MASARYKOVA UNIVERZITA

MASARYKOVA UNIVERZITA PEDAGOGICKÁ FAKULTA Katedra německého jazyka a literatury Konflikt der höfischen und der bürgerlichen Gesellschaft in den bürge...
Author: Uwe Steinmann
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MASARYKOVA UNIVERZITA PEDAGOGICKÁ FAKULTA Katedra německého jazyka a literatury

Konflikt der höfischen und der bürgerlichen Gesellschaft in den bürgerlichen Trauerspielen "Emilia Galotti" und "Kabale und Liebe"

Bakalářská práce

Brno 2010

Vedoucí práce:

Autor práce:

Mgr. Jan Budňák, Ph.D.

Jana Machučová

Ich erkläre, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig geschrieben habe und dass ich nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen verwendet habe.

Ve Štítné nad Vláří, dne 12. 4. 2010

…………………………

An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Mgr. Jan Budňák, PhD. für seine wertvollen Ratschläge und Hinweise, die für diese Arbeit hilfreich waren, herzlich bedanken.

I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

EINLEITUNG

5

1. BIOGRAFISCHE ETAPPEN WÄHREND DER DRAMENENTSTEHUNG

7

1. 1

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

7

1. 2

FRIEDRICH SCHILLER

9

2. INHALT DER TRAUERSPIELE

11

2. 1

EMILIA GALOTTI

11

2. 2

KABALE UND LIEBE

12

3. BÜRGERSTAND 3. 1

BÜRGERLICHE VATERORDNUNG

13 14

3.1.1

Tugendhafte Väter Odoardo und Miller

14

3.1.2

Unbedeutende Rolle der Mutter

18

3.1.3

Ehekrise

20

3. 2

«KIND DES HAUSES» UND HAUSFRAU

21

3.2.1

Leiden der Töchter an der väterlichen Liebe

22

3.2.2

Emilia und Luise – Opfer ihrer Tugend?

26

3. 3

GRENZGÄNGER APPIANI

4. HÖFISCHE WELT

27 30

4. 1

PRIVATLEBEN DER HÖFISCHEN LIEBHABER

31

4. 2

ZURÜCKGEWIESENE FAVORITINNEN

36

4. 3

KORRUMPIERTE BÜRGER

41

ZUSAMMENFASSUNG

45

LITERATURVERZEICHNIS

46

4

EINLEITUNG Dank dem bürgerlichen Trauerspiel, das sich im 18. Jahrhundert in der literarischen Welt entwickelt, werden zum ersten Mal auf die Bühne bürgerliche Figuren gebracht. Bis jetzt spielte sich die Handlung der Tragödien nur in der öffentlich-politischen Sphäre der adeligen Gesellschaft ab, aber mit dem zunehmenden Aufstieg des Bürgertums wird die Aufmerksamkeit schrittweise auf das private Leben orientiert. Am Beispiel von Lessings „Emilia Galotti“ und Schillers „Kabale und Liebe“ möchte ich aufzeigen, welche Probleme Begegnung dieser zwei unterschiedlichen Lebensweisen verursachte. Aus verschiedenen Gründen, die von mir in folgenden Kapiteln thematisiert werden, kommt es zu den interessanten Konflikten, die man aus den mehreren Gesichtspunkten interpretieren kann. Erstens spiegeln sich in den Werken zeitgeschichtliche Zustände, die die gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts schildern. Insbesondere der Bürgerstand entwickelt ein neues Leitbild und Ideal der Familie - die traditionelle Familie ändert sich zu der modernen Gestaltung. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wird mehr emotional. Als wichtigste Aufgabe der Frauen tritt die Haushaltführung. Die väterliche Dominanz ist noch stark, aber es kommt zur langsamen Lockerung. Die Kinder haben in der Partnerwahl, die sich innerhalb der Standeschranken befindet, eigene Entscheidungsfreiheit. Die bürgerliche Lebensweise wird als Gegenteil zu dem nach einem französischen Vorbild errichteten deutschen höfischen System. Die zweite mögliche Interpretation knüpft an die vorigen Betrachtungen an. „Emilia Galotti“ und „Kabale und Liebe“ werden auch als gesellschaftskritische Dramen

bezeichnet. Obwohl

ein

zentrales

Motiv

eine

unglückliche Liebesgeschichte darstellt, einen kritischen Ton der ganzen Handlung kann man nicht übersehen. Sowohl Lessing, als auch Schiller wurden durch eigene Erfahrungen stark geprägt. Als freie Schriftsteller kamen sie mit den Adeligen in Kontakt. Seit der Jugend litten sie unter despotischen, amoralischen Manieren ihrer Herren. Oft konnten sie ihnen nicht widerstehen, denn sie von ihrem Geld abhängig waren. Es überrascht dann nicht, dass sie mit der Hilfe dieser Dramen endlich ihren Gefühlen Ausdruck geben. Darum muss es betont werden, dass man in beiden Werken objektive historische Zustände der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts findet, aber auch subjektive Autorenbearbeitung. 5

Ausgangspunkt für diese Diplomarbeit war mein Interesse sich tiefer in die soziale Problematik des 18. Jahrhunderts einzusetzen und das Konfliktpotential zwischen unterschiedlichen bürgerlichen und höfischen Ständen zum Beispiel Lessings „Emilia Galotti“ und Schillers „Kabale und Liebe“ möglichst verständlich zu analysieren. Ich habe mich besonders auf Beschreibung der Standesunterschiede konzentriert, die nach meiner Ansicht zu den zahlreichen Missverständnissen und Konflikten führten. Meine Betrachtungen gehen von theoretischen Erkenntnissen gesammelten aus im Literaturverzeichnis angeführten Quellen aus. Zuerst musste ich die wichtigen Stationen aus dem Schillers und Lessings Leben kennenlernen, um die Gründe führenden zum Entstehen dieser Trauerspiele besser zu fassen. Das erste Kapitel behandelt nicht die ganze Lebensgeschichte der Autoren, sondern die Aufmerksamkeit wird nur auf die persönlichen Erfahrungen gerichtet, die für die Interpretation der Werke hilfreich sind. Dann widme ich mich kurz den Inhalten der Trauerspiele. Der Kern meiner Arbeit besteht aus den Kapiteln „Bürgerstand“ und „Höfische Welt“. Wegen Lessings und Schillers nicht-adeliger Einstellung erhielt in den Dramen eine zentrale Bedeutung die Familiendarstellung. Das Privatleben überwiegt über die öffentliche Sphäre, was mir auch zum Bearbeitung der Figurencharakteristiken aus ihrer persönlichen, individuellen Seite inspirierte. Sowohl Bürger, als auch Adelige werden von innen angesehen, wobei sie auch konkrete zeitgenössische Eigenschaften, typische für ihre Schicht, verkörpern. Ich habe aus beiden Werken immer zwei ähnliche Gestalten gewählt, die ich analysiert und gemeinsam verglichen habe. Bei jeder Figur stelle ich mir die Frage nach ihrem Potential, nach ihrer Rolle und Position im Rahmen dieses Gesellschaftskonfliktes. Als ich die Trauerspiele zum ersten Mal gelesen habe und mit den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen der Autoren verglichen habe, habe ich erwartet, dass die bürgerliche Gesellschaft streng positiv geschildert wird, indem die Adeligen nur negativ gezeigt werden. Bei genauerem Hinsehen habe ich festgestellt, dass sowohl auf der bürgerlichen, als auch auf der höfischen Seite findet man interessante Bemerkungen, die manche allgemeingültige Vorurteile zerstören. Trotzdem aber bleibt das Schillers und Lessings Ziel bestehen - und zwar durch diese demonstrierte Konflikte zwischen aufgeklärter Moral des Bürgertums und willkürlichen Adel auf bestimmte gesellschafts-politische Mängel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinzuweisen.

6

1.

BIOGRAFISCHE ETAPPEN WÄHREND DER DRAMENENTSTEHUNG

1. 1 Gotthold Ephraim Lessing Gotthold Ephraim Lessing wurde am 22. 1. 1729 in Kamenz, einer sächsischen Kleinstadt, als drittes Kind einer Pastorenfamilie geboren. Nach seinem Schulbesuch in Kamenz und Meißen studierte er Theologie und Medizin an der Universität in Leipzig. Anschließend versuchte er als freier Schriftsteller und Kritiker zu leben, meistens in Berlin. An Lessings eigenen zahlreichen Briefen und Zeugnissen seiner Freunde lässt sich ablesen, dass sein Leiben gar nicht leicht war. Immer wieder begleitete ihn Geldnot, aus deren er jedes Mal irgendwie durchkam. Lessings Werk ist Konfession, genau wie sein Leben. Das

bürgerliche

Trauerspiel

„Emilia

Galotti“

hat

eine

lange

Entstehungsgeschichte. Lessing arbeitete an ihr etwa vierzehn Jahre. Es fehlte ihm sicher eigene politische und künstlerische Erfahrungen, die er erst in Berlin, Leipzig, Breslau, Hamburg und Wolfenbüttel gesammelt konnte. Ursprünglich geht das Motiv des Dramas auf den antiken Historiker Titus Livius zurück: Römer Virginius tötet seine junge, unschuldige Tochter Virginia, weil er sie vor den Lüsten des Decemvirn Appius Claudius bewahren will. Lessing nahm diesen Virginia-Stoff aus und situierte die Handlung in einen absolutistischen Kleinstaat in Italien. „Die Aufführung (zum Geburtstag der Braunschweiger Herzoginmutter am 10. März) fand sich mit ausdrücklicher Billigung der Herzogs statt, dem Lessing vorab das Stück zugeleitet hatte. Nicht von den Umständen der Entstehung kann die antidespotische Lesart des Stücks ihre Belege nehmen. Vielmehr sind die Situation des abhängigen Bibliothekars Lessing im feudalistischen Herzogtum Braunschweig und die politische Ohnmacht des Bürgertums im absolutistisch regierten Deutschland zusammenzusehen.“1 Im Werk reagiert Lessing auf Skrupellosigkeit des höfischen Standes, mit der die Adeligen die Privatsphäre einer Familie einbrechen. Das Drama ist so konstruiert, um diese 1

Bark 1990: 115

7

Ungerechtigkeit der bürgerlichen Standes, die auch Lessing selbst erlebte, zu betonen. Die Interpretationsliteratur betrachtet dieses Werk als eines der ersten politischen Dramen in Deutschland. Die Darstellung der politischen Verhältnisse ist aber so reduziert, dass sie hinter personalen Beziehungen zwischen Fürst und Untertan zurücktritt. Unter diese vorsichtige Ausführung muss man Lessings persönliche Gründe vermuten, vielleicht fürchtete sich nur vor seinem „Brotgeber“. Trotzdem aber verdient sich die politische Stimmung aufgehoben zu werden, denn Lessing mit seiner „Emilia Galotti“ zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts öffentlich für die Rechte des Bürgertums kämpfte. Die Wirkungen des Trauerspieles waren sehr viel größer als Lessing erwartete. Damit brachte sich dieser führender Vertreter der deutschen Aufklärung zum Vordenker für das neue Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums. „Emilias emanzipatorisches Lebensideal, die freie, tugendhafte, natürliche Frau, die über sich selbst entscheidet und nicht Objekt höfischer Begierden und inhumanen Schachers sein will, muß in der feudalabsolutistischen Welt noch scheitern. Das Gute, Reine, Schöne, Wahre kann noch nicht siegen: Diese historische Wahrheit ist auch Lessing künstlerische Wahrheit.“2 Im Jahre 1772 gab es keine Möglichkeit, das absolutistische System von innen her aufzubrechen. „Am 15. 2. 1781 ist Lessing in Braunschweig gestorben. (…) Was immer sich Lessing zu Wort meldete, ob als Kritiker, Dichter oder Gelehrter, ob zu Kunst Philosophie, Religion oder zu Tagesthemen; ob er Dramen oder Fabeln schrieb: Es ging ihm nicht an erster Stelle um die Aufklärung von Sachverhalten und schon gar nicht um die Errichtung neuer Denkgebäude, die Verkündigung neuer Dogmen oder die Verpflichtung auf eine Wertordnung. Er wünschte vielmehr (…) ein selbständiges und kritisches Denken, das sich von Bevormundung und Vorurteilen befreit, das keine endgültigen Lösungen sucht, das offen bleibt für neue Erkenntnisse, (…) weil er nicht nur an die eigene Vernunft glaubte, sondern auch an die des andern.“3

2

Seidel 1981: 120

3

Mittelberg (Hrsg.) 2006: 12

8

1. 2 Friedrich Schiller

Friedrich Schiller wurde am 10. November 1759 in Marbach geboren. Wie Engelmann4 schreibt, die Erzieher kannten ihn als begabten, aber schwierigen Jugendlichen. Die „Militär-Pflanzschule“ (ab 1775 unter dem Namen „Hohe Karlsschule“) war ein Eliteinternat des württembergischen Herzogs. Hier lernte Schiller das Dichten, aber mit seinem eigenwilligen Kopf passte in dieser Schule, in deren die Schüler eigentlich dem Herzog Karl von Eugen gehörten, nicht hin. In diesem Institut herrschten strenge Regeln, wie zum Beispiel keine Ferien, Schuluniform, Marschieren zum Essen, keine Besuche. Das stellte nur Bruchteil der Befehle dar, mit denen der junge Schiller nicht zustimmte und darum begann darüber zu schreiben. Ständig musste er Angst haben, entdeckt zu werden, aber sein Traum mit Schriftstellerei etwas auch ohne Geld oder Titel werden, war stärker. Im Jahre 1780 hat Schiller mit 21 diese Schule beendet und der Herzog Karl von Eugen hat ihn auf einen der niedrigsten Medizinposten gesetzt. Der stolze Schiller lehnte dieses Angebot ab, wurde freier Schriftsteller und dazu noch ein Dissident. „Kabale und Liebe“, Schillers drittes Jugenddrama, wurde im Jahre 1784 uraufgeführt. „Während Schillers ursprünglich geplanter Titel Luise Millerin sehr deutlich in die Tradition einer Miß Sara Sampson und Emilia Galotti einreiht, benennt der Titel, unter dem das Stück seit über 200 Jahren fortdauernder Beliebtheit auf der Bühne erfreut, vor allem die Akzente, die Schiller stärker betont als Lessing vor ihm – oder die Schiller neu einbringt: die sehr konkret gestalteten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen des Geschehens.“5 Bibliographischer Hintergrund für Entstanden dieses Trauerspiel waren auf einer Seite württembergischen Zustände, die Schiller stark geprägt haben, aber auch auf der anderen Seite eine Liebesgeschichte. Der 23-Jährige arme Bürgerliche Namens Friedrich Schiller verliebte sich über beide Ohren in eine Adlige Charlotte von Wolzogen. Dieses Mädchen war nämlich nicht nur adlig, sondern auch Tochter Schillers Gönnerin, Henriette von Wolzogen, deren Geld er, ohne Perspektive und dazu noch auf der Flucht vor dem württembergischen Herzog Karl

4

Engelmann 2005: 21-22

5

Hempel 2006: 86-87

9

Eugen, sehr dringend brachte. „Obwohl Schiller die Beziehung zur Gönnerin damit strapazierte, obwohl er auch sie ganz gern mochte – er hätte nämlich die 17-jährige Charlotte liebend gern geheiratet! Über Monate ging ihm das Mädchen nicht aus dem Kopf. (…) Die Leidenschaft des schreibenden Überfliegers was sicher gern gesehen. Aber was Heirat betraf, da hielten die ihn doch lieber auf Abstand. Der unbequeme Autor war empfindlich getroffen, als seine Werbung ins Leere getroffen. Schiller sollte später noch eine andere Charlotte bekommen – und Charlotte von Wolzogen heiratete einen ihrer adligen Verehrer, auf die Schiller so eifersüchtig war.“6 „Schiller starb mit 45 Jahren. Bis dahin hat er sich trotz schwerer Krankheiten seine Jugendlichkeit aufs Beste bewahrt, sich bis zum Schluss mit Elan in neue Projekte gestürzt, gegen Ungerechtigkeit und Einschränkung gekämpft.“7 Er war nicht nur mutig, aber auch zäh. Sein ganzes Leben musste er kämpfen – um Gesundheit, Bildung, Beruf, Geld, Anerkennung. Aber er schaffte es und wurde ein großer Schriftsteller.

6

Engelmann 2005: 227

7

Engelmann 2005: 15

10

2.

INHALT DER TRAUERSPIELE

2. 1 Emilia Galotti Prinz von Guastalla (Hettore Gonzaga) ist seit der ersten Begegnung in ein bürgerliches Mädchen Namen Emilia Galotti leidenschaftlich verliebt und entscheidet sich sie als seine neue Geliebte zu gewinnen. Hettores bisherige Mätresse Gräfin Orsina wurde gleich zurückgewissen und vergessen. Sein neues Objekt Emilia wohnt nur mit der Mutter Claudia. Ihr Vater, Odoardo, lebt wegen seiner ablehnenden Stellung zu dem Prinzen und dem Hofleben auf seinem Landgut, wo auch Ehe von Emilia und ihrem Verlobter Graf Appiani geplant zu schießen wird. Als der Prinz von seinem Kammerherrn Marinelli erfährt, dass Emilia dem Grafen Appiani verlobt ist, ist er außer sich. Hettore gibt Marinelli freie Hände alles zu machen nur um die tugendhafte Seele für ihn zu besitzen. Marinellis Plan liegt zuerst in einer dringenden diplomatischen Betrauung, dank deren soll Graf ins Ausland abreisen. Aber dieses Angebot wurde von ihm abgelehnt, weil Appiani der Stadt gleich nach der Trauung verlassen will. Der erste Versuch, die Heirat aufzuschieben, misslingt. Der von dem Prinzen völlig unterstützte Kammerherr kommt aber gleich mit anderer mehr überlegten Intrige und zwar mit einem organisierten Überfall der Hochzeitskutsche, in der Emilia, Appiani und die Mutter Claudia fahren werden. „Zufällig“ ist dabei Graf Appiani tödlich verletzt und dann „zufällig“ werde Emilia und ihre Mutter Claudia in das fürstliche Lustschloss Dosalo gebracht. In diesem Moment tritt auf dem Plan die empörte Gräfin Orsina. Aus Enttäuschung über die Ablehnung durch Gonzaga möchte sie den anwesenden Odoardo dazu überreden, Appiani zu rächen, indem er den Prinzen erdolcht. Doch Odoardo zieht die Entscheidung hinaus und überlasst lieber Gott die Rache. Nach seinem Wunsch soll Emilia in ein Kloster geschickt werden, aber infolge einer weiteren Marinellis Intrige ist diese Lösung nicht möglich zu realisieren. Emilia fürchtet sich vor dem Prinzen und provoziert ihren Vater, um sie zu erdolchen, weil sie vor der Verführung unsicher fühlt. Der bis jetzt zögernde Odoardo ersticht seine Tochter, um ihre Unschuld zu bewahren, und stellt sich tief erschüttert der Gerichtsbarkeit des Prinzen, sieht jedoch Gott als letzte Instanz an. 11

2. 2 Kabale und Liebe Ferdinand von Walter, Sohn an einem deutschen Fürstenhof einflussreichen Adeligen, ist in bürgerliche Tochter des Stadtmusikanten Luisa Miller verliebt. Ihre Gefühle schmeicheln Luises Mutter, aber Vater Miller ist dagegen und will unbedingt diese Verbindung über Standesgrenzen verhindern. Wurm, Sekretär des Präsidenten (Ferdinands Vater), möchte auch Luisa heiraten, aber es wird ihm von der Mutter deutlich zu verstehen, dass für ihre Luisa schon eine bessere Partie hat. Diese zukünftige Planung gefällt Miller gar nicht. Er will zwar Wurm als Schiegersohn nicht, aber auch die Wahrheit über Luisa und Walter will nicht alle, besonders den Freier, austrommeln. Der zielbewusste Wurm lässt sich diesen Verrat nicht gefallen und will Luise und Ferdinand auseinander bringen. Dazu nutzt seine Stellung als Sekretär und verrät alles über Ferdinands Liebe dem Präsidenten, den dieser Bericht sehr überrascht, weil er mit seinem Sohn schon etwas anderes vorhat. Der Herzog heiratet und muss sich mit seiner bisherigen Favoritin Lady Milford verabschieden. Um den Einfluss des Präsidenten am Hof zu sichern, soll Ferdinand Lady Milford heiraten. Zwei verliebte Personen kann man aber nicht ehrlich auseinander trennen, deshalb klügelt Wurm eine Intrige aus. Er setze alles auf Luises zwei schwache Punkte – auf die Liebe zu Ferdinand und ihre enge Verbindung mit dem Vater. Luises Vater wird geheim gesperrt und Luisa muss sich entscheiden – entweder hilft ihrem geliebten Vater aus Gefängnis oder bleibt mit Ferdinand, aber ohne Vater und nie glücklich. Selbstverständlich an der ersten Stelle steht der Vater. Darum, um ihn zu befreien, ist Luisa einen Brief an ihren angeblichen Liebhaber Hofmarschall von Kalb gezwungen zu schreiben. „Zufällig“ findet diesen Beweis Ferdinand und beginnt zu eifern. Blind vor Wut denkt nur an die Rache. Der letzte Akt spielt im Hause Millers, wohin der wütende Ferdinand kommt und lässt sich noch einmal die Wahrheit über den Brief bestätigen. Luise muss schweigen. Erst durch Tat Ferdinands, der Luise und sich selbst in die Limonade ein Gift wirft, wird sie der Schweigepflicht ledig. Sie erzählt die ganze Geschichte. Die Geschichte volle von Intrigen und Boshaftigkeit, die von dem Präsidenten und dem Sekretär erschien und sterbend bietet Ferdinand um die Vergebung seinem Vater. Im Sinne Luises gibt Ferdinand seinem Vater die Hand zur Vergebung und stirbt. Danach lässt sich der Präsident festnehmen. 12

3.

BÜRGERSTAND In den folgenden Kapiteln werden die gesellschaftlichen Zustände des 18.

Jahrhunderts aus einer bürgerlichen Sicht geschildert. In dieser Welt spielt sehr wichtige Rolle eine Familie, deren Mitgliedern charakteristische bürgerliche Eigenschaften vertreten. Der Vater, Kopf der Familie, tritt als Muster der Tugend, der aus Liebe und Verantwortungsbewusstsein seine Pflichten erfüllt. Einen großen Wert liegt er auf tüchtige Erziehung seiner Kinder. Ich widme mich ganz tief Schilderung ihres gemeinsamen Verhältnisses, das auf gegenseitiger Vertrautheit gebaut wird. Die Ehe wird von den Eltern nicht mehr vermittelt, das bürgerliche Mädchen hat das Recht, den Ehepartner selbst zu wählen, solange sie sich innerhalb der Standesschranken bewegt. Die Familie gibt den Kindern mehr Freiheit, aber gleichzeitig hofft, dass sie Verhaltensweise der Väter übernommen und verinnerlichen, wozu auch beide Töchter zum Schluss der Trauerspiele kommen. Trotz Lessings und Schillers Zuneigung zu diesem Stand wird auch auf negative Seite hingewiesen. Gerade solche Objektivität der Autoren, muss ich zugeben, hat mich überrascht. In Betonung eines Privatlebens erklären sie ihre nicht-adelige Einstellung, aber gleichzeitig merken sie manche Defizite eines bürgerlichen Lebens, die sie auch in den Werken begreifen. Kritisch beleuchtet wird die väterliche strenge Autorität, Starrheit, die zum Identitätsverlust eigener Töchter führt. Auch die Ehe wird gerade nicht glücklich geschildert. Zwischen dem Ehepaar herrschen Distanz, Entfremdung, und Mistrauen. Solche Gefühle erwecken in den Zuschauern weitere interessante Themen zum Nachdenken. Die einzige bürgerliche Gestalt, über die man sagen könnte, dass sie überwiegend als negativ charakterisiert ist, ist die Mutterfigur. Sie handelt sehr emotional, ohne feinen Verstand, ohne Nachdenken, fast tierisch könnte man sagen. Ihre moralische Inkompetenz zusammen mit der Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Aufstieg führt ihre Familien zum Verderben. Als der Letzte gehört zu diesem Kapitel Graf Appiani. Er ist zwar ein Adeliger, aber durch sein Auftreten bestätigt er die breitere Bedeutung des Begriffes „bürgerlich“ und zwar im „persönlichen Sinne“8. Eine tiefere Analyse wird im Kapitel 3.3 durchgeführt. 8

vgl. Kopfermann 1988: 5

13

3. 1 Bürgerliche Vaterordnung Der Vater spielt in einer bürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Er steht dem Haus vor, das aus Eltern, Kindern und Gesinde besteht. Bürgerliche Familie bildet innerhalb eine hierarchische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, an der Spitze dieser als Herr und Organisator der Hausvater herrscht. Ihm „werden „Furcht“, d. h. Respekt von seiner Machtposition und Durchsetzungsbefugnis, und „Liebe“, ein Gefühl von „familiärer“ Zusammengehörigkeit, Dankbarkeit für die geleistete Fürsorge und Vertrauen entgegengebracht.“9 Gleicher Charakteristik entsprechen Odoardo und Miller, zwei Vertreter des bürgerlichen Standes. Sie sind echten Herren seiner Häuser10, richten sich nach den moralischen und religiösen Grundsätzen, aus denen auch ihre Kindesliebe herauskommt. Auf dem Vater lasten eine große Verantwortung sein Kind einerseits schützen, lieben und unterstützen, andererseits aber auch einmal diese Rolle einem zukünftigen Ehemann zu überlassen.

3.1.1 Tugendhafte Väter Odoardo und Miller Warum hat die Vater-Tochter Beziehung so großes Konfliktpotential? Warum befassen sich die bürgerlichen Trauerspiele nicht mit der Mutter-Tochter oder Vater-Sohn Verbindung? Odoardo Galotti ist Offizier von Beruf. Seine soziale Stellung hat durch Verdient, rechtlich, ohne Intrige erhalten. Er lebt nach strengen moralischen Regeln, zu denen auch seine ablehnende Stellung zu dem Prinzen und dem Hofleben gehört. Darum bewohnt er Landgut, weit von der Stadt, jedoch seine Ehefrau Claudia und Tochter Emilia leben in der Nähe des Hofes. Seine moralischen Prinzipien sind im Widerspruch mit der adligen Handeln, dennoch wurde Emilia Möglichkeit einer entsprechenden Erziehung in der Stadt zu bekommen nicht abgelehnt. Oftmals war dieses Thema Grund des Streites zwischen Odoardo und Claudia. „Vermenge dein Vergnügen an ihr nicht mit ihrem Glücke. – Du möchtest meinen alten Argwohn

9

Hempel 2006: 21

10

Hausvater, Herr des Hauses – aus lat. pater familias

14

erneuern: - dass es mehr als Geräusch und die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes war als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben.“ (EG II, 4) Odoardo ist zwar Kopf dieser Familie, aber den überwiegenden Anteil an Emilias Erziehung übernimmt Claudia. Zwischen Ehegatten befindet sich Distanz. Wie Hempel in ihrem Buch begründet, Galotti „ist ein Hausvater mit leerstehendem Haus“ […] „als konsequenter, traditioneller Patriarch hätte Odoardo dafür sorgen müssen, dass seine Tochter ständig unter schützender Aufsicht steht.“11 Darum interessiert sich so intensiv, aus welchem Grund besucht Emilia die Kirche alleine. Die begriffsstutzige Claudia opponiert gegen ihren Mann: „Die wenigen Schritte.“ „Einer ist genug zu einem Fehltritt!“ (EG II, 2) ermahne Odoardo seine Frau. Ein zerbrechliches, unmündiges Mädchen ist für ihn Sinn seines Lebens, aber zugleich auch Achillesferse. Als er sich mit Emilia zum ersten Mal sieht (vgl. Ausschnitt unten), gibt über ihre Situation auswegloses Urteil ab. Er befindet sich vor den Trümmern seiner Existenz als Vater und als Biedermann. Darin gleicht er dem Musikus Miller. Bis zur letzten Sekunde bemüht er sich um Emilias Rettung, aber nur Gedanke auf ihre Bedrohung durch Laster führt ihn zur Handlung. Odoardo erdolcht seine Tochter und zeigt dabei zwiespältigen Charakter. Die Unschuld seiner Tochter hat zu dem „Ort“ gemacht, „wo er am tödlichsten zu verwunden ist“ (EG II, 4). Absichtlich ist das Wort „er“ betont, denn es geht hier nicht um seine Tochter, sondern um sich selbst. Im Gegensatz zur Mutter, die instinktiv um Emilias Glück kämpft, denkt Odoardo an Emilias Gefühle nicht, er handelt: EMILIA. (…) Ehedem wohl gab es einen Vater, der, seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab. Aber solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keine mehr! ODOARDO. Doch, meine Tochter, doch! (Indem er sie durchsticht) – Gott, was hab ich getan! (Sie will sinken und er fasst sie in seine Arme.) (EG V, 7)

11

Hempel 2006: 74

15

Musikus Miller befindet sich, im Unterschied zu Odoardo, in ganz anderer Situation. Galotti hat seinen beliebigen zukünftigen Schwiegersohn Graf Appiani durch gemeine Intrige verloren. Der von der Leidenschaft verblendende Prinz Gonzaga wollte seine Tochter unbedingt für sich selbst gewinnen, darum, um die Ehre der Emilia zu retten, sah Odoardo einzige Lösung in ihrem Tod. Miller anderseits muss solche radikale Entscheidung nicht realisieren. Dank dessen, dass die ganze Millers Familie unter einem Dach lebt, kann er seiner Tochter besseren Schutz gewähren und sie mit den moralischen Regeln leichter formen, als das im Odoardos Fall war, der seine Emilia erst im fünften Amt trifft. Trotz dieses kleinen Vorteil verhindert aber die tragisch endete Liebe zwischen Standesgrenzen nicht: LUISE. (legt das Buch nieder, geht zu Millern und drückt ihm die Hand). Guten Morgen, lieber Vater MILLER. (warm). Brav, meine Luise – Freut mich, daß du so fleißg an deinen Schöpfer denkst. Bleibt immer so, und sein Arm wird dich halten. LUISE. O ich bin eine schwere Sünderin, Vater – War er da, Mutter? FRAU. Wer, mein Kind? LUISE. Ah! ich vergaß, daß es noch außer ihm Menschen gibt – Mein Kopf ist so wüste – Er war nicht da? Walter? MILLER (traurig und ernsthaft). Ich dachte, meine Luise hätte den Namen in der Kirche gelassen? LUISE. (nachdem sie ihn eine Zeitlang starr angesehen). Ich versteh´ ihn, Vater – fühle das Messer, das Er in mein Gewissen stößt; aber es kommt zu spät. (KL I, 3)

Für Miller ist die Ehe zwischen einen Adeligen und einem bürgerlichen Mädchen unvorstellbar. Luise hatte in Partnerwahl freie Hände, aber diese Möglichkeit galt nur innerhalb der eigenen Standesgrenzen. Millers Augen sind mit der romantischen Liebe nicht verblendet, er sieht die Welt realistisch und weiß, dass Affären der Adeligen mit bürgerlichen Mädchen nie beim Altar enden. Darum versucht er sein patriarchalischen Herrschaftsanspruch durchzusetzen um Luisa wieder in bürgerliche Wertewelt zurückzubringen. Aber „den Feuerbrand in […] junges, friedsames Herz geworfen” (KL IV, 1) wird er nur schwer löschen. Sein Auftreten ist gegensätzlich zu seiner Frau, er strebt nicht nach dem gesellschaftlichen Aufstieg, er will nur seine Tochter glücklich sehen. „Eh will ich mein Violoncello zerschlagen und Mist im Sanazboden führen, eh ich mir´s schmecken lass´ von dem Geld, das mein einziges Kind mit Seel´ und Seligkeit abverdient.“ (KL I, 1) 16

Als

der

Präsident

Luise

beleidigt,

zeigt

sich

Millers

bürgerliches

Selbstbewusstsein. Er kämpft um Ehe seiner Familie wie ein Löwe und fürchtet sich nicht die verdorbene Welt der Adeligen zu kritisieren. Obwohl er gegenüber dem Präsidenten machtlos ist, legt mutiges Verhalten, das ihn moralisch oben der höfischen Welt stellt: MILLER. (der bis jetzt furchtsam auf der Seite gestanden, tritt hervor in Bewegung, wechselweis vor Wuth mit den Zähnen knirschend und vor Angst damit klappernd): Euer Exzellenz – Das Kind ist des Vaters Arbeit – Halten zu Gnaden – Wer das Kind eine Mähre schilt, schlägt den Vater ans Ohr, und Ohrfeig um Ohrfeig – Das ist so Tax bei uns – Halten zu Gnaden. […] MILLER. Halten zu Gnaden. Ich heiße Miller, wenn Sie ein Adagio hören wollen – mit Buhlschaften dien´ ich nicht. So lang der Hof da noch Vorrath hat, kommt die Lieferung nicht an uns Bürgersleut´. Halten zu Gnaden. (KL II, 6)

Dieser Besuch war Handlungsschlüssel. Miller festigte sich, dass vom Hof nichts Gutes herauskommen kann und dass er alles Mögliches machen muss, nur um Luise aus den höfischen Flammen zu retten. Er beginnt zu appellieren, nicht an ihren Verstand, sondern an ihre Gefühle. Nur dank dessen rät Luise in katastrofische Situation, in die sie sich durch Intrige geraten hat, von der Selbstmordabsicht ab. „Wenn du Gott liebst, wirst du nie bis zum Frevel lieben“ und diesen Frevel meint der Vater die Tatsache, dass ihn „Hab´ und Gut“ – seine einzige Tochter verließt. Er erpresst sie moralisch: „Wenn die Küsse deines Majors heißer brennen als deines Vaters – stirb!“ (KL V, 1) Luise kapituliert, ihre Tochterpflicht gewinnt über die Liebe zu Ferdinand. Nachdem ihm Ferdinand große Summe für Musikunterricht überreicht hat, merkt man, dass auch in einem ehrlichen Mann wie Miller Aufstiegsträume leicht in Hitze kommen. „Indem er glaubt die Tochter für sich behalten zu können und trotzdem für den „drei Monate lang währenden glücklichen Traum von seiner Tochter“ (KL V, 5) ausgezahlt zu werden, prostituiert er Luise gewissermaßen.“12 hebt Hempel hervor. Erst Blick auf die Tochter Leiche erweckt in ihm Verzweiflung und tiefen Kummer. Miller ist sowie Odoardo ein tugendhafter Mensch, ein Mensch, der aber auch Fehler macht. Sein reiner Charakter wurde nach meiner Meinung durch seine Beziehung zur Ehefrau und durch oben erwähnte Käuflichkeit verschmutzt. Auch trotz dieser Umstände dient er sich einen tugendhaften Mensch zu nennen. 12

Hempel 2006: 114

17

An die detaillierte Vater-Tochter Beziehung werde ich im Kapitel 3.2 anknüpfen, in diesem Absatz möchte ich mich noch zu der Einleitungsfrage zurückkehren. Warum ist gerade der Konflikt zwischen dem Vater und seiner Tochter am nächsten geneigt? Was würde passieren, wenn diese Trauerspiele auf der zentralen Gestalt eines Mannes gebaut würden? Wäre Lessing oder Schiller mit solchen Themen erfolgreich? Die Antwort zeigt sich nicht so kompliziert, als man vielleicht erwarten könnte. Der Sohn verkörpert eine jüngere Variante des Vaters. Er ist nach dem Vorbild des tugendhaften Bürgers zu einem potenziellen neuen Familienvater erzogen. Und wie ein richtiger Mann muss er beweisen, sich um seine Ehefrau und Kinder kümmern zu kann. Die Vater-Sohn Beziehung stellt für die Autoren kein interessantes Thema dar, weil sich von diesen zwei ähnlichen Naturen keine dramatische Situation entwickeln kann. Dagegen Töchter in den bürgerlichen Trauerspielen mittlere Charaktere, Menschen, die Vollkommenheit und Fehler besitzen. Als die schwachen, frommen Haushälterinnen erregen das Mitleiden der Zuschauer besser, als die Kopien die Söhne oder Mütter. Um diese Wirkungen noch mehr betonen, haben sowohl Familie Galotti, als auch Miller nur ein Kind. Ein junges, unmündiges Blut und dazu noch weiblich, dies alles heißt für die Eltern doppel schwierige Aufgabe.

3.1.2 Unbedeutende Rolle der Mutter Wenn man die Familienkonstellationen betrachtet, so fällt auf, dass die Mütter eine eher untergeordnete und unbedeutende Rolle spielen. Zentrale Achse der Stücke bildet die Vater-Tochter Beziehung. Claudia Galotti mit Millerin hat an dem dramatischen Konflikt keinen entscheidenden Anteil. Als Frauen und Mütter sollen sich um die Führung des Haushalts und Betreuung von Mann und Kindern sorgen. Das Bereich, an dem die Mütter tätig sind, beschränkt sich nur auf die private, innerfamiliale Sphäre. Das Wirken außer dem Haus sowie den Lebensunterhalt beschaffen die Häupter der Familien. Wie Hassel in ihrem Buch erwähnt „so werden dem Mann Aktivität, Rationalität, Mut und Tapferkeit, ein großer Verstand und die Neigung zu herrschen, zu beschützen und zu versorgen zugeschrieben, während der Charakter der Frau sich

18

durch Passivität, Emotionalität, Leutseligkeit und Schüchternheit, einen feinen Verstand und die Neigung zur Sanftmut, Freundlichkeit und zum Gehorsam ausgezeichnet.“13 MILLER. (rennt wie toll auf und nieder). Meinen Staatsrock her – hurtig – ich muß ihm zuvorkommen – und ein weißes Manschettenhemd! – Das hab´ ich mir gleich eingebildet! LUISE. Um Gotteswillen! Was? MILLERIN. Was gibt´s denn? was ist´s denn? MILLER. Auf der Stell zum Minister will ich. Ich zuerst will mein Maul aufthun – ich selbst will es angeben. Du hast es vor mir gewußt. Du hättest mir einen Wink geben können. Das Mädel hätt´sich noch weisen lassen. Es wäre noch Zeit gewesen – aber nein! – Da hat sich was makeln lassen; da hat sich was fischen lassen! Da hast du noch Holz obendrein zugetragen! – Jetzt sorg´auch für deinen Kuppelpelz. Friß aus, was di einbrocktest! Ich nehme meine Tochter im Arm, und marsch mit ihr über die Grenze! (KL II, 4)

Die Muttergestalt steht sowohl bei Lessing, als auch spätestens bei Schiller wirklich im Hintergrund und wenn sie manchmal auftritt, meisten steht sie ehe im Wege, als hilft. Für diese Behauptung ist wegweisende Figur Millerin. Ihre Unwichtigkeit ist hiermit noch mehr verstärkt, dass sie keine Namensbezeichnung trägt und nur als „dessen Frau“ bezeichnet wird. Ihr ganzes Leben hofft sie auf einen gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Tochter. Aus Dummheit verrät sie Luises Freier Wurm, dass ihre „Tochter zu was Hohen gemünzt ist“ (KL I, 2) und weckt in ihm damit einen starken Drang nach der Rache auf, die später durch eine Intrige realisiert wird. Ihr Anteil an Schicksal der Familie wurde hiermit erfüllt, deshalb verschwindet sie nach Abschluss des zweiten Aufzuges und für den Rest des Stückes tauchet nicht mehr auf. In „Emilia Galotti“ basiert Claudias Verhältnis zur Tochter auf Vertrauen und Zuneigung. Als sich Emilia in einer ängstlichen Verwirrung nach der Begegnung mit dem Prinzen aus der Kirche zurückkehrt, ihre einzige Sorge ist ihre Tochter zu beruhigen. Claudia ist zwar mit einer unerwarteten Entwicklung eines üblichen Kirchenbesuchs überrascht, aber sie rügt Emilia nicht, sie hört bloß zu. Seine enge Verbindung wird im dritten Aufzug mehr deutlicher. Nach der Entführung ihrer einzigen Tochter wird Claudia „Löwin, der man die Jungen geraubet“ (EG III, 8), deren Ziel ist, möglichst am schnellsten zu ihrer betrogenen Tochter nahezukommen. Einerseits wird in dieser Situation Claudias Tapferkeit gezeigt, aber gleichzeitig klingt in ihrem „tierischen“ Handeln Kritik an ihrem planvollen Auftreten. 13

Hassel 2002: 28

19

3.1.3 Ehekrise Es bietet sich die Frage an, ob Lessing und Schiller positive Stellung zur Familie Galotti/Miller eingenommen haben. Sowohl Familie Galotti, als auch Familie Miller werden nicht als „ideale Einheit“ geschildert. Auf die Leser wird den Eindruck gemacht, dass sich zwischen Ehegatten Distanz, Misstrauen und Entfremdung befinden. Allgemein gesagt, die Vater-Mutter Verhältnisse figurieren in den bürgerlichen Trauerspielen allerdings im Hintergrund, aber trotzdem wird in beiden Werken auf sie verwiesen. Das Ehepaar Miller ist an ständige Kleinkriege, bei denen Miller auf seine Frau schimpft und sie nachfolgend seine Anweisungen übergeht, gewöhnt. Millerin achtet ihren Mann, aber hat keinen Problem ihre eigene Stellungen vor ihm berteidigen. Oftmals wird sie mit harten Wörtern bezeichnet (wie z. B. infame Kupplerin (KL I, 1), Wettermaul (KL I, 2), Spitzbube (KL I, 2), Donnermaul (KL II, 4)). In der Familie Galotti werden solche Streite nicht geführt, weil dieses Paar getrennte Wohnsitze bewohnt. Der gemeinsame Abgrund wird noch damit verstärkt, dass Claudia seinen Ehemann siezt, indem er sie mit „Du“ anredet. Hempel beschreibt am Beispiel der ersten Szene des zweiten Aufzugs den zwiespältigen Eindruck der Ehegatten: „Einerseits eilt Claudia Galotti dem nahenden Ehemann mit dem Ausruf „Ach! mein Bester!“ entgegen, was auf eine innige Beziehung der Ehegatten hinzudeuten scheint. Gleichzeitig vermittelt der Text genau gegenteilige Signale: Frau Galotti ist ausgesprochen überrascht, unvermittelt den eigenen Mann zu treffen. „Mein Gemahl? Ist es möglich? […] So unvermutet?“ (EG II, 1)14 Die am Anfang gestellte Frage bleibt offen. Es ist nötig zu betonen, dass bürgerliche Ehe stark durch ausgeprägtes hierarchisches Bewusstsein geprägt wurde. Aus diesem Grund konnte es auch zu keinem engen Vertrauensverhältnis der Ehepartner kommen.15

14

Hempel 2006: 72

15

Vgl. Hempel 2006: 73

20

3. 2 «Kind des Hauses» und Hausfrau Wie schon der Kapitelüberschrift anzeichnet, in diesem Abschnitt wird die Aufmerksamkeit auf die zwei wichtigsten Frauen – Emilia und Luise gerichtet. Historisch genommen, bürgerliche Töchter im 18. Jahrhunderts wurden von zwei Rollen geprägt. Einerseits waren sie „Kinder des Hauses“, das heißt in Gewahrsam ihrer tugendhaften Väter, die sie über alles geliebt haben, andererseits sollten diese Töchter sich schrittweise auf die Position der Hausfrauen vorbereiten. Das ideale Wunschbild hat damals eine tugendhafte, passive, hilflos-unschuldige, fromme Frau, die noch keine Möglichkeit, sich selbst über ihr Leben unterscheiden zu können, dargestellt. Zuerst musste sie sich der patriarchalisch autoritären Erziehung unterordnen und später dann ihrem Ehemann. Im solchen bürgerlichen Milieu sind auch Emilia Galotti und Luise Miller aufgewachsen. Ihre Erziehung wurde auf der Verinnerlichung der väterlichen Autorität aufgebaut. Der Vater tritt in beiden Trauerspielen als Vorbild des idealen Auftretens und Verhalten auf, nach deren Wünschen und zu seiner Zufriedenheit die Tochter leben soll. Vielleicht deshalb begegnet man ihnen zum ersten Mal auf der Bühne zurückkehrenden aus der Kirche, wo die Handlung erst aufzublühen beginnt. Wie es schon oben erwähnt ist, Emilia und Luise wurden zum Bild der idealen Tochter und Gattinnen erzogen, aber trotzdem stimmen sie dieses Rollenbild nicht. Sie haben sich nämlich in Adeligen verliebt und damit gegen die soziale Rangordnung verstößt. Und gerade diese Tatsache hat „ein[en] Konflikt um Liebes- und Standesgrenzen, der in der Literatur dieser Zeit immer wieder auftaucht und meistens tragisch endet“16 entfesseln. Nach Engelmann hatten damals Adelige Affären mit bürgerlichen Mädchen oft, aber beim Heiraten kalkulierten sie nüchtern. Höchstens heiratete

ein

wirklich

bankrotter,

zahlungsunfähiger

Adliger

eine

reiche

«Bürgercanaille», um er Geld wieder gewonnen zu hat und das Mädchen möglicherweise keines Blickes mehr gewürdigt.17 Dann warum wollen Graf Appiani und Ferdinand gerade diese bürgerlichen tugendhaften Perlen heiraten? Was hat sie zu ihnen immer so hingezogen? Welche Aufgabe, welchen Sinn hat diese Figur in den Trauerspielen?

16

Engelmann 2005: 218

17

vgl. Engelmann 2005: 218

21

3.2.1 Leiden der Töchter an der väterlichen Liebe Zu Beginn der beiden Dramen erscheinen Emilia und Luise als brave Tochter, die ihre Väter lieben, schätzen und gehorchen ihnen aufs Wort. Alles, was der Vater sagt, gilt. Als Frauen des 18. Jahrhunderts müssen sich dieser väterlichen Autorität unterordnen, andere Stellung kommt nicht in Frage. Sowohl Lessing, als auch Schiller stimmen solcher Frauenansicht nicht. Seine ablehnende Stellung wurde sich an den Charakter von Emilia und Luise gezeigt, die einerseits dem gewünschten Ideal eines bürgerlichen Mädchens entsprechen, außerdem anderseits verkörpern eigene Stärke und Selbständigkeit. „Emanzipation“ – „dieser eigentlich juristische Begriff bedeutete, dass ein Kind aus der Verfügungsgewalt des Vaters und aus dessen Hand - »manus« im Lateinischen – entlassen wird.“18 Ein Mädchen steht unter dem Schutz ihres Vaters, wartet auf dem passenden Moment, solid zu verheiraten und das Elternhaus zu verlassen. Wenn man „Emilia Galotti“ und „Kabale und Liebe“ tiefer analysiert, stellt man fest, dass das Vater-Tochter Verhältnis, trotz der grundlegenden gemeinsamen Kennzeichen, nicht gleich geschildert wird. Eine gewisse Rolle an dieser Behauptung spielt die Odoardos Entfernung. Während Miller auf seine Luise Auge hat, muss Odoardo sich nur mit einer zeitweisen Kontrolle abfinden. Meiner Ansicht nach ist für das Wesen ihrer Beziehungen gemeinsame innere Abhängigkeit mehr wichtiger, als die väterliche Anwesenheit oder Abwesenheit. Die bürgerliche Tochter kennt, bevor sie heiratet, keinen anderen Mann so gut wie ihren Vater. An ihre gegenseitige Liebe ist sehr viel gelegen. Nur aus der Elternliebe schreibt Luise einen Brief an ihren angeblichen Liebhaber, nur dank dieser Verbindung schließlich erkennt, dass die eigenen Bedenken mit der Stimme des geliebten, liebenden Vaters identisch sind: MILLER. Wenn die Küsse deines Majors heißer brennen als die Thränen deines Vaters – stirb! LUISE. (nach einem qualvollen Kampf mit eigener Festigkeit). Vater! Hier ist meine Hand! Ich will – Gott! Gott! Was thu´ ich? – Vater, ich schwöre – wehe mir, wehe! Verbrecherin, wohin ich mich neige! – Vater, es sei! – Ferdinand – Gott sieht herab! So zernicht´ ich sein letztes Gedächtniß. (sie zerreißt ihren Brief) MILLER. (stürzt mit freudetrunken an den Hals) Das ist meine Tochter! Blick´ auf! im einen Liebhaber bist du leichter, dafür hast du einen glücklichen Vater gemacht. (KL V, 1) 18

Engelmann 2005: 217

22

Ursula Hassel drückt passend aus: „die väterliche Autorität wird nicht mehr durch äußere Sanktionen wie Ge- und Verbote und explizite Strafandrohung durchgesetzt, sondern sie wirkt nun auf psychischer Ebene durch Verinnerlichung.“19 Der Vater vermittelt seiner Tochter religiösen, ethischen und moralischen Prinzipien und hofft auf ihre Einhaltung. Die väterlichen Erziehungsmethoden sind nicht auf die Selbständigkeit oder eigenständige Meinungsbildung gerichtet, sondern auf eine starke Abhängigkeit. Emilia Galotti stellt ein typisches Beispiel für diese Behauptung dar. Sie ist unselbstständig, zu viel auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen. Wenn sie sich außerhalb des Hauses bewegt, gerät sich in Gefahr. Die Szene in der Kirche mit dem Prinzen ist genügender Beweis für ihre Inkompetenz in Frage der selbständigen Handeln und Entscheiden: EMILA. Eben hatt' ich mich - weiter von dem Altare, als ich sonst pflege - denn ich kam zu spät -, auf meine Knie gelassen. Eben fing ich an, mein Herz zu erheben: als dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! - Ich konnte weder vor noch zur Seite rücken - so gern ich auch wollte; aus Furcht, daß eines andern Andacht mich in meiner stören möchte. – Andacht. (…) Es beschwor mich hören mußt' ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. - Was konnt' ich sonst? (…) Ich zitterte, mich umzukehren… (EG II, 6)

Emilia hatte Angst, aber ehe sie sich umkehrte oder aus der Kirche herausginge, wählte sie lieber Passivität aus. Wie ihr Vater, fürchtet sich Emilia vor der Berührung mit dem Laster, für dessen Verkörperung sie den Prinzen hielt. Diese „andere“ Welt erregt in ihr Verstörtheit, Panik und Hilflosigkeit. Bereits analysierte Begegnung Emilias mit dem Prinzen signalisiert, dass Emilia nicht nur außerhalb des Vaterhauses unsicher ist, sondern auch in ihrer Gefühle kennt sich nicht aus. Emilia hat das Misstrauen ihres Vaters, der die Unschuld seiner Tochter zu dem „Ort“ gemacht, „wo er am tödlichsten zu verwunden ist“ (EG II, 4) gemacht hat. Sie leidet unter väterlicher Liebe, dennoch wird sie bewusst, was von ihr erfordert ist. Wenn sie das tödliche Opfer der höfischen Intrige ihres Verlobten Appiani durchschaut, zeigt sich, wie wenig sie vorbereitet ist, ihre eigenen moralischen Prinzipien gegenüber einem Aggressor durchzusetzen. Ihre „eine Unschuld“ (EG V, 7) ist ihr wichtiger als das Leben. Erst das einzige Aufeinandertreffen von Vater und Tochter (im fünften Aufzug) löst die neu erfundene Situation. 19

Hassel 2002: 68

23

Millers Verhältnis zur Tochter kommt mir mehr tiefer vor als Odoardos. Er versteht, für moralische Integrität seiner Luisa verantwortlich zu sein, aber gleichzeitig fesselt sie nicht so viel, wie Odoardo Emilia. Besonders merkbar erscheint diese Behauptung in der Sache der Partnersuche: „Ich rathe meiner Tochter zu Keinem. (…) Machen muß er, daß das Mädel lieber Vater und Mutter zum Teufel wünscht, als ihn fahren läßt, - oder selber kommt, dem Vater zu Füßen sich wirft und sich um Gotteswillen den schwarzen gelben Tod oder den Herzeinigen ausbittet - Das nenn' ich einen Kerl! das heißt lieben!“ (KL I, 2) erteilt Miller Wurm eine Belehrung und unwissentlich errät den Zuschauern die Entwicklung des Trauerspieles. Miller vergisst zu ergänzen, dass er unter diesen „Kerl“ einen Freier meint, der ihrer sozialen Rangordnung entspricht. Unglückerweise trifft Luise ihre Liebe beim Falschen, bei einem jungen Baron, der ursprünglich im Millers Musikunterricht „Ruhe für einsamen Stunden“ (KL V, 3) gesucht hat. Nach Engelmann blieb damals den Mädchen oft nichts anders übrig, als sich in den Klavierlehrer oder einen hereingeschneiten Besucher zu verlieben, denn sonst bekamen sie junge Männer nicht zu Gesicht.20 Das war auch Luises Fall. Sie hat nichts neben Kirchgang, Klavier und Zubereiten einer Limonade gekannt, bis sie Ferdinand getroffen hat, weil ihr Miller nämlich nichts anderes erlaubt hat. Jetzt ist sie zerrissen – sie liebt ihren Vater aber auch ihren Freund und wird sich gut bewusst, dass ihre neue Beziehung „eine Kampfansage an ihre Eltern“21 ist: LUISE. (tritt unruhig an ein Fenster). Wo er wohl jetzt ist? - Die vornehmen Fräulein, die ihn sehen - ihn hören - ich bin ein schlechtes, vergessenes Mädchen. (Erschrickt an dem Wort und stürzt ihrem Vater zu.) Doch nein, nein! verzeih' Er mir. Ich beweine mein Schicksal nicht. Ich will ja nur wenig - an ihn denken - das kostet ja nichts. […] MILLER. (beugt sich gerührt an die Lehne des Stuhls und bedeckt das Gesicht). Höre, Luise - das Bissel Bodensatz meiner Jahre, ich gäb' es hin, hättest du den Major nie gesehen. LUISE. (erschrocken). Was sagt Er da? was? - Nein, er meint es anders, der gute Vater. Er wird nicht wissen, daß Ferdinand mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude vom Vater der Liebenden. (Sie steht nachdenkend.) Als ich ihn das Erstemal sah - (rascher) und mir das Blut in die Wangen stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung sprach, jeder Athem lispelte: er ist's! - und mein Herz den Immermangelnden erkannte, bekräftigte: er ist's! (…) Damals - o damals ging in meiner Seele der erste Morgen auf. Ich sah keine Welt mehr, und doch besinn' ich mich, daß sie niemals so schön war. Ich wußte von keinem Gott mehr, und doch hatt' ich ihn nie so geliebt.

20

vgl. Engelmann 2005: 218

21

Engelmann 2005: 218

24

MILLER. (tritt auf sie zu, drückt sie wider seine Brust). Luise - theures - herrliches Kind - nimm meinen alten mürben Kopf - nimm Alles - Alles! - den Major - Gott ist mein Zeuge - ich kann dir ihn nimmer geben. (Er geht ab.) LUISE. Auch will ich ihn ja jetzt nicht, mein Vater! (…) Ich entsag' ihm für dieses Leben. Dann, Mutter - dann wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen - wenn von uns abspringen all die verhaßten Hülsen des Standes - Menschen nur Menschen sind - Ich bringe nichts mit mir, als meine Unschuld; aber der Vater hat ja so oft gesagt, daß der Schmuck und die prächtigen Titel wohlfeil werden, wenn Gott kommt, und die Herzen im Preise steigen. Ich werde dann reich sein. Dort rechnet man Thränen für Triumphe und schöne Gedanken für Ahnen an. Ich werde dann vornehm sein, Mutter - Was hätte er dann noch vor seinem Mädchen voraus? (KL I, 3)

Es ist evident, dass Luise seinen Ferdinand auf ein Podest stellt, vielleicht ahnt sie aber auch schon, dass ihre Liebe nicht für dieses Leben geeignet ist. Die höfische Kabale verursacht aber, dass sie wirklich mit ihrem Ferdinand erst nach dem Tod sein könnte. Luise lehnt ab Ferdinands Angebot, gemeinsam zu flüchten. Hier erkennt man die effektive väterliche Erziehung, die bei ihr zur Verinnerlichung der moralischen Werte geführt hat. „Wenn nur ein Frevel dich mir erhalten kann, so hab' ich noch Stärke, dich zu verlieren (…) dein Herz gehört deinem Stande - Mein Anspruch war Kirchenraub, und schaudernd geb' ich ihn auf.“ (KL III, 4) Luise will die gesellschaftliche Ordnung nicht sprengen, lieber verzichtet sie auf ihren Geliebten, als auf seine Eltern. Aus Liebe zum Vater lässt sie sich unter Eid zur Lüge gegenüber Ferdinand zwingen. Die einzige Möglichkeit, von dieser Situation loszukommen, sieht sie nur in einem Selbstmord. Auf dieser Ort und Stelle greift den Handlungsgang Vater Miller. Er wirkt durch starken Druck an sie, appelliert an ihre Religion: „Selbstmord ist die abscheulichste, mein Kind - die einzige, die man nicht mehr bereuen kann, weil Tod und Missethat zusammenfallen. Wenn du Gott liebst, wirst du nie bis zum Frevel lieben (KL V, 1). Und im Fall weiterer Zweifel, setzt Miller alles auf die letzte Karte: „Höre, Luise, wenn du noch Platz für das Gefühl eines Vaters hast - Du warst mein Alles.“ (KL V, 1) Er fühlt Luises Verzweiflung, darum setzt er nur folgendes und lässt sie über ihre Zukunft selbst zu entscheiden: MILLER. O Tochter! Tochter! gefallene, vielleicht schon verlorene Tochter! Beherzige das ernsthafte Vaterwort! Ich kann nicht über dich wachen. Ich kann dir die Messer nehmen, du kannst dich mit einer Stricknadel tödten. Vor Gift kann ich dich bewahren, du kannst dich mit einer Schnur Perlen erwürgen. Luise - Luise - nur warnen kann ich dich noch (…) (KL V, 1)

25

3.2.2 Emilia und Luise – Opfer ihrer Tugend? „Der Tod der Emilia Galotti hat schon zeitgenössische Zuschauer verstört. Plötzlich stilisiert sich ein junges Mädchen, das bislang als Muster an Tugend, Unschuld und Frömmigkeit auftrat, zum warmblütigen Opfer der eigenen, unkontrollierbaren

Sinnlichkeit,

wobei

ihr

entschlossenes

Auftreten

der

Selbstdarstellung als junges, willenloses Weib zu widersprechen scheint.“22 Unbeantwortet bleibt die Frage, ob Emilia das Interesse des Prinzen de facto gegen ihren Willen erwidern könnte. Odoardo hat sie selbst zuerst wegen dem Verrat verdächtigt und war entschlossen, alles für ihre Rettung zu machen: ODOARDO. (…) Das Spiel geht zu Ende. So oder so! - Aber - (Pause) wenn sie mit ihm sich verstünde? Wenn es das alltägliche Possenspiel wäre? Wenn sie es nicht wert wäre, was ich für sie tun will? (Pause.) Für sie tun will? Was will ich denn für sie tun? - Hab ich das Herz, es mir zu sagen? - Da denk ich so was: So was, was sich nur denken läßt. - Gräßlich! Fort, fort! Ich will sie nicht erwarten. Nein! (Gegen den Himmel.) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (Er will gehen und sieht Emilien kommen.) Zu spät! Ah! er will meine Hand, er will sie! (EG V, 6)

Emilia hat aber ihren Vater nicht betrogen. Hempel erklärt, dass sich Emilia in einer verzweifelten Zwangslage befindet: sie wird außerhalb des Vaterhauses festgehalten. Ihr stehen drei denkbare Lösungen zur Verführung: Erstens verliert sie Selbstachtung und „freiwillig“ entspricht den Wünschen des Prinzen. Zweitens bleibt sie ihren Prinzipien treu. Oder drittens kann sie sich dem Prinzen entziehen – da ihr als unverheirateter junger Frau in der Gewalt eines absolutistischen Herrschers keine andere Fluchtmöglichkeit bleibt, muss sie zu diesem Zweck schließlich sterben.23 Emilia stirbt als tragische Heldin, deren Verdienst liegt darin, dass die die Flucht vor dem Prinzen und damit den moralischen Sieg durchsetzt. Luise Miller wurde von ihrem Vater gewarnt (vgl. V, 1). Bis in den Tod muss sich zwischen Vater und Geliebten entscheiden. Ihre Revolte dauert kurz. Mutig und willensstark zeigt sie sich in im Entsagen. Sie verzichtet auf Liebesanspruch und Vater Miller kann Triumph des Siegers feiern: „Das ist meine Tochter! - Blick' auf! um einen 22

Hempel 2006: 79

23

vgl. Hempel 2006: 80

26

Liebhaber bist du leichter, dafür hast du einen glücklichen Vater gemacht.“ (KL V, 1) Ferdinand hat die Vaterordnung verlassen, indem Luise in sie zurückgehalten hat. Sie ist keine aktive Grenzgängerin, sondern einen Heldin des Verzichts. „Meine Pflicht heißt mich bleiben und dulden.“ (KL III, 4) Das Motiv der Opferung erscheint in den bürgerlichen Trauerspielen in verschiedenen Variationen. Hassel stellt fest, dass die Opferbereitschaft als bürgerliche Tugend bestimmt die innerfamilialen Beziehungen, besonders das Verhalten von Vätern und Töchtern, und kennzeichnet den Verzicht der Familienmittglieder auf die Erfüllung individueller Ansprüche und Wünsche zugunsten auf die Gemeinschaft gezogener Werte. 24

3. 3 Grenzgänger Appiani Ein Graf mit einer antihöfischen Weltanschauung, oder wie kann man diese von Lessing widersprüchlich geschilderte Figur am besten beschreiben? Wenn man über Appiani tiefer nachdenkt, gelingt es zum Schlussfolgerung, dass es gerade nicht einfach ist, ihn auf eine konkrete Seite dieses gesellschaftlichen Konflikts einzuordnen. Diese Tatsache macht aus dem Graf eine sonderbare Figur. Ich habe Appiani absichtlich zur bürgerlichen Welt zugerechnet. Die Gründe für diese Entscheidung versuche ich in den folgenden Abschnitten zu erklären. Für eine Charakterdeutung sind vor allem die Szenen II, 7 – II, 11 wichtig. Das sind nämlich die einzigen Auftritte, in denen der Graf auftaucht, bis er gegen seinen Willen aus der Bühne „weggeräumt wird“. Laut des Prinzen zeichnet sich Appiani als „ein würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre“ (EG I, 6), den er sehr gewünscht hätte zu sich selbst zu verbinden. Appiani ist aber in der Frage der Zuneigung zum Hof und dem Prinzen gleicher Meinung wie sein zukünftiger Schwiegervater Odoardo. „Ich kam an seinen Hof als ein Freiwilliger. Ich wollte die Ehre haben, ihm zu dienen, aber nicht sein Sklave werden. Ich bin der Vasall eines größern Herrn“ (EG II, 10), sagt Appiani und begründet Marinelli somit, dass er

24

Hassel 2002: 86

27

ein Untertan eines Anderen25. Solche Aussage überrascht den Kammerherrn, weil er in seinem Plan mit dieser Antwort nicht gerechnet hat. Er hat gehofft, dass die Ehre, dem Prinzen zu dienen, für ihn wichtiger ist, als die Heirat mit dem Mädchen „ohne Vermögen und ohne Rang“ (EG I, 6). Aber das Gegenteil ist wahr. Als Vorbild für sein Verhalten wirkt dem Appiani Odoardo: „Welch ein Mann, meine Emilia, Ihr Vater! Das Muster aller männlichen Tugend! Zu was für Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner Gegenwart! Nie ist mein Entschluss, immer gut, immer edel zu sein, lebendiger, als wenn ich ihn sehe, - wenn ich ihn mir denke.“ (EG II, 7) Sein Bemühen um Erreichen odoardischer Charakterzüge eignet sich wirklich nicht zum Hofdienst. Und er ist dieses Umstandes bewusst, darum soll auch die Hochzeit in „Unschuld und Ruhe“ (EG II, 4) vollziehen. In Sannas Buch bietet sich zu dieser Thematik eine interessante Ansicht dar. Die Autorin behauptet, dass die Ehre mit Emilia sich mehr als „ein ethisches Bündnis mit dem Vater“26 scheint. Mir scheint es diese Einstellung ein bisschen strittig, aber trotzdem sehr fesselnd, weil im Verhältnis zu Emilia zeigt sich der Graf in der Opposition zum heißblütigen Prinzen eher „tiefsinnig“ (EG II, 7), unentschlossen und starr. Als Beweis dient folgende Szene: APPIANI. (tritt tiefsinnig, mit vor sich hingeschlagenen Augen herein und kömmt näher, ohne sie zu erblicken, bis Emilia ihm entgegenspringt). Ah, meine Teuerste! – Ich war mir Sie in dem Vorzimmer nicht vermutend. EMILIA. Ich wünsche Sie heiter, Herr Graf, auch wo Sie mich nicht vermuten. – So feierlich? so ernsthaft? – Ist dieser Tag keiner freudigen Aufwallung wert? APPIANI. Er ist mehr wert als mein ganzes Leben. Aber schwanker mit so viel Glückseligkeit für mich – mag es wohl diese Glückseligkeit selbst sein, die mich so ernst, die mich, wie Sie es nennen, mein Fräulein, so feierlich macht. – (Indem er die Mutter erblickt) Ha! auch Sie hier, meine gnädige Frau! – nun bald mir mit einem innigern Namen zu Verehrende! (EG II, 7)

Der Graf Appiani sieht in Emilia nicht ihr Individuum, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, sondern „fixiertes, starres Bild, das er sich einmal und so für immer von ihr gemacht hat.“27 Für Emilia ist ihr Verlobter „Herr Graf“. Sie siezt ihn, sie hielt ihn für ihren zukünftigen neuen Familienvater, zu dem sie sich benimmt wie zu ihrem eigenen Vater, aber um die echte, leidenschaftliche Liebe, im Vergleich zur Beziehung von 25

„Der Herr“ ist im Stück nicht konkret bezeichnet, es kann ein Landesherr sein.

26

Sanna 1988: 41

27

Sanna 1988: 41

28

Ferdinand und Luise, geht es auf beiden Seiten nicht. Offensichtlich zeichnet sich diese meine Meinung schon in den Grußformeln. Indem sich die Liebhaber in „Kabale und Liebe“ mit „mein Geliebter“ (KL I, 4) oder „meine Luise“ (ebd.) ansprechen, in „Emilia Galotti“ handelt es nur um eine Anrede „mein guter Appiani“ (EG II, 6). Durch diese Abstammung und sparsame Liebe passt Appiani vielmehr zu der höfischen Welt als zu der zukünftigen bürgerlichen Familie. Über den wahren Charakter des Grafen kann man nur spekulieren. Appiani stirbt, bevor uns erlaubt wurde, ihn kennen zu lernen. Aber zu einem bestimmten Zweck hat er trotzdem gedient. Dank ihm wurde den Zuschauern der Begriff „bürgerlich“ aus dem ständischen Sinn auf die höhere, persönliche Ebene aufgehoben. Damit meine ich die Tatsache, dass bürgerliche Werts- und Lebenshaltung, die auch von Angehörigen des Adels vertreten werden kann. Und gerade das ist der wichtigste Grund, warum ich ihn zum Kapitel „Bürgerstand“ gestellt habe.

29

4.

HÖFISCHE WELT Die Aufklärung ist die Epoche des aufsteigenden Bürgertums und seiner

Auseinandersetzung mit dem feudalen Absolutismus. „Gegen die Oberflächlichkeit des Adels, seine Fixierung auf äußere und starre Formen, Konventionen und Zeremoniell, entwickelte das Bürgertum den Kult der inneren Werte.“28 Immer wieder wird betont, dass sich dir bürgerliche Moral, Ehe- und Familienideal stark von den Verhalten des höfischen Adels unterschieden. Die Welt des Adels wird in beiden Dramen negativ dargestellt. Obwohl sich Lessing mit der Kritik des Hofes im Vergleich zu Schiller zurückhielt, kann man auch in „Emilia Galotti“ genügende Beispiele finden. Konflikt der bürgerlichen und der höfischen Gesellschaft wird auf verschiedener Lebensart gebaut. Jedes Milieu schätzt eigene Werte und Regel. Die höfischen Gestalten fürchten sich nicht zum Zielerreichen Einsetzung eines Druckes einer Gewalt zu benutzen. Marinelli, Wurm, Präsident von Walter genau entsprechen dieser Charakteristik. Sie sind gefährlich, intrigant, korrupt, tückisch. Diese „Fähigkeiten“ nutzen sie zum Festigen ihrer Stellung am Hof. Obwohl in Marinelli und Wurm keine blaue Blut zirkuliert, dank ihrem Benehmen passen wirklich gut in die höfische Welt. Genau wie das Bürgerstand nicht nur positiv geschildert wird, erscheint auch der Hof umgekehrt nicht nur negativ. Das gilt für Ferdinand, Graf Appiani, Lady Milford und Orsina. Ferdinand und Appiani kommen oft in Berührung mit den Bürgern. Ihre aufgeklärte Weltanschauung begleitete mit einem hohen Gespür für Moral befindet sich im Widerspruch zu der Umgebung, in der sie aufwuchsen. Auf das Thema der Zwiespältigkeit der höfischen Liebhaber konzentriere ich mich gleich in den ersten kommenden Absätzen. Sehr attraktiv wird in beiden Trauerspiele Figur der Mätresse gezeichnet, besonders ihre persönliche Entwicklung. Lessing und Schiller kritisieren das Mätressenwesen als üblicher Bestandteil des damaligen Hofes, aber zugleich haben sie mit diesen Frauen Mitleid. Hinder der „schmutzigen Arbeit“ wird dem Publikum Seele eines Individuums mit seinem Stärken und Schwächen entdeckt.

28

Rosenbaum 2006: 84

30

4. 1 Privatleben der höfischen Liebhaber Hettore Gonzaga und Ferdinand von Walter sind Vertreter des höfischen Standes, die dem Publikum ihre Gefühle so entdeckt haben, wie keine anderen höfischen Figuren. Man trifft ihre helle, aber auch dunkle Seite des Charakters. Besonders die negativen Eigenschaften wurden von Lessing und Schiller stark kritisiert. Während in „Kabale und Liebe“ die Spitze des höfischen Adels indirekt vertreten wird (den Fürst verkörpert keine bestimmte Figur, er befindet sich am Rande der Handlung und taucht immer als Symbol des Gesetzes auf), in „Emilia Galotti“ wird uns auch die höchste Autoritätsebene dank dem Prinzen von Guastalla nahegebracht. Es ist interessant, dass Lessing sein Trauerspiel keineswegs in der Familie seiner Titelheldin beginnt, stattdessen erteilt die ersten Wörter dem Aggressoren, der hinter dem Umgang von junger Emilia steht. Konnte er einen bestimmten Grund dafür haben? Prinz von Guastalla erscheint nicht als klassischer Repräsentant des landesfürstlichen Absolutismus, er wird nämlich als ambivalente Figur gestaltet. Im ersten Aufzug erkennen wir die wichtigen Hintergrundinformationen über die sozial-politischen Bedingungen am Hof. Hettore Gonzaga repräsentiert den politisch-öffentlichen Bereich, die Werte des Hofes. Bereits die ersten Worte des Prinzen betreffen anspruchsvolle Aufgabe des Herrschers: „Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!“ (EG I, 1) Er beschwert sich über Mengen an der Arbeit, hinter der ihn seine Untertanen nicht als Individuum sehen und die sie ihm noch beneiden. Schon diese seine anfänglichen Betrachtungen weisen auf den privaten Bereich hin, der im Trauerspiel in den Vordergrund gestellt wird. In den Szenen mit dem Maler Conti lernt man auf der einen Seite einen Mäzen kennen („die Kunst geht nach Brot (…) in meinem kleinen Gebiete gewiss nicht“ (EG I, 2)), der Kunst wirklich versteht, aber auf der anderen

spiegeln

sich

seine

negativen

Eigenschaften

wie

Wankelmütigkeit,

Gefühlskälte und Egozentrik. Er erinnert sich gar nicht an Orsinas Porträt, das er bei dem Maler Conti jemals in Auftrag gegeben hat. Damals hatte er sie möglicherweise lieb, aber jetzt nicht mehr: „Ihr Bild ist sie doch nicht selber. – Und vielleicht find ich in dem Bilde wieder, was ich in der Person nicht mehr erblicke. – Ich will es aber nicht wiederfinden“ (EG I, 3). Trotzdem lässt er diese Gemälde in den prachtvollen Rahmen einsetzen, denn als richtiger Vertreter des Hofes hält er auf Repräsentation.

31

Die vorigen Betrachtungen betreffen vor allem öffentliche Sphäre Gonzagas Lebens mit ihren typischen Merkmalen des höfischen Alltags. Die überwiegende Aufmerksamkeit richtet der Autor aber auf die Privatsachen, auf den emotionalen Charakter des Prinzen. Gonzaga wird als Mensch nachgesehen, dessen neue Liebe in ihm intensive Gefühle erweckte. Bis jetzt kannte er nur die oberflächliche Form der Zuneigung, der für diesen Bedarf Gräfin Orsina ausübte, aber jetzt trifft er Emilia Galotti und alles ist anders. Was lockte ihn so viel auf Emilia? Ihre Tugend oder Unverfügbarkeit? Die Antwort kann sich unterscheiden, aber soll der Impuls irgendwelcher sein, gerade aus diesem Grund verrät Gonzaga seinem Kammerherrn die geheim gehaltene Wahrheit: DER PRINZ. (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräter! - was mir ist? - Nun ja, ich liebe sie; ich bete sie an. Mögt ihr es doch wissen! Mögt ihr es doch längst gewußt haben, alle ihr, denen ich der tollen Orsina schimpfliche Fesseln lieber ewig tragen sollte! […] DER PRINZ. Ah! Marinelli, wie konnt' ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst kaum gestehen wollte? (EG I, 6)

Marinelli ist überrascht, denn sein Herr spricht offen über seine Empfindung und appelliert damit an sein Mitgefühl, was er auch bezeigt, aber nur aus Marinelli Berechnung. Der Prinz tritt am Anfang passiv auf, wenig Zeit später lässt sich von Kammerherrn zur Tat überreden: „Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?“ fragt Marinelli den Prinzen, der ihm antwortet: „Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann.“ (EG I, 6) Hier wird die Zwiespältigkeit im Gonzagas Charakter deutlich. Er nutzt seinen Machtanspruch als absolutistischer Herrscher, gibt Marinelli Einwilligung zur Intrige, um seine persönliche Interesse „für jeden Preis“ (EG I, 5) durchzusetzen. Als Sklave vertraut er auf Marinellis Pläne, nichts anderes hat höheren Wert als die Erfüllung dieses Wunsches – „kein Todesurteil, nicht der Appiani-Mord, nicht die einstige Geliebte Orsina, nicht die Beugung des Rechtes und vollends nicht die Ängste und Empfindungen des Mädchens Emilia.“29 Alles vollzieht sich im Namen der Amoral.

29

Paintner 1984: 68

32

Und wie sieht Ferdinands persönliches Leben aus? Als Sohn des Premierministers von Walter hat seine Zukunft von dem Vater schon geplant: PRÄSIDENT. (…) Du bist im zwölften Jahre Fähndrich. Im zwanzigsten Major. Ich hab' es durchgesetzt beim Fürsten. Du wirst die Uniform ausziehen und in das Ministerium eintreten. Der Fürst sprach vom Geheimenrath - Gesandtschaften - außerordentlichen Gnaden. Eine herrliche Aussicht dehnt sich vor dir! - Die ebene Straße zunächst nach dem Throne - zum Throne selbst, wenn anders die Gewalt so viel werth ist, als ihr Zeichen - das begeistert dich nicht? (KL I, 7)

Um die Fürstengunst seiner Familie zu festigen, muss er bisherige Mätresse des Fürsten heiraten. Damit kann dieser junge Akademiker mit dem modernen Denken der Aufklärung nicht zustimmen: „Distinction nennen Sie es - Distinction, da mit dem Fürsten zu theilen, wo er auch unter den Menschen hinunterkriecht?“ (KL I, 7) Der von Schiller geschilderte oberflächliche und gefährliche Präsident von Walter kann Ferdinands nicht-höfischen Wertvorstellungen über standhaltende Sexualmoral nicht verstehen: „Welcher Mensch von Vernunft würde nicht nach der Distinktion geizen, mit seinem Landesherrn an einem dritten Ort zu wechseln?“ (KL I, 7). In Promiskuität sieht der Vater nichts Schlechtes und darum auch wenn er zum ersten Mal von Wurm über Ferdinands Liebe zu Luise hört, reagiert nach der höfischen Art und Weise: „daß mein Sohn Gefühl für Frauenzimmern hat, macht mit Hoffnung, daß ihn die Damen nicht hassen werden […] daß gefällt mir an meinem Sohn, daß er Geschmack hat. […] er kann Präsident werden.“ (KL I, 5) Über die Möglichkeit einer anderen Liebe als der erotischen dachte Präsident gar nicht nach, denn seine verbogenen höfischen Werte bewegen sich nur auf der oberflächlichen, egoistischen, amoralischen Ebene. Aus diesen Gründen kann die Beziehung von Ferdinand und Vater nicht funktionieren, denn wie Ferdinand sagt: „meine Begriffe von Größe und Glück nicht ganz die Ihrigen sind“ (KL I, 7). „Ferdinand, der zwar ein Außenseiter bei Hof ist, der den Dünkel des Adels kritisiert, der unter den Verbrechen seines ehrgeizigen Vaters leidet und sich so bürgerlich und menschenfreundlich gibt – ist bei näheren Hinsehen doch ein ziemlich eingebildeter aristokratischer Egoist. Er setzt seine Interessen durch, nur anders als sein machtgieriger Vater. Er hängt viel mehr an seiner adligen Herkunft, als ihm bewusst ist, und Luise durchschaut das bald.“30 30

Engelmann 2005: 221-222

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LUISE. (faßt seine Hand, indem sie den Kopf schüttelt). Du willst mich einschläfern, Ferdinand - willst meine Augen von diesem Abgrund hinweglocken, in den ich ganz gewiß stürzen muß. Ich seh' in die Zukunft - die Stimme des Ruhms - deine Entwürfe - dein Vater - mein Nichts. (Erschrickt und läßt plötzlich seine Hand fahren.) Ferdinand! Ein Dolch über dir und mir! - Man trennt uns! FERDINAND. Trennt uns! (Er springt auf.) Woher bringst du diese Ahnung, Luise? Trennt uns? - Wer kann den Bund zweier Herzen lösen, oder die Töne eines Accords auseinander reißen? - Ich bin ein Edelmann - Laß doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist, als der Riß zum unendlichen Weltall? oder mein Wappen gültiger, als die Handschrift des Himmels in Luisens Augen: dieses Weib ist für diesen Mann? Ich bin des Präsidenten Sohn. Eben darum. Wer, als die Liebe, kann mir die Flüche versüßen, die mir der Landeswucher meines Vaters vermachen wird? LUISE. O wie sehr fürcht' ich ihn - diesen Vater! FERDINAND. Ich fürchte nichts - nichts - als die Grenzen deiner Liebe. Laß auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in Luisens Arme fliegen. (KL I, 4)

Ferdinand fühlt sich selbstbewusst und ist bereit gesamte Ständeordnung zu zerschlagen. Für ihn hängt der Wert eines Menschen nicht von seinem Stand, sonder von seinem Charakter ab. Man muss sagen, dass er als Liebender eher bürgerlich denkt. Trotz kleinem Hindernis in der Form des Ständeunterschieds will er sie heiraten, obwohl er weiß, dass er sich damit gesellschaftlich unmöglich macht. Ist aber seine Liebeserklärung zu trauen? Konnte dieses Verhältnis ohne Mithilfe einer Intrige gemeinsame Zukunft haben? Solche Fragen haben auch Schiller beschäftigt. Vielleicht empfindet Ferdinand wirklich zärtliche Gefühle für Luise, aber ihre verschiedene Erziehung und moralische Werte weichen voneinander so ab, dass es nicht möglich ist, ein ausgeglichenes Paar zu bilden: FERDINAND. (…) Ich gehe, mache meine Kostbarkeiten zu Geld, erhebe Summen auf meinen Vater. Es ist erlaubt, einen Räuber zu plündern, und sind seine Schätze nicht Blutgeld des Vaterlands? - Schlag ein Uhr um Mitternacht wird ein Wagen hier anfahren. Ihr werft euch hinein. Wir fliehen. LUISE. Und der Fluch deines Vaters uns nach? - ein Fluch, Unbesonnener, den auch Mörder nie ohne Erhörung aussprechen, den die Rache des Himmels auch dem Dieb auf dem Rade hält, der uns Flüchtlinge unbarmherzig wie ein Gespenst von Meer zu Meer jagen würde? - Nein, mein Geliebter! Wenn nur ein Frevel dich mir erhalten kann, so hab' ich noch Stärke, dich zu verlieren. FERDINAND. (steht still und murmelt düster). Wirklich? LUISE. Verlieren! - O, ohne Grenzen entsetzlich ist der Gedanke - gräßlich genug, den unsterblichen Geist zu durchbohren und die glühende Wange der Freude zu bleichen - Ferdinand! dich zu verlieren! Doch, man verliert ja nur, was man besessen hat, und dein Herz gehört deinem Stande - Mein Anspruch war Kirchenraub, und schaudernd geb' ich ihn auf.

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FERDINAND. (das Gesicht verzerrt und an der Unterlippe nagend). Gibst du ihn auf. LUISE. Nein! Sieh mich an, lieber Walter. Nicht so bitter die Zähne geknirscht. Komm! Laß mich jetzt deinen sterbenden Muth durch mein Beispiel beleben. Laß mich die Heldin dieses Augenblicks sein einem Vater den entflohenen Sohn wieder schenken - einem Bündniß entsagen, das die Fugen der Bürgerwelt auseinander treiben und die allgemeine ewige Ordnung zu Grund stürzen würde - Ich bin die Verbrecherin - mit frechen, thörigten Wünschen hat sich mein Busen getragen - mein Unglück ist meine Strafe, so laß mir doch jetzt die süße, schmeichelnde Täuschung, daß es mein Opfer war - Wirst du mir diese Wollust mißgönnen? (Ferdinand hat in der Zerstreuung und Wuth eine Violine ergriffen und auf derselben zu spielen versucht - Jetzt zerreißt er die Saiten, zerschmettert das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter aus).

(KL III, 4)

„Da, wo Luise verzichtet und Grenzen wahrt, wo sie kleinbürgerliche Tugenden verkörpert, ist Ferdinand maßlos. Da, wo sie passiv ist, handelt er – und zerstört alles.“31 Er benimmt sich als Herr über Leben und Tod: „Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel!“ (KL IV, 4) Ab diesen Moment geht es nicht mehr um seine aufgeklärte Liebe, sondern nur um Eifersucht und Besitzdenken. Unlösbares Dilemma findet er durch gemeinsamen Tod heraus. Leider zu spät erkennt er, dass ihre Beziehung nur die höfische Kabale zerstört hat. Das Tragische auf dem Dramenschlusses besteht darin, dass es wirklich keine andere Möglichkeit siegen kann. Im Ganzen können die Trauerspiele nicht glücklich enden, denn sie dann ihre Botschaft, die Lessing mit Schiller dem Publikum sagen lassen, nicht erfüllt werden könnte. Erst in der letzten Szene, in der die Wahrheit erkennt wird und das Dolch mit dem Gift nicht mehr aufhalten kann, fallen alle Standesschranken. Es gibt keinen Platz für die Klage, für den Hass oder für die Rache. Jeder wird in gewisser Weise Schuldige, gleichzeitig aber auch Opfer. Sowohl Hettore Gonzaga, als auch Ferdinand werden Opfer ihrer Leidenschaften. Die Sehnsucht nach der unverfügbaren Emilia brachte zur Welt Intrige, deren Opfer der Fürst selbst wurde. Ferdinand führten ins Unglück wieder seine Eifersucht, sein Argwohn und seine soziale Isolation. So oder so, ihr adeliger Charakter gewinnt und das Schicksal von Familie Galotti und Miller wird besiegelt. Alles stürzt sich ins Verderben. Die Hand ans Werk müssen aber noch auch andere Gestalten legen.

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Engelmann 2005: 225

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4. 2 Zurückgewiesene Favoritinnen Als Favoritin (anders gesagt Mätresse) wurde offizielle Geliebte eines Fürsten oder reichen Adeligen bezeichnet. Dieser gesellschaftliche Status war im 18. Jahrhundert üblich und öffentlich anerkannt. Solche Frauen wurden von ihren Herren unterhalten, manchen hatten am Hof einen wesentlichen Einfluss. Indem Emilia und Luise einen Typ der hilflos-unschuldigen Mädchen vertreten, im Auftrag von Gräfin Orsina und Lady Milford präsentiert dem Publikum Lessing mit Schiller mutige, unabhängige Frauen, die eine sehr interessante persönliche Entwicklung erfassen. Die erste Beschreibung von Gräfin Orsina erhielt man schon im vierten Auftritt des ersten Aufzugs. Der Maler Conti bringt den Prinzen Porträt von Orsina, der er noch in der Zeit der Zuneigung zur Gräfin, bestellt hat. Es ist evident, dass seine Gefühle für diese Frau schon vorbei sind: „Als ich dort liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich, so ausgelassen. - Nun bin ich von allem das Gegenteil. - Doch nein; nein, nein! Behäglicher oder nicht behäglicher: ich bin so besser.“ (EG I, 3). Der Prinz sucht im Bild etwas, was er in ihr nicht mehr erblickt. „Stolz haben Sie in Würde, Hohn in Lächeln, Ansatz zu trübsinniger Schwärmerei in sanfte Schwermut verwandelt (…) Denn sagen Sie selbst, Conti, läßt sich aus diesem Bilde wohl der Charakter der Person schließen?“ (EG I, 4) Mit den verliebten Augen sah er ein würdiges, lächelndes Objekt seiner Sehnsucht, genau wie auf dem Bild, aber mit dem Abstand erkennt Orsina auch aus einer anderen Seite. Ihre Liebesbeziehung wurde auf der Käuflichkeit und Beherrschbarkeit gebaut. Die ähnliche Situation begegnete auch Lady Milford. Aus der Einsamkeit im deutschen Exil und Armut verkaufte sich dem Fürsten und wurde seine Favoritin. Während Orsinas Grund für diese „Arbeit“ unbekannt ist, Milford zwingt dazu nur die Not, was im Publikum auch trotz ihrer Stellung Mitleid erregt. Sowohl Orsina, als auch Lady Milford tauchen am Anfang der Handlung in den Rollen der Mätressen. Genauso handelt mit ihnen auch ihre Umgebung. Der Präsident sieht in Milford Machtinstrument, dank dem die Zukunft seiner Familie gesichert wird. Ferdinand auf der anderen Seite hielt Milford als Ursache seines Unglücks. Für Gonzaga bedeutet Orsina auch nichts Wichtiges. Erst wenn man diese Frauen „persönlich“ auf der Bühne trifft, stellt man fest, dass sie mit ihrem Verhalten manche allgemeingültige negative Vorurteile zerstören, was meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben von diesen Gestalten ist. Dieser Wandel ihres Charakters erfasst 36

den Emanzipationsprozess und auch die Kritik der höfischen Gesellschaft. Orsina und Milford haben zwar „dem Fürsten [ihre] Ehre verkauft; aber [ihr] Herz habe[n] [sie] frei behalten“ (KL II, 1) Das deutet darauf hin, dass sie nicht zu den korrumpierten Personen auf dem Hof gehören. Durch ihr Vertreten ähneln Orsina und Milford zwei Gestalten, die man auf dem ersten Blick nicht geraten hätte – und zwar dem Grafen Appiani und Ferdinand. Beide „Paare“ bindet ihre soziale Isolation. Die Mätressen leben am Hof, aber als „Heimat“ kann man es kaum bezeichnen, Graf Appiani plant nach der Hochzeit aus der Öffentlichkeit weggehen und Ferdinand denkt nicht an eine von dem Vater verabredete Kariere beim Hof. Alle vier wünschen sich neuen Lebensabschnitt zu beginnen, in der Ruhe mit ihren Geliebten, nicht mehr Vortäuschung eigenen Gefühlen, weg von der Welt der Intrigen. Nur Lady Milford hat ihre Flucht realisiert und als Nachfolgerin der Orsina wird zum Schluss moralisch kompetente Figur. Beide Trauerspiele machen deutlich, dass es für solche Frauen in der Gesellschaft wenig Platzt gibt, was ihre unerfüllte Liebe nur bestätigt. Im ersten Absatz erwähne ich interessante persönliche Entwicklung von Orsina und Lady Milford, auf der ich jetzt die Aufmerksamkeit richten möchte. „Kennen Sie mich? Ich bin Orsina, die betrogene, verlassene Orsina.“ (EG IV, 7) Gräfin Orsina verkörpert einen Kontrast zu Emilia Galotti. „Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“ (EG I, 6) stellt für sie zuerst keine Gefahr dar. Orsina ist eher Revolutionärin, Emilia wieder brave Tochter. Eigentlich haben die zwei nicht viel Gemeinsames und darum entsteht auch die Frage, warum hat Hettore Gonzaga gerade diese zwei unterschiedliche Frauen so lieb? Es muss gesagt werden, dass in der Zeit seiner Zuneigung zu ihr herrschte Orsina gleichen Eigenschaften wie Emilia. Besonders die Szenen mit dem Maler Conti beweisen diese meine Meinung. Im vierten Aufzug äußert auch Orsina ihre Vermutung, warum der Prinz eine andere ihr vorzieht: Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das, ihm zum Trotze, auch denken will? Ein Frauenzimmer, das denkt, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminket.“ (EG IV, 3) Wieder prallt Lessing auf die Stellung der Frauen in der Gesellschaft auf. Indem in Orsina große Leidenschaft für Gonzaga brennt, der Fürst wandelt seine Gefühle in „Gleichgültigkeit an die Stelle der Liebe“ (EG IV, 3). „Die Unglücklichen ketten sich so gern aneinander“ (EG IV, 7), darum versucht sie Odoardo Galotti als Werkzeug ihrer Rache auszunutzen:

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ORSINA. (…) Mir - wird die Gelegenheit versagt, Gebrauch davon zu machen. Ihnen wird sie nicht fehlen, diese Gelegenheit, und Sie werden sie ergreifen, die erste, die beste - wenn Sie ein Mann sind. Ich, ich bin nur ein Weib, aber so kam ich her! fest entschlossen! - Wir, Alter, wir können uns alles vertrauen. Denn wir sind beide beleidiget, von dem nämlichen Verführer beleidiget. - Ah, wenn Sie wüßten - wenn sie wüßten, wie überschwenglich, wie unaussprechlich, wie unbegreiflich ich von ihm beleidiget worden und noch werde - Sie könnten, Sie würden Ihre eigene Beleidigung darüber vergessen. - Kennen Sie mich? Ich bin Orsina, die betrogene, verlassene Orsina.

(EG IV, 7)

Gerade in diesem Moment ändert sich Gestalt einer Mätresse in eine Selbstbewusste Frau. Trotz jener Veränderung im Weg Eifersucht mit Rache stehen, ist es entscheidend, dass für Orsina dann Solidarität mit Emilia wichtiger herausfindet, als gebrochene Ehre oder Eifersucht. Gerade diese Verschiebung im Nachdenken schießt auf sie ein bisschen positiven Blick. ORSINA. (…) Ich bin Orsina, die betrogene, verlassene Orsina. - Zwar vielleicht nur um Ihre Tochter verlassen. - Doch was kann Ihre Tochter dafür? - Bald wird auch sie verlassen sein. - Und dann wieder eine! - Und wieder eine! (EG IV, 7)

Lady Milford stellt Orsinas Nachfolgerin im wahrsten Sinne des Wortes dar. Friedrich Schiller brachte Figur einer Mätresse über die Bühne. Obwohl sie nur eine Nebenrolle spielt, hat ihre Gestalt für das Stück große Bedeutung. Sie erfüllt nicht Erwartungen an ihre Persönlichkeit, genau wie Orsina, zeigt Milford auch ihre moralischen Qualitäten. Drei Jahre lebt Lady am Hof, drei Jahre muss jeden Schritt, jedes Wort arrangieren. Jetzt ist sie freigelassen, denn der Fürst heiraten wird. Sie sehnt nach der echten Liebe und will ein neues Leben mit Ferdinand beginnen. Die Zuschauer erwarten eher Intrigen, aber Lady überrascht ihre Umgebung, denn sie wünscht sich nur das Land zu verlassen, wo sie neuen Anfang mit dem geliebten Ferdinand realisiert könnte. „In den Augen anständig denkender Menschen wie Ferdinand steht die Lady Milford wie eine skrupellose Mätresse da, der es vor allem auf Luxus und Wohlleben ankommt und der das Wohl des einfachen Volkes gleichgültig ist. (…) Er will ihr bei ihrer Begegnung ganz bewusst seine ganze Verachtung zeigen und hofft, sie so von der geplanten ehelichen Verbindung abbringen zu können.“32 Das Gegenteil ist aber wahr. Nach dem gemeinsamen Treffen stellt Ferdinand fest, dass seine Meinung über Milford muss umwertet werden. 32

Völkl 2003: 20

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LADY. (…) Ich nahm dem Tyrannen den Zügel ab, der wollüstig in meiner Umarmung erschlappte - dein Vaterland, Walter, fühlte zum erstenmal eine Menschenhand und sank vertrauend an meinen Busen. (Pause, worin sie ihn schmelzend ansieht.) O daß der Mann, von dem ich allein nicht verkannt sein möchte, mich jetzt zwingen muß, groß zu prahlen und meine stille Tugend am Licht der Bewunderung zu versengen! - Walter, ich habe Kerker gesprengt - habe Todesurtheile zerrissen und manche entsetzliche Ewigkeit auf Galeeren verkürzt. In unheilbare Wunden hab' ich doch wenigstens stillenden Balsam gegossen - mächtige Frevler in Staub gelegt und die verlorene Sache der Unschuld oft noch mit einer buhlerischen Thräne gerettet - Ha, Jüngling, wie süß war mir das! Wie stolz konnte mein Herz jede Anklage meiner fürstlichen Geburt widerlegen! - Und jetzt kommt der Mann, der allein mir Das alles belohnen sollte - der Mann, den mein erschöpftes Schicksal vielleicht zum Ersatz meiner vorigen Leiden schuf - der Mann, den ich mit brennender Sehnsucht im Traum schon umfasse (KL II, 3)

Schiller weist darauf hin, dass am Hof nicht nur böse, korrumpierte Leute leben, sondern auch die, die aus ihrer Situation möglichst viel zum Wohltun ausnutzen wollen. Die Szene mit Edelsteinen, die ihr von dem Herzog geschickt werden, erbringt dafür einen Nachweis. Milford handelt als selbstständige Frau. Lieber gebietet sie, dass der Schmuck „ohne Verzug in die Landschaft gebracht werde (…) und den Gewinst davon unter die Vierhundert verteilen, die der Brand ruiniert hat“, als sie „den Fluch seines Landes in [ihrem] Haaren tragen“ sollte (KL II, 2). Dank Milfords kleinen Eingriffen kehrt sich die Gerechtigkeit in dieses Land langsam zurück. Auf der anderen Seite ist Milford nach Völkl „kein selbstloser Engel.“33 Nach der Feststellung von Ferdinand Plänen mit Luise wird ihr bewusst, dass sie „mit einander nicht glücklich werden“ können (KL II, 3), aber dass sie auch nicht auf ihre schon veröffentlichte Beziehung verzichten will. Die Ehre stellt in der Handlung eine wichtige Antriebskraft dar. „Meine Ehre kann's nicht mehr - Unsre Verbindung ist das Gespräch des ganzen Landes. Alle Augen, alle Pfeile des Spotts sind auf mich gespannt. Die Beschimpfung ist unauslöschlich, wenn ein Unterthan des Fürsten mich ausschlägt. Rechten Sie mit Ihrem Vater. Wehren Sie sich, so gut Sie können. - Ich lass' alle Minen springen.“ (KL II, 3) Bis jetzt überwiegt bei Lady eher ihre dunkle Seite, obwohl man zu ihrer Verteidigung vorbringen muss, dass sie unter diesem Auftreten nur angstvolle Seele einer Fremden verborgen hat. Der Wendepunkt ihrer Persönlichkeit erfolgt erst im Verlauf von Luises Besuch. Luise stellt sie auf dem ersten Blick einfache, aber für Lady sehr tiefe Frage: „Sind Sie glücklich, Milady?“ (KL IV, 7) Sie kommt zur 33

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Schlussfolgerung, dass sie sich in ihrer Rolle unglücklich fühlt, trotzdem aber sie auf Ferdinand nicht bereit zu verzichten ist. Und darum mobilisiert alle ihre Kräfte Luise zu überreden. Sie versucht zuerst Versprechungen („Meine Sophie heirathet. Du sollst ihre Stelle haben“ (KL IV, 7)), dann Drohungen („Ich bin mächtig, Unglückliche fürchterlich - so wahr Gott lebt! Du bist verloren!“ (KL IV, 7)), aber Luise standhielt dem Ansturm, geht mit dem Stolz ab und lässt ihr Ferdinand mit folgenden Worten über: „Nehmen Sie ihn denn hin, Milady! - Freiwillig tret' ich Ihnen ab den Mann, den man mit Haken der Hölle von meinem blutenden Herzen riß. - Vielleicht wissen Sie es selbst nicht, Milady, aber Sie haben den Himmel zweier Liebenden geschleift, von einander gezerrt zwei Herzen, die Gott aneinander band.“ (KL IV, 7) Lady Milford ist „von der höheren Tugend“ (KL IV, 7) ihrer Rivalin beschämt, was zu der kathartischen Erkenntnis führt: „nein! - Beschämen läßt sich Emilie Milford - doch beschimpfen nie! Auch ich habe Kraft, zu entsagen.“ (KL IV, 8) Lady beendet das Verhältnis mit dem Herzog und mit dem Wohlbehagen geht außer des Landes. Rolle einer Mätresse wird dem Publikum im Vertreten von Orsina und Lady Milford aus einer menschlichen Seite nahegebracht. Man kennt selbstbewusste, kluge, erfahrene, stolze Frauen, die in der Handlung als Gegensatz zu den bürgerlichen Töchtern bestehen. Gerade diese planmäßige widersprüchliche Schilderung der Gestalten bringt in die Handlung Schwung, Spannung und bestimmt auch genügenden Platzt zur Entstehung von weiteren Konfliktsituationen. Auch trotz ihrer zahlreichen Laster, verkörpern Orsina und Milford auch positive Ideale wie Toleranz, Vernunft, Menschlichkeit oder Freiheit. Die wichtigste Aufgabe dieser Gestalten war meiner Meinung nach die schon am Anfang der Kapitel erwähnten negativen Erwartungen an ihre Persönlichkeiten zu überwinden und sich von anhaltenden Vorurteilen zu befreien. Ihre Schicksale vergleiche ich am Anfang mit den Schicksalen von Ferdinand und Appiani. Diese vier Personen nutzen sowohl Lessing, als auch später Schiller zum Überbrücken tiefer Kluft zwischen der unterschiedlichen bürgerlichen und höfischen Welt. Obwohl es nur um Nebenrollen handelt, lassen sie dem Publikum, wie man bemerken kann, besonders bedeutungsvolle Botschaft hinter.

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4. 3 Korrumpierte Bürger In den folgenden Absätzen möchte ich mich mit der Thematik der dunklen höfischen Intrige, ihren Instrumenten und Akteuren tiefer beschäftigen. Absichtlich wurde in dieser Kapitelüberschrift das Wort „Bürger“ hinzugefügt, denn man muss gleich am Anfang betonen, dass zu den schlimmsten Intriganten nicht nur höfische Gestalten gehören, sondern auch ihre bürgerliche korrumpierte Diener. Marinelli und Wurm, so heißen weitere Bindeglieder zwei soziallen Stände, die aber im Unterschied zu den Figuren aus dem vorigen Kapitel in den Zuschauern völlig negativen Eindruck erregen. Der Kammerdiener Marinelli wird in Interpretationsliteratur sogar als Hofteufel bezeichnet. Ihre gesellschaftliche Stellung verursacht wieder zwiespältige Gefühle. Indem sie einerseits innerhalb des Hofes als Diene auftreten, anderseits bei einem Umgang mit dem bürgerlichen Milieu benehmen sich souverän und selbstbewusst und obwohl sie nach seiner Herkunft ursprünglich Bürger sind, durch seiner intriganten Benehmen passen eher zum Hof. Deshalb wurden diese zwei nichthöfischen Gestalten gerade zur höfischen Welt zugeordnet. Kammerherr Marinelli ist besonders zielbewusste Person. Zwischen ihn und dem Fürsten gibt es auf einem zentralen Wunsch gebaute Parallele. Gonzaga sehnt nach Emilia, Marinelli wieder nach der Zufriedenheit und Freundschaft seines Herrn. Möglicherweise könnte dieses Benehmen auch auf seinen vorsätzlichen Plan der Annäherung an fürstlichen Thron beweisen. Dank der Appellation an fürstlicher Zurückhaltung („Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben! - Und die Ursache, wenn dem so ist? - Weil sie keinen haben wollen. - Heute beehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seele auf: und morgen sind wir ihnen wieder so fremd, als hätten sie nie ein Wort mit uns gewechselt.“ (EG I, 6)) erreicht Marinelli Gonzagas Vertraulichkeit und das ganze Schicksal von Familie Galotti wird mit folgenden Worten besiegelt: MARINELLI. (…) (Nach einer kurzen Überlegung.) Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue? DER PRINZ. Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann. (EG I, 6)

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„Freie Hände“ bedeuten für Marinelli Einsatz von allen seinen Trümpfen, wie zum Beispiel Drohungen, Betrüge, Versprechungen oder auch Tod. Jedes Mitteln ist ihm recht, den er nur das Ergebnis zählt. An solchen verborgenen Charakter übertrifft vielfach seinen Kollegen Wurm in „Kabale und Liebe“. Wurm benutzt Intrigen zum Erwerb von geliebter Luise, Marinelli macht alles nur aus den berechnenden Gründen. Die Lüge benutzt er mit solcher Selbstverständlichkeit, als ob sie zu einem Grundzug seines Wesens geworden ist. Empfängliche Zuschauer bestimmt bemerken, dass alle seine Pläne an irrtümlicher Einschätzung der Feinde scheitern. Marinelli ist wirklich schlechter Psychologe. Besonders seine bürgerlichen Gegner kann er nicht einschätzen. Zuerst Graf Appiani, den Marinelli „augenblicklich zu entfernen“ (EG I, 6) will, lehnt sein lockendes Angebot ab. Solche Reaktion wurde gar nicht erwartet, aber Marinelli erfindet gleich eine andere Variante, bereitet einen Überfall Appianis Kutsche vor, womit er in fürstlichen Augen ziemlich wachst. Ein weiteres Missverständnis der nichthöfischen Seele tritt dem Kammerherrn bei der Behandlung mit Claudia ein. „Wenn ich die Mütter recht kenne - so etwas von einer Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt die meisten.“ (EG III, 6) Entgegen Marinellis Voraussetzungen ist Claudia nicht bereit, ihre einzige Tochter „verkaufen“. An dieser Ort und Stelle drängt sich eine Frage nach einem Grund seiner misslungenen Beobachtung. Warum versteht er bürgerliches Benehmen, wenn auch er aus einem gleichen Stand herkommt? Ist er wirklich so korrumpiert, dass er nicht in anderen Dimensionen nachdenken kann? Meine Ansicht entwickelt sich von Orsinas Äußerung, in der sie Marinelli als „nachplauderndes Hofmännchen“ (EG IV, 3) bezeichnet. Er fürchtet sich vor keiner Tat. Lieber plappert alles zur Zufriedenheit seines Herrn nach, ohne es inhaltlich erfasst zu haben, damit er einmal Früchte seiner langen Arbeit stolz gesammelt könnte. Das ist meiner Meinung nach Ziel des Kammerherrn Marinelli. In „Kabale und Liebe“ übernahm Rolle eines Manipulanten und Architekten der Intrige in einem Sekretär Wurm. Im Unterschied zu Marinelli muss sich Wurm über Mangel an Vertrauen von seinem Herrn nicht beschweren, dank dessen Unterstützung seine Pläne durchsetzen kann. Diese „Vertrautheit“ basiert auf Kenntnis des Geheimnisses des Präsidenten, dank dem er seine Position erhielte (siehe KL III, 1). Der Fakt, dass der Sekretär seinen Herrn fest in der Hand hat, kann er der Umgebung nicht zeigen. Lieber versichert den Präsidenten von einem Gegenteil:

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PRÄSIDENT. Was ich Ihm vorhin vertraut habe, Wurm! (Drohend.) Wenn Er plaudert WURM. (lacht). So zeigen Ihr' Excellenz meine falschen Handschriften auf. (er geht ab.) PRÄSIDENT. Zwar bist du mir gewiß! Ich halte dich an deiner eigenen Schurkerei, wie den Schröter am Faden. (KL I, 5)

Außer Wurms amoralischer Seite wird das Publikum auch mit dem verliebten Sekretär kennengelernt. Seine blinde Liebe, oder besser gesagt seine Sehnsucht nach „eine[r] fromme[n], christliche[n] Frau“ (KL I, 2), nach dem Reichtum und Ansehen bringt ganze Intrige in Gang. Es handelt sich auch um egoistische Gründe, wie bei Marinelli, sind beide Männer auch darum am tragischen Ende der Trauerspiele gleichermaßen schuldig. Indem Marinelli als Psychologe misslang, kann Wurm zahlreiche Erfahrungen sowohl mit dem bürgerlichen als auch höfischen Verhalten brillant ausnutzen. Er ist ein Stratege. Seine ganze Intrige baut Wurm auf Ferdinands Eifersucht, wegen deren seinen Betrug mit dem Brief nicht fähig zu durchschauen wird, und Luises Liebe zu den Eltern. Er formuliert diesen Brief, arrangiert Hofmarschall von Kalb als Luises vermutlichen Liebhaber, besucht Luise und bringt sie unter Eid zum Schreiben eines belastenden Briefs. „Er selber würde sich an keinen Eid gebunden fühlen, aber er weiß, dass sie nach einer religiösen Verpflichtung nie verraten würde, wie der Brief zustande gekommen ist.“34 PRÄSIDENT. Einen Eid? Was wird ein Eid fruchten, Dummkopf? WURM. Nichts bei uns, gnädiger Herr! Bei dieser Menschenart Alles - Und sehen Sie nun, wie schön wir Beide auf diese Manier zum Ziele kommen werden - Das Mädchen verliert die Liebe des Majors und den Ruf ihrer Tugend. Vater und Mutter ziehen gelindere Saiten auf, und durch und durch weich gemacht von Schicksalen dieser Art, erkennen sie's noch zuletzt für Erbarmung, wenn ich der Tochter durch meine Hand ihre Reputation wieder gebe. (KL III, 1)

Bürgerliche Anständigkeit zusammen mit Ferdinands leidenschaftlichem Kopf sollen Wurms sein Ziel erreichen zu helfen. Es ist deutlich, dass Wurm durch moralische Skrupellosigkeit gut in die höfische Welt passt. Absichtlich benutzt Schiller für diese Figur Name „Wurm“, den schon ein Tier, das unter der Erde lebt und den Boden durchwühlt, kann in den Lesern den Eindruck evozieren, dass Wurm ein Mensch ist, der andere betrügt und hinter deren Rücken seine Intrigen treibt, aber gleichzeitig liegt er diesen Mächtigen zu Füßen. 34

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Solche Individuen wie Marinelli und Wurm kann man auch in der heutigen Gesellschaft finden. Das sind diejenigen, die sich an alle Veränderungen leicht anpassen können und immer „überleben“. Auch in der damaligen Zeit war es üblich, sich an den Mächtigen anzuklammern und sie zu eigener Gunst auszunutzen. Was aber Lessing und Schiller hervorheben wollten, sind ihre ähnlichen charakteristischen Merkmale mit den Adeligen, wie die Informiertheit über alles, Souveränität, Oberflächlichkeit, Affektbeherrschung, Verdächtigung, Heuchelei, Amoral. Diese „Ähnlichkeiten“ sind absichtlich gemeint, denn auch solche hervorragenden Autoren wie Lessing und Schiller konnten sich nicht leisten, ihre Brotgeber direkt zu kritisieren. Die Gestalt eines korrumpierten Bürger erfüllt im Text zwei wichtige Aufgaben. Einerseits dienen solche Personen zum Verkörpern der negativen höfischen Eigenschaften, andererseits wirken sie auch als unentbehrliche Beweger der Handlung. Meine Arbeit beginnt mit den tugendhaftesten Personen der beiden Trauerspiele und symbolisch das letzte Wort erhielten zwei größte Intriganten. Der Kreis hat sich geschlossen. Über die Schuld oder Unschuld aller betrachteten Figuren konnte man tausend weiteren Seiten schreiben. Einen wesentlichen Anteil an dem tragischen Dramenschluss nehmen praktisch alle Gestalten, denn die Ursache für die Standeskonflikte ein verschiedener gelebter Wertsystem war.

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ZUSAMMENFASSUNG Nur wenige Figuren weisen diese Trauerspiele auf. Sie bilden zwei gegeneinander stehende Lager – die bürgerlichen Familien Galotti und Miller auf einer Seite und die höfische Gesellschaft auf der anderen Seite. Zwischen diesen sozialen Ständen herrscht Spannung, die ihre unterschiedliche Lebensweise und Wertsystem verursachen. In beiden Dramen wird die Zuneigung deutlich dem Bürgerstand gewiesen. Die bürgerliche Gesellschaft legt einen großen Wert auf das Privatleben. Im Vordergrund gibt es eine Familie, deren Vater als Vorbild eines idealen Benehmens dargestellt wird. Seine väterliche Autorität basiert auf strengen moralischen und religiösen Grundsätzen, deren Befolgen als Kontrast zu einem höfischen Wohlleben steht. Der Vater orientiert alle seine Aufmerksamkeit auf ein richtiges tugendhaftes Leben und auf die Kindererziehung. Das Verhältnis zur Ehefrau spielt eher untergeordnete Rolle. Mit der Sicherheit kann man sagen, dass die Mutterfigur als einzige bürgerliche Gestalt eher negativ charakterisiert wird. Ihr Handeln ist sehr emotional, ohne feinen Verstand, ohne Nachdenken, fast tierisch könnte man sagen. Die Aufmerksamkeit widmet sie der Partnerauswahl der Tochter, hinter dem sie einen möglichen gesellschaftlichen Aufstieg erwartet. Eine interessante Charakterentwicklung bietet die Tochtergestalt an. Am Anfang trifft man eine hilflos-unschuldige Tochter, deren Persönlichkeit von der väterlichen Autorität geprägt ist. Zum Schluss entdeckt man aber in ihrem Benehmen Andeutung einer möglichen Verselbstständigung. Die höfische Gesellschaft wird überwiegend negativ geschildert. In den Dramen klingt Lessings und Schillers kritische Äußerung zu den typischen höfischen Laster wie Mätresenwesen, Willkürherrschaft, Starrheit, Intrigen, Käuflichkeit, Souveränität, Oberflächlichkeit, Affektbeherrschung, Verdächtigung, Heuchelei oder Amoral. Meine interessanteste Bemerkung während der Bearbeitung dieses Stoffes war die Feststellung, dass auch manche höfische Figuren in sich Potential für bürgerliche Werte haben können. Die früher ehe ständische Bedeutung des Begriffes „bürgerlich“ wurde dank Appiani und teilweise dank dem Präsidenten und den Mätressen auf persönlichen Niveau erhoben. Diese Erkenntnis war für mich wertvoll und schlüssel für weitere Gestaltung von dieser Arbeit.

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LITERATURVERZEICHNIS LESSING, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti : Ein Trauerspiel. Hrsg. von Ekkehart Mittelberg. Berlin: Cornelsen, 2006. 136 S. ISBN 3-464-60965-0. SCHILLER, Friedrich. Kabale und Liebe : Ein bürgerliches Trauerspiel. Hrsg. von Walter Schafarschik. Stuttgart: Reclam, 1969. 127 S. ISBN 3-150-00033-5. LESSING, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti : truchlohra o pěti dějstvích. Praha: Otakar Růžička, 1943. 148 S. SCHILLER, Friedrich. Loupežníci : Fiesco ; Úklady a láska ; Don Carlos. Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění, 1959. 830 S. HEMPEL, Brita. Sara, Emilia, Luise: drei tugendhafte Töchter : Das empfindsame Trauerspiel bei Lessing und Schiller. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2006. 127 S. ISBN 978-3-8253-5225-7. ENGELMANN, Christiana. Möglichst Schiller : ein Lesebuch. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. 376 S. ISBN 3-423-62196-6. HASSEL, Ursula. Familie als Drama : Studien zu einer Thematik im bürgerlichen Trauerspiel, Wiener Volkstheater und kritischen Volksstück. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2002. 403 S. ISBN 3-89528-314-2. VÖLKL, Berndt. Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Stuttgart: Reclam, 2003. 69 S. ISBN 3-15-015335-2. PAINTNER, Peter. Erläuterungen zu Gotthold Ephraim Lessing Emilia Galotti. Hollfeld/Ofr.: C. Bange Verlag, 1984. 81 S. ISBN 3-8044-0319-0.

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RESUMÉ Tato bakalářská práce se zabývá analýzou měšťanských truchloher „Emilie Galotti“ a „Úklady a láska“. Při jejich zpracování jsem se zaměřila na srovnání dvou rozdílných hodnotových systémů, a to jak z měšťanského pohledu, tak i ze strany urozeného dvora. Jejich odlišný způsob života je základním zdrojem napětí, neporozumění, popřípadě i konfliktů. Na pozadí nešťastné lásky mezi měšťanskou dívkou a šlechticem zaznívá kritika nedostatků společnosti 2. poloviny 18. století. Pozornost je zaměřena především na rozmařilý život u dvora, který je postaven do opozice ke spořádanému měšťanskému životnímu stylu.