konnte. Im Herbst und Winter zogen sich die Betrügerbanden vorrangig in Herbergen zurück. Dabei unterschieden sie zwischen Unterkünften, deren Besitzer sich über die Ambitionen ihrer Gäste im Klaren waren und solchen Herbergen, deren Eigentümer nicht über die Machenschaften ihrer Logisgäste in Kenntnis gesetzt waren. Unter den letztgenannten Herbergen wurden für die Herrschaft Gera in einem anonymen historischen Bericht „die Schenken Stublach, Großsaara, Neuärgerniß, Dorna, Zwötzen, Mielesdorf, Kleinfalke, Töppeln, Röppisch, Kaimberg, Lichtenberg, mehrere Häuser in Frankenthal und ein kleines Häuschen in Pohlen, welches am Ende des Dorfes isoliert liegen soll“, genannt. Ähnlich gestaltete sich die Lage auch in den übrigen reußischen Amtsbezirken Schleiz, Hohenleuben, Saalburg, Lobenstein, Ebersdorf, Hirschberg, Burgk, Untergreiz, Obergreiz und Dölau, sodass die netzwerkartigen Auswüchse des Gaunertums zweitweise in den thüringischen Staaten als eine regelrechte „Landplage“ ausuferten. Den Akten des Stadtarchivs Gera kann exemplarisch der Fall der 20jährigen Pauline Ernestine Drechsler aus Langenberg entnommen werden, die laut damaliger Aktenüberlieferung „in ihrer Heymath und dessen Umgegend schon als arbeitsscheue Müßiggängerin bekannt sey und hier keine Gelegenheit finden werde, wegen ihres

unordentlichen Betragens zum Erwerb ihres Unterhalts [beizutragen], und am Ende der Gemeinde zur Last fallen könnte, […].“ Mehrfach war die Landstreicherin in den Jahren von 1851 bis 1853 durch Diebstähle und Lügen, wie dem Vortäuschen des eigenen Auswanderns nach Amerika, aufgefallen und bereits mit einer sechsmonatigen Zuchthausstraße belegt worden. Doch als alle disziplinarischen Maßnahmen nicht halfen, formulierte der Langenberger Bürgermeister im August 1853 einen Antrag auf Bewilligung von Staatsmitteln für die Finanzierung der Ausreise der genannten jungen Frau - „um sich von diesem gemeinschädlichen Subjecte zu befreien“, wie es in den Ausführungen des Stadtoberhauptes hieß. Insgesamt 80 Reichsthaler wurden jeweils zur Hälfte von der Fürstlichen Regierung und von der Gemeinde Langenberg aufgewendet, um sich der unliebsamen Zeitgenossin zu entledigen. Am 12. April 1854 trat die ihres Heimatlandes verwiesene Pauline Ernestine Drechsler schließlich von Langenberg aus ihre Reise über Bremen in Richtung Amerika an. Über den weiteren Werdegang der Frau findet sich in der Akte kein Beleg. Dass es sich bei dieser Verfahrensweise zur Entledigung straffälliger Landeskinder um keinen Einzelfall handelte, beweist unter anderem der im schwarzburg-rudolstädtischen Böhlen 1851 von den Behörden niedergeschlagene Sommertumult. Neben der reaktionären Zurückdrängung der Errungenschaften der 1848er Revolution führte die ökonomische Krise der einheimischen Gewerbe, gepaart mit einer gesellschaftlichen Verunsicherung zu einem tumultartigen Aufbegehren der Einwohner gegen die fürstliche Obrigkeit. Infolge des bis dato noch nie da gewesenen Ausmaßes dieser Ausschreitungen entschloss sich der regierende Landesfürst kurzum zur Ausweisung der Rädelsführer mitsamt ihrer Familien nach Südamerika. Quellen aus dem Stadtarchiv Gera: III D 1/190, Materialsammlung Nr. 423, 744 und 777, Neue privilegirte Geraische Zeitung auf das Jahr 1807; Literatur: Rudolstädter Heimathefte (RHH) 11/12 (2013), S. 313-316. Text: Christel Gäbler, Archivleiterin

Publikationen zur Stadtgeschichte – Teil 2: Eduard Gottlieb Amthors (1820-1884) Wirken in Gera „So hatte ich denn in pädagogischer Beziehung als Lehrer und Unternehmer, wie in literarischer Beziehung, als Schriftsteller und Verleger wol so leidlich meine Pflicht gethan! Ob mich davon etwas überdauern wird? Vielleicht die Handelsschule, […] vielleicht ein paar Seiten […] aus Tausenden von Bögen, die ich selbst geschrieben […] vielleicht die Nennung des Namens Amthor […]?“ Diese nachdenklichen Worte formulierte der vielseitige Handelsschullehrer Eduard Gottlieb Amthor in seiner 1879 erschienenen Autobiografie, in der er damals auf ein bewegtes und nachfolgende Generationen prägendes Wirken zurückblicken konnte. Geboren am 17. Juli 1820 im südthüringischen Themar, besuchte Amthor zunächst die Schule in Coburg. Begünstigend für seinen weiteren beruflichen Lebensweg wirkte sich die bereits seit Jugendtagen mit dem späteren Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha gepflegte Freundschaft aus. Parallel zu seinem 1838 in Leipzig aufgenommenen

Studium der Fächer Theologie und orientalische Sprachen führte er für verschiedene Druckereien Manuskriptkorrekturen durch, um seine passionierte Reisetätigkeit in vorrangig alpine Gegenden zu finanzieren. Auch kleinere literarische Auftragsschriften fertige der Student in dieser Zeit bereits an. Nach verschiedenen Reisen, einer Tätigkeit als Publizist, Übersetzer sowie Bibliothekar in Leipzig und anderer Aktivitäten, kehrte er 1848 in seine thüringische Heimat zurück. In Hildburghausen eröffnete er am 8. Oktober 1849 eine private Handelsschule, die sich zum Ziel setzte künftige Kaufmänner und Fabrikanten für ihre spätere Tätigkeit sowohl auf technischem, sprachlichem und geschäftlichem Gebiet zu qualifizieren, als auch eine solide Basis an Allgemeinwissen zu vermitteln. Neben der Ausbildung in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch, sowie der Möglichkeit des fakultativen Privatunterrichts in Holländisch und Dänisch, umfasste der Lehrplan an der Amthorschen Handelsschule auch praktische Handelswissenschaften, die eine Wissensvermittlung in den Bereichen Buchhaltung, Warenkunde, Geld-, Maß- und Gewichtskunde vorsahen. Als weiteren Vorteil seiner Handelsschulausbildung im Vergleich zu der anderer Ausbildungsstätten, nannte Amthor vor allem die Vermittlung der Gabelsberger Stenographie. Darüber hinaus mag auch der Praxisbezug der Ausbildung, der durch das Sammeln von Erfahrungen in den „Comptoirwissenschaften“ in der eigenen Firma „Amthor & Co“ erworben werden konnte, zur Attraktivität und Zukunftsfähigkeit dieser Ausbildungsstrategie beigetragen haben. In der Chronologie seiner Erfolgsgeschichte schloss sich 1850 die Gründung einer „Fortbildungsanstalt für Mädchen“, einer „Sonntagsgewerbeschule“ sowie 1852 die Etablierung der Wochenschrift „Feierstunde“, der ersten auf naturwissenschaftliche und gewerbliche Themen konzentrierten Zeitschrift Thüringens, an. Dieses Periodikum adressierte sich vorrangig an Bauern und Gewerbetreibende – mit dem Ziel die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesen Gebieten für die breite Masse der Bevölkerung verständlich darzustellen. Seit 1853 erschien die Zeitschrift unter dem Titel „Der Generalanzeiger für Thüringen, Franken und Vogtland“ und wurde von Eduard Gottlieb Amthor im Selbstverlag herausgegeben. Die skizzierten Erfolge, die auch mit stetig anwachsenden Schüler(innen)zahlen einhergingen, veranlassten Amthor schließlich ab 1853 zur Suche eines passenden Erweiterungsgebäudes für seine Handelsschule. Da er in Hildburghausen und dessen Umgebung keine adäquaten Räumlichkeiten fand, geriet die reußische Residenzstadt Gera in den Fokus seiner Betrachtungen. Die Bedingungen für die Gründung einer Handelsschule in Gera waren äußerst günstig. Zwar existierte in der Stadt bereits eine Gewerbeschule – doch sah man keine Probleme diese Einrichtung in einer erfolgreich operierenden Handelsschule aufgehen zu lassen. Somit erteilte das Fürstlich Reußische Ministerium dem engagierten Schulgründer bereits am 18. Oktober 1853 die Konzession zur Eröffnung seiner Bildungseinrichtung. Neben namhaften Geraer Fabrikbesitzern der Zeit (Morand & Co, Ernst Weber, Bruhm & Nägler, Weissflog) zeigte sich auch der Handelskammerpräsident Nürmberger vom Amthorschen Vorhaben begeistert. Wie sich die Reaktionen jedoch oft gegenüber Neuerungen abzeichnen, begegneten den ehrgeizigen Ambitionen Eduard Gottlieb Amthors auch einige Skeptiker, wie er in seinen Aufzeichnungen festhielt: „Nun ging es an die sogenannten Kaufleute! Da bin ich aber schön angekommen! […] ‚Was wollen Sie denn eigentlich in Gera? Eine Handelsschule wollen Sie gründen? Das brauchen Sie gar nicht. Was Sie den Leuten lehren wollen, das lernen dieselben schon bei uns!‘ – ‚Was lehren Sie denn eigentlich? Waarenkunde? Sie ein Gelehrter? Das mag eine schöne Waarenkunde werden! Handelsgeographie? Was ist denn das? Wechselrecht? Wozu haben wir denn unsere Advokaten? Denen wollen Sie wol das Brot nehmen?‘ – ‚Was, Englisch wollen Sie lehren? Da haben wir ja schon unseren Dr. Baesler, und der weiss gerade genug.‘ – ‚Dummes Zeug, eine

Handelsschule! Als ob man Handel in einer Schule lernen könnte und nicht seine vier Jahre Lehrzeit dazu nöthig hätte.‘ – ‚Sie wollen uns wol unsre Lehrlinge abspenstig machen, ihnen den Kopf verrücken und die Menschen sammt und sonders ins Unglück stürtzen?‘“

Gebäude der Amthorschen höheren Handelsschule und Handelsakademie um 1900

Aller Pessimisten zum Trotz öffnete am 1. Mai 1854 die Geraer Handelsschule ihre Pforte und schon acht Jahre später konnte der Gründer für sich bilanzieren, dass alle Schulden, die er für diese Unternehmung aufgenommen hatte, inzwischen getilgt werden konnten. Neben steigenden Schülerzahlen erfuhr die „Amthor’sche höhere Handelsschule“, wie die Bildungsstätte in ihrer Fortentwicklung genannt wurde, auch eine lokale Erweiterung um weitere zugehörige Gebäude (siehe Abbildung oben). Nach dem Tod Amthors am 3. Juli 1884 existierte die Privatschule noch beinahe zwei Jahrzehnte, ehe sie aufgrund finanzieller Probleme im Jahr 1912 in das Eigentum der Stadt Gera wechselte. Auf den ersten Blick nominell sichtbar sind von Eduard Gottlieb Amthors Engagement und Bestrebungen im Stadtgedächtnis Geras unter anderem Benennungen wie Amthorstraße, Amthor-Passage, der „Verein Gedenkstätte Amthordurchgang e. V.“ und nicht zuletzt die Bezeichnung der Staatlichen Berufsbildenden Schule Wirtschaft/Verwaltung mit dem Beinamen „Dr. Eduard Amthor“ seit dem 25. November des Jahres 2015. Auch eine Ausstellung des Stadtmuseums Gera hatte sich im Jahr 2009 bereits intensiver mit dem bekannten Geraer auseinandergesetzt. Eine auf insgesamt 50 Seiten gebündelte Würdigung erfährt das Wirken Amthors in dem von Klaus Friedrich Pott in zweiter Auflage herausgegebenen Buch „Berufsbiographien von Handelsschullehrern des 19. Jahrhunderts“. Der Autor charakterisiert den Philologen, Orientalisten, Alpinisten, Publizisten, Verleger, Lehrer und Handelsschulunternehmer Eduard Gottlieb Amthor darin als eine der „herausragendsten Persönlichkeiten der Handelsschulbewegung“, die „zu den Wegbereitern für die Wirtschaftspädagogik im 20. Jahrhundert“ zu zählen ist. Literatur: Klaus Friedrich Pott (Hrsg.): Berufsbiographien von Handelsschullehrern des 19. Jahrhunderts. 2te stark vermehrte Auflage der „Bausteine“ einer Geschichte des

kaufmännischen Vollzeitschulwesens, Detmold 2017, S. 98-147. Text: Christel Gäbler, Archivleiterin

Personen der Stadtgeschichte – Teil 1: Zum 100. Geburtstag des Fotografenmeisters Georg Lothar Tuncsik (1917-1977) Das Stadtarchiv Gera hat zahlreiche Fotografien von Georg Tuncsik sowie einige Filme des von ihm gegründeten Amateurfilmstudios Gera im Bestand. Seine Bandbreite in der Motivwahl umfasst Stadtansichten, Fotografien aus Theaterproben und Abbildungen von Feierlichkeiten und Großveranstaltungen in Gera.

Georg Lothar Tuncsik beim Anfertigen von Aufnahmen im Regen

Georg Lothar Tuncsik wird in Gera als Sohn des Schneidermeisters Anton Tuncsik und dessen Frau Wally Elisabeth, geb. Köhler, am 19. April 1917 geboren. 1942 heiratet er Irmgard Helene Wiesinger in Gera. Die Töchter Jutta und Eva-Maria werden 1946 und 1950 geboren. Am 05. Juli 1977 verstirbt er nach einem längeren Krebsleiden in Gera.

Familie Tuncsik im Jahr 1965

Seine Ausbildung zum Schriftsetzer erfolgt von 1931 bis 1934 bei der Firma Hitzschke in der Hainstraße in Gera. Aufgrund eines Unfalls kann er diesen Beruf später nicht mehr ausüben. Georg Tuncsik arbeitet ab Ende der 40er Jahre in der Firma Foto Ehinger und legt im Herbst 1953 seine Meisterprüfung ab. Später absolviert er ein Fernstudium an der Filmhochschule Babelsberg.

Dreharbeiten in der Ernst-Toller-Straße in Gera

Sein grafisches Atelier betreibt er mit bis zu acht Angestellten in der Heinrichstraße. Das Hauptgeschäftsfeld ist die Großproduktion von handkolorierten Kinodias für die Kinowerbung und die Fertigung von Diapositiven für die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft (DEWAG). Weiterhin ist er als Theaterfotograf und als Fotograf für private Fotoaufträge tätig. Es entstehen zahlreiche Fotodokumentationen über Gera. 1949 erfolgt der Umzug in ein neues Fotoatelier in der Bärengasse, wo auch Lehrlinge ausgebildet werden. 1961 bezieht er sein eigenes Haus neben dem Fotogeschäft.

Schaufenster des Fotogeschäftes Tuncsik

Neben der Entwicklung und dem Kopieren beschäftigt er sich dort mit der Tonbespurung von Schmalfilmen auf, mit Hilfe eines Feinmechanikers selbst gebauten Maschinen für Privatleute, Betriebe und Institute. Für den Zeitungsjournalisten Heinz Gerisch fertigt er fotografische Zuarbeiten an. Nach Abriss der Bärengasse 1973 wird in der Feuerbachstraße ein kleines Atelier eröffnet und nur noch für den Bevölkerungsbedarf gearbeitet. Im Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung arbeitet Georg Tuncsik aktiv mit. 1949 ist er als Jurymitglied an der Fotoausstellung „Das Foto“ beteiligt. Im Jahr 1952 gründet er eine Filmgruppe, die sich später „Amateurfilmstudio Gera“ nennt. Zahlreiche Filme, die Gera und die Umgebung in den 50er bis 70er Jahren dokumentieren, entstehen in diesem Filmstudio des Kulturbundes. Unter anderem filmt er 1965 den Geraer Asienforscher Walther Störzner in seinem Zuhause im Ölsgrund bei Bad Gottleuba kurz vor dessen Ableben. Unter seiner Leitung entstehen u. a. vertonte Filme wie „Gera schauen“, Filme über den „Mach-mit!“-Wettbewerb, ein „Gerafilm 1952“, „Wir waren dabei“, „Interview Gera“ und „Juri A. Gagarin in Gera“. Einige seiner Filme befinden sich heute in den Beständen des Stadtarchivs. Den Fotoclub des Bergarbeiter-Kulturhauses leitete er ab 1963. Bei Fotowettbewerben und Ausstellungen erhält er zahlreiche Auszeichnungen. 1964 wird er für außergewöhnliche kulturelle Aktivitäten mit der Johannes-R.-BecherMedaille in Silber ausgezeichnet.

Georg Lothar Tuncsik bei Fotoaufnahmen in einer Werkshalle

Text: Ingrid Faber, Sachbearbeiterin Stadtarchiv

„Geras Stoffe und Maschinen hört man in aller Welt rühmen“ – Veränderungen der Industriestruktur Geras um 1900 Die ab circa 1840 in „Deutschland“ einsetzende Industrialisierung erfasste ebenfalls die Stadt Gera. Insbesondere die Textilindustrie und der Maschinenbau erfuhren während des 19. Jahrhunderts auch in Gera eine enorme Prosperität. Dies bedeutet keineswegs, dass es vor 1800 ebenda keine ausgeprägte Textilwirtschaft gab, denn diese hatte ihre Anfänge bereits im Frühmittelalter. Ebenso der Maschinenbau, welcher durch viele kleine Handwerksbetriebe auflebte. Das Maßgebliche lag vor der Jahrhundertwende bei der Etablierung von Fabriken, der Adaption von mechanischen Webstühlen, dem Einzug der Elektrizität und der Errichtung von Kapitalgesellschaften. Bisherige Forschungen richteten ihr Augenmerk überwiegend auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, also die Anfangszeiten der Industrialisierung. In meiner Abschlussarbeit möchte ich auch die Zeit ab 1880 bis in die Weimarer Republik näher beleuchten. Die anfängliche Blüte der Textilindustrie regulierte sich zunehmend zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Ursachen können auf multiple Faktoren zurückzuführen sein, so zum Beispiel das Erlahmen des konjunkturellen Aufstiegs/Booms, die generellen Nachfrageveränderungen auf dem Weltmarkt bzw. die oftmaligen Streiks der Arbeiterschaft in der Textilbranche, die sich nachteilig auf die Produktion auswirkten. Im Gegensatz zur Textilindustrie erfuhr zu dieser Zeit der Maschinenbau einen eminenten Aufschwung. Dieser basierte unter anderem auf dem nun flächendeckenden Einsatz mechanischer Webstühle, welche die Produktivität und somit die Konkurrenzfähigkeit der Textilunternehmen erhöhen sollten. Eine enorme Modifikation bewirkte der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zog einerseits Arbeiter zum Kriegsdienst ein und verursachte andererseits eine Rohstoffknappheit aufgrund des eingeschränkten Welthandels. Die kriegsbedingten Produktionsumstellungen zeigten ebenfalls ihre ökonomischen Folgen. In der Textilindustrie waren durch den

Kriegsausbruch, abgesehen vom Rohstoffmangel, keine weiteren einschneidenden „Phänomene“ zu konstatieren. Hinter diesen allgemein benannten Branchen und Ereignissen standen Geraer Unternehmer: Einer der erfolgreichsten Textilfabrikanten war Carl Louis Hirsch, welcher offensichtlich die „Gene des Unternehmerinstinkts“ von seinem Vater Georg Hirsch erbte. Seine Bekanntheit und seinen Erfolg erlangte er unter anderem durch den überseeischen Handel von Textildrucken. Die von ihm unterhaltenen Plantagen in Afrika oder das strategische Betriebsmanagement, die Verbindung des Textilwesens mit dem Maschinenbau in einem Unternehmen, sind auf ihn zurückzuführen. Das Pendant zu Carl Louis Hirsch im Textilgewerbe bilden Karl Wetzel und Ernst Moritz Jahr im Geraer Maschinenbau. Diese beiden wirtschaftlich ungefähr gleichstarken Unternehmer unterhielten jeweils eine Maschinenfabrik und eine Eisengießerei. Karl Wetzel expandierte nach der Weimarer Republik, indem er mit der Union Werkzeugmaschinen GmbH Chemnitz fusionierte. Im Gegensatz dazu sah der Fabrikant Ernst Moritz Jahr seine geschäftlichen Möglichkeiten vor allem in Gera. Die Untermhäuser Brücke ist ein Bildnis seiner damaligen Arbeit. Brücken, Straßen, Flüsse und Eisenbahnnetzwerke sind Teile der Infrastruktur. In diesem Kontext sei das für Gera signifikante Ereignis, die Anbindung Geras an die Eisenbahn im Jahr 1859, genannt. Carl Louis Hirsch erkannte frühzeitig die Bedeutung der Eisenbahn und sicherte durch einen eigenen Bahnanschluss der Louis Hirsch GmbH seine unternehmerischen Vorteile. Auch der bestehende Mühlgraben, welcher der Infrastruktur zuzuordnen ist, war für die Textilfärbereien in Gera essentiell. Das Ziel meiner künftigen Forschungen liegt in der Herauskristallisierung der Relevanz von den zu dieser Zeit aufkommenden elektronischen Kommunikationsmedien. Des Weiteren möchte ich die positiven Auswirkungen der Etablierung der Straßenbahn in Gera 1892, welche in diesem Jahr ihren 125. Geburtstag feierte, eruieren. Text: Vivien Wiesner, Studentin der Wirtschaftspädagogik II und Geschichte im 6. Semester an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Impressum Stadtarchiv Gera Adresse: Gagarinstraße 99/101 | 07545 Gera Tel. 0365/838-2140 bis 2143 | E-Mail: [email protected] Öffnungszeiten: Montag, Dienstag und Donnerstag: 9.00 - 17.00 Uhr | Freitag: 9.00 – 15.00 Uhr Das Stadtarchiv Gera auf der Homepage der Stadt Gera Recherchieren in den Beständen des Stadtarchivs Gera Archivleiterin: Christel Gäbler, M. A. Texte: Christel Gäbler, M. A. (Archivleiterin), Ingrid Faber (Sachbearbeiterin Stadtarchiv), Vivien Wiesner (Studentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena) Redaktionell verantwortlich: Christel Gäbler, M. A. und Dr. Frank Rühling Redaktionsschluss: 15. Mai 2017 Sie möchten diesen Informationsbriefbrief nicht mehr erhalten? Dann senden Sie eine E-

Mail an: [email protected] Haftungsausschluss: Einige Links in diesem Informationsbrief führen zu externen Websites. Wir haben keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und den Inhalt dieser Seiten. Wir machen uns den Inhalt dieser Seiten nicht zu Eigen.