Probleme der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Formularen

Diplomarbeit Probleme der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Formularen Hochschule Wismar University of Applied Sciences Technology, Business ...
Author: Marta Lenz
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Diplomarbeit

Probleme der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Formularen

Hochschule Wismar University of Applied Sciences Technology, Business and Design

Betreuer: Prof. Hanka Polkehn Prof. Achim Trebeß

vorgelegt von: Jan Schimmagk (105453) Januar 2010



Vorwort

Der Kommunikationsdesigner hat Verantwortung. Die Verantwortung ergibt sich nicht nur aus seinem Wissen, den Mitteln der Umsetzung und der Art ihres Einsatzes, sondern auch aus der Thematik; „Gestaltung kann in einer und für eine Gesellschaft keine separate, unabhängige Thematik sein, keine irrelevante und vernachlässigbare Größe, wenn sie in der Konsequenz fähig ist, deren Werte wirkungsvoll zu verändern.“ 1 Designer und ihre Arbeiten prägen wesentlich unsere Kultur und Gesellschaft – „kaum“ etwas ist nicht „irgendwie“ schon designt worden. Kaum und irgendwie – das sind die entscheidenden, die gegensätzlichen Punkte. Dort, wo Verkauf, Anpreisung, Werbung, positive Darstellung die Aufgabe bestimmt, wird nichts dem Zufall überlassen. Alles wird „durchdesignt“ – strategisch geht man an die Aufgabenlösung. Oft nähert man sich allein durch formal-ästhetische Bedeutungen den Zielgruppen. Für den nicht-kommerziellen gesellschaftlichen Bereich der Beziehung zwischen Staat und seinen Einwohnern scheint es fast, ist das „irgendwie“ vorbehalten. Gerade die Institutionen des demokratischen Staates sollten sich in ihrer Kommunikation als verantwortungsbewusst, kompetent, verlässlich und transparent darstellen. Sie sollten zeigen, dass sie sich ihrer Aufgabe und den Bedürfnissen ihrer Bürger gegenüber bewusst sind. Diese Aufgabe – zu der auch die Gestaltung der Formulare gehört – sollte nicht als Last, sondern als Chance begriffen werden. Eine „Gleichbehandlung“ aller Bürgerinnen und Bürger sowie aller Kommunikationsmittel wäre der wünschenswerte Idealzustand. Die Kommunikationsmittel der Behörden und Verwaltungen – insbesondere der für die sozialen Leistungen zuständigen Behörden – sollten die gleiche Beachtung und Bedeutung erfahren, wie beispielsweise die der für die Bundesschatzbriefe zuständigen Bundesfinanzagentur GmbH. Ein Antrag auf soziale Unterstützung muss und sollte nicht unübersichtlich, ungeordnet, konzeptionsfern und fern der Beachtung von Bedürfnissen der Zielgruppe sein. Investitionen in staatliche Finanzinstitutionen oder die Inanspruchnahme gesetzlich verbriefter sozialer Leistungen – also der Rückgriff auf durch soziale Abgaben ebenfalls in den Staat „investierte“ Leistungen – sollten die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung erfahren. Ein gesetzlich verbrieftes Recht sollte mit der ihm entsprechenden Achtung behandelt werden. „Kommunikationsdesign ist die Konzeption und Planung sowie die Gestaltung visueller Informationen (…) mit dem Ziel, diese in ihrer Komposition, Verarbeitung und Verbreitung wirkungsvoll auf die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe einzustellen.“ 2 Aber gerade in den nicht kommerziellen, sozialen politischen Beziehungen zwischen Staat und seinen Einwohnern – insbesondere in der Beziehung Verwaltung und Bürger – so scheint es, werden diese Bedürfnisse allzu oft vergessen. Eine Gesellschaft lässt sich auch immer am Umgang mit ihren Mitgliedern messen. Ein Sozialstaat verlangt zwingend nach der Gleichbehandlung aller – unabhängig davon, welcher Beitrag für die Gesellschaft geleistet werden kann und wird. Deshalb ist es m.M. um so wichtiger, verschuldet oder unverschuldet in Not geratenen Bürgern und Bürgerinnen unterstützend zur Seite zu stehen – ihnen die Möglichkeit zu geben, mündig zu werden. Schwierige persönliche Situationen (sozial, finanziell, psychisch, physisch usw.) dürfen nicht noch dadurch verschlimmert werden, dass komplexe Verwaltungsvorgänge den Betroffenen „übergeholfen“ werden, die dann möglicherweise wieder zu falschen Einschätzungen oder Entscheidungen führen. Ein kompliziertes System darf nicht kompliziert vermittelt werden.

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Dabei sind gerade den Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins Beachtung zu schenken. Und das ist eine der Verantwortungen des Kommunikationsdesigners. In seiner gesellschaftlichen Verantwortung muss er u.a. kritisch nach- und hinterfragen, Grenzen aufzeigen und Möglichkeiten erweitern, Kritik äußern und Stellung beziehen – er muss Unterstützer und Anwalt sein. Er hat sich selbst und eben anderen gegenüber die Verantwortung, Missstände – welcher Art auch immer – mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu beseitigen. Nun kann man den Vorwurf erheben, dass mit der Neugestaltung der Formulare des SGB II (Hartz IV) das in der Meinung vieler ungerechte System, das den Sozialmissbrauch verhindern, Sozialausgaben einsparen und einen Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen soll, „verschlimmbessert“ oder „verschleiert“ wird. Der Antrag in seiner Form als Kontroll- und Bestrafungsformular gar noch effizienter gemacht wird. Ich habe die Aufgabe aber aus einer anderen Richtung formuliert. In soziale Not Geratene sollen sowohl alle gesetzlichen Möglichkeiten als auch alle Notwendigkeiten erkennen und nutzen können. Denn nur so können die Betroffenen ihre Rechte in vollem Umfang wahrnehmen. Der Verwaltung soll ein Arbeitsmittel zur Hand gegeben werden, das es ermöglicht, effizient und fehlerfrei innerhalb der Verwaltungsprozesse, als auch für den Betroffenen zu agieren. Die nach den Bedürfnissen des Kunden und der Verwaltung gestalteten Formulare sollen u.a. durch Konzeption, Übersichtlichkeit und Benutzerfreundlichkeit die Antragstellung sowie deren Bearbeitung erleichtern. Änderungen an den Sozialgesetzbüchern – insbesondere an dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – hin auf eine menschenwürdigere, sozialere, existenzsicherndere und die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichende Gesetzgebung kann nur durch die Politik geschehen. Als Kommunikationsdesigner kann ich aber in meinem mir möglichen Rahmen versuchen, die erkennbaren Ungerechtigkeiten zu verdeutlichen, zu mindern oder gar abzuschaffen. Der praktischen Arbeit ging eine theoretische Arbeit voran, die es ermöglichte, vorher ungeahnte Verhältnisse und Zusammenhänge in aller Deutlichkeit hervortreten zu lassen. Das bezieht sich sowohl auf das erste Kapitel „Arbeitsgesellschaft – Krise und Disziplinierung“ als auch auf das dritte Kapitel „Formulargestaltung“. Besonders aber das zweite Kapitel, das sich mit der Agenda 2010 und als dessen Bestandteil mit SGB II auseinandersetzt, rückte viele unbekannte Fakten in das Licht der Betrachtungen. Dies lag an dem zur Recherche herangezogenen Material, mit dem ich sehr viel tiefer gehender auf die Ursachen, Wirkungen und Konsequenzen der Sozialreformen eingehen konnte. Dieses Material ist nicht nur von einigen der wichtigsten sozialen, wirtschaftspolitischen und philosophischen Denkern beider Lager – sowohl Befürwortern als auch Kritikern – verfasst worden, es enthält darüber hinaus noch die aktuellsten und unumstößliche Fakten, mit denen eine repräsentative und durch Belege abgesicherte Darstellung ermöglicht wurde. Bei der Recherche war es besonders wichtig, nur solche Quellen zu verwenden, die einer objektiven Betrachtung der Fakten standhalten konnten – gerade bei einer teilweise emotional sehr aufgeladenen Diskussion über die Agenda 2010. Die Anzahl der möglichen Quellen ist immens. Die Begründung dafür liegt überwiegend in den wichtigen Konsequenzen, die sich für den bisherigen paritätisch organisierten Sozialstaat aus den Sozialreformen ergaben und ergeben und dessen Diskurse darüber. Sowohl die verfügbare und notwendige Anzahl der Recherchequellen als auch die Beachtung ihrer „Herkunft“ garantieren den für die Betrachtung nötigen Umfang und – im Vergleich der Aussagen – deren Korrektheit.



Die theoretische Arbeit setzt sich aus drei großen Kapiteln zusammen. Das erste Kapitel setzt sich mit der Arbeitsgesellschaft und ihren Disziplinierungsmechanismen auseinander. Im ersten Teil soll versucht werden zu erklären, wie die Arbeit zum Leben bestimmenden Inhalt werden konnte und welche gesellschaftliche Krise sich durch die Verknappung der Arbeit ergibt. Als Grundlage dient der Text „Geste und Ritual der Arbeit“ von Christoph Wulf. Der zweite Teil dieses Kapitels beschäftigt sich mit Michel Foucaults Analysen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und seinem erweiterten Machtbegriff am Übergang bzw. bei der Entstehung und innerhalb der Industrie- und Arbeitsgesellschaft. Foucault beschreibt den Zusammenhang zwischen der Entstehung einer neuen Ökonomie und der Entstehung von neuen Formen der Macht. Grundlage ist der Text „Die Macht und die Norm“. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Reformierung des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme Deutschlands durch die Agenda 2010. Im Kern dieser Erläuterungen steht das Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – auch bekannt als Hartz IV. Es werden sowohl die Hintergründe als auch die Folgen und Auswirkungen beleuchtet. Statistiken sind dabei ein wichtiges Mittel. Zu beachten ist, dass es zum Teil recht unterschiedliche Zahlen aus Statistiken, Erhebungen und Studien zum gleichen Sachverhalt gibt. Sie rühren wahrscheinlich aus verschiedenen statistischen Methoden, der Absicht und Einstellung der Autoren her. Trotzdem lassen sich Tendenzen und Verallgemeinerungen daraus ableiten. Mit einem Ausblick auf die möglichen weiteren Entwicklungen und mögliche Alternativen schließt dieses Kapitel. Das dritte Kapitel behandelt das Formular. Grundsätzliche Informationen werden gegeben, aber auch das Verhältnis von Bürger und Behörde soll erörtert werden. Der Erläuterung der Ordnungsbeziehungen und Elemente eines Formulars folgt die Einschätzung des Hartz-IV-Hauptantrages sowie der Ausfüllhilfe und die Auswertung meiner Umfragen. Mit der Rolle des Formulargestalters und dem Lösungsansatz für optimale Formulare schließt das letzte Kapitel. Mir war es beim Schreiben dieser Arbeit besonders wichtig, dass sie auch für einen Laien verständlich ist. Das und die notwendige Betrachtung der Felder „Macht, Disziplinierung, Arbeit“, „Agenda 2010 und Hartz IV – Entstehung, Auswirkung, Zukunft“ sowie „Formulare – Aufgaben und Gestaltung“ haben zu dieser doch sehr umfangreichen Arbeit beigetragen. Das nötige komplexe Herangehen an die unterschiedlichen Felder der Betrachtung haben im Laufe der theoretischen Arbeit dazu geführt, dass sich immer mehr Themen und Fragen aufwarfen, die eine gleichberechtigte Antwort verlangt hätten. Dies war aber in dem gesetzten Rahmen unmöglich. An manchen Stellen könnte man sicher kürzen, an anderen Stellen – und das sicher häufiger – noch Informationen ausbauen. Es ist trotz der Beschränkung auf die „nötigsten“ Informationen eine auf fundiertem und standsicherem Wissen basierende theoretische Arbeit entstanden. Gerade das Erkennen, dass sich die Felder der möglichen Betrachtungen und Analysen immer wieder erweiterten, führte einerseits zu Unsicherheit – zu der Unsicherheit, wichtige Dinge nicht gesehen bzw. betrachtet zu haben. Es führte aber auch zu der Erkenntnis, dass sich alles aufeinander beziehen lässt und sich immer wieder neue Parallelen und Denkrichtungen finden lassen, die es wert sind – wenn es Zeit und Energie zulassen –, dass man sie ergründet. Im Jahr 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs die EU nach der Lissabon-Agenda bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Zehn Jahre nach der Unterzeichnung und dem zwischenzeitlichen Zutagetreten der positiven und negativen Folgen, ist das Jahr 2010 für die Vorstellung überarbeiteter Antragsformulare für das SGB II – unabhängig von der absoluten Notwendigkeit – auch ein zeitlich passendes Jahr.



Ich möchte mich bei meinen Professoren, meiner Familie, meiner Freundin, meinen Freunden und auch bei der Verwaltung gleichermaßen für die Lehre, die Hilfe, die Unterstützung, die Geduld und das Verständnis – gerade wenn es stressig und auch chaotisch zuging – bedanken. Und das nicht nur während des Diplomsemesters. Für die erwiesene Kooperationsbereitschaft möchte ich darüber hinaus allen Gesprächspartnern danken.

Erklärung: Die vorliegende Arbeit habe ich selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst. Andere als die angegebenen Hilfsmittel habe ich nicht benutzt. Die wörtlich oder inhaltlich übernommenen Stellen habe ich als solche kenntlich gemacht.

Inhaltsverzeichnis

1.0   Arbeitsgesellschaft – Krise und Disziplinierung....................................................................... 1 1.1   Die Krise der Arbeitsgesellschaft........................................................................................................... 1 1.2   Die Macht und die Norm........................................................................................................................... 11 1.3   Zusammenfassung. .......................................................................................................................................... 19 2.0   Agenda 2010 und Hartz IV. .....................................................................................................................23 2.1   Globalisierung und Neoliberalismus...............................................................................................23 2.2   Die Agenda 2010................................................................................................................................................28 2.3   Die Hartz-Gesetze I bis IV........................................................................................................................ 33 2.4   Hauptargumente der Befürworter..................................................................................................... 37 2.5   Hauptargumente der Kritiker................................................................................................................ 41 2.6   Bilanz fünf Jahre Hartz IV. ...................................................................................................................... 45 2.7   Zusammenfassung. ..........................................................................................................................................50 3.0   Agenda 2010 und Hartz IV: Folgen und Auswirkungen................................................ 51 3.1   Vielschichtigkeit der Folgen und Auswirkungen................................................................... 51 3.2   Rechtsverlust und Zwang zur Arbeit............................................................................................... 52 3.3   ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust...................................................... 53

3.4   Der Ein-Euro-Job. ............................................................................................................................................. 56 3.5   Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit................................................................................ 57 3.6   Hartz IV macht krank. ................................................................................................................................. 59 3.7   Hartz IV macht Kinder arm. ................................................................................................................... 62 3.7.1   Dialektik von Reichtum und Armut. ............................................................................................... 62 3.7.2   Quantitative Indikatoren der Kinderarmut............................................................................... 66 3.7.3   Qualitative Indikatoren der Kinderarmut. ................................................................................. 68 3.7.4   Verfassungsrichter überprüfen Regelsätze für Kinder..................................................... 69 3.8   Zusammenfassung. ..........................................................................................................................................72 4.0   Zukunft von Hartz IV................................................................................................................................... 73 4.1   Politik der Regierungsparteien.............................................................................................................. 73 4.2   Alternative Vorstellungen........................................................................................................................... 76 4.3   Widerstand und Protest............................................................................................................................... 80 4.4   Zusammenfassung. ..........................................................................................................................................82 5.0   Formulargestaltung......................................................................................................................................... 83 5.1   Definition und Funktion von Formularen.................................................................................. 83

5.2   Geschichte der Formulare.......................................................................................................................... 86 5.3   Typen von Formularen................................................................................................................................. 90 5.4   Verständlichkeit und Verarbeitung von Informationen..................................................92 5.4.1   Verständlichkeit von Informationen. ...............................................................................................92 5.4.2   Verarbeitung von Informationen.........................................................................................................94 5.4.3   Schlussfolgerungen........................................................................................................................................... 97 5.5   Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde. .............................................................98 5.6   Bürgernähe.......................................................................................................................................................... 104 5.7   Image und Formular.................................................................................................................................... 107 5.8   Ordnungsbeziehungen in einem Formular.............................................................................. 111 5.9   Elemente der Makroebene. .................................................................................................................... 113 5.9.1   Grafische Variablen und Gestaltgesetze.................................................................................... 116 5.9.2   Typografie und Schrift............................................................................................................................... 118 5.9.3   Zahlen...................................................................................................................................................................... 120 5.9.4   Raster, Spalten und Tektonik.............................................................................................................. 121 5.9.5   Linien, Tabellen und Farbe................................................................................................................... 123

5.9.6   Papier, Druck, Weiterverarbeitung, Maschinenlesbarkeit....................................... 125 5.10   Elemente der Mikroebene...................................................................................................................... 128 5.10.1   Sprache und Text............................................................................................................................................ 130 5.10.2   Markierung der auszufüllenden Stellen..................................................................................... 135 5.11   Einschätzung Hartz IV Hauptantrag........................................................................................... 137 5.11.1   Grafisch-visuelle Einschätzung..........................................................................................................138 5.11.2   Semantisch-syntaktische Einschätzung..................................................................................... 142 5.11.3   Pragmatische Einschätzung..................................................................................................................146 5.11.4   Fazit............................................................................................................................................................................ 150 5.12   Auswertung Fragebögen...........................................................................................................................152 5.13   Die Rolle des Formulargestalters.....................................................................................................160 5.14   Zusammenfassung und möglicher Lösungsansatz..........................................................162 6.0   Literaturliste (alphabetisch nach Autoren sortiert). ............................................................... I 6.1   Elektronische Medien (nach letztem Zugriff geordnet). ................................................VI

2.0  Agenda 2010 und Hartz IV

2.0  Agenda 2010 und Hartz IV

2.1  Globalisierung und Neoliberalismus „Geld, Technologien, Waren, Informationen, Gifte ‚überschreiten‘ die Grenzen, als gäbe es diese nicht. Sogar Dinge, Personen und Ideen, die Regierungen gerne außer Landes halten würden (Drogen, illegale Einwanderer, Kritik an Menschenrechtsverletzungen), finden ihren Weg. So verstanden meint Globalisierung: das Töten der Entfernung; das Hineingeworfensein in oft ungewollte, unbegriffene transnationale Lebensformen;“ 153

Sowohl Befürworter als Kritiker, natürlich die Macher, aber auch die direkt Betroffenen der Agenda 2010 und von Hartz IV führen in ihren Äußerungen immer wieder Globalisierung und Neoliberalismus an. Die Schlagworte betreffen sowohl Ursache, Wirkung und Begründung für den Wandel der Gesellschaft. Deshalb scheint es mir wichtig, einen kurzen Abriss über die Begriffe und deren Bedeutung zu geben. Hierbei handelt es um Arbeitsdefinitionen, die nicht die ganze Dimension, die vielen Widersprüche bzw. Facetten enthalten können. Hier wird nur eine im Rahmen der Arbeit nötige Begriffserklärung unternommen. Unter der Globalisierung kann man den Prozess der zunehmenden weltweiten Vertiefung und Verflechtung aller gesellschaftlichen Bereiche verstehen. Für alle deutlich erlebbar findet diese Verflechtung in der Wirtschaft (Real- und Finanzwirtschaft, Handel), aber auch in Politik, Kultur, Medien, Sicherheit, Recht, Umwelt etc. statt. Globalisierung geschieht auf den verschiedensten Ebenen. So auf der Ebene der Individuen, der gesellschaftlichen Gruppen, der Gesellschaften, der Institutionen und der Staaten. Globalisierung erfuhr eine zunehmende Vertiefung, Erweiterung und Dynamik durch den technischen Fortschritt – beispielsweise durch die Digitalisierung – sowie durch die Liberalisierung des Welthandels. Das lässt sich an Indikatoren wie beispielsweise dem Anwachsen des Welthandels, dem Ansteigen der ausländischen Direktinvestitionen, der Zunahme globaler Unternehmenskooperationen, an der steigenden Anzahl der Global Player (Transnationale Konzerne/TNK), an der Globalisierung der Finanzmärkte und an der ungleichen Verteilung der globalen Ressourcen feststellen. Den wirtschaftspolitischen Begriff der Globalisierung prägte der ehemalige Professor an der Harvard Business School, Theodore Levitt. Bereits 1983 veröffentlichte er einen Artikel in der Harvard Business Review mit dem Titel „The Globalization of Markets“.154 Innerhalb des deutschsprachigen Raumes verbreitete sich der Terminus nach 1990 in der öffentlichen Debatte. Unterschiedliche Auffassungen darüber gibt es, ob die Globalisierung nicht schon immer stattfand oder erst ab dem Mittelalter oder erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Allgemein anerkannt ist jedoch, dass die Globalisierung einen ersten großen Höhepunkt mit der Industrialisierung – mit der Ausprägung des Kapitalismus – Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts hatte. Karl Marx kennzeichnete diesen Prozess bereits treffend, als er 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei feststellte, dass die Bourgeoisie

153 Beck 45 154 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Theodore_Levitt, letzter Zugriff: 28.10.2009

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2.1  Globalisierung und Neoliberalismus

durch die Ausbeutung des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder globalisiert habe.155 Und Friedrich Engels schrieb in einer 1847 verfassten Schrift: „Die große Industrie hat schon dadurch, daß sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, daß jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht.“ 156 Globalisierungs-Kritiker wenden sich weniger gegen die objektive Entwicklung an sich. Hauptaugenmerk ihrer Kritik gilt vielmehr der „neoliberalen“ Ausprägung der Globalisierung.157 Eine differenzierte Begriffsdefinition von Globalisierung legt Ulrich Beck vor. Zunächst unterscheidet er zwischen Globalisierung und Globalität. Globalität ist für Beck durch das Zerbrechen der Einheit von Nationalstaat und Nationalgesellschaft und die Herausbildung von neuartigen Macht- und Konkurrenzverhältnissen, Konflikten und Überschneidungen „zwischen nationalstaatlichen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits“ gekennzeichnet.158 Für Beck stellt die Globalisierung – mit all ihren unterschiedlichen Dimensionen – die Annahme, dass die Konturen der Gesellschaft deckungsgleich mit den Konturen des Nationalstaates gedacht werden können, in Frage. Globalisierung sorgt für eine neue Vielfalt von Verbindungen und Querverbindungen zwischen Staaten und Gesellschaften.159 Das bisherige Gefüge der Grundannahmen, dass Gesellschaften und Staaten als „territoriale, gegeneinander abgrenzte Einheit vorgestellt, organisiert und gelebt wurden“, bricht somit zusammen.160 Beck beschreibt Globalisierung als erfahrbares „Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft, und damit im Grunde genommen etwas zugleich Vertrautes und Unbegriffenes, schwer Begreifbares, das aber mit erfahrbarer Gewalt den Alltag elementar verändert und alle zu Anpassungen und Antworten zwingt.“ 161 Unterscheidungen der Globalisierung sind für den Autor unbedingt nötig, denn Globalisierung ist für ihn „das am meisten gebrauchte – mißbrauchte – und am seltensten definierte, wahrscheinlich mißverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre.“ 162 Beck erhebt dabei aber weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch Trennschärfe.163 Wenn man nur die im Zentrum der öffentlichen Debatte stehende wirtschaftliche Globalisierung betrachtet, so „lichtet sich der Nebel nicht“.164 Für Beck muss die Globalisierung in verschiedene Dimensionen unterschieden werden „die kommunikationstechnische, die ökologische, die ökonomische, die arbeitsorganisatorische, die kulturelle, die zivilgesellschaftliche Dimension usw.“ 165 Die informatorische, kommunikationstechnische Globalisierung sorgt dafür, dass „nationalstaatliche Informations-Souveränität als Teil der politischen Souveränität (…)

155 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistisches_Manifest, letzter Zugriff: 28.10.2009 156 http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009 157 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009 158 Beck 47 159 vgl. Beck 46 160 Beck 47 161 Beck 44 162 Beck 42 163 vgl. Beck 42 164 Beck 42 165 Beck 42

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2.1  Globalisierung und Neoliberalismus

außer Kraft gesetzt“ wird.166 Moderne Medien stellen „virtuell“ eine Gleichzeitigkeit von Ereignissen verschiedener Weltgegenden und Bedeutungen her und verorten diese auf einer Zeitachse und nicht mehr auf vielen verschiedenen. „Der ‚zeitkompakte Globus‘“ entsteht.167 Die ökologische Globalisierung verweist darauf, dass „das Tun und Lassen aller gesellschaftlichen Akteure überall in der Welt in fast allen gesellschaftlichen Themenfeldern (…) gemessen und kritisiert werden kann.“ 168 Handeln und Tun haben Auswirkungen, die sich überall auf der Welt nachweisen lassen bzw. ihre Wirkung – ob nun positiv oder im überwiegenden Fall negativ – entfalten. Die Dimension der ökonomischen Globalisierung kann u.a. durch ihre neuen virtuellen Ökonomien transnationaler Geldströme definiert werden.169 Die verschwundene Notwendigkeit, an einem bestimmten Ort zusammenzuarbeiten, um Güter und Dienstleistungen herzustellen, verweist auf die Dimension der Globalisierung von Arbeitskooperation bzw. Produktion.170 Trotz des Exports von Arbeitsplätzen können die Beschäftigten „transnational oder sogar transkontinental ‚kooperieren‘ oder in ‚direktem‘ Kontakt mit dem Empfänger und Konsumenten bestimmte Dienstleistungen erbringen.“ 171 Die Dimension der kulturellen Globalisierung zeigt für Beck, dass „Globalisierung keine Einbahnstraße sein muß, sondern im Gegenteil (u.a., d.V.) regionalen Musik-Kulturen weltweite Bühnen und Bedeutungen verschaffen kann.“ 172 Beck sieht die Weltgesellschaft, die sich im „Gefolge von Globalisierung“ in vielen Dimensionen – also nicht nur in der ökonomischen Dimension – herausgebildet hat, als eine, die den Nationalstaat unterläuft bzw. relativiert, weil sich „eine multiple, nicht ortsgebundene Vielheit von sozialen Kreisen, Kommunikationsnetzwerken, Marktbeziehungen, Lebensweisen (…) quervernetzt“ haben.173 Die Diskussion darüber, ob die deutsche Wirtschaft durch die Möglichkeit einer billigeren Produktion an anderen Standorten unter Druck gerät, sieht Beck als überschätzt. „Daß Globalisierung im Sinne von Arbeitsplatz-Abbau in Deutschland und Arbeitsplatz-Export in Länder mit niedrigen Arbeitskosten in einem nennenswerten Ausmaß bereits stattgefunden hat, wird von den Tatsachen relativiert.“ 174 Für Beck stechen die politischen Folgen, die durch die Inszenierung des ökonomischen Globalisierungsrisikos in Gang gesetzt werden, hervor. Vorher der politischen Gestaltung verschlossene industriegesellschaftliche Institutionen können „geknackt“ und dem politischen Zugriff geöffnet werden.175 So sieht Beck die Entwicklung, dass „die Prämissen des Sozialstaates und des Rentensystems, der Sozialhilfe und der Kommunalpolitik, der Infrastrukturpolitik, die organisierte Macht der Gewerkschaften, das überbetriebliche Verhandlungssystem der Tarifautonomie ebenso wie die Staatsausgaben, das System der Steuern und die ‚Steuergerechtigkeit‘ – alles schmilzt unter der neuen Wüstensonne der Globalisierung in die politische Gestaltbarkeit(szumutung) hinein.“ 176

166 Beck 39 167 Beck 46 168 Beck 40 169 vgl. Beck 40 170 vgl. Beck 41 171 Beck 41 172 Beck 42 173 Beck 18 174 Beck 43 175 vgl. Beck 13 176 Beck 13 f

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2.1  Globalisierung und Neoliberalismus

Die Inszenierung der Globalisierung erlaubt es den Unternehmen, „die politisch und sozialstaatlich gezähmte Handlungsmacht des demokratisch organisierten Kapitalismus aufzuschnüren und zurückzuerobern.“ 177 Unternehmen – insbesondere die global agierenden – bekommen durch die Globalisierung nicht nur eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der Wirtschaft, sondern auch bei der Gestaltung der Gesellschaft insgesamt. Diese Rolle – die es im Kapitalismus latent immer gab, aber sozialstaatlich-demokratisch gebändigt werden konnte – bekommt größere Wirkung allein dadurch, dass „sie der Gesellschaft die materiellen Ressourcen (Kapital, Steuern, Arbeitsplätze) entziehen können.“ 178 Für den Soziologen Beck untergräbt die global agierende Wirtschaft die Grundlagen der Nationalökonomie und der Nationalstaaten – ihr geht es darum, sich vom Staat und aus den Klammern von Arbeit und Staat zu befreien.179 Die Inszenierung von Globalisierung als Drohfaktor zielt nicht nur darauf, die gewerkschaftlichen und die nationalstaatlichen „Fesseln“ abzustreifen. Darüber hinaus betreibt sie eine Entmächtigung nationalstaatlicher Politik.180 Durch Arbeitsplatzexport, weltweit verteilte arbeitsteilige Prozesse, die Möglichkeit, Nationalstaaten oder einzelne Produktionsorte gegeneinander um die billigsten Steuer- und günstigsten Infrastrukturleistungen ausspielen zu können und die fehlende Verbindlichkeit von Investitions-, Produktions-, Steuer-, und Wohnort ermöglicht den Unternehmen zusätzliche Handlungs- und Machtchancen zu erhalten, die jenseits des politischen Systems liegen. Beck formuliert dafür den Begriff „Subpolitik“ 181 Beck hält es für einen Treppenwitz der Geschichte, dass „ausgerechnet die Globalisierungsverlierer in Zukunft alles, Sozialstaat wie funktionierende Demokratie, bezahlen sollen, während die Globalisierungsgewinner Traumgewinne erzielen und sich aus ihrer Verantwortung für die Demokratie der Zukunft stehlen.“ 182 Deshalb müsse für Beck die übergreifende Frage nach sozialer Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung nicht nur theoretisch, sondern auch politisch neu verhandelt werden.183 Eng verbunden mit der Globalisierung ist der Neoliberalismus. Neoliberalismus steht für die absolute Freiheit des Marktes. Der Begriff Neoliberalismus setzt sich aus dem altgriechischen neos (neu) und Liberalismus zusammen. Wie der klassische Liberalismus wendet sich auch der Neoliberalismus gegen das aktive Eingreifen des Staates in die Wirtschaftsprozesse. Der Staat soll lediglich einen Rahmen stellen, der den Wettbewerb fördert. Betont wird der Zusammenhang von politischer, wirtschaftlicher Freiheit.184 Das Wirtschaftslexikon (Gabler) erweitert den Begriff Neoliberalismus noch. Der klassische Liberalismus würde zwar aufgegriffen, jedoch nach den Erfahrungen des LaissezFaire-Liberalismus, der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften und dem konzeptionslosen Interventionismus – dem konzeptionslosen Eingreifen des Staates in den Wirtschaftsablauf – korrigiert.185 Auch im Neoliberalismus wird die Ordnungsunabhängigkeit

177 Beck 14 178 Beck 14 179 vgl. Beck 14 f 180 vgl. Beck 16 181 vgl. Beck 16 f 182 Beck 21 183 vgl. Beck 21 184 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus, letzter Zugriff: 28.10.2009 185 Laissez-Faire-Liberalismus (Manchester-Liberalismus) wird eine Denkrichtung bezeichnet, durch die die im 19. Jh. praktizierte Wirtschaftspolitik geprägt war. Charakteristisch war eine ausgesprochen starke Zurückhaltung des Staates und der Verzicht auf die Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses entsprechend einer staatlichen Ordnungskonzeption. Als Folge war damit zugleich soziale Not der Arbeiter verbunden. (vgl. http:// wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/1886/laissez-faire-liberalismus-v6.html, letzter Zugriff: 28.10.2009)

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2.1  Globalisierung und Neoliberalismus

des Wirtschaftens und die Bedeutung privatwirtschaftlicher Initiative betont. Daher solle der Staat den freien Wettbewerb aktiv vor dem Entstehen privatwirtschaftlicher Marktmacht (Monopole, Kartelle usw., d.V.) wie auch vor staatlich verursachter Marktvermachtung (etwa durch Staatskonzerne, d.V.) schützen.186 Der Neoliberalismus in der Gegenwart zielt m.E. nach nur in eine Richtung: Privatisierung von vormaligen staatlichen Kernbereichen – wie beispielsweise medizinische Versorgung, Energie, Wasser, Transport u.a. – dazu die Deregulierung der Märkte (beispielsweise der Finanzmärkte), verbunden mit einem rigorosen Sozialabbau. Einzig die privatwirtschaftliche Marktmacht der größten Unternehmen wird nicht berührt. Ganz im Sinne des Neoliberalismus entwickelte die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und Fischer eine Reform – die Agenda 2010 –, die dies alles ermöglichte. Diese Reform sollte – so wurde sie öffentlich begründet – Deutschland fit machen für die Anforderungen der Globalisierung und für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts.

186 vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/10396/ neoliberalismus-v4.html, letzter Zugriff: 28.10.2009

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2.2  Die Agenda 2010

2.2  Die Agenda 2010 „Entweder wir modernisieren unser Land, und zwar als eine soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, für die Freiheit immer nur die Freiheit von wenigen ist und die das Soziale beiseite drängen würden.“ 187

„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen. (…) Niemand wird sich entziehen dürfen.“ 188 Mit diesen Worten stellte im Frühjahr 2003 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die unter dem Namen „Agenda 2010“ bekannt gewordenen „Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, des Arbeitsmarktes und der Finanzen“ vor. Die Vorarbeiten für die Agenda 2010 waren bereits im Schröder-Blair-Papier aus dem Jahre 1999 geleistet worden.189 Erklärte Ziele bis zum Jahr 2010 waren die Kürzung von Leistungen des Staates, die Förderung der Eigenverantwortung und die Eigenleistung des einzelnen – formuliert in insgesamt 30 Vorhaben. Außerdem sollte die Arbeitslosigkeit drastisch abgebaut und das Wachstum der Wirtschaft beschleunigt werden.190 Hinter der Bezeichnung „Agenda 2010“ stand ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Nicht nur die Sozialsysteme sollten saniert werden. Auch die Lohnnebenkosten sollten drastisch gesenkt sowie der Arbeitsmarkt flexibler gestaltet und die öffentlichen Finanzen gefestigt werden.191 Für die beiden Autoren des Artikels „Die Agenda 2010: Eine wirtschaftspolitische Bilanz“, Benjamin Scharnagel und Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, waren diese Reformen unbedingt nötig. Sie geben als Gründe an: Zu hohe Steuern und Abgaben, lähmende Bürokratie, zu hohe Arbeitskosten und zu viele Arbeitslose, teure soziale Sicherungssysteme und neue Herausforderungen durch die Globalisierung. Deshalb müssten die Strukturreformen den Standort Deutschland davon befreien.192 Die „Agenda 2010“ – die Reform des Sozial- und Wirtschaftssystems – wurde zwischen 2003 und 2005 von der Bundesregierung – bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die

187 Gerhard Schröder, ehem. Bundeskanzler, http://www.b-republik.de/archiv/inder-tradition-von-freiheit-und-gerechtigkeit, letzter Zugriff: 28.10.2010 188 http://www.martin-doermann.de/hp_alt/pdf%20Dokumente/ regierungserklaerung.pdf letzter Zugriff: 02.01.2010 189 Das Schröder-Blair-Papier ist ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair – unter dem Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ – den sie in London am 8. Juni 1999 veröffentlichten. Darin legten sie einen Entwurf für ein Modernisierungskonzept für die europäische Sozialdemokratie vor. In ihm wurden unter dem Schlagwort „Neue Mitte“, vor dem Hintergrund des Thatcherismus und der „Ära Kohl“ und unter Bezugnahme auf die Strukturationstheorie von Anthony Giddens, neue sozialdemokratische Positionen und Leitbilder eines „dritten Weges“ – zwischen dem neoliberalen beziehungsweise wirtschaftsliberalen Kapitalismus und der klassischen Sozialdemokratie – formuliert. Mit diesen Vorschlägen wollte man die grundlegende Modernisierung der sozialdemokratischen Programmatik erreichen. Dies sollte durch eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung, eine Reform der Sozialsysteme und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte geschafft werden. Nach Auffassung der Verfasser muss eine pragmatische statt einer ideologischen Wirtschaftspolitik betrieben werden. Betont wurde hierbei der durch die Globalisierung entstehende Konkurrenzdruck zwischen Volkswirtschaften. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schröder-Blair-Papier, letzter Zugriff: 02.01.2010) 190 vgl. http://www.cecu.de/709+M5f983d34a12.html, letzter Zugriff: 02.01.2010 191 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.24, letzter Zugriff: 02.01.2010 192 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.23, letzter Zugriff: 02.01.2010

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2.2  Die Agenda 2010

Grünen – weit gehend umgesetzt und von den nachfolgenden Koalitionen fortgeführt. Als konkrete Grundlage für die Reformen diente u.a. der „Wirtschaftspolitischer Forderungskatalog für die ersten 100 Tage der Regierung“ (gemeint war die von G. Schröder). Dieser wurde von der Bertelsmann-Stiftung 2002 in der Zeitschrift „Capital“ veröffentlicht. In dem „Wirtschaftspolitischen Forderungskatalog“ wurde unter anderem angemahnt, bei der Sozialversicherung sei es nötig, binnen 10 Jahren die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und die Sozialhilfe weiter einzuschränken. Die Kürzungen in der Sozialhilfe würden automatisch den damit verbundenen Mindestlohn mindern. Wenn der Mindestlohn sinken würde, so würde dies auch der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen und die Sanierung der Staatsfinanzen fördern. Eine Senkung der übrigen Löhne um 15 Prozent und die Reduzierung des Kündigungsschutzes erlaube es Unternehmen, mehr Arbeiter und Angestellte einzustellen und damit die Arbeitslosigkeit zu verringern. Die Lohnnebenkosten (im wesentlichen also die Sozialkosten, d.V.) sollten mittelfristig vom Unternehmer ganz auf den Arbeitnehmer übertragen werden. Die Bertelsmann-Stiftung behauptet, dass Deutschland ab dem Jahre 2010 nicht mehr in der Lage sein werde, für die Kosten für Renten, Krankenkosten oder Arbeitslosigkeit in dem bis dahin gewährten Maße aufzukommen.193 Viele dieser Forderungen fanden Eingang in die Agenda 2010 und schlugen sich auch in Hartz IV nieder. (Allgemein bekannt ist auch, dass sich Gerhard Schröder sowie Angela Merkel des Öfteren von der Stiftung beraten ließen.) Die Agenda umfasst im wesentlichen sieben Bereiche. Im Bereich Wirtschaft geht es u.a. um den Kündigungsschutz und die Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten, aber auch um die Förderung des Mittelstandes. Im Bereich Krankenversicherung steht die Gesundheitsreform. Dabei sollen u.a. der Zahnersatz und das Krankengeld nicht mehr wie bisher paritätisch, sondern allein durch die Beiträge des Versicherten bestritten werden. Die Selbstbeteiligung der Patienten für Medikamente und Heilmittel sowie für den stationären Aufenthalt im Krankenhaus wurde erhöht. Die vierteljährlich zu entrichtende Praxisgebühr wurde ebenfalls eingeführt. Viele der bisher gewährten Leistungen wurden gestrichen.194 Die Möglichkeit der Frühverrentung wurde weiter eingeschränkt.195 Der Eintritt ins Rentenalter wurde später auf 67 Jahre erhöht. Die gesetzliche Rentenversicherung wurde reduziert und u.a. durch die Riester-Rente – die einen hohen privaten Anteil beinhaltet – ergänzt. Die gravierendsten Änderungen fanden aber im Bereich Arbeitsmarkt statt. Als Kern der Reformen durch die Agenda 2010 werden die Hartz Gesetze – im besonderen SGB II (ALG II, Hartz IV) – angesehen. Auf die Inhalte dieser Gesetze wird im nächsten Kapitel noch näher eingegangen. Große Teile des Konzeptes wurden von der CDU/CSU aktiv mitgestaltet. In der Regierungserklärung vom 30. November 2005 äußerte sich die Amtsnachfolgerin von Gerhard Schröder, Angela Merkel: „Ich möchte Kanzler Schröder ganz persönlich danken, dass er mit der Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, unsere Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen.“ 196 Einen weiteren Grund für die Einführung der Agenda 2010 sehen verschiedene Autoren im Untergang des „realen Sozialismus“. Der Politikwissenschaftler Michael Klundt betont, dass die Umsetzung solcher Vorhaben vorher durch die Konkurrenz des Kapitalismus mit dem Sozialismus während des Kalten Krieges erschwert wurde. Klundt sieht auch die Entwicklung, dass die im Westen erkämpften reformistischen Sozialstaatskompromisse

193 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann-Stiftung, letzter Zugriff: 02.01.2010 194 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_ 2010, letzter Zugriff: 02.01.2010 195 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.28, letzter Zugriff: 02.01.2010 196 http://webarchiv.bundestag.de/archive/2005/1205/aktuell/ reg_erkl/index.html#, letzter Zugriff: 02.01.2010

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2.2  Die Agenda 2010

der Jahre 1950-1975 seit den achtziger Jahren mehr und mehr von den Unternehmen einseitig aufgekündigt werden.197 Die Soziologen Christoph Butterwegge und Carolin Reißlandt schreiben in ihrer Studie „Sozialstaat am Scheideweg“, dass der Sieg über den Staatssozialismus es ermöglicht habe, dass „das Soziale leichter als ein die (Arbeits-)Produktivität, Wirtschaftskraft und Exportfähigkeit schwächender Faktor abqualifiziert werden“ konnte.198 Nach dem Wegfall der so genannten Systemalternative konnte die bis dahin dominante sozialstaatliche Entwicklungsvariante des Kapitalismus – die die Härten und Schwächen des Kapitalismus für die Menschen erträglicher gemacht haben – auf den Prüfstand gestellt werden.199 Auch die Politikwissenschaftlerin Gabrielle Gillen sieht in ihrem Buch „Hartz IV – Eine Abrechnung“ im Zusammenbruch des so genannten Ostblocks einen wichtigen Aspekt für die Abschaffung der kollektiven Sicherungssysteme. Der „reale Sozialismus“ hätte das Kapital zu Zugeständnissen gezwungen – er habe quasi als zusätzlicher Sozialpartner immer mit am Verhandlungstisch gesessen. Die im Kalten Krieg durchgesetzten Standards der Sozial- und Arbeitslosenversicherung hätten quasi wie ein Mindestlohn gewirkt. Seit den neunziger Jahren hätten dann aber die Unternehmen mit Hilfe der Politik Schritt für Schritt ihre Deregulierung und Flexibilisierungsreformen durchsetzen können. 200 Das dies auch ein wichtiges Vorhaben der Europäischen Union gewesen sei, darauf macht die Autorin und Aktivistin gegen Erwerbslosigkeit, Angela Klein, aufmerksam. Die Europäische Union wolle mit der „Strategie von Lissabon“ – die auf dem EU-Gipfel im Jahr 2000 beschlossen wurde – bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden. 201 Der Rivale – mit dem man sich vor allem messe – seien die USA. Deshalb würde auch die Sozialpolitik der Prämisse untergeordnet, den ökonomischen „Krieg“ um Märkte und Technologievorsprünge gewinnen zu wollen. Deshalb würden die sozialen Sicherungssysteme neu gestaltet und an die neoliberalen wirtschaftlichen Vorgaben angepasst. 202 Diesen gesamteuropäischen Weg gehe Skandinavien jedoch am vorsichtigsten. Dort wurden lediglich flexiblere Arbeitszeiten eingeführt und für die Absicherung von Zusatzleistungen private Zusatzversicherungen verlangt. 203 Deutschland – vertreten u.a. durch politische Führer wie Gerhard Schröder – sieht sich hingegen als ein Vorreiter an. Der Soziologe Klundt beruft sich in seinen Ausführungen auf den Sozialethiker Wilfried Hengsbach. Hengsbach sieht einen Grund für die Einführung der Agenda 2010 durch Gerhard Schröder in einem Charakterzug des Kanzlers verankert, der sich später gern als „Genosse der Bosse“ feiern ließ. Schröder trete deshalb so stark nach unten, weil er den wirtschaftlichen Eliten gefallen wolle. Der SPD-Kanzler verschärfe sogar noch den Sozialabbau der vorhergehenden Regierung unter Helmut Kohl. Was in der Agenda 2010 stehe, so äußert sich der Politikwissenschaftler Michael Klundt, hätte man schon beim Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher nachlesen können. 204 Die Politökonomin Anne Allex sieht in der Agenda 2010 eine neoliberale Strategie, die durch vier Prozesse gekennzeichnet sei. So solle als erstes das gesamte Arbeits- und So-

197 Klundt 51 198 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_ sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010 199 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/ broschuere_sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010 200 vgl. Gillen 27 201 http://www.eu2007.de/de/Policy_ Areas/European_Council/Lissabon.html, letzter Zugriff: 02.01.2010 202 vgl. Klein 175 203 vgl. Klein 181 204 vgl. Klundt 49

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2.2  Die Agenda 2010

zialrecht dereguliert werden. Als zweites würden die sozialen Sicherungssysteme mit den bisher garantierten individuellen Rechten – beispielsweise bei Arbeitslosigkeit, d.V. – abgeschafft. Bisherige, für die Existenz erforderliche Leistungen und Einkommen (beispielsweise gesetzliche Renten, d.V.), werden nicht mehr im dem Maße gewährt. Darüber hinaus würden als Drittes die öffentliche Infrastruktur – z.B. Gas, Wasser, Energie, Krankenhäuser, Bildung, Kita usw. – privatisiert und die Gebühren – für diese Dienstleistung für die Bevölkerung – verteuert. Und als Viertes ziehe sich der so genannte schlanke Staat aus sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und ökologischer Verantwortung zurück. 205 Die Autorin setzt sich mit der durch die Agenda 2010 eingeführten „Sachzwangideologie“ auseinander. Schon im Jahr 2004 schrieb sie über diese Zusammenhänge – sie sind aber noch bis heute gültig. So sei die damalige Bundesregierung unter Schröder und Fischer in der Sozialpolitik auf die neoliberale Grundlinie zur Bewältigung der ökonomischen Globalisierungsprozesse eingeschwenkt, so Allex. Das bedeutete, dass die Steuern gesenkt, die Staatsausgaben – vor allem aber die Sozialausgaben – gemindert, die öffentlichen Güter und Risiken privatisiert – also kommerzialisiert – und der Arbeitmarkt dereguliert wurde. Daraus entstehe dann die so genannte angebotsorientierte Arbeits-, Lohn- und Sozialpolitik. Auf der anderen Seite würden die staatliche Vor- und Fürsorge verringert und dafür Eigenverantwortung und Eigenleistung drastisch erhöht. Die Autorin setzt sich auch mit Gerhard Schröder auseinander, der seine Politik – so wie die Wirtschaft auch – damit begründete, dass der internationale Wettbewerb härter wird. Schröder argumentierte damals – so wie auch viele Ökonomen und Politiker heute immer noch, d.V. –, dass ein gescheitertes Mithalten mit den Entwicklungen zu wenig oder gar keinem Wachstum und damit zu hoher Arbeitslosigkeit führen würde. Dann würde auch der Staat weniger Steuern einnehmen, und das soziale System drohe aus den Fugen zu geraten, weil es nicht mehr finanzierbar sei. Darüber hinaus würde die Arbeit durch die viel zu hohen Lohnnebenkosten – mit denen die sozialen Systeme mitfinanziert werden – viel zu teuer sein. Deshalb müsse sich die Sozialpolitik nach dem Möglichen, dem Durchführbaren und dem Tragbaren richten. Allex bezeichnet diese Sachzwangargumente als pure Demagogie, um – wie schon von der Bertelsmann-Stiftung gefordert – den Weg in eine Arbeitswelt ohne Sozialversicherung zu ebnen. Das könnte, so Allex, auch die Begründung dafür sein, dass die Unternehmen von riesigen Steuerentlastungen profitieren können. Die Politik unterstütze das Ziel deutscher Konzerne, mit allen Mitteln an die ökonomische Weltspitze zu gelangen. 206 Dass dieser Weg im Interesse der Wirtschaft liegt, zeigt beispielsweise die Gratulation des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Ludwig Georg Braun zum fünften Jahrestag der Agenda 2010. Er schrieb in einer Laudatio: „Liebe Agenda 2010, zu Deinem 5. Geburtstag wünsche ich Dir, (…) dass sich die Erfolge am Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren bis 2010 fortsetzen und wir bei der Arbeitslosigkeit endlich wieder auf deutlich unter drei Millionen im Jahresdurchschnitt kommen.“ 207 208 Weiter schrieb Braun „dass Du so bleibst, wie Du bist, und Deine Gegner mit ihren offenen und versteckten Attacken auf die Reformfreude künftig kläglich scheitern. Die Verlängerung

205 vgl. Allex 10 206 vgl. Allex 29 ff 207 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/ meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010 208 Erstens wurde das von Ludwig Georg Braun erklärte Ziel bis dato noch immer nicht erreicht. Und zweitens hat sich zwar durch Hartz IV die Arbeitslosigkeit verringert, allerdings um den Preis, dass hunderttausende Betroffene schlechter bezahlte Jobs annehmen mussten.

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2.2  Die Agenda 2010

des Arbeitslosengeldes I bleibt hoffentlich die einzige Wunde, die Du erleiden musst.“ 209 210 Und, so hofft Braun, „dass zukunftsgewandte Politiker vor Erreichen der Altergrenze im Jahr 2010 Dich zur Agenda 2015 weiter entwickeln, die sich – versehen mit neuer Kraft – weitere Reformen zur Verbesserung des Wirtschaftsstandortes Deutschland auf die Fahne schreibt.“ 211 Braun wünschte sich also schon ein Jahr vor der erneuten Wiederwahl von Angela Merkel als Bundeskanzlerin der schwarz-gelben Koalition aus CDU/CSU und FDP, dass durch weitere Reformen die Intentionen der Wirtschaft erfüllt werden. Was er nicht voraussehen konnte, war, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise der schwarz-gelben Bundesregierung nur kleine Schritte zur Verschärfung der Reformen gestatten würde. Die Agenda an sich wird dennoch fortgesetzt, denn die Arbeit soll insgesamt billiger werden, um im weltweiten Wettbewerb mithalten zu können. Die Ausrichtung der Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft wird weiter vorangetrieben, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die alte und neue Bundeskanzlerin kündigte das in ihrer Regierungserklärung 2009 an: „Weltweit werden die Karten neu gemischt. Da gibt es eben keine angestammten Marktanteile und Positionen. Wer wird sich den Zugriff auf Rohstoffe und Energiequellen sichern? Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an? Welches Land wird zum Anziehungspunkt für die klügsten und kreativsten Köpfe? (…) Ich will, dass wir Deutschland zu neuer Stärke führen.“ 212 Und deshalb „muss Schluss sein mit den reflexartigen Reaktionen, etwa wenn über die Entkopplung von Arbeitskosten und Kosten der sozialen Sicherheit gesprochen wird. Es muss Schluss sein mit den reflexartigen Reaktionen, etwa wenn vom Aufbau einer Kapitaldeckung bei der Pflege die Rede ist.“ 213 Es steht jetzt schon fest, dass die neue Bundesregierung am Kern der Reformen der Agenda 2010 und den HartzGesetzen nichts ändern wird. Es werden neue Lasten für große Teile der Bevölkerung hinzukommen. Die Gesellschaft wird nach den Forderungen der Wirtschaft weiter verändert. Die Hartz-Gesetze – insbesondere Hartz-IV – sollen im nächsten Kapitel näher erläutert werden.

209 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/ meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010 210 Braun moniert scheinbar die Regelung, dass ältere Arbeitslose ab 55 Jahre das ALG I länger als 12 Monate erhalten. 211 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/ meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010 212 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf, letzter Zugriff: 02.01.2010 213 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf, letzter Zugriff: 02.01.2010

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2.7  Zusammenfassung

2.7  Zusammenfassung

Die Agenda 2010 mit ihrem Kernstück Hartz-Gesetze läuft darauf hinaus, die Gesellschaft von oben umzubauen und nach den Interessen der Wirtschaft auszurichten. Ich teile die Meinung verschiedener Autoren, dass der Einzelne Gefahr gerät, zum so genannten Homo oeconomicus „erzogen“ zu werden. Die Globalisierung ist daher mehr ein Scheinargument. In Wirklichkeit setzen die Unternehmen nur das Grundgesetz des Kapitalismus durch: aus Geld mehr Geld zu machen, Gewinne zu maximieren. So begrüßen die einen die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze als einen Durchbruch in der Reformblockade. Kritiker sehen darin den Anfang vom Ende des Sozialstaates. 2005 waren rund 5,4 Millionen Menschen arbeitslos. Von ihnen sollte die Hälfte durch Hartz IV wieder in Jobs gebracht werden. Das Ziel wurde weit verfehlt. Es entstanden jedoch Hunderttausende Billiglohn-Jobs. Da 2009 selbst nach Erkenntnissen der hauseigenen Forscher der Bundesagentur für Arbeit nur rund eine halbe Million Hartz-IV-Empfänger den Ausstieg schafften, darf man sich der Meinung anschließen, dass die Reform – zumindest bis dato – uneffektiv bzw. teilweise gescheitert ist. Weiterhin sind Millionen Menschen bzw. ganze Familien auf die staatliche Unterstützung durch ALG II angewiesen. Die Linke, der DGB und der Paritätische Wohlfahrtsverband sehen Hartz IV als gescheitert an. Statt das gesellschaftliche Problem Arbeitslosigkeit und seine negativen Folgen zu lösen, hat es sich verfestigt. Scheinbar ist es objektiv nicht möglich, das Problem auf diese Weise zu lösen. Aber die Wirtschaft hat auf jeden Fall profitiert. Die Polarisierung von Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite nimmt zu. Die Spaltung der Gesellschaft ebenso. Trotz der offensichtlichen Probleme bzw. der – im Sinne der Senkung der Arbeitslosigkeit – nicht funktionierenden Maßnahmen, ist davon auszugehen, dass nur Teile von Hartz IV verbessert werden, an der Grundkonstruktion aber nichts geändert wird. Die große Bewährungsprobe für die Reform steht allerdings noch bevor. Die Arbeitslosenzahlen werden sich in den Jahren 2010 und 2011 durch die durchschlagende Wirtschafts- und Finanzkrise drastisch erhöhen. Viele der ALG-I-Empfänger werden in den Bezug von ALG II abrutschen. Und dann könnte sich die These als zutreffend erweisen, dass die Arbeitslosen gar nicht wieder in Arbeit gebracht, sondern ihren Lebensunterhalt auf niedrigem Niveau selbst bestreiten sollen. Unabhängig davon wird es immer weniger Arbeit – gemeint ist die Lohnarbeit – geben. Diese Tendenz wird sich in den nächsten Jahren weiter verstärken.

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3.0  Agenda 2010 und Hartz IV: Folgen und Auswirkungen

3.0  Agenda 2010 und Hartz IV: Folgen und Auswirkungen

3.1  Vielschichtigkeit der Folgen und Auswirkungen „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ 319

Der von der Politik und der Wirtschaft betriebene Abbau des Sozialstaates ist die gravierendste Auswirkung der Agenda 2010 und von Hartz IV. In dieser theoretischen Arbeit erörtere ich diesen Aspekt und als konkrete Auswirkung soll die Zunahme der Kinderarmut behandelt werden. Darüber hinaus gibt es auch generelle Kritik an den Entwicklungen. Der Sozialverband Deutschland und die Volkssolidarität legten unter dem Namen „Sozialabbau stoppen. Sozialstaat stärken.“ ein Grundsatzpapier vor, das Vorschläge zum Erhalt und zur Stärkung des Sozialstaates enthält.320 Der Sozialstaat ist demnach kein Ballast, sondern unverzichtbar für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes und zugleich äußerst wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Angeregt wird die Schaffung eines neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses, der der Stärkung des Sozialstaates dienen soll. Der Sozialstaat sei bezahlbar und zukunftsfähig, wenn alle Bürger ihren Beitrag für die Sozialversicherungssysteme leisten. (Siehe auch Kapitel 4, in dem es um die Kosten für die Grundversorgung bzw. Grundsicherung geht.) Der SoVD und die Volkssolidarität fordern, dass sich Unternehmen sowie Verdiener von hohen Einkommen und Vermögen wieder stärker an der Finanzierung beteiligen sollten. Grundlage der Vorschläge in „Sozialabbau stoppen. Sozialstaat stärken“ ist eine Analyse der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und Carolin Reißlandt. Die Autoren sehen den Um- und Abbau des Sozialstaates zu einem Wettbewerbstaat, in dem das Soziale zunehmend den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird. Im bisherigen Sozialversicherungsstaat – vor der Agenda 2010 und Hartz-IV (d.V.) – führten die Beitragszahlungen automatisch zu gesetzlich verankerten Leistungsansprüchen. Der jetzige, und vielmehr noch der zukünftige, Fürsorgestaat beschränke sich jedoch nur noch auf eine Basisversorgung und die bloße Existenzsicherung. „Die zunehmende Privatisierung sozialer Risiken ist ein Irrweg“, stellt SoVD-Präsident Adolf Bauer fest.321 Diese neue gesellschaftspolitische Ausrichtung hat für beide Autoren eine historische Bedeutung. „Es geht längst nicht mehr um ein paar Euro oder Cent mehr für diese oder jene Betroffenengruppe, seien es Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen oder Rentner, sondern um die Schlüsselfrage, in was für einer Gesellschaft wir künftig leben wollen: Soll es ein Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat mit noch mehr Armut und sozialen Problemen oder eine solidarische Bürgergesellschaft sein, in der das bald 60 Jahre gültige Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes weiterhin beherzigt wird.“ 322

319 Bertolt Brecht, http://de.wikipedia.org/wiki/Strukturelle_Gewalt, letzter Zugriff: 28.01.2010 320 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/ broschuere_sozialabbau.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009 321 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html letzter Zugriff: 16.12.2009 322 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html, letzter Zugriff: 16.12.2009 51

3.2  Rechtsverlust und Zwang zur Arbeit

3.2  Rechtsverlust und Zwang zur Arbeit „Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird Hartz IV keinen Deut besser. Die Bundesregierung setzt auf verschärfte Kontrollen und Kürzungen, ohne die Arbeitsförderung zu verbessern. Damit wird das Prinzip Fördern und Fordern immer mehr zu einer Blaupause für Sozialabbau.“ 323

Der neue „Aktivierende Staat“ hat für die Arbeitslosen – die eigentlich Erwerbslose genannt werden müssten – weitreichende Konsequenzen. Die Erwerbslosen werden in ihren Rechten zunehmend beschnitten und von ihnen wird vorauseilender Gehorsam gefordert. Denn noch bevor der Staat den Bedürftigen die soziale Existenzgrundlage gewährt, verlangt er Zugeständnisse und Einverständniserklärungen. Der Soziologe Frank Rentschler stellt in seinem Essay „Vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Staat“ fest, dass selbst vorauseilender Gehorsam und die Unterwürfigkeit keine Garantie für die Gewährleistung ist. Ob und wie viel der Bedürftige erhält, liegt im Ermessensspielraum des „Fallmanagers“, der dem ‚Kunden‘ – wie der Bedürftige im offiziellen Sprachgebrauch der Behörde genannt wird – zugeteilt wird. Der Staat schafft sich damit eine Armee von Untertanen, über die er bedingungslos verfügen kann. 324 Die Androhung von Sanktionen ist das neue Mittel, um den Bedürftigen die Dienstleistungen der neu geschaffenen Arbeitsgemeinschaften (ARGE) aus Bundesagentur für Arbeit und Kommune aufzuzwingen. 325 326

323 Ursula Engelen-Kefer, ehem. stellvertretende DGB-Vorsitzende, 2006, http://www.dgb.de/ presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=2770, letzter Zugriff: 28.01.2010 324 vgl. Rentschler 94 325 vgl. Rentschler 112 326 Innerhalb des Aufgabenbereichs ist die Bundesagentur für die Bundesmittel, wie Gelder zur Vermittlung in Arbeit und Regelleistung, zuständig. Die Kommune ist für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II zuständig. In der Vergangenheit haben sich aus diesem Zusammenschluss zwei Arten der Aufgabenerledigung ergeben. Arbeiten die Kommunen und die Agenturen für Arbeit kooperativ miteinander zusammen – was überwiegend passiert -, wurden dafür meist so genannte Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) eingerichtet. Diese ARGEn richteten dann wiederum Jobcenter ein, um die übertragenen Aufgaben erfüllen zu können. Konnten sich die Agenturen für Arbeit und die Kommunen nicht auf die Bildung einer Gemeinschaft einigen, so arbeiten sie additiv und erbringen ihre Leistungen nebeneinander in einer „Getrennten Trägerschaft“. Kommune und Agentur für Arbeit sind organisatorisch voneinander getrennt. Im Dezember 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht(BVG)nach einer Verfassungsbeschwerde von elf Landkreisen, dass innerhalb einer Drei-Jahres-Frist die verfassungswidrige Bildung der Arbeitsgemeinschaften aus Agentur für Arbeit und Kommune neu gegliedert werden muss. Diese Frist läuft Ende 2010 ab. Nicht betroffen von dieser Aufforderung sind die „Getrennten Trägerschaften“ aus Kommune und Agenturen für Arbeit. Daneben gibt es 69 so genannte Optionskommunen – auch als Optionsmodell bezeichnet – als Versuch, die Arbeitslosen direkt vor Ort zu betreuen, das heißt, dort wieder in Arbeit zu bringen. Die Optionskommunen sind ein Feldversuch für die Betreuung von Arbeitslosen in Deutschland. Zur Zeit sind deutschlandweit 69 Kommunen – also ausschließlich Städte oder Landkreise – für die Bezieher des ALG II statt der Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen zuständig. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Optionsmodell, letzter Zugriff: 03.01.2010)

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3.3  ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust

3.3  ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust „Wenn uns Ungereimtheiten auffallen, gleichen wir die Daten mit anderen Ämtern ab. Im Extremfall behalten wir uns auch Hausbesuche vor. Wir haben den Ehrgeiz, den Missbrauch von Sozialleistungen so gering wie möglich zu halten – aber eine gewisse Quote wird es immer geben.“ 327

Die ALG-II-Empfänger werden so stark wie nie zuvor in ihrem sozialen Umfeld kontrolliert – für alle ALG-II-Empfänger besteht ein Zwang zur Arbeit. Im offiziellen Sprachgebrauch wird der Zwang zur Arbeit mit der Formel „Fördern und Fordern“ umschrieben und die Pflichtarbeit wird „Hilfe zur Arbeit“. Selbst hohe Bundesrichter sehen im „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV) einen vollständigen Bruch von Rechtsauffassungen, die dazu führen, dass sich der liberale Rechtsstaat grundsätzlich verändert. Der Soziologe Frank Rentschler beruft sich auf Professor Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Der hatte festgestellt, dass die formulierten Maßnahmen weit über das Sozialrecht hinaus gehen. Im Kern der Reformgesetze entledigt sich der Staat gegenüber den ALG-II-Empfängern von der Verpflichtung, ihnen ihre persönlichen Rechte verbindlich zu gewähren. Selbst die Möglichkeit die Rechte gegenüber dem Staat einzuklagen, wird den ALG-II-Empfängern genommen. Denn Festlegungen der Fallmanager seien Ermessensentscheidungen und somit nicht einklagbar.328 Alle „Kunden“ SGB II werden durch das „Aktivieren“ und das „Fördern und Fordern“ rechtlich degradiert. Eine Studie der Universität Bielefeld untersuchte 2008 die Einstellung von 107 Fallmanagern gegenüber deren Kunden.329 Ausführlich beschäftigte sich der Soziologe Olaf Behrend in seinem Essay „Aktivieren als Form sozialer Kontrolle“ mit der Einstellung der Fallmanager. Das Fazit: Durch das SGB II wird der Umgang der ARGEn mit ihren Kunden zu einer Form der sozialen Kontrolle. Wurden bisher schon Verstöße gegen gesetzliche Regelungen bestraft, so können mit den Reformen und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten jetzt auch die inneren Haltungen und Meinungen bestraft werden. Nicht die Hilfe, wieder Arbeit zu finden, sondern die Bildung der richtigen „Gesinnung“ für die Arbeit steht im Vordergrund. 330 Die Ausrichtung auf die Bildung der richtigen Gesinnung zeigt sich vor allem in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. In diesen Regionen ist die zentrale Aufgabe der Arbeitsvermittlung längst in den Hintergrund getreten. Dort, wo keine Arbeitsplätze vermittelt werden können, müssen die Erwerbslosen trotzdem ihren Willen zur Arbeit zeigen – ihnen wird die Kooperation abverlangt, unbedingt wieder in Arbeit kommen zu wollen. Die „Aktivierung“ – die Schaffung der Bereitschaft des Einzelnen zu jeglicher Arbeit – ist der Kern von „Fördern und Fordern“. Die objektive Situation auf dem Arbeitsmarkt spielt dabei längst keine Rolle mehr. Die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse von Arbeit und Beschäftigung werden zu subjektiven – vom Willen und der Bereitschaft des Einzelnen abhängige – Leistungen. Die Schuld, keine Arbeit zu bekommen, hat allein der Betroffene. Allein sein feh-

327 Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, 2004, http://www. labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 328 vgl. Rentschler 94 f 329 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/BZTN0Z,0,0Arbeitslosigkeit%3A_ Psychosoziale_Folgen.html, letzter Zugriff: 16.12.2009 330 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Akti vieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html#art4

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3.3  ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust

lender Wille und seine fehlende Einsicht verhindern ein neues Arbeitsverhältnis, wird ihm eingeredet. Dass die Arbeitsvermittler diese Haltung in der überwiegenden Mehrzahl gegenüber ihren Kunden haben, und nur eine Minderheit der Vermittler diese Subjektivierung ablehnt und richtigerweise der Meinung ist, dass nicht der eigene Wille, sondern die objektive Lage am Arbeitsmarkt entscheidend ist, bestätigte die Studie der Universität Bielefeld.331 Eine süddeutsche Arbeitsvermittlerin, die sich dem Prinzip der Subjektivierung entzieht, wird zitiert: „Langzeitarbeitslose härteres Regiment? Greift man ‚nem nackigen Mann in den Sack. (…) Aber es sind sehr viele, das liegt ganz einfach am Markt, ja? Jetzt, was soll ich denn da für ein härteres Regiment führen, wenn die Leut‘ nichts finden? Was soll ich denn da machen, soll ich sie erschießen?“ 332 Dass überwiegend aber die Meinung der subjektiven Schuld vorherrsche und diese im Behördenalltag auch gefördert wird, bewies eine Untersuchung des Berliner Arbeitslosenzentrums (BALZ), die die Meinungen und Erfahrungen mit Berliner Jobcentern untersuchte. 20 Prozent erklärten, dass bei ihrem letzten Kontakt zum Arbeitsvermittler keine freundliche Gesprächsatmosphäre geherrscht habe. Knapp ein Drittel fühlt sich mit dem eigenen Anliegen nicht ernst genommen und die Hälfte zumindest teilweise abgewimmelt. 80 Prozent (!) der befragten Jobcenter-Kunden sehen ihre Wünsche in der Eingliederungsvereinbarung nicht berücksichtigt – für die überwiegenden Vereinbarungen wurden demnach standardisierte Texte zugrunde gelegt, die die Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigen.333 Darüber hinaus wurden häufig Eingliederungsvereinbarungen ohne ausreichende Beratung und unter Druck abgeschlossen. 334 Für die Politikwissenschaftlerin Gabriele Gillen wirkt bei zweistelligen Arbeitslosenquoten und einem Verhältnis von 30:1 von Arbeitslosen zu offenen Stellen in Regionen im Osten Deutschlands die Hartz-IV-Formel vom Fordern und Fördern „noch verlogener als im Westen“.335 Schließlich kann nur da Arbeit gefunden werden, wo Arbeit auch vorhanden ist. In der jetzigen Praxis hängt die Entscheidung auf Bewilligung des ALG II bzw. deren Höhe noch zu sehr vom Ermessen des Fallmanagers ab, wodurch die Arbeitslosen im wesentlichen nicht gefördert, sondern gefordert werden. In der Studie der Universität Bielefeld wird eine Vermittlerin zitiert: „Und jeder Kunde soll auf seinen Füßen stehen und wenn er nur zu hundert Euro auf seinen eigenen Füßen steht und wir den Rest bezahlen müssen. Aber er tut was und er kann beweisen, dass es ihm ernst ist.“ 336 Dieses Zitat zeigt den ideologischen Kern der neuen Gesetzgebung. Arbeit um jeden Preis. Der Beweis für den Willen zur Arbeit kann nur durch die Annahme jeglicher Arbeit erbracht werden. „Diese Fokussierung auf die Haltung entspricht nicht mehr der althergebrachten Durchsetzung eines Gesetzes, gemäß der Verstöße sanktioniert wurden. Diese Neuerung macht im Kern die Aktivierung der Bürger gemäß der neuen Sozialgesetzgebung aus“, so der Soziologe Behrend.337

331 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_ Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009 332 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,6,0,Aktivieren_als_ Form_sozialer_Kontrolle.html#art6, letzter Zugriff: 16.12.2009 333 Die Eingliederungsvereinbarung wird zwischen der Behörde und dem Erwerbsfähigen geschlossen. In ihr wird schriftlich festgehalten, welche Leistungen der Betroffene zur Eingliederung in Arbeit von der Behörde erhält, und welche Bemühungen er von seiner Seite aus vorzunehmen hat. Ziel ist, möglichst schnell den Bezug der staatlichen Hilfe zu beenden. Die Eingliederungsvereinbarung bildet damit die Philosophie vom „Fördern und Fordern“ ab. 334 vgl. http://www.beratung-kann-helfen.de/die-aktion/umfrage-ergebnisse.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009 335 Gillen 231 336 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_ Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009 337 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_ Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009 54

3.3  ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust

Die Agenturen für Arbeit mutierten mit dem SGB II (Hartz IV) zu einer Kontrollund Bestrafungsbehörde des Handelns und Denkens, der Einstellungen und der Gesinnungen, resümiert der Publizist Rudolf Stumberger die Studie der Universität Bielefeld. 338 In einer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – einer Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit – anlässlich des fünfjährigen Bestehens von Hartz IV vorgelegten Studie, wird aus der Wirkungsforschung zum SGB II „die bisher grundsätzlich positive Einschätzung der einschneidenden Neuordnung der Grundsicherung für Erwerbsfähige“ bestätigt.339 Die umfassende Aktivierung – als Kernstück des SGB II – die auf eine Stärkung der Eigenverantwortung und Autonomie der Betroffenen zielt, konnte zwar „nicht voll zum Tragen“ kommen, aber mit ihr konnte schon die strukturelle Arbeitslosigkeit verringert werden. Für das IAB steht fest, dass das SGB II einer Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit in Krisenzeiten entgegenwirken kann und somit wird sich der künftige Wirtschaftsaufschwung beschäftigungsfreundlicher gestalten als „es in der Alten Welt der Fall gewesen wäre“.340 Und deshalb sollte auch in der Krisenzeit an der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik festgehalten werden, damit „bereits erreichte Erfolge nicht verspielt werden.“ 341 Der Arbeitsmarkt dürfte also von den Reformen mittelfristig profitieren.342 Der materielle Kern der Hartz-Reformen ist: die vorher statuserhaltende Arbeitslosenhilfe wird durch das ALG II ersetzt, das nun den Lebensunterhalt sichern soll. Zum Verständnis: seit 1969 stand dem Betroffenen zuerst das Arbeitslosengeld – als Leistung aus einer eingezahlten Versicherung – und danach als Anschlussleistung, die Arbeitslosenhilfe – eine Mischung aus Versicherung und staatlicher Fürsorge – oder die originäre Arbeitslosenhilfe – gesetzlich zu.343 Erst nach dem Ablauf der Zahlung der Arbeitslosenhilfe folgte die Zahlung der Sozialhilfe als Fürsorgeleistung, die sich nach der Bedürftigkeit errechnete. Seit dem Jahr 2005 gibt es noch das Arbeitslosengeld I (ALG I). Und das auch nur noch für ein Jahr beziehungsweise 18 Monate für über 55jährige. Nach Ablauf dieser Fristen erhält der Bedürftige das Arbeitslosengeld II (ALG II). Im ALG II wurden die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe „vereint“.344 Der Soziologe Frank Rentschler stuft das ALG II als Bewährungshilfe ein.345 Die Bezeichnung als Bewährungshilfe ist sicher umstritten, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn der ALG-II-Bezieher ist verpflichtet, jede als zumutbar definierte Arbeit anzunehmen, damit er die Regelleistung erhält. Erst wenn der Fallmanager davon überzeugt ist, dass der Antragsteller eingliederungswillig bzw. eingliederungsfähig ist, wird ein Vertrag für „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – Arbeitslosengeld II / Sozialgeld“ abgeschlossen.

338 vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 16.12.2009 339 vgl. http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009 340 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/ iab_pk5j_02_low.mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009 341 http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009 342 In einem Interview zu der Veröffentlichung der Studie, betonte der IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei den geringen Anstieg der SGB-II-Empfänger um nur 2,8 Prozent zum Vorjahr. Die Zahl der ALGI-Empfänger stieg aber in Folge der Wirtschaftskrise um 18,5 Prozent. Für Walwei zeigt sich daran, wie robust das Hartz-IV-System ist und dass die Wirtschaftskrise vor allem die ALG-I-Empfänger getroffen hat. Er sieht aber auch schon jetzt eine Verschlechterung der Lage der Hartz-IV-Empfänger; „Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen werden somit doch nicht spurlos an der Grundsicherung vorübergehen.“ (http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/iab_pk5j_02_low. mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009) Er rechnet damit, dass es im Jahr 2010 mehr Übergänge aus der Arbeitslosenversicherung zu Hartz IV und weniger Abgänge von Hartz IV in die Beschäftigung geben wird. 343 Im Jahr 2000 wurde die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Das war eine Arbeitslosenhilfe ohne vorherigen Bezug von Arbeitslosengeld, die beispielsweise ein Facharbeiter erhielt, der nach der Lehre keinen Job fand. 344 vgl. Rein 119 345 vgl. Rentschler 97 55

3.4  Der Ein-Euro-Job

3.4  Der Ein-Euro-Job „Hier wird, und ich sage das wirklich so knallhart, der Reichsarbeitsdienst im neuen Gewand eingeführt…“ 346

Erwerbslose müssen seit dem 1.1.2005 jede als zumutbar definierte Arbeit annehmen, um ALG II ohne Einschränkung zu erhalten. Eine der am häufigsten vom Fallmanager eingesetzte Möglichkeit ist die Vermittlung in die so genannten Arbeitsgelegenheiten, besser bekannt auch als Ein-Euro-Jobs. Sie sind ein zentrales Element der Arbeitsmarktpolitik. Dabei darf der Betroffene 0,70 Euro bis maximal zwei Euro pro Stunde dazuverdienen. Der Erwerbslose muss – ob er will oder nicht – seinen Willen zur Arbeit durch die Annahme eines solchen Jobs unter Beweis stellen. Ein-Euro-Jobs sind überwiegend gemeinnützige Tätigkeiten etwa in der Landschaft- und Denkmalpflege, im Umweltschutz, in der Altenpflege oder in der Jugendarbeit. Die vorher durch den Bildungs- und Berufsweg angelernten Kompetenzen und Fähigkeiten werden bei der Zuteilung der Jobs nicht mit berücksichtigt. Selbst Akademiker müssen Parks, Bürgersteige und Schwimmbäder säubern oder Senioren die Zeitung vorlesen. Noch viel problematischer ist der Umstand, dass EinEuro-Jobs keine Arbeitsverhältnisse im Sinne des Arbeitsrechts sind – alle Ein-Euro-Jobber arbeiten juristisch gesehen nicht in einem Betrieb. Damit wird weder der Lohn im Krankheitsfall fortgezahlt, noch wird eine Unfallrente im Falle eines Unfalls ausgezahlt. Auch die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes oder des Tarifvertragsgesetzes sind nicht gültig. Von Qualifizierungsmaßnahmen werden die Billig-Jobber in den allermeisten Fällen ausgeschlossen. Außer 30 Tage Urlaub im Jahr haben die Ein-Euro-Jobber keine weiteren Arbeitsrechte. Allen Erwerbslosen, die einen Ein-Euro-Job ausüben – gewollt oder gezwungen – gehen viele wichtige Rechte verloren, die Beschäftigte von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen einklagen können.347 Auch das ist politisch gewollt: Ein-Euro-Jobber gelten bei einer Wochenarbeitszeit von 15 und mehr Stunden nicht als arbeitslos und fallen damit aus der Arbeitslosenstatistik.348

346 Frank Spieth, DGB-Chef Thüringen, 2004, http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/ docpage.cfm?docpage_id=3465&language=german, letzter Zugriff: 28.01.2010 347 vgl. Gillen 56 f 348 vgl. Gillen 57

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3.5  Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit

3.5  Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit „Es gibt sicher auch Fälle, wo man die Härte sieht, aber wo man das Gesetz ausführen muß.“ 349

Die Erwerbslosen, die mit den o.g. Zumutungen keine Probleme haben und sozialen Abstieg und Deklassierung hinnehmen, werden von der BA nicht weiter belangt. 350 Denjenigen aber, die sich unwillig zeigen, nahezu jede Arbeit anzunehmen, drohen Sanktionen und Strafen. Was jedem Betroffenen zugemutet werden darf, wurde mit der Einführung des ALG II noch verschärft. Unabhängig von der Qualifizierung oder der Neigung, muss jeder Betroffene eine als legal eingestufte Arbeit – eine nicht sittenwidrige Arbeit – annehmen. Dabei darf den Betroffenen auch eine Entlohnung zugemutet werden, die bis zu 30 Prozent unter dem Tarif oder der sonst vor Ort üblichen Bezahlung liegt. (Siehe Ein-EuroJob) Wer sich den Zumutungen widersetzt oder sich nicht an die Vereinbarungen hält, dem wird der Regelsatz um 10 Prozent oder 30 Prozent gekürzt oder im schlimmsten Fall sogar ganz gestrichen.351 Dabei genügt es schon, beispielsweise auf seiner Berufsidentität zu beharren. Alle Regelungen – alle Sanktionen und Strafen – zielen eindeutig und nachweisbar auf die Disziplinierung der Arbeitslosen. „Nicht nur die Zurückweisung einer Arbeit wird sanktioniert, sondern allein schon die nicht Hartz IV-kompatible Einstellung, mit einem erlernten Beruf ausreichend Geld zum eigenen Unterhalt zu verdienen und so ein normales Leben führen zu wollen. Die Arbeitsbehörden werden so praktisch zur Schule der Armut und Demut – die Armen- und Arbeitshäuser des 19. Jahrhunderts lassen ideologisch grüßen.“ 352 Der Zwang zur Arbeit bzw. Zwangsdienste gab es schon immer – wie bereits in den ersten Kapiteln geschildert. Wenn „jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.“ 353 In einem Aufsatz sieht der Soziologe Harald Rein die historische Kontinuität sowohl bei den Formen der Arbeitslosenunterstützungen, der Wohlfahrt, bei den erzwungenen Arbeitseinsätzen als auch im Arbeitslosenrecht, dem Fürsorgerecht bzw. beim Sozialrecht. Ähnlich wie Wulf und Foucault beschreibt Rein die Arbeit von alters her als Allheilmittel – ganz gleich welcher Art und welchem Zweck die Arbeit dabei dient. Arbeit dient der Heilung eines vermuteten, unterstellten oder eingeredeten Müßigganges oder als Voraussetzung für Fürsorge- bzw. Sozialleistungen. Gemeint ist aber dabei nicht die Lohnarbeit zur Existenzsicherung, sondern die Arbeit um jeden Preis – die Arbeit als Mittel zur Disziplinierung.354 Rein erkennt in der geschichtlichen Entwicklung große Ähnlichkeiten sowohl beim Ausbau der Zwangsinstrumente als auch bei der Art und Weise der Gestaltung des Sozialabbaus.355 In seiner Darstellung der Entwicklung der Weimarer Republik bis heute sieht er im Sozialhilfe- wie im Arbeitslosenrecht durchgehend mittelalterliche Formen der Arbeitsbuße.

349 Uwe Nebel, stellvertretender Leiter der Bochumer ARGE, 2005, http://www.labournet. de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 350 Der FDP-Fraktionsvize im Berliner Abgeordnetenhaus Henner Schmidt schlug sogar vor, dass verarmte Berliner zukünftig Ratten jagen und töten könnten. Das Gesundheitsamt werde wegen mangelnder Mittel nicht allein mit der Berliner Rattenplage fertig. Pro toter Ratte soll es einen Euro geben. Henner Schmidt empfand diese Idee besser als das Sammeln von Flaschen und die Abgabe gegen Pfand. (vgl. http://www.morgenpost. de/berlin/article999249/Hartz_IV_Empfaenger_sollen_Ratten_jagen.html, letzter Zugriff: 17.12.2009) 351 vgl. Gillen 18 352 www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 353 Neues Testament, 2. Brief an die Thessalonicher, Kap. 3, V. 10 354 vgl. Rein 109 355 vgl. Rein 112 f 57

3.5  Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit

„Labore nutrior, labore plector – Durch Arbeit werde ich gemacht, durch Arbeit büße ich“ habe schon am Zucht- und Arbeitshaus Hamburg gestanden – „und diese Auffassung scheint in Arbeitsagenturen und Jobcenter Einzug zu halten“, so der Autor. 356 357 Allen Regelungen zur Unterstützung liegt das Prinzip zugrunde, dass der Arbeitsbzw. Erwerbslose bei sich das Verschulden der misslichen Situation gegenüber der Gesellschaft sieht oder sehen muss.358 Diesem Prinzip folgt auch das ALG II, indem es dem Wunsch des Beziehenden nach Leistung die Aufforderung nach einer Gegenleistung voranstellt. Bei Verweigerung wird die Leistung gekürzt oder entzogen. Leistungen bedingen Gegenleistungen. Oder anders ausgedrückt: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.359 Für Rein sind die erzwungenen Arbeitseinsätze verstärkt Bestandteil des aktivierenden autoritären Sozialstaates. Er sieht durch die Agenda 2010 bzw. Hartz IV sogar den Versuch, für alle ALG-II-Beziehenden – insbesondere die jugendlichen Erwerbslosen – „einen nichtmilitarisierten kommunalen Arbeitsdienst“ einzuführen.360 Für Rein sind die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ – heute werden sie als Ein-Euro-Jobs bezeichnet – nichts Neues. Bereits in der Weimarer Republik und zu Beginn des Nationalsozialismus habe es sie gegeben. Damals hießen sie Notstandsarbeiten, Pflichtarbeiten, freiwilliger Arbeitsdienst oder Fürsorgearbeiten.361 Auch damals hieß es, alle arbeitsfähigen Wohlfahrtserwerbslosen sind verpflichtet, die ihnen angebotene Pflichtarbeit aufzunehmen. Wer dies ignoriert, „wird wegen beharrlicher Arbeitsverweigerung entsprechend behandelt.“ Das ist ein Zitat aus der Frankfurter Pflichtarbeit-Verordnung vom Oktober 1933. Sinngemäß, so Rein, „findet sich diese Vorschrift im Hartz IVGesetz wieder.“ 362 Gesetzlich festgeschrieben waren die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ später als Bestandteil des Bundessozialhilfegesetzes in ihrer Bezeichnung als „Hilfe zur Arbeit“ oder im Arbeitslosenrecht als „Gemeinschaftsarbeiten“. Neu ist mit Hartz IV die Zusammenfassung der Betroffenen – früher wurden sie als Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfeempfänger getrennt behandelt – zu einem Personenpool.363 Aus diesem könne die Bundesagentur für Arbeit bzw. die gebildeten Arbeitsgemeinschaften schöpfen und versuchen, flächendeckend Arbeitskräfte an die Anbieter von Arbeitsangelegenheiten zu vermitteln.364 Zum Beispiel an die Kommunen, die mit dem Einsatz von niedrigst bezahlten Arbeitskräften in verschiedensten Bereichen viel Geld sparen. Darüber hinaus äussert Rein grundrechtliche Bedenken gegenüber der erzwungenen Arbeit. In Berufung auf den Artikel 2 des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation ILO – nach dem Zwangs- und Pflichtdienste definiert sind als „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ – ist es ausdrücklich verboten, Menschen zur Arbeit zu zwingen.365 Die Bundesregierung hat diese Vereinbarung mit unterschrieben. Daran hält sie sich aber nicht. 366

356 Rein 109 357 Die Arbeitshäuser wurden in der BRD erst 1974 abgeschafft und stattdessen Hilfe zur Arbeit eingeführt. Das beinhaltete gemeinnützige Arbeit für Sozialhilfeempfänger, die „arbeitsentwöhnt“ sind oder deren „Arbeitsbereitschaft“ zu prüfen war. (vgl. Rein 119 ff) 358 Für weitere Informationen bietet sich der Vergleich mit der Studie der Universität Bielefeld, die Olaf Behrend in seine Ausführungen einbezog, an. (vgl. http://www1.bpb. de/publikationen/1HAX2X,0,Aktivieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html) 359 vgl. Rein 109 360 Rein 111 361 vgl. Rein 120 f 362 Rein 112 363 vgl. Rein 112 364 vgl. ebd. 112 365 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm, letzter Zugriff: 17.12.2009 366 vgl. Rein 114 58

3.6  Hartz IV macht krank

3.6  Hartz IV macht krank „Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ 367

Eine weitere wichtige Auswirkung des durch die Reformen entstandenen Rechteverlusts bzw. des Zwangs zur Arbeit soll noch erwähnt werden. Es ist umfangreich wissenschaftlich bewiesen, dass die Arbeitslosigkeit sowie erzwungene Arbeit krank machen können. Die Psychologen Gisela Mohr von der Universität Leipzig und Peter Richter von der TU Dresden untersuchten dies in ihrer Studie „Psychosoziale Folgen von Erwerbslosigkeit – Interventionsmöglichkeiten“.368 Innerhalb der Studie wird belegt, dass unter den Erwerbslosen – von denen die Hälfte Langzeitarbeitslose sind – der Anteil der psychisch beeinträchtigten Personen doppelt so hoch ist wie in der Gruppe der Erwerbstätigen. Erwerbslose sind häufiger depressiv und aggressiv, ängstlich oder haben psychosomatische Beschwerden. Die entscheidenden Gründe liegen in der Dauer der Erwerbslosigkeit und in der schlechten finanziellen Lage. Die Wissenschaftler sehen andererseits einen deutlichen Rückgang der Beschwerden bei einer Wiedereinstellung. Von solch einer positiven Rückbildung der Beschwerden ausgenommen seien aber jene, die in so genannten „bad-Jobs“ – also in gering bezahlten und ungesicherten Arbeitsverhältnissen mit geringem Arbeitsvolumen – landeten. 369 Den Wissenschaftlern zufolge ist es falsch, wie bei Hartz IV „eine überhöhte Arbeitsorientierung zu forcieren, unrealistische Hoffnungen zu wecken, Erwerbslose zu vielen, nicht Erfolg versprechenden Bewerbungsaktivitäten zu zwingen und Konzessionsbereitschaft in Bezug auf jede Art von Arbeit zu fordern. Das bereinigt zwar die Statistiken, reduziert jedoch die psychischen Ressourcen der Erwerbslosen – sofern solche noch vorhanden sind – und führt zu gesellschaftlichen Kosten an anderer Stelle, insbesondere im Gesundheitswesen.“ 370 Stattdessen, so fordern die Wissenschaftler, muss die Langzeitarbeitslosigkeit vermieden werden. Auch die alternativen Formen der Arbeit – Zweiter Arbeitsmarkt, freiwillige Arbeit – können nicht als Ausweg für die fehlende Erwerbsarbeit betrachtet werden, wenn sie nicht materiell die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben absichern können. Auch der Auffassung, dass jede Arbeit besser ist als keine Erwerbsarbeit, müsse widersprochen werden. Erwerbslosigkeit sei kein psychologisches, sondern ein gesellschaftliches Problem, welches „seine Fortsetzung derzeit in der zunehmenden Zahl von prekär Beschäftigten findet.“ 371 In den Jahren von 1995 bis 2007 haben sich die versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,33 Millionen verringert, die nicht sozialversicherungspflichtiger Minijobs aber um 2,78 Millionen erhöht. Die überwiegende Zahl der neu hinzugekom-

367 Philipp Mißfelder, Bundesvorsitzende der Jungen Union, z.Z. Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2009, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,608940,00.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 368 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,0,Psychosoziale_Folgen_von_ Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 369 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,1,0,Psychosoziale_Folgen_von_ Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art1, letzter Zugriff: 17.12.2009 370 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_von_ Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009 371 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_ von_Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6

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3.6  Hartz IV macht krank

menen sozialversicherungspflichtigen Minijobs waren dabei Frauenarbeitsplätze. Für die Autoren ist die Lösung des Problems nicht die staatlich geförderte Arbeit, sondern die Probleme können nur durch sozialversicherungspflichtige Jobs gelöst werden. Staatlich geförderte Arbeit könne dabei nur eine Übergangsregelung sein. 372 Positiver dagegen ist die Meinung des Direktors des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu den Folgen von Erwerbslosigkeit und Mini-Jobs. Dass Personen glücklicher sind, also weniger Beschwerden haben, bestätigt Joachim Möller zwar auch, aber für ihn sind auch schon die „Personen in Ein-Euro-Jobs (…) signifikant zufriedener als Personen, die ausschließlich Unterstützungsleistungen erhalten und überhaupt nicht in das Erwerbsleben integriert sind.“ 373 Noch zufriedener seien Menschen natürlich dann, wenn es den Hilfebedürftigen gelingt, einen auskömmlichen Job zu erhalten, so der IAB-Direktor weiter. Einen guten Beitrag zur positiven Entwicklung stellen für ihn Weiterbildungen und betriebliche Trainings dar. Diese „Instrumente der Arbeitsmarktpolitik“ sind den Untersuchungen des IAB zufolge, gerade auf mittel- und langfristige Sicht gute Mittel, die auch bei Hartz-IV-Empfängern positive Wirkungen entfalten. Wichtig ist für ihn die richtige Balance von „Fordern und Fördern“ zu erreichen und die Aktivierung darf nicht ins Leere laufen. 374 Der Soziologe Heinz Bude sieht in der existenzsichernden Arbeit nicht nur den Broterwerb, sondern auch einen Schlüsselfaktor für die Art und Weise der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ohne sie befinde man sich zumeist außerhalb der Gesellschaft, gehöre zu den Ausgeschlossenen, den Exkludierten.375 Er zählt dazu auch die „Minijobber und Hartz-IV-Aufstocker, denen es kaum zum Leben reicht, Kunden der Bundesagentur für Arbeit, die in einer Maßnahmekarriere verloren gegangen sind“.376 Ihr Status sei dadurch gekennzeichnet: „Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner und was sie fühlen, kümmert keinen.“ 377 Für Markus Promberger – der sich auf die Studie der Psychologen Mohr und Richter bezieht – sind weitgehend besitzlose Menschen nicht nur weitgehend von sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Beschränkt sind sie darüber hinaus sind auch in ihrer politischen und demokratischen Mitwirkung. 378 Der Ausspruch „Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts“ bringt für Promberger diese Umstände deutlich zum Ausdruck. 379 Der Arbeitslose ist tatsächlich und aus der Sichtweise der Agentur für Arbeit kein autonomer Bürger mehr. Und der Staat ist nicht mehr ein Organ der Volkssouveränität. Der Staat wird zu einer formalen Organisation, die mit dem Arbeitslosen eine Tauschbeziehung eingeht. Und über allem steht das Motto, dass derjenige, der Hartz IV bezieht, auch dafür arbeiten soll. Und wenn es auch nur ein paar Euro sind. Durch diese Entwicklung wird die politische Verbindung zwischen Bürger, dem souveränen Träger der Staatsgewalt und den Herrschaftsinstitutionen aufgelöst. Mit dieser Auflösung wird auch die demokratische Verfasstheit aufgelöst. 380

372 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_von_ Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009 373 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/ iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009 374 vgl. http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/ iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009 375 vgl. Bude 9 ff 376 Bude 20 377 Bude 15 378 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_ Arbeitslosigkeit_ und_soziale_Integration.html#art5, letzter Zugriff: 17.12.2009 379 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_ Arbeitslosigkeit_ und_soziale_Integration.html#art2, letzter Zugriff: 17.12.2009 380 vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 60

3.6  Hartz IV macht krank

Der Politik scheint dieses Dilemma klar zu sein. Dennoch wird der Weg in bisher gewohnter Weise fortgesetzt. Die Bundeskanzlerin kündigte in ihrer Regierungserklärung an: „Wenn wir das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat wirklich verbessern wollen, dann ist und bleibt es auch bei dieser Aufgabe das Wichtigste, Beschäftigungsbremsen zu lösen und Anreize für Arbeit zu schaffen. Wer für sich selber vorsorgt, dem muss der Staat dabei helfen.“ 381 Damit kündigte die neue Regierung das Fortsetzen der Politik von Hartz IV an. Welche anderen Vorstellungen und Alternativen es gibt, wird im Kapitel 4.0 Zukunft von Hartz IV besprochen.

381 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf, S.5, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.7  Hartz IV macht Kinder arm

3.7  Hartz IV macht Kinder arm „Sozialhilfeempfänger werden keineswegs schöpferisch aktiv. Viele sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf.“ 382

3.7.1  Dialektik von Reichtum und Armut Bevor die Auswirkungen und Folgen von Hartz IV auf die Kinderarmut erörtert werden, sollen die grundsätzlichen Aspekte von arm und reich und ihr Verhältnis zueinander dargestellt werden. Mögen die Daten nicht immer Jahres aktuell sein, so lassen sich dennoch aus ihnen das Wesen und die Trends bzw. Tendenzen bestimmter Entwicklungen ableiten. Schon in der „Unterrichtung durch die Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland – Zweiter Armut- und Reichtumsbericht“ aus dem Jahre 2005 stand: „Hinter jeder Interpretation des Armuts- und auch des Reichtumsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Messverfahren stehen Wertüberzeugungen. Deshalb ist auch die Aufgabe, Armut ‚messbar‘ zu machen, im streng wissenschaftlichen Sinn nicht lösbar.“ 383 Als messbarer Vergleich dient in dieser Arbeit die europaweit anwendbare EU-Definition „EU-SILC“. Diese Definition vermeidet den Begriff „arm“ und benutzt stattdessen den Begriff „armutsbedroht“. Danach ist von Armut bedroht, dem weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens aller Bürger seines Landes zur Verfügung stehen. Auf die Bundesrepublik Deutschland umgelegt heißt das, dass 13 Prozent aller Bundesbürger schon im Jahr 2005 in einer Situation der Armutsbedrohung waren – Tendenz steigend. Das ist knapp jeder Achte. Damals belief sich die rechnerische Risikosumme für einen Alleinstehenden auf monatlich 781 Euro netto. Ohne zusätzliche soziale Transferleistungen wäre jeder vierte (26 Prozent) dem Risiko der Armut ausgesetzt gewesen. 384 Größter Risikofaktor für Armut ist die Arbeitslosigkeit, dann liegt er bei mehr als 42 Prozent. Ein höheres Bildungsniveau scheint die Gefahr der Armut zwar zu senken, ganz ausgeschlossen kann die Gefahr aber nicht werden. In den Jahren 1997-2004 stieg die Armutsquote bei den Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten um mehr als das Doppelte von 2,3 Prozent auf 5,2 Prozent. 385 Darüber hinaus lässt sich erkennen, dass sich die Einkommen weiter auseinander bewegen. Am „oberen“ und am „unteren“ Rand der Einkommensverteilung finden sich immer mehr Menschen. Es gibt also immer mehr Armutsgefährdete, weniger „Mittelschichtler“ und mehr Menschen mit hohem Einkommen. Als reich gilt demnach derjenige, dem als Alleinstehender über 200 Prozent des mittleren Nettoeinkommens aller Bürger seines Landes zur Verfügung stehen. Für einen Single

382 Oswald Metzger, ehem. Mitglied der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, z.Z. CDU, http://www.stern. de/politik/deutschland/oswald-metzger-ich-bin-auf-dem-sprung-603071.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 383 http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 384 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/armutsbericht4.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 385 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/meldung92688.html, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.7.1  Dialektik von Reichtum und Armut

wären das 2602 Euro pro Monat. Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind demnach 6,4 Prozent oder ist jeder 16. einkommensreich. Besonders die Unternehmer, Selbstständigen und die Beamten verfügen über hohe finanzielle Zuflüsse. 386 Das Statistische Bundesamt bezieht sich auf eine EU-weite Befragung über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) unter dem Titel „Ergebnisse aus LEBEN IN EUROPA 2008“. Etwa 15 Prozent der Deutschen waren 2007 durch Armut gefährdet, also fast jeder Siebente. Ohne soziale Leistungen des Staates würde das sogar nahezu jeden Vierten betreffen. Die Armutsgefährdung bei Alleinerziehenden ist besonders hoch, sie stieg auf 36 Prozent. Aber auch Arbeit schützt nicht: 2007 waren 7 Prozent der Erwerbstätigen von so genannter Arbeitsarmut bedroht. Das bedeutet, dass jeder 15. ein Entgelt unterhalb der Armutsgrenze – also ein so genanntes Äquivalenzeinkommen von weniger als 913 Euro monatlich, 2006: 885 Euro monatlich, 2005: 781 Euro – erhielt. Besonders betroffen sind Arbeitslose vom Abrutschen in die Armut. 56 Prozent waren dadurch gefährdet, das ist ein Plus von fünf Prozent gegenüber 2006. 387 Der Soziologe Michael Klundt betont, dass die Betrachtung von Armut oder Reichtum als objektives oder subjektives Phänomen im wesentlichen von der jeweiligen politischen-normativen Festlegung abhängt.388 Gemeint ist damit, dass sich die Betrachtung von Armut und Reichtum immer danach richtet, mit welchem Interesse und mit welcher Absicht die Untersuchung vorgenommen wurde. Klundt verweist darauf, dass im Armuts- und Reichtumsbericht die Informationen über den Reichtum nur beschränkt dargestellt werden. Der Bericht geht seiner Meinung nach bewusst verharmlosend mit dem Begriff Reichtum um und lässt nicht erkennen, woher er kommt, und dass zwischen Armut und Reichtum ein dialektischer Zusammenhang besteht.389 Der Präsident des ifo-Instituts München Hans-Werner Sinn kritisiert die Erhebungen des Armut- und Reichtumsberichts noch aus einem anderen Grund. Zum 3. Armut- und Reichtumsbericht aus dem Jahr 2008 sagt er sinngemäß, dass die dort aufgeführte These, wonach jeder Achte in Armut lebt, falsch ist und er bezeichnet den Armutsbericht insgesamt als „Bedarfsgewichteten Käse.“ 390 Denn in dem Bericht sei von Armutsrisiko und nicht von der Armut die Rede. Auch Hartz-IV-Empfänger sind nicht arm, sie seien allerdings Armut gefährdet, denn die entsprechende Grenze zur Armutsgefährdung liege bei 781 Euro. Für Hans-Werner Sinn ist „Kaum jemand, der sich in Deutschland legal aufhält“ arm, und er beziffert die Zahl der Armen nach amtlicher Definition auf etwa 4 Prozent, also auf jeden 25..391 Sozialhilfe und ALG II sichern bei normalen Wohnkosten ein Einkommen, das bei etwa 55 Prozent des mittleren Nettoeinkommens liegt. Deutschland ist für ihn – gemessen an der relativen Reduktion der Armutsgefährdung – einer der großzügigsten Sozialstaaten Europas und der ganzen Welt.392 Der Soziologe Heinz Bude betont dagegen, dass die Bundesregierung mit der Armutsrisikoquote nur das Sein der Armut erfasse. Es bestimmt aber das Bewusstsein der Armen. Mit einer solchen Erfassung wird nicht das subjektive Wohlbefinden oder die soziale Anerkennung bzw. die Ausgrenzung erfasst. „Armut ist ein relativer, mehrdimensio-

386 vgl. http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 387 vgl. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/ Presse/pm/2009/11/PD09__457__634,templateId=renderPrint.psml 388 vgl. Klundt 36 389 vgl. Klundt 40 f 390 vgl. www.wiwo.de/politik/armutsbericht-bedarfsgewichteterkaese-293842/print/, letzter Zugriff: 17.12.2009 391 http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/, letzter Zugriff: 17.12.2009 392 vgl. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.7.1  Dialektik von Reichtum und Armut

naler und dynamischer sozialer Sachverhalt.“ 393 Für Bude ist die Armutsrisikoquote für die Darstellung der sozialen Lage nicht aussagekräftig genug. Darüber hinaus ließe sie sich auch nur kompliziert errechnen. Bude schlägt deshalb vor, den Begriff „Armutsverläufe“ als Kriterium einer Erfassung einzuführen. Dank der Armutsverläufe könne dann genauer ermittelt werden, für wen die Armut vorübergehend ist, wer mit knappen Mitteln zurechtkommt, wer immer wieder in die Armut rutscht und bei wem sich dieser Zustand der Armut dauerhaft verfestigt hat. Bude unterscheidet zwischen Wohlstand, Knappheit, Prekarität und Armut.394 Er unterteilt die Gesellschaft in vier soziale Zonen: 40 Prozent der Menschen leben in einer Zone der Sicherheit, 20 Prozent leben in einer Zone der nicht sicheren, aber integrierten Knappheit, 25 Prozent leben in instabiler Prekarität und 10 Prozent in verfestigter Armut. Darüber hinaus stellt Bude einen Bereich von 10 Prozent einer veränderbaren Armut zwischen den unteren Bereichen fest. Innerhalb der Bundesrepublik gibt es für ihn einen bemerkenswerten Unterschied. In Westdeutschland bildet sich zunehmend eine Gruppe aus, die sich zwischen prekärem Wohlstand und manifestierter Armut auf und ab bewegt. In Ostdeutschland wird die Zone der Prekarität zwar kleiner, dafür wächst aber die Zone der Armut insgesamt. Aus diesen Entwicklungen leitet Bude ebenfalls das bekannte Bild der Zweidrittel-Gesellschaft ab.395 In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich nicht nur die Phänomene von Arm und Reich geändert, auch die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Gesellschaft hat sich ständig vergrößert. Diese Entwicklungen lassen sich anhand des Privatvermögens verdeutlichen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DWI) besaß 2007 das reichste Zehntel rund 61 Prozent des gesamten Privatvermögens der Bundesrepublik. Im Jahr 2002 waren es 58 Prozent des Privatvermögens. Demgegenüber steht mehr als ein Viertel der Deutschen (27 Prozent), das gar kein Privatvermögen besitzt oder verschuldet ist.396 Die Studie des DWI ergab außerdem, dass sich die Schere zwischen Ost und West immer weiter öffnet. In Westdeutschland stieg das Vermögen in den Jahren 20022007 um gut 11 Prozent. In den neuen Bundesländern sank es dagegen um knapp 10 Prozent. Eine Begründung ist in der vergleichsweisen hohen und verfestigten Arbeitslosigkeit, die sich im zweistelligen Bereich bewegt, zu finden. Noch ein anderer Trend lässt sich anhand von belegten Zahlen nachweisen. Im Jahr 2001 gab es 730.000 Dollar-Millionäre (ohne Immobilienvermögen) in Deutschland. Nur ein Jahr später waren es schon 755.000 Millionäre.397 Im Jahr 2008 sank zwar die Zahl um 2,7 Prozent gegenüber 2007 auf 809.700 Millionäre – das ist rund 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich zum Jahr 2001 waren es aber immer noch knapp 80.000 Millionäre mehr. Selbst durch die Weltwirtschaftskrise blieben die Vermögen dieser Reichen weitestgehend erhalten.398

393 Bude 37 394 vgl. Bude 39 395 vgl. Bude 40 396 vgl. http://www.tagesschau.de/wirtschaft/armreich100.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 397 vgl. Klundt 40 398 http://www.abendblatt.de/wirtschaft/article1069401/Weniger-DollarMillionaere-in-Deutschland.html, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.7.1  Dialektik von Reichtum und Armut

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Anhäufung von Reichtum auf der einen Seite auf verschiedenen Wegen Armut auf der anderen Seite erzeugt. Diese Ungerechtigkeit der Verteilung ist dem System des Kapitalismus immanent, denn der Kapitalismus produziere nach Karl Marx aus sich heraus Ungleichheit. Der Soziologe Michael Klundt beruft sich in seinem Text auf Werner Rügemer an. Rügemer kritisiert ebenfalls die vorherrschende empirische Analyse über Umfang, Entstehung und Wirkung von Armut und Reichtum sowie deren Zusammenhänge als „unterbelichtet“. Für ihn bestimmt der Reichtum immer die Armut und in deren Kern gehe es um das dialektische Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. 399 Klundt kritisiert auch den Umgang mit dem Thema Arm und Reich in der Öffentlichkeit. So wird vielfach die Bedürftigkeit und Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen mit dem individuellen Versagen des Betroffenen begründet. Dagegen sind Wohlstand und Reichtum eine Belohnung für erbrachte außerordentliche Leistungen. Vielfach werde das einfache Bild vermittelt, dass alle die gleichen Chancen haben und „es kommt nur darauf an, etwas daraus zu machen.“ 400 Die Politik und die Medien würden die Superreichen gegen deren Dämonisierung und gegen Neiddiskussionen in Schutz nehmen. Anders wird dagegen mit Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehern umgegangen. Sie werden zu Sündenböcken einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gemacht. Daraus ließen sich die Kampagnen gegen „Sozialschmarotzer“ und „Faulenzer“ erklären.401 402

399 Rügemer, in Klundt 41 400 Klundt 36 401 vgl. Klundt 48 402 Der Begriff „hartzen“ ist im Dezember 2009 zum Jugendwort des Jahres gewählt worden. Das Werk wurde in der jugendlichen Sprache vom Begriff Hartz IV abgeleitet. Das Verb bedeute „arbeitslos sein“ oder „rumhängen“ wie der Langenscheidt Verlag in München mitteilte. Damit liegt selbst die Langenscheidt-Jury ganz auf der Linie der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsar­beit zu Hartz IV. Aber alle seriösen Studien und Untersuchungen und meine Gespräche im Arbeitsamt und den Hilfsorganisationen haben ergeben, dass nur ein ganz kleiner Teil Erwerbslosigkeit und „Rumhängen“ einer den Lebensunterhalt sichernden Arbeit vorzieht.

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3.7.2  Quantitative Indikatoren der Kinderarmut

3.7.2  Quantitative Indikatoren der Kinderarmut

Für die Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und Carolin Reißlandt ist eines klar: „Nichts schadet Familien mehr als der Um- bzw. Abbau des Sozialstaates und die Vermarktung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit Schlagworten wie ‚Globalisierung‘ und ‚Standortsicherung‘ begründet werden. Die zunehmende Kinderarmut ist eine zwangsläufige Folge der daraus abgeleiteten Regierungspolitik.“ 403 Wie viele Kinder arm sind, ist schwer zu sagen. Die Zahlen schwanken, je nachdem wie Armut definiert wird. In der Statistik als auch in den Medien wird zudem oft nicht unterschieden zwischen arm, armutsgefährdet oder sozialleistungsabhängig. Armut sollte nicht nur nach monetären Aspekten definiert werden. Auch Bildungschancen, Gesundheitsversorgung und die Möglichkeit am kulturellen und sportlichen Leben teilzunehmen, müssen bei einer Einordnung mit bedacht werden. Armut muss unbedingt mit dem Aspekt der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Verbindung gebracht werden. Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, wird im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung die materielle Situation in der Regel durch die Armutsrisikosquote beschrieben. Dieser Quote zufolge waren im Jahre 2006 von den insgesamt 13,6 Millionen Kindern 2,4 Millionen (17,3 Prozent) Armut gefährdet. Umgerechnet ist das jedes sechste Kind.404 Im Jahr 2006 war die Armutsrisikoquote bei den Kindern zwar geringer, aber sie lag dennoch schon bei 16 Prozent. Der Armutsforscher Christoph Butterwege macht in seinem Buch „Armut in einem reichen Land – Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ noch eine andere Rechnung auf. Sein Ausgangspunkt sind die im März 2007 offiziell angegebenen 1,929 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten. Man müsse aber noch diejenigen Kinder dazu zählen, die in Sozialhilfehaushalten, Flüchtlingsfamilien und bei so genannten Illegalen leben. Dazu käme die so genannte Dunkelziffer. Dann lebten 2,8 Millionen Jungen und Mädchen, das heißt mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.405 Besonders die jungen Menschen in Familien, die ALG II beziehen, sind von dem Armutrisiko betroffen. DGB, der Sozialwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge, der SPD-Politiker Rudolf Dreßler und andere erklären den Anstieg zu großen Teilen als Folge von Hartz IV.406 Studien haben ergeben, dass nach der Einführung der Hartz-IVReformen sich die Anzahl der Kinder, die von Sozialhilfe leben, auf 2,5 Millionen verdoppelt hat. Diese Tendenz ist steigend.407 Die Risikoquote für Armut ist in den neuen Bundesländern nach wie vor besonders hoch. Svenja Stork – sie untersuchte den Zusammenhang von Kinderarmut und Hartz IV – resümiert, dass die Risikoquote in Westdeutschland 2006 bei 12,4 Prozent lag, im Osten dagegen war die Risikoquote mit 23,7 Prozent fast doppelt so hoch.408 Das höchste Risiko

403 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_ sozialabbau.pdf, S.22, letzter Zugriff: 17.12.2009 404 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 405 vgl. Butterwegge 91 406 http://www.welt.de/politik/article1109778/Kinderarmut_in_ Deutschland_auf_Hoechststand.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 407 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009 408 vgl. Stork 15 ff

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3.7.2  Quantitative Indikatoren der Kinderarmut

zur Armut haben die Kinder von Hartz-IV-Beziehern. Es liegt bei 65 Prozent. Auch die Kinder von Alleinerziehenden sind besonders gefährdet. Hier liegt die Quote bei fast 40 Prozent. Die Gefahr kennen Kinder, dessen Eltern beide in Vollzeitjobs standen, kaum. Hier lag die Quote bei nur 4,1 Prozent. Oder anders, nur jedem 25. Kind konnte – wenn seine beiden Elternteile einer Vollbeschäftigung nachgingen – ein Abrutsch in die Armut widerfahren. Insgesamt gesehen hat das Armutsrisiko bei Kindern und Jugendlichen in den Jahren 19962006 um 4,6 Prozentpunkte zugenommen.409

409 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.7.3  Qualitative Indikatoren der Kinderarmut

3.7.3  Qualitative Indikatoren der Kinderarmut

Wissenschaftler und Sozialverbände haben festgestellt, dass Kinder aus armen oder armutsgefährdeten Familien häufiger als ihre Altersgenossen schlecht bzw. ungesund ernährt sind. Chronische Krankheiten, Übergewicht und Verhaltensauffälligkeiten hätten bei benachteiligten Kindern stark zugenommen. Vielfach könnten die Kinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen, bekämen kein Taschengeld und sind gezwungen, schlechte, nicht der Witterung angepasste bzw. gebrauchte Kleidung zu tragen. Kinder von Hartz-IV-Empfängern fühlten sich sozial ausgegrenzt. Sie seien oft lange arm und chronisch krank. Unicef verwies 2007 in seinem „Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland“ auch auf die verstärkte emotionale Armut. Viele Kinder von Hartz IV beziehenden Familien fühlen sich allein gelassen und haben keine Bezugsperson, um später die Herausforderungen des Lebens meistern zu können. Diese Kinder hätten auch schlechtere Bildungschancen und damit weitaus geringere Möglichkeiten, später der Armut entkommen zu können. Insgesamt unterschätze man in Deutschland, dass das Wohlergehen der Kinder sehr wichtig für die Zukunft der Nation sei. International gesehen, sei man bei den Aufwendungen dafür nur Mittelmaß.410 Unter den fast 1 Million Bedürftigen, die im Jahr 2007 von der Wohltätigkeitsorganisation „Die Tafel“ regelmäßig kostenlose Essen und Lebensmittel versorgt wurden, befanden sich 25 Prozent Kinder. Der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommern macht darauf aufmerksam, dass derzeit rund 71.000 Kinder im Land unter Armutsbedingungen leben müssen. Im Jahr 2007 seien es nur 59.500 gewesen. Die Kinder bzw. deren Eltern sind meist so arm, dass sie ihnen noch nicht einmal ein warmes Schulessen ermöglichen können.

410 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/kinderarmut36.html, letzter Zugriff: 17.12.2009

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3.8  Zusammenfassung

3.8  Zusammenfassung Abschließend lässt sich feststellen, dass der Einkommens- und Vermögensreichtum seit den neunziger Jahren stetig wächst. Aber auch das Armutsrisiko bzw. die tatsächliche Armut hat in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen. Die sich immer weiter erhöhende Schere zwischen Arm und Reich polarisiert gleichzeitig die Gesellschaft. Die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Gesetzgebung haben die Zustände bzw. die Entwicklungen noch weiter verschlimmert. Der von der Bundesregierung herausgegebene Armuts- und Reichtumsbericht beschreibt umfangreich die Armut, hält sich aber in Bezug auf den Reichtum, seine Entstehung und seinen dialektischen Zusammenhang mit der Armut sehr zurück. Kritiker sehen in dieser Art der Behandlung eine bewusste Vorgehensweise. Von Armutsrisiko bzw. von der tatsächlichen Armut sind besonders Familien und deren Mitglieder betroffen, die Hartz IV beziehen. Besonders die schwächsten Mitglieder – die Kinder – leiden unter den Auswirkungen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft deshalb – nach der Einreichung von drei Klagen – ob die Regelsätze zu menschenwürdigem Dasein ausreichen, und ob sie auf einer rechtmäßigen Basis ermittelt worden sind. Mit dem Urteil des BVG verbindet sich für viele die Hoffnung, dass ein generelles Recht auf ein Existenzminimum für alle formuliert wird. Um massenhafte Armut beziehungsweise Kinderarmut zu beseitigen, verlangen vor allem Soziologen einen ganzheitlichen Ansatz. Sie fordern die Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ebenso wie die Einbeziehung von Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau und Stadtentwicklungs-Politik mit der Familien- und Sozialpolitik.421

421 vgl. Butterwegge 281

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4.0  Zukunft von Hartz IV

4.0  Zukunft von Hartz IV

4.1  Politik der Regierungsparteien „Die beste Wohlfahrt ist ein Arbeitsplatz.“ 422

Am 17. September 2009 wurde zum 17. Mal der Deutsche Bundestag gewählt. Im Vorfeld der Wahlen äußerten sich die Parteien in ihren Wahlprogrammen auch zu der Sozialreform Hartz IV. Die amtierende Bundesvorsitzende der Union von CDU/CSU und wiedergewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss eine Kürzung der Hartz-IV-Leistungen (SGB II; ALG II) aus. Die Sätze für Hartz IV sollten sich stattdessen nach dem objektiv ermittelten Bedarf richten und im Gleichklang mit den Renten erhöht werden. Dazu sollten die Berechnungsgrundlagen alle vier Jahre umfassend überprüft werden. Die Parteien CDU/CSU versprachen in ihren Wahlprogrammen außerdem höhere Freibeträge für das so genannte Schonvermögen – Vermögen, das schon vorhanden ist und nicht mit in die Bezugsberechnung für Hartz IV eingerechnet wird.423 Die liberale Partei FDP kündigte in ihrem Wahlprogramm die Abschaffung des ALG II an. Stattdessen soll ein Bürgergeld in Höhe von 662 Euro eingeführt werden, in dem bereits die Kosten für Wohnung und Heizung einberechnet sind.424 425 Im Wahlprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) „Sozial und demokratisch“ werden die Agenda 2010 und Hartz IV nicht ausdrücklich kritisiert und nicht ausdrücklich in Frage gestellt. Dafür will die SPD aber die Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Arbeitsversicherung heißt dabei, dass jedem ein stärkerer Schutz vor Arbeitslosigkeit garantiert werden soll. Das schließt das Recht auf eine Weiterbildungsberatung ein. Die SPD kündigt außerdem eine verfassungskonforme Nachfolgeregelung für die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) an, und will das „Deutschland die weltweit bester Arbeitsvermittlung hat.“ 426 Die Regelsätze des ALG II sollen regelmäßig überprüft und gegebenenfalls bedarfsgerecht erhöht werden.427 Kritischer zeigen und äußern sich die Grünen zu Hartz IV. „Auch wer ohne Erwerbsarbeit ist oder sich aus anderen Gründen in einer Notlage befindet, muss ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen und sich auf eine armutsfeste Existenzsicherung verlassen können. Wir müssen eingestehen: Diesem Anspruch sind die von Rot-Grün mit verantworteten Arbeitsmarktreformen und das Arbeitslosengeld II nicht gerecht geworden. Mit derzeit 351 Euro ist eine Teilhabe am sozio-kulturellen Leben nicht möglich.“ 428 Sie

422 Rolf Seutemann, Präsident Landesarbeitsamt Brandenburg, 2003, https://www. neues-deutschland.de/artikel/40495.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 423 vgl. CDU/CSU: „Wir haben die Kraft.“ 30 ff 424 vgl. FDP: „Die Mitte stärken.“ 9 ff 425 Dieser Betrag würde unter dem bisherigen Betrag von ALG II liegen. Alle Empfänger hätten somit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung als vorher. 426 Sozial und demokratisch. 15 427 vgl. SPD: Sozial und demokratisch. 14 ff 428 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 85 ff

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4.1  Politik der Regierungsparteien

schlagen in ihrem Wahlprogramm eine „Grüne Grundsicherung“ für die sozialen Risiken des Lebens vor. Sie soll u.a. „ein auf Lebenszeit abrufbares Zeitkonto integrieren, über das im Bedarfsfall eigenverantwortlich verfügt werden kann.“ 429 Die Grünen versprechen eine Anhebung des Hartz IV-Satzes auf 420 Euro. Diese Grundsicherung soll ohne Sanktionen oder Bestrafungen bezahlt werden und somit wieder mehr Menschen motivieren, in Arbeit zu kommen. Diese Leistung als solche muss regelmäßig an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten angepasst werden. Die Zumutbarkeitsregeln des ALG II sollen entschärft und in besonderen Not- oder Lebenslagen zusätzlich wieder individuelle Leistungen ermöglicht werden. Auch die Anrechnung des Partnereinkommens soll abgeschafft und die Regelsätze für die Kinder und die Kindergrundsicherung erhöht werden. Wie auch die CDU sprechen sich die Grünen für eine Erhöhung des Schonvermögens aus.430 Als einzige Partei will Die Linke langfristig Hartz IV abschaffen und zukünftig durch eine bedarfs- und sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen. Aktuell fordert Die Linke aber u.a. die Anhebung des ALG II auf 500 Euro, die dann nach den Lebenshaltungskosten gesteigert werden sollen. In einem Sofortprogramm nach der Wahl wird u.a. gefordert: Das dem ALG II vorausgehende ALG I soll für alle Anspruchsberechtigten auf 24 Monate Bezug erhöht werden, damit das ALG II nicht mehr schon nach 12 Monaten beantragt werden muss. Die Zahlungsdauer des ALG I soll abhängig gemacht werden von der Dauer der Einzahlung. Jedes Jahr der Einzahlung – beginnend mit dem 3. Jahr – soll mit einem Monat der Auszahlung des ALG I verrechnet werden. Die Freigrenze für das Schonvermögen soll deutlich erhöht und die Entgelte der Ferienjobs von Kindern der Hartz-IV-Beziehenden nicht mehr mit angerechnet werden. Der Kinderregelsatz soll an den Kindesbedarf angepasst werden. Dabei soll der Bedarf eigenständig ermittelt werden. Ein Sanktionsmoratorium soll die Drangsalierung von Hartz-IV-Beziehern sofort stoppen und solche Sanktionsparagraphen wie § 31 SGB II – der Hausbesuche bei Hartz-IV-Empfängern zu deren Kontrolle ermöglicht – abgeschafft werden. Aufgehoben werden soll auch das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft. Ein-Euro-Jobs sollen in sozialversicherungspflichtige tariflich bezahlte Jobs umgewandelt werden. Sonderbedarfe sollen nach deren Nachweis zusätzlich übernommen werden.431 Nach der Wahl, bei der nur ein 72,2 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, bildete sich eine schwarz-gelbe Koalition aus CDU/CSU und FDP. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla verkündete: „Wir werden als bürgerliche Koalition fundamentale Ungerechtigkeiten des Hartz-IV-Systems beseitigen.“ 432 In dem nach der Wahl beschlossenen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP wurde beschlossen, dass es keinen kompletten Umbau der staatlichen Leistungen geben wird. Es wurde aber vereinbart, dass die rigiden Anrechnungsregelungen für Vermögen und Hinzuverdienst entschärft werden sollen. Konkret wurde festgelegt, dass es kein Bürgergeld nach den FDP-Vorstellungen geben wird. Es soll aber das Konzept eines bedarfsorientierten Bürgergeldes überprüft werden. Das Schonvermögen wird auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht.433 Bisher wurde nur 250 Euro für die Vorsorge im Alter nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Die Staatskasse wird dadurch mit der relativ geringen Summe von 300 Mio. Euro belastet – Hartz IV kostet 36 Mrd. Euro pro Jahr.434 Auch eine Erhöhung der Zuverdienstgrenze wird im Koalitionsvertrag festgehalten.435

429 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 87 430 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 95 431 vgl. http://www.linksfraktion.de/positionspapier_der_fraktion. php?artikel=7707238940, letzter Zugriff: 07.12.2009 432 http://www.neues-deutschland.de/artikel/157901.schwarz-gelbesozialkosmetik.html, letzter Zugriff: 28.10.2009 433 vgl. http://www.alkv-loeb-zit.de/docu/Folien-SGB-II-10-12-09.pdf, letzter Zugriff: 14.12.2009 434 vgl. http://www.n-tv.de/politik/Berlin-ist-Hartz-IV-Stadt-article618031.html, letzter Zugriff: 07.12.2009 435 vgl. http://www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009 74

4.1  Politik der Regierungsparteien

Bisher durften Langzeitarbeitslose von ihrem Hinzuverdienst 100 Euro abzugsfrei behalten. Von jedem weiteren Euro durften sie nur noch 20 Cent behalten. Und bei Hinzuverdienstsummen von über 800 Euro waren es nur noch 10 Cent pro verdientem Euro, den sie behalten durften. Das selbstgenutzte Wohneigentum bzw. die eigene Immobilie wird umfassender geschützt und somit vor dem Zugriff der Behörden entzogen. Nach diesen Vereinbarungen gab es Kritik. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin schlussfolgerte, dass nur eine Minderheit der ALG-II-Bezieher nach diesen Beschlüssen besser dasteht. So würden diese Verbesserungen im Jahr 2009 nur 0,2 Prozent der Betroffenen – das sind 11 000 Leistungsbezieher – wirklich helfen. „Mit Verlaub: Wer von 351 Euro im Monat leben muss, der braucht keine psychologische Botschaft, der braucht einfach mehr Geld. (…) Die wirklich Armen in dieser Gesellschaft, etwa die alleinerziehenden Mütter, werden mit solchen Beschlüssen verhöhnt.“ 436 Die SPD erreichte bei den Bundestagswahlen mit 23,3 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Wurde vor der Wahl die Agenda 2010 und Hartz IV nicht ausdrücklich kritisiert, so setzte nach dem Wahldebakel ein Umdenken ein. Auf dem im November in Dresden stattgefundenen Parteitag wurde Sigmar Gabriel als neuer SPD Vorsitzender gewählt. Die SPD verabschiedete sich von ihrer alten Führungsriege und richtete sich in ihren Zielen auf die bürgerliche Mitte aus. Man beschloss die umstrittenen Maßnahmen der Agenda 2010 bei den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zu überprüfen. Die SPD beschließt konkret, dass das Schonvermögen erhöht werden soll und dass es für die Kinder – deren Eltern ALG II beziehen – zukünftig einen eigenständigen und bedarfsgerechten Kinderregelsatz geben soll. Alle Vorschläge, die eine „Kindergrundsicherung“ betreffen, sollen bis Ende 2010 ausgearbeitet werden. Darüber hinaus wird beschlossen, dass die Regelsätze für ALG II regelmäßig überprüft und gegebenenfalls bedarfsgerecht erhöht werden sollen.437 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger schon vor der Wahl eine unbürokratische und nicht diskriminierende Form der sozialen Absicherung von vollzeitbeschäftigten Aufstockern für die SPD entwickelt hatte. Der „Bonus für Arbeit“ wurde von der ehemaligen Parteispitze Steinmeier und Müntefering jedoch ad acta gelegt.438 Ein Grund für diese Ablehnung ist wohl auch die von vielen geforderte Umwandlung aller Minijobs in Jobs, die der vollen Sozialversicherungspflicht unterliegen würden.439 Der DGB unterstützte den Bonusvorschlag, mit dem die Aufstocker von Sozialversicherungsbeiträgen entlastet würden, um ihre Einkommen Existenz sichernd zu machen.440

436 http://www.ad-hoc-news.de/fraktionschef-der-tagesspiegel-trittinschwarz-gelb--/de/Politik/20613506, letzter Zugriff: 07.12.09 437 http://www.tagesschau.de/inland/spdbeschluss100.html, letzter Zugriff: 07.12.2009 438 vgl. Bofinger 130 439 Das würde heißen, dass die Arbeitgeber Beiträge zu diesen Jobs leisten müssten. 440 vgl. www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/b/bonus_arbeit.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009

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4.2  Alternative Vorstellungen

4.2  Alternative Vorstellungen „Wenn die ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft nicht weiter erodieren sollen, dann brauchen wir in der Wirtschaftspolitik ein Neues Denken. Wir müssen der Internationalisierung der Wirtschaft eine neue politische Antwort entgegensetzen. Und diese neue politische Antwort heißt: Internationale Zusammenarbeit.“ 441

Durch die teilweise rigiden Auswirkungen der Sozialreformen haben in der Vergangenheit Parteien, Verbände und Organisationen Alternativen entwickelt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB war Mitinitiator und Befürworter der Hartz-IV-Gesetzgebung. Nach fünf Jahren setzte sich aber innerhalb des DGB die Erkenntnis durch, dass durch die Hartz-IV-Reform die soziale Sicherung mehr um – und abgebaut wurde als jede andere Reform es vorher jemals getan hat. Annelie Buntenbach – Politikerin der Grünen, Vorstandsmitglied im DGB und Mitglied bei attac – sieht in der Hartz-IV-Gesetzgebung keine moderne, am Einzelfall ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik, sondern nach wie vor ein Gesetz das für ein hohes Armutsrisiko steht.442 Deshalb sind ernsthafte Verbesserungen unbedingt nötig. Also müsste der Hartz-IV-Satz angehoben werden. Buntenbach äußert die Hoffnung, dass das Nachfolgemodell – das durch die Nichtanerkennung der ARGEn als GmbH durch das Bundesverfassungsgericht – bis Ende 2010 entwickelt werden muss, Verbesserungen bringt. Mit der Neufassung der ARGEn sollten auch die „unsinnigen und teuren 1-EuroJobs bis hin zum Regelsatz“ und die verschärften Sanktionen abgeschafft werden.443 Stattdessen müssten Beratung, Vermittlung und Betreuung verbessert werden, damit die Arbeitslosen wieder dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Der DGB will sich wieder aktiv in die Diskussionen um das ALG II einschalten, denn seiner Meinung nach reichen punktuelle Verbesserungen nicht aus. Im Interesse der Beschäftigten sowie der Arbeitslosen fordert der Gewerkschaftsdachverband tarifvertraglich abgesicherte Löhne und Arbeitsbedingungen sowie eine bessere Absicherung und Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Der DGB regt keine bundesweiten gemeinsam organisierten Protestaktionen an. Er setzt vielmehr auf die Aufklärung und konkrete Hilfe für die Betroffenen durch beispielsweise lokale Beratungsstellen wie den in der Landeshauptstadt ansässigen „dau-wat e.V.“. Der Sozialverband Deutschlands (SoVD) und die Volkssolidarität (VS) fordern gemeinsam, das Leistungsniveau von Hartz IV dringend zu verbessern. Der SoVD fordert, dass Ersparnisse zur Altersvorsorge grundsätzlich nicht mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet werden dürfen. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband tritt – so wie andere auch – dafür ein, die Zuständigkeit für das SGB II den Kommunen zu übertragen. Denn nur so können Schnittstellenprobleme und Reibungsverluste vermieden werden. Auch das Prinzip der „Hilfe aus einer Hand“ sollte sich nach Meinung der Verbände durchsetzen, damit die Arbeits- und Sozialförderung den örtlichen Gegebenheiten besser angepasst werden kann. Darüber hinaus ist es nötig, die Regelsätze von SGB II und SGB XII umgehend auf 440 Euro zu erhöhen, da mit dem aktuellen Regelsatz der tägliche Mindestbedarf des Menschen nicht gedeckt werden kann. Die Prüfung auf eine bedarfsgerechte Anpassung der Regelsätze soll zukünftig eine unabhängige Kommission übernehmen. Die Erhöhung der Regelsätze sollte sich an den aktuellen Lebenshaltungskosten und nicht an der Rentenentwicklung orientieren. Das gilt

441 Oskar Lafontaine, 1997, http://www.spw.de/9702/lafontaine.html, letzter Zugriff: 28.01.2010 442 vgl. DGB: Hartz IV – Tipps und Hilfen des DGB 6 443 ebd. 6

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4.2  Alternative Vorstellungen

auch für den Regelsatz für Kinder und Jugendliche. Auch er muss sich am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen ausrichten und soll in seiner Höhe durch eine unabhängige Kommission immer wieder neu berechnet werden. Die Verbände fordern weiterhin die Aufnahme einer Öffnungsklausel in das SGB II, damit atypische und einmalige Bedürfnisse wie die Anschaffung von notwendigem Hausrat und nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln besser finanziert werden können.444 Eine Alternative zum Bezug von Hartz IV und seinem Hintergrund „Fördern und Fordern“ ist das Konzept des so genannten Existenzgeldes. Das Existenzgeld soll eine bedarfsunabhängige Absicherung sein, bei der keine Bedürftigkeit zugrundeliegen muss und kein Zwang zur Arbeit besteht. Das Existenzgeld wird an jeden Bürger ausgezahlt und ersetzt so alle bisherigen sozialen Systeme. Tom Binger fordert ein Existenzgeld in Höhe von mindestens 800 Euro plus die Übernahme aller Wohnkosten.445 Kritik kam von den Arbeitslosen und Sozialhilfebeziehern und deren Organisationen, in deren Reihen das Konzept entstand. Eine nicht repräsentative Umfrage unter ihnen ergab, dass 17 Prozent die Idee kategorisch ablehnten.446 Hauptargument war dabei, dass die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger keine Almosen erhalten wollen. Sie wollen ihr Leben stattdessen lieber durch Erwerbsarbeit bestreiten können. Sie fordern eine Arbeit, von der man leben kann. Ähnliche Aussagen und Auffassungen konnte ich auch in meiner Umfrage und in meinen Interviews feststellen. Der Arbeitslosenverband ALV im Bund und im Land sieht ein Recht der Menschen auf ein steuerfinanziertes Grundeinkommen. Er begründet ihn damit, dass der gesamte Reichtum der Gesellschaft – ob nun in Erwerbsarbeit, privater Erziehungs- und Sorgearbeit, im kulturellen, sozialen, ökologischen und politischen Engagement oder in der Aneignung und Weitergabe von Wissen und Kompetenzen – von allen Menschen geschaffen wird. Daraus erwächst der Anspruch eines jeden auf eine angemessene Teilhabe an diesem Reichtum und an der Gestaltung der Gesellschaft. Dieser Anspruch sei aber mit Hartz IV, der Sozialhilfe und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht gewährleistet. Das geforderte Grundeinkommen müsse individuell und bedürftigkeitsgeprüft sein. Es solle ohne eine Arbeitsverpflichtung oder einen Arbeitszwang ausgezahlt werden. Die Höhe des Grundeinkommens sollte sich dabei an der Armutsrisikogrenze – sie liege zurzeit in Deutschland bei ca. 850 Euro – orientieren, und sich den tatsächlichen Lebenshaltungskosten anpassen. Jedes Kind erhält die Hälfte des festgelegten Grundeinkommens. Sozialversicherungsbeiträge sind nicht im Grundeinkommen enthalten und sollen stattdessen gesellschaftlich abgesichert werden. Der Arbeitslosenverband spricht sich für eine europaweite Einführung des Grundeinkommens aus.447 Der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommern ALV-MV sieht noch andere Lösungswege. Er schlägt vor, dass Langzeitarbeitslose u.a. bei der Existenzgründung als Verein oder Genossenschaft gefördert werden sollten. Dennoch ist auch für den ALV-MV die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen in Bereichen wie Umwelt, Gesundheit, Kultur usw. der sicherste und langfristig wirkungsvollste Schritt gegen Hartz IV, Armut, Altersarmut und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben. Er fordert, dass die Aufgaben der Jobcenter, der ARGEn und der Kommunen in einer Hand vereinigt werden müssen, denn 70 Prozent aller Arbeitslosen in Mecklenburg-Vorpommern fallen in den Problemkreis von SGB II.448 Das „Garantierte Grundeinkommen“ wird neben den Parteien „Die Grünen“ und „Die Linke“ von Sozialforen, Bürgerrechtsorganisationen wie dem „links-netz“ und dem Komitee Grundrechte und Demokratie favorisiert. Sie ver-

444 vgl. http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/10-Punkte-Agenda.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009 445 vgl. Binger 175 446 vgl. Wompel/Pandorf 82 447 vgl. http://www.arbeitslosenverband.org/PDF/PositionProzent20zumProzent20Grundeinkommen.pdf 448 vgl. ALV

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4.2  Alternative Vorstellungen

langen, dass das garantierte Grundeinkommen alle Formen der bisherigen sozialen Absicherung – etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Rente und Ausbildungsbeihilfen – bündeln soll. Damit wäre der bisherige Kontroll- und Vergabeapparat überflüssig. Das garantierte Grundeinkommen soll dabei aber deutlich höher liegen als die Sozialhilfe oder das ALG II. Zudem soll die soziale Infrastruktur, die öffentliche Güter für alle Menschen bereitstellt, so geöffnet werden, dass auch Leistungsbezieher Zugang beispielsweise zu Bildung, Kultur und Sport haben.449 Dieses garantierte Grundeinkommen soll durch Steuern auf alle Einkommensarten und wirtschaftliche Einheiten – Betriebe und Haushalte – finanziert werden. Darüber hinaus müssten Gewinn- und Körperschaftsteuern, Vermögens- und Erbschaftssteuern, Mehrwertsteuern und ökologische Verbrauchs- und Belastungsabgaben mit zur Finanzierung herangezogen werden. Neben dem garantierten Grundeinkommen soll jedem Menschen ermöglicht werden, durch Arbeit noch etwas hinzu zu verdienen.450 Als einen Irrweg bezeichnet der Soziologe Butterwegge in seinem Buch „Armut in einem reichen Land“ beziehungsweise in dem 10-Punkte-Programm für den Sozialverband Deutschland (SoVD) und die Volkssolidarität (VS) das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens – auch als Bürger- bzw. Existenzgeld, Sozialdividende oder negative Einkommenssteuer bezeichnet. Für Butterwegge sehen diese bereits bestehenden und in der realen Politik diskutierten Modelle nicht vor, die Sozialversicherungen mit einzubinden. Damit wären die Menschen im Falle sozialer Existenzrisiken – etwa im Falle von (schwerer) Krankheit oder/und Erwerbsunfähigkeit – noch schlechter gestellt, da ihnen diese Absicherung fehlen würde. Darüber hinaus würden für Butterwegge die Grundeinkommen als „Kombilohn für alle“ wirken. Den Unternehmen stünden damit noch mehr preiswerte Arbeitnehmer zur Verfügung, denn das Existenzminimum wäre ja schon durch das Grundeinkommen gesichert. Die Gewinne der Unternehmen würden damit noch stärker steigen und die Regierung werde nicht mehr unter dem selben Zugzwang stehen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die größte Gefahr sieht Butterwegge aber in der dann zu Tage tretenden Überflüssigkeit der anderen Sozialversicherungssysteme. Denn sie würden dann wegfallen, wenn (fast) alle Transferleistungen im Grundeinkommen aufgehen würden. Butterwegge plädiert daher für eine „Bürgerversicherung“, in der neben dem Grundeinkommen auch die Krankenversicherung und Pflegeversicherung gesetzlich verankert sind. Die gesetzliche Rentenversicherung müsse zur Erwerbstätigenversicherung weiter entwickelt werden.451 Er plädiert also für den Einbau von Elementen der Grundsicherung in die bestehenden Sozialsysteme.452 Erwähnt sei noch der Philosoph Peter Sloterdijk, der in einem Essay in der FAZ vom 10.06.2009 mit dem Titel „Die Revolution der gebenden Hand“ eine andere Utopie entwirft und damit eine breite Diskussion um den Steuerstaat entfacht hat. Mit ihm setzt sich der Journalist Martin Hatzius auseinander. Nach Sloterdijks Meinung sollten alle steuerfinanzierten sozialen Ausgaben durch Spenden der Wohlhabenden ersetzt werden. Wohlhabende sind für ihn die so genannten Leistungsträger – etwa Unternehmer, Manager, Politiker usw. –, also alle die, die die meisten Steuern zahlen. Sloterdijks Essay zeigt den Umgang der Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern. Der Vorschlag von Sloterdijk fördert weiter die ohnehin schon bestehende Zweiteilung der Gesellschaft in „Flüssige und Überflüssige“ und zeigt den Wunsch nach dem völligen Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung. Anstelle der Solidarität mit gesellschaftlichen Randgruppen und die Anerkennung sozialer Normen – etwa die Garantie der Menschenwürde – würde ein unterstellter Stolz des Spenders die Folge sein. Der Beschenkte verdanke sein Überleben der Gnade des Schenkenden. Kritiker halten diesem Konzept entgegen, dass die kapitalistische Ökonomie nur

449 vgl. Binger 174 ff 450 vgl. Binger 179 f 451 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/ broschuere_sozialabbau.pdf, S.25 ff, letzter Zugriff: 07.12.2009 452 Butterwegge 271 ff

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4.2  Alternative Vorstellungen

Zinsdruck und Profitzwang kennt. Aber keine Moral, so Hatzius. Für die Bedürftigen muss viel mehr ein starker, demokratisch legitimierter Staat planend eingreifen und die Gemeinschaft und das Individuum schützen. Der Staat muss das Regulativ der Gesellschaft sein, nicht der Markt.453 Alle bisher genannten Projekte und Konzeptionen bewegen sich im nationalen und europäischen Rahmen. Die medizinische Hilfsorganisation „medico international“ hat jedoch die Vision eines globalen Projekts sozialer Gerechtigkeit entwickelt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die gegenläufige Dynamik der Globalisierung und die ungerechte Verteilung des Reichtums. So stehe der Schaffung eines unvorstellbaren materiellen und symbolischen Reichtums die ungeheure Verarmung, Entrechtung und Ausgrenzung von Milliarden Menschen gegenüber. Aller Reichtum müsse deshalb weltgesellschaftlich angeeignet werden. „medico international“ fordert als Voraussetzung für diesen Prozess eine Weltbürgerschaft mit der Staatsbürgerschaft zu verknüpfen. Dies erfordere den Beginn einer Globalisierung von unten. Letztendlich sorgt aber die kapitalistische Weltökonomie selbst dafür, dass neue Formen der solidarischen und moralischen Ökonomie (Formen des fairen Welthandels, d.V.) entstehen.454 Zusammenfassend lassen sich die Forderungen der Kritiker, die über die Zugeständnisse der aktuellen schwarz-gelben Koalition hinausgehen, wie folgt beschreiben. Die Hartz-IV-Regelsätze und die Regelsätze für Kinder müssen erhöht werden. Die Anpassung der Regelsätze darf nicht nach der Rentenentwicklung geschehen, sondern muss sich nach den tatsächlichen Lebenshaltungskosten orientieren. Die Zumutbarkeitsregeln beim ALG II müssen entschärft bzw. abgeschafft werden. In besonderen Notlagen muss die Möglichkeit geschaffen werden, zusätzliche individuelle Leistungen zu erhalten. Gefordert (außer von der SPD) wird die Einführung einer Grundsicherung bzw. eines Grundeinkommens. Überwiegend wird sich dabei dafür stark gemacht, dass die Grundsicherung bzw. das Grundeinkommen nicht mit einer Arbeitsverpflichtung bzw. einem Zwang verbunden sein darf und die anderen sozialen Sicherungssysteme einschließt.

453 vgl. Hatzius, Martin: Ein Mensch ohne Mehrwert ist nichts mehr wert – Die von Peter Sloterdijk angestoßene Debatte über den Steuerstaat rührt an das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, in: Neues Deutschland, Berlin, Nr. 64/277, 28./29. November 2009, S.21 454 vgl. Binger 185 ff

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4.3  Widerstand und Protest

4.3  Widerstand und Protest „Der soziale Frieden in Deutschland ist extrem gefährdet, da bundesweit rund drei Millionen Menschen keine finanzielle Unterstützung erhalten.“ 455

Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger schreibt in seinem 2009 erschienen Buch „Ist der Markt noch zu retten?“, dass 75 Prozent der Bürger der Meinung sind, die wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht gerecht. Nur 13 Prozent halten sie für gerecht. Eine Umfrage unter der gleichen Fragestellung im Jahr 2000 ergab, dass nur 47 Prozent der Befragten die wirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht ansahen. 33 Prozent hielten damals die wirtschaftlichen Verhältnisse für gerecht. 2008 hatten rund 50 Prozent der in Ostdeutschland befragten Bürger keine gute Meinung mehr vom bundesdeutschen Wirtschaftssystem. Nur 20 Prozent von ihnen befürworteten die Marktwirtschaft.456 Der Meinungsumschwung ist auch in der Durchsetzung der Agenda 2010 und den Hartz-IV-Gesetzen begründet. Dieser Wandel verwundert insofern wenig, da die Arbeitslosigkeit steigt und im Osten sogar zweistellig ist. Zwei Drittel aller ALG-II-Anträge werden im Osten gestellt. Ende 2008 bekamen bundesweit 6,6 Mio. Menschen Hartz-IV-Leistungen. Jeder 10. Mensch unter 65 Jahren war also von Hartz IV betroffen.457 Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass es keine (bundesweiten) Massenproteste mit zehntausenden Menschen – wie vor der Einführung von Hartz IV – gibt. Vereinzelte Aktionen finden nach der Einführung von Hartz IV oft nur noch örtlich statt. Um wirkliche Veränderungen gegen Hartz IV herbeiführen zu können, bedarf es jedoch einer gemeinsamen Gegenwehr von lokalen Bündnissen und organisierten Verbänden. Solche sozialen Bündnisse benötigen eine politische bundesweite Bündelung, Koordinierung, Orientierung und Führung. Nur ein gefestigter Verband aus sozialen Bündnissen kann einen ernst zu nehmenden politischen Widerstand leisten. Nach Meinung der Politökonomin Anne Allex ist eine bundesweite Gegenwehr faktisch nicht möglich, da das Führungspersonal von Gewerkschaften, die zu sehr an die Regierung von SPD/Grünen gebunden seien, die dies nicht zulassen würden.458 Selbst der DGB – als Mitinitiator von Agenda 2010 und Hartz IV – beschränkt sich auf Kritik und Hilfe für die Betroffenen vor Ort (so durch die gewerkschaftliche Arbeitslosenberatung „dau wat e.V.“). Ein weiterer Grund für die relative Tatenlosigkeit der Gewerkschaften ist die verminderte Einflussnahme in den Betrieben. Denn nur noch in Kernbelegschaften von gut organisierten Betrieben hätten die Gewerkschaften noch einen ernst zu nehmenden Einfluss. In den meisten Unternehmen agieren die Gewerkschaften als Co-Manager, die die Arbeitsplätze erhalten wollen, und dafür einen Lohnabbau in Kauf nehmen. Dieses Denken findet sich auch bei den Angestellten und Beschäftigten. Wie groß die Angst vor dem Abstieg in Hartz IV ist und wie sehr Hartz IV als Drohung wahrgenommen wird, zeigt eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Im Herbst 2003, also noch vor der Einführung von ALG II, waren 71 Prozent der Befragten bereit, länger ohne Lohnausgleich zu arbeiten, wenn ihr Arbeitsplatz gefährdet sein sollte. Dieser Trend dürfte sich nach der Einführung von Hartz IV und der Offensichtlichkeit der Folgen noch verstärkt haben.459

455 Gemeinsames Positionspapier von Beschäftigten aus Sozialämtern und Bundesagentur für Arbeit, 2004, http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/verdinrw.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010 456 vgl. Bofinger 92 457 vgl. Hartz IV, Tipps und Hilfen des DGB, 6 f 458 vgl. Allex 32 ff 459 Gillen 83

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4.3  Widerstand und Protest

Die Politikwissenschaftlerin Gabriele Gillen sieht darin auch die Begründung, dass es so schwer ist, eine Solidarität zwischen den Arbeitenden und Arbeitslosen herzustellen. Ähnliche Versuche, sie gemeinsam zu organisieren, sind für Gillen schon in der Vergangenheit gescheitert.460 Um einen möglichst wirkungsvollen Protest zu organisieren, müssen sich die noch in festen Arbeitsverhältnissen stehenden Beschäftigten mit den Ausgegrenzten, den Erwerbslosen und den Hartz-IV-Empfängern solidarisieren und gemeinsam aktiv werden. Wichtig dabei ist die Einsicht, dass beide – sowohl die Erwerbstätigen als auch die Erwerbslosen – betroffen sind, denn wer heute noch Arbeit hat, kann schon morgen arbeitslos und übermorgen von Hartz IV abhängig sein. Der Politikwissenschaftler Michael Klundt ist auch der Ansicht, dass diese Solidarisierung kaum vorhanden ist.461 Selbst die Betroffenen sind kaum zu größeren Aktionen zu motivieren. Denn, wer wie sie im täglichen Überlebenskampf stehe, kämpfe schon genug. Die Entstehung einer Solidarisierung werde zusätzlich dadurch geschwächt, dass sich viele Empfänger von Hartz IV mit der Situation abfinden oder sich darin wohl fühlen. Viele hätten den Protest aufgegeben bzw. seien demoralisiert. Ernst zunehmende Alternativen des Protestes wären jedoch „bürgerschaftliche“ Organisationsformen, in die alle Betroffenen mit einbezogen werden müssten. Anne Allex nennt beispielsweise den 2004 gesetzten „Frankfurter Appell gegen Sozial- und Lohnraub“. 462 Diese Organisationsformen können auf die Politik von Parteien und Gewerkschaften vor Ort Einfluss nehmen und von unten Druck auf die politischen Ebenen der Länder und des Bundes machen. Erschwert wird die Arbeit dieser Organisationen durch die fehlende öffentliche Unterstützung. Alternativen wie „1 Million Arbeitsplätze durch öffentliche Daseinsvorsorge, Zukunftsinvestitionen, Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung“ oder das „Memorandum 2004“ würden auch mehr Wirkung erzielen können, hätten sie eine größere öffentliche und mediale Unterstützung. Diese Alternativen beinhalteten verschiedene Aufrufe von Wissenschaftlern, den Sozialstaat zu reformieren, statt ihn Stück für Stück abzubauen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, statt die Arbeitslosen zu bestrafen.463 Abzuwarten bleibt, inwieweit sich die neue Opposition im Bundestag aus SPD, Grünen und Linken mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Betroffenen zu gemeinsamen parlamentarischen bzw. öffentlichen Aktionen zusammen finden werden. Einigkeit herrscht aber schon jetzt darüber, dass tarifvertraglich abgesicherte Löhne und eine bessere Absicherung und Unterstützung bei Arbeitslosigkeit durchgesetzt werden müssen. Momentan bleibt den Betroffenen von Hartz IV oft nur die Hilfe zur Selbsthilfe durch die Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen und der individuelle Protest gegen die rigiden Festlegungen durch Widerspruch und Klagen vor Gericht. Im Jahr 2005 gab es knapp 57 000 Verfahren bei den Sozialgerichten in der Bundesrepublik, die sich mit HartzIV-Widersprüchen beschäftigen mussten. Im Jahr 2008 waren es bereits 175 000. Diese steigende Tendenz wurde mir auch auf Rückfrage beim Hanse-Jobcenter Rostock bestätigt.

460 vgl. Gillen 117 461 vgl. Klundt 51 462 Allex 33 463 Klundt 51 f

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4.4  Zusammenfassung

4.4  Zusammenfassung

Die neue Bundesregierung verzichtet vorerst auf weitere radikale Änderungen bei den Hartz-Gesetzen. Der eingeschlagene Weg wird stattdessen in kleinen Schritten fortgesetzt. Schwarz-Gelb gibt sich sogar als Wohltäter. Sie erhöht das Schonvermögen auf das Dreifache, erlaubt die Nutzung der eigenen Immobilie ohne Anrechnung und erhöht die Grenze des möglichen Zuverdienstes ohne Anrechnung. Dennoch darf man nicht vergessen, dass von diesen Verbesserungen 2009 nur wenige und vor allem erst die zukünftigen Bezieher von Hartz IV betroffen sind. Die Ausrichtung der Verbesserung lässt sich aber deutlich erkennen. Durch das Zugeständnis zu höheren Zuverdienstmöglichkeiten der Hartz-IVBezieher profitieren die Unternehmen. Sie können nun noch mehr staatlich subventionierte Arbeitsplätze einrichten oder die bisherigen in ihrer Arbeitszeit verlängern, ohne selbst für die zusätzlichen Arbeitszeiten und Arbeitsstellen finanziell aufkommen zu müssen. Die schwarz-gelbe Koalition kommt den Forderungen vieler Kritiker von Hartz IV und den Betroffenen nach. Möglichen Protestaktionen wird somit die Spitze genommen und größere soziale Spannungen werden vermieden. Bundeskanzlerin Merkel greift der 2010 zu erwartenden Arbeitslosigkeit vor. Aufgrund der krisenhaften Entwicklung ist nämlich davon auszugehen, dass dann viele gut bezahlte Facharbeiter und Angestellte arbeitslos werden, die über Vermögen und Immobilien verfügen. Viele andere wichtige Probleme werden aber von der neuen Bundesregierung nicht angepackt. Bestehen bleiben weiterhin die viel zu niedrigen Regelsätze, das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft, die nicht sozialversicherungspflichtigen Ein-Euro-Jobs und die Entkoppelung der Bezugsdauer des ALG I von der Zahl der Arbeitsjahre. Sollte sich in Zukunft nicht wirksamer Protest erheben, so werden diese Probleme vermutlich in verschärfter Form in einer Agenda 2015 oder 2020 angegangen werden. Auch im fünften Jahr nach der Einführung der Hartz-Gesetze sind sie eine einzige große Baustelle. So monierte das Bundesverfassungsgericht (BVG) die nicht verfassungsgemäße Konstruktion der ARGEn als GmbH und verlangt von der Bundesregierung bis Ende 2010 dieses Konstrukt aus Bundes- und kommunaler Einrichtung in eine verfassungsgemäße Form zu verändern. Seit dem Herbst 2009 hat dasselbe Gericht auch über die Rechtmäßigkeit und Höhe des Kinderregelsatzes zu entscheiden. Mit der Überprüfung des Regelsatzes für Kinder wird auch der Regelsatz für die Erwachsenen überprüft.

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5.0  Formulargestaltung

5.0  Formulargestaltung

5.1  Definition und Funktion von Formularen „Es mag einfacher sein, ein Land zu regieren, als eine Stromrechnung zu lesen.“ 464

Die Ausführungen auf den nächsten Seiten beziehen sich ausschließlich auf das Formular als papiernen Vordruck. Auch wenn für die digitalen Ausgaben ähnliche Gesetzmäßigkeiten und Forderungen gelten, so bedürfen sie einer gesonderten Betrachtung. Die Unterschiede zwischen beiden Medien sind vielfältiger als nur die Feststellung, dass Papiervordrucke ohne weitere Hilfsmittel gelesen, verbreitet und archiviert werden können. Digitale Formulare besitzen aufgrund ihrer Programmierbarkeit Vorteile wie Geschwindigkeit, Aktualität, Überprüfung auf Richtigkeit der Angaben und Validierung der Eingaben, aber auch Nachteile in Bezug auf Flüchtigkeit, Handlichkeit und Sicherheit. Da auf den folgenden Seiten ausschließlich papierne Formulare erörtert und besprochen werden, setze ich die Begriffe Formular und Vordruck gleich. Ich könnte dies nicht tun, wenn ich in meine Abhandlung auch digitale Formulare mit einbezogen hätte. Formulare oder auch Vordrucke oder Formblätter sind alle Arten schriftlicher Mitteilungen, die einen wiederkehrenden und einen variablen Bestandteil haben. Sie sind eine Darstellungsform für schriftliche Mitteilungen, um „eine oder mehrere Teilmengen aus einer vorgegebenen Gesamtheit von Informationen sichtbar zu machen. Es ist insofern ein Zeichensystem und damit einer semiotischen Systematisierung zugänglich.“ 465 Die Gesamtheit der Formularinformationen ist durch Worte, Texte, Zahlen und grafische Elemente definiert. Das Formular nutzt die zwei Dimensionen der Fläche des Papiers und ist „ein räumliches und in seinem linearen sprachlichen Aufbau auch ein zeitabhängiges Zeichensystem.“ 466 Formulare sind eine in Jahrhunderten entwickelte Form schriftlicher Mitteilungen, die aufgrund ihrer vorgedruckten Bestandteile und durch deren Gestaltung und Wiederholung dokumentarischen Charakter besitzt und beim Empfänger Sicherheit und Vertrauen auslöst.467 Ihre Struktur und ihre Gestaltung sollen dafür sorgen, dass Schreib-, Lese- und Bearbeitungszeiten und Bearbeitungsfehler verringert werden. Durch die Festlegung der Informationen und Informationswege sollen Arbeitsabläufe gestaltet und gesteuert werden können. Sie dienen sowohl der Informationsgewinnung als auch der Informationsübermittlung. Die wiederkehrenden Bestandteile, die meist typografisch gestaltet, zweckmäßig angeordnet und vorgedruckt sind, richten sich an alle Empfänger dieser Mitteilungsart, wohingegen sich die variablen Bestandteile an den Einzelnen richten. Die wiederkehrenden Bestandteile des Formulars sind Voraussetzung dafür, dass das Formular überhaupt erst als Muster gestaltet werden kann.468 Der variable Bestandteil wird meist durch die handschriftlichen Eintragungen des Ausfüllenden erzeugt.

464 Helmut Schmidt, Bundeskanzler a.D., http://www.windpferd.de/shop/pix/a/ media/978-3-89385-587-2/Leseprobe_978-3-89385-587-2.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010 465 Toebe-Albrecht 70 466 ebd. 70 467 vgl. Toebe-Albrecht 173 468 vgl. Albrecht 17 ff

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5.1  Definition und Funktion von Formularen

Ohne Formulare würden die Angaben für eine Bearbeitung unvollständig, ungeordnet und für eine schnelle Bearbeitung ungeeignet sein.469 Zusätzlicher Aufwand und Verzögerungen durch Rückfragen, Überlegungen und Sortierarbeiten wären die Folge. Neben ihrer Funktion als Informationsmittel sind Formulare also auch Organisations- und Arbeitsmittel. Das Formular kann in seiner Funktion als Arbeits- und Informationsmittel zeitlich und/oder räumlich getrennte Bearbeitungsschritte zu einem zusammengehörigen Verwaltungsprozess aus Prüfung, Entscheidung und Vollzug verbinden. Formulare sind Bestandteil eines strukturierten Arbeitsablaufes aus Erfassung von Informationen, Ansicht, Aufbereitung und Verknüpfung. Gefolgt von Auswertung, Ausgabe und Speicherung. Sie beschreiben, steuern und gestalten organisatorische und kommunikative Vorgänge von privaten wie staatlichen Institutionen, Verwaltungen und Organisationen. Formulare ermöglichen eine eindeutige, gleichmäßig geordnete Information, sie ersparen Schreib- und Denkarbeit, sie steuern den Arbeitsablauf.470 Sie halten das Ergebnis einzelner Arbeitsschritte (Aktenmäßigkeit) fest und sorgen somit für eine Überprüfbarkeit der Verwaltungsprozesse.471 Das Formular ist das Mittel der Mitteilung der Verwaltungen. Es vereinheitlicht Verwaltungsakte und organisatorische Vorgänge und begründet eine „Haltung der Zweckmäßigkeit und Rationalität.“ 472 Das Mißtrauen gegen die Willkür der Verwaltung konnte gemindert werden, denn „Was für alle bestimmt war, konnte auch der einzelne für sich akzeptieren.“ 473 Als Vervielfältigungen versuchen sie millionenfach durch standardisierte Fragen aus Individualität eine übersichtliche Ordnung zu schaffen. Sie sind ein Zeichen von Seriosität, weisen auf einen strukturierten Arbeitsablauf sowie Normen und Regeln hin. Seine – dem Formular eigenen – Elemente, wurden vorher definiert und ebenfalls Regeln, Normen und Bestimmungen unterworfen. Ein Formular ist kein einmaliger, künstlerischer Entwurf, es ist ein konzipiertes Werk. Was erzählt werden soll bzw. erzählt werden muss, gibt das Formular vor. Was der Sender (der Fragende, der Formulierende, der Herausgeber) mit Hilfe seines Formulars fragt, beantwortet der Empfänger (der Klient, der Adressat) durch sein Ausfüllen. Wie der Herausgeber mithilfe seines Formulars fragt, kann der Klient nicht beeinflussen. Der Herausgeber glaubt die Antworten zu kennen, und sieht dafür Freiräume vor. Kurz und knapp wird eine Frage gestellt, kurz und knapp muss geantwortet werden. Bei den Antworten ist man um Präzision bemüht, auf eine konkrete Frage muss konkret geantwortet werden. Raum für Interpretationen gibt es nicht, der Raum für Antworten ist bewusst eingeschränkt. Denn je enger der Spielraum für die Antworten, desto klarer sind die Grundlagen für eine Auswertung. Die Antworten sind das auf das Notwendigste reduzierte Substrat individueller Lebensentwicklungen. Das Formular fordert auf zu antworten. Es ist das Grundgerüst eines Dialoges durch Mitteilungen. Der Ablauf, die Reihenfolge, der Inhalt und die Vollständigkeit des Dialoges sind vorgegeben. Der durch den Herausgeber vorgegebenen Form der Kommunikation kann sich nur untergeordnet oder verweigert werden. Schweige ich, so wird dennoch etwas ausgesagt. Ein Formular setzt die Bereitschaft zur Beantwortung einer Frage voraus – es verlangt von mir die Frage richtig zu erfassen und meine Angaben zutreffend und vollständig zu machen. Denn erst wenn die weißen Freiräume gefüllt worden sind, ergibt sich eine für den weiteren Vorgang sinnvolle und vor allem dienliche Mitteilung. Konnte eine Mitteilung entstehen, konnte auch ein Dialog entstehen. Das Freilassen eines für die Beantwortung vorgesehenen Feldes gibt aber auch schon Informationen – es teilt etwas mit.

469 vgl. Helbig 44 470 vgl. Helbig 44 471 vgl. Brinckmann 171 472 Toebe-Albrecht 65 473 ebd. 65

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5.1  Definition und Funktion von Formularen

Die entstandene Dialogsituation ist allerdings eine asymmetrische, da der Herausgeber mit dem Klienten ein auf ein genau fixiertes Ziel ausgerichtetes formalisiertes Interview führt und sich damit die Einwirkungschancen ungleich verteilen.474 Dabei wurden die Fragen soweit aufbereitet, dass sie die nötigen Informationen bewirken. Indess bleibt der Spielraum, der dem Befragten eingeräumt wird, möglichst eingeschränkt. Die Konsequenzen, die sich aus der Beantwortung der Fragen und der anschließenden Auswertung ergeben, haben nur Folgen für den Antwortenden, nicht aber für den Fragenden. Der Fragende und der Antwortende kennen einander nicht, sie befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen und Positionen, vor allem im Informations- und Zuständigkeitshorizont. Die Asymmetrie des Dialogs manifestiert sich noch in einem anderen Punkt. Der Adressat steht den Fragen des Formulars zunächst allein gegenüber, meist ohne Kenntnis darüber zu haben, aus welchem Kontext (Gesetze, Erlässe) die Fragen formuliert worden sind. Für ihn besteht nicht die Möglichkeit, wie in einem persönlichen Gespräch, bei Unklarheiten oder Verständnisfragen durch weiteres Fragen Klarheit zu erlangen. Die einseitige Befragung erlaubt nur Antworten, Gegenfragen können nicht direkt und unmittelbar gestellt werden. Abweichungen des Inhalts werden nicht so wie bei einem Gespräch als Bereicherung erfahren, sondern als fehlerhafte Eingabe, die den Arbeitsablauf belasten.475 Die Funktion bestimmt die Form des Formulars – kein schmückendes Element – nichts ist ohne Grund vorhanden. Standardisierte Ordnung und Knappheit sind die bestimmenden Elemente – das Formular ist ein Ort der Klarheit, Orientierung und Sicherheit. Dieser Ort enthält, typografisch unterscheidbar, die bereits vorgedruckten, konstanten, wiederkehrenden Bestandteile. In sie sollen die unterschiedlichsten, aber nie beliebige Informationen eingetragen werden – jede dieser variablen Informationen hat ihren ihr zugewiesenen Ort. Die konstanten Informationen versuchen mit Hilfe von Normen, die Differenziertheit der variablen Informationen zu bändigen. Die jeweils individuellen Antworten können miteinander durch die genormten Formulierungen des Gespräches verglichen werden. Den konstanten wiederkehrenden Bestandteilen kommt noch eine weitere Bedeutung zu. Sie strukturieren die variablen Bestandteile so, dass der üblichen Kodierung von Informationen durch Zeichen noch eine weitere zur Seite gestellt wird – die Kodierung durch die Anordnung auf dem Medium. „Der Text wird zum Bild.“ 476 Die Zielstellung ist klar. Die Anzahl der für die Kommunikation nötigen Informationen soll auf das Nötigste reduziert, standardisiert, vereinfacht und beschleunigt werden. Nur so können alle Prozesse und Vorgänge in schriftlicher Form ökonomisch und effizient festgehalten werden. Will man wirtschaftliche und organisatorische Prozesse optimieren und Lese-, Bearbeitungs- und Verwaltungsvorgänge vereinfachen, so muss man die an einem Prozess Beteiligten und deren Handeln zeitlich und räumlich trennen können, aber dennoch die einzelnen Schritte nachvollziehbar halten.477 Für die Vereinheitlichung der Vorgänge und Informationen nach bestimmten Normen bei immer wiederkehrenden Vorgängen ist eine Standardisierung durch ein Formular nur logisch. Gerade in der Verwaltung, wo der Gegenstand der Kommunikation vielfach ähnlich oder der gleiche ist, kommen Formulare zum Einsatz.478

474 vgl. Brinckmann 133 475 vgl. Grosse 13 ff 476 Schwesinger 34 477 vgl. Menne-Haritz 86 478 vgl. Fotheringham 27

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5.2  Geschichte der Formulare

5.2  Geschichte der Formulare „Sie sind eine in Jahrhunderten entwickelte Form schriftlicher Mitteilung, die aufgrund ihrer vorgedruckten Bestandteile und durch deren Gestaltung und Wiederholung dokumentarischen Charakter besitzt und beim Empfänger Sicherheit und Vertrauen auslöst.“ 479

Formulare sind in unserer Gesellschaft eines der häufigsten und seit Bestehen des Buchdrucks auch eines der ältesten Informationsmittel. Man geht davon aus, dass in Mesopotamien schon vor rund 5000 Jahren Tontäfelchen bekritzelt wurden. Durch diese Methode wollte man das Verteilen von Tieren festhalten – am „Anfang war also nicht nur das Wort, sondern auch das Formular.“ 480 Der Ursprung des Begriffs formulare kommt aus dem Lateinischen und heißt Formel. Im Römischen Reich bezeichnete man bestimmte Gerichtsprozesse als „litigare per formulars“. Diese Prozesse wurden anhand von so genannten Formeln geführt. Inhalt der Formeln waren Instruktionen und Anweisungen, nach denen der Richter im gegebenen Fall zu entscheiden hatte. Sie war eine von der Obrigkeit vorformulierte und von den Parteien angenommene Schriftformel, die die Streitsache auf einen kurzen normgebenden Ausdruck brachte.481 Im Mittelalter wurden in den so genannten „formularien“ Texte für Urkunden gesammelt, die einleitende und schließende Floskeln sowie immer wiederkehrende festgelegte Wortfolgen für Rechtsverhandlungen enthielten. Sie ermöglichten es, Reinschriften anzufertigen, ohne dass im Vorfeld immer wieder neue Urkundentexte erdacht werden mussten. In den Klöstern schrieben die Mönche Blanko-Urkunden vor, die auch schon Anfangs-und Schlussfloskeln enthielten. Diese „Blankette“ mussten dann nur noch bei Bedarf in den Kanzleien vervollständigt werden.482 Die Arbeit wurde dadurch bedeutend erleichtert und auch die Quote der Rechtsfehler sank. Im frühen 13. Jahrhundert ging man davon aus, dass Beamte wissen, wie man richtig schreibt, und beschränkte sich auf die „Ars notariae“, Lehrbücher des Schreibens und Diktierens.483 In ihnen wurden die bei der Abfassung von Urkunden und Briefen zu beachtenden Regeln ausführlich theoretisch dargestellt. All diesen Prozessen war eins gemein – erstmalige räumliche und örtliche Prozesstrennung. Mehrere Personen konnten dank der Vorgaben zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten an einem Prozess arbeiten. Gutenbergs Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Metall-Lettern revolutionierte auch das Formular. Das älteste erhaltene Formular ist ein Ablassbrief aus dem Jahre 1454. Dieser erste, durch den kurz vorher erfundenen Buchdruck gedruckte Vordruck, ersparte durch seine vorgedruckten (wiederkehrenden) und auszufüllenden (variablen) Bestandteile, 95 Prozent der früheren Schreibarbeit. In die gedruckte Vorlage mussten nur noch wenige Daten, wie der Name des Käufers, die Buße, das Datum und die Unterschrift eingesetzt werden, damit der Ablassbrief seine sündenbefreiende Aufgabe erfüllen konnte.

479 Toebe-Albrecht 173 480 http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-der-Wiegebis-zur-Bahre.html, letzter Zugriff: 19.11.2009 481 vgl. Fotheringham 26 482 vgl. Schwesinger 56 483 vgl. Fotheringham 26

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5.2  Geschichte der Formulare

Die Auflage der Ablassbriefe lag zwischen 2000 und 6000 Stück.484 Weil sich durch diese Technik viel Zeit und Aufwand ersparen ließ, wurden schon bald weitere Verwaltungsvorgänge vorgedruckt: z.B. Einladungen zu gerichtlichen Verhandlungen oder, weit erfreulicher, zu Festen. Die Einflussmöglichkeiten der Zentralverwaltung auf die untergeordneten Strukturen erhöhte sich durch die erleichterte Vervielfältigung der schriftlichen Kommunikation.485 Es dauerte aber weitere 300 Jahre, bis sich nach dem ersten gedruckten Ablassbrief die Formulare auch typografisch weiter entwickelten. Man ging mehr und mehr dazu über, die Textbausteine auch auf der gedruckten Seite räumlich anzuordnen. So mussten die Vordrucke nicht mehr von Anfang bis Ende gelesen werden. Bei geschultem Blick konnten so die Informationen sehr viel schneller aufgenommen werden.486 Und durch die Stellung und Position auf der Seite erhielt die Information noch einen Bedeutungscharakter. Die Darstellung und Wahrnehmung der Informationen änderte sich also von der eindimensionalen, linearen Textdarstellung zur zweidimensionalen, flächigen Anordnung.487 Steuerbeamte brachten eine weitere Neuerung. Bis ins 14. Jahrhundert wurden Posten und Beiträge einfach linear hintereinander weg geschrieben. Im 15. Jahrhundert ging man dazu über, die Aufgaben in Spalten aufzuteilen. Die nötigen Linien mussten auf dem Formular allerdings noch von Hand gezogen werden.488 Eine Soll- und eine Haben-Spalte ergaben eine Tabelle, in der selbst eine Nichteintragung eine Information war. Säumige Zahler konnten dank der Strukturierung leichter ausgemacht werden. Die Arbeit mit Tabellen beschleunigte die Arbeit. Die Formulare konnten bald darauf noch besser gegliedert werden, als man in der Lage war, Linien, Klammern, arabische Ziffern und Schriften in verschiedenen Graden und Schnitten vorzudrucken. Die Tabelle ist auch heute noch eines der wichtigsten Elemente eines Formulars. Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden verstärkt in Handel und Gewerbe Quittungen, Erfassungsblätter steuerpflichtiger Güter und Genehmigungen vorgedruckt. Im 18. Jahrhundert erscheinen die ersten Briefköpfe. Freilassungsurkunden für Bauern oder Bestallungsbriefe für Beamte werden angefertigt. Dank der Effizienz der Tabellen begann man auch die Bevölkerung zu zählen oder Land zu vermessen. Dies kam dem rationellen Denken der Aufklärung zugute. „Das Wissen um die wahren Verhältnisse stand für eine rationalistische Geisteshaltung zugunsten der Aufklärung und Bürgerlichkeit.“ 489 Der 1796 entwickelte Lithografiedruck ermöglichte es erstmalig, vielfarbige Illustrationen zu vervielfältigen. Spezielle Spalten nur für die Eintragungen der Beamten und die Farbenprächtigkeit erhöhten die Wichtigkeit der Schriftstücke. Die zunehmende Bürokratisierung verlangt nach einer immer schnelleren Erfassung und Bearbeitung der Informationen über die Bürger. Rationalität ist das bestimmende Element im 18. Jahrhundert, auch in der Verwaltung. Immer mehr Aufgaben, wie z.B. Bildung und die öffentliche Sicherheit, wurden vom Staat übernommen, und das verlangte nach immer mehr Formularen. „An die Stelle der Aristokratie trat die Bürokratie und ersetzte das Herrschen der Oberschichten durch die Zirkulation der Akten.“ 490 Folglich wird das einzelne Individuum immer stärker in das bürokratische System eingeordnet, es beginnt die Kategorisierung des Einzelnen.

484 vgl. Fuchs, Boris: „Der Formulardruck aus historischer Sicht – Die Jahrestagung 2003 des IADM im Hamburger Museum der Arbeit“, 2003, http://www.vdd-net.de/ Publikationen/Fuchs/Boris-Fuchs-18-11-2003.html, letzter Zugriff: 17.11.2009 485 vgl. Wunder 29 486 vgl. Menne-Haritz 86 487 vgl. Schwesinger 58 488 ebd. 58 489 Schwesinger 58 490 Schwesinger 60

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5.2  Geschichte der Formulare

Doch nicht nur in der Verwaltung steigt der Bedarf an Formularen.491 Auch die Industrie und der Handel, unter dem Einfluss der Industrialisierung stehend, benötigen immer mehr Formulare zur Bewältigung der Prozesse. Rechnungen und Schecks mussten ausgestellt und Löhne abgerechnet werden. In der Industrie wie auch in der Verwaltung herrschte das Bestreben nach einer effizienteren Organisation. Einen erneuten Schub an Effizienz erhält die Verwaltung durch die Erfindung der Schreibmaschine (erfunden 1714, verkaufsreife Modelle erst ab 1865). Die gleichmäßigen Abstände der Zeichen und Zeilenabstände sorgten für eine bessere Lesbarkeit und Übersichtlichkeit, Kohlepapier ermöglichte eine Sofort-Kopie. Die industrielle Revolution sorgt darüber hinaus dafür, dass Anfang des 20. Jahrhunderts ästhetische Konzepte nicht mehr nur durch den Geschmack – also durch ein Sinnenurteil – sondern auch durch einen vom Lebensausdruck bestimmten Problemhorizont beurteilt werden. Wie Gegenstände hergestellt und genutzt werden können, rückt in das Zentrum der Betrachtungen. Die Herrschaft des Dekorativen und der Verkunstung wird zunehmend kritisiert. Hermann Muthesius Forderung nach material-, zweck- und werkgerechtem Gestalten führt zur Gründung des an der Industrie orientierten Deutschen Werkbundes. Das funktionelle Gestalten wird von der Architektur auf mobile Objekte der Serienproduktion übertragen. Der Funktionalismus findet mit seinen Vorstellungen – dass sich die Gestaltungsweise aus dem Zweck des zu gestaltenden Gegenstandes ableiten muss – bei der Formulargestaltung ein ideales Spielfeld. Die Frage, wofür etwas gestaltet werden soll, ist wichtiger als die Frage, wie etwas gestaltet werden soll – die Funktion wird als Ziel bestimmt. Dabei wird der Adressat bzw. der Nutzer in den Vordergrund gestellt und nicht der Absender bzw. der Erschaffer. Jedes Werk hat zwei Seiten. Der objektiven Seite der Form des Objektes – System, Struktur, Form und Formales – steht die subjektive Seite des Autors – Autonomie, Freiheit, Ungebundenheit – gegenüber.492 Das schmückende Beiwerk bisheriger Formulare verschwindet. Strenge Linien statt Zierleisten, Grotesk statt Handschriften, funktionale und sachliche Übersichtlichkeit durch horizontale und vertikale Ordnung statt wilder Opulenz. „Die Drucksachen, die uns stündlich begegnen, sind nur selten in angenehmen Lettern und übersichtlich gedruckt. Häufig sind sie lärmende Orgien wildgewordener Buchstaben und selbstbewusst auftretender Wurstigkeit.“ 493 Von den bisherigen Gepflogenheiten wird sich radikal abgegrenzt. Man will einerseits typografisch experimentieren, aber andererseits standardisieren, vereinfachen und praktischer vorgehen. In den zwanziger Jahren nimmt die Forderung nach höheren Organisations- und Standardisierungsgraden sowie längerer Lebensdauer bei gleichzeitiger finanzieller Beschränkung bei der Produktion zu. Die Gegenstände sollen funktionieren, dem Zweck dienen, ihre Funktion erfüllen, dabei aber gleichzeitig haltbarer, billiger, schöner und zeitloser sein. Die „Funktionale Typografie“ („Elementare Typografie“) zeigt ihren Einfluss bei den Formularen – Kurt Schwitters gestaltet z.B. für seine Heimatstadt Hannover Formulare neu. Ab 1955 baut die Schweizer Typografie auf der Elementaren Typografie auf. Bezeichnend bleibt der Verzicht auf schmückende Elemente, die strenge Darstellung und die überwiegende Verwendung von Groteskschriften in wenigen Schriftgraden. Dieser Einfluss hält bis heute an. Inhaltliche Nominierungen und Standardisierungen entscheiden in den Jahren von 1933-45 über Leben oder Vernichtung. Über menschliches Leben wurde mit abstrakt formulierten Vordrucken entschieden. Ein Ausbürgerungsschein mit der Notiz „Alterstransport“ hieß nichts anderes als die Deportation in ein NS-Vernichtungslager. Formulare hatten wohl nie wieder eine solch lebensbedrohende Funktion als zu dieser Zeit. Hatten sie vorher die Funktion, das soziale Leben zu unterstützen, indem es das soziale Gefüge ver-

491 vgl. Reindl 122 492 vgl. Hirdina 588 493 Tschichold 7

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5.2  Geschichte der Formulare

suchte zu ordnen und zu verwalten, so diente es jetzt dazu, Teile des sozialen Gefüges zu vernichten und eine neue Ordnung zu schaffen.494 Eine neue Effizienzmarke wird in den siebziger Jahren gesetzt. Die verstärkte Verbreitung der EDV-Technik sowie die Verbesserungen im Druck und Satz ermöglichen eine noch schnellere Erstellung und Bearbeitung der Formulare. Die Zeitersparnis beim schriftlichen Erfassen, als eine der wichtigsten Aufgaben der bisherigen Formulare, verliert an Bedeutung. Die Technik ermöglicht es, dass die Formulare schneller geschrieben als gelesen und bearbeitet werden können. Deshalb wird es auch immer wichtiger, dass sich die Leseund Bearbeitungszeit verringert.495 Bearbeitungszeiten und Bearbeitungsfehler lassen eine Einschätzung zu, wie schnell und sicher ein Vordruck die Informationen übermittelt. Die Vorteile digital gespeicherter Daten wurden damals zusehends klarer. Sie konnten beliebig oft bearbeitet, weitergegeben, verknüpft, abgeglichen, abgerufen und wieder bearbeitet werden. Der erste Schritt in diese Richtung war die computergerechte Vorstrukturierung der Formulare. Gänzlich von manueller Arbeit war man aber noch nicht befreit, die ausgefüllten Formulare mussten noch immer manuell erfasst werden. Das änderte sich erst mit der Einführung von Belegelesern. Sie machten die manuelle Übertragung überflüssig, da sie die zwischen Kästchen und Kämme gezwungenen handschriftlichen Eintragungen erkennen konnten. So hatte man es zwar geschafft, die Arbeitsprozesse erneut zu beschleunigen, aber auf den papierenen Zwischenschritt über ein Formular – das zwischen Mensch und Maschine stand – konnte dennoch nicht verzichtet werden. Einen Versuch, das Papier als Zwischenschritt auszuschalten, unternimmt man mit dem so genannten „e-government“. Kommunikative- und verwaltungstechnische Prozesse zwischen einer staatlichen/kommunalen Behörde und deren Bürgerinnen und Bürgern sollen durch digitale Techniken vereinfacht, beschleunigt und günstiger werden. Der Austausch der Informationen soll vorwiegend über das Internet geschehen. Dieser Kern der Neuerung bringt auch gleichzeitig das Hauptproblem mit sich – es fehlt an der entsprechenden Akzeptanz. Die Gründe dafür sind verschieden. Das Unsicherheitsdenken der Anwender, der fehlende Beweis der Rechtsfähigkeit, die fehlende Beweissicherung, der fehlende Urkundscharakter, die fehlenden Möglichkeiten der Authentifikation, Aktenführung und Zeichnungsrechte – alles an sich schon erhebliche Probleme. Noch schwerwiegender ist aber die Behinderung durch die unterschiedlichen Technikstandards (Medienbruch) innerhalb der Bevölkerung. Fast alle jetzigen Stufen des „e-government“ haben aber noch immer eine papierene Stufe, meist um den Bereich der Rechtsfähigkeit klarzustellen. Ein gutes Beispiel, sowohl für die Bestrebung des e-government als auch für die Problematik des Medienbruches, findet sich unter dem Formularservice des Landes Thüringen.496 Der Service bietet ein umfassendes Angebot an behördlichen Formularen, wirklich nutzen können den Service aber nur die Benutzer des Windows Internet Explorers. Anders sieht es da schon beim „e-commerce“ aus. Schon jetzt laufen ganze Verkaufstransaktionen digital ab. Kauf, Bestätigung, Versand, Sendungsverfolgung, Rechnung, Bewertung und Rücksendeauftrag – alles digital vorbereitet und abrufbar. Seine Dringlichkeit und Aktualität braucht die Idee des „e-government“ nicht mehr zu erbringen. Bei der fortschreitenden Bevölkerungswanderung und Zentrierung in urbanen Lebensräumen muss die Verwaltung handlungsfähig bleiben. Anders als in den immer dünner besiedelten Gebieten. Dort hat sie aufgrund der Personalsituation damit zu kämpfen, überhaupt handlungsfähig und erreichbar zu sein.497

494 vgl. Schwesinger 66 f 495 vgl. Toebe-Albrecht 18 ff 496 vgl. http://www.formularservice.thueringen.de/, letzter Zugriff: 20.11.2009 497 vgl. Schwesinger 70

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5.3  Typen von Formularen

5.3  Typen von Formularen „Die Vielfalt der sich im Umlauf befindenden Formulare scheint unüberschaubar. Für fast alles, das irgendwie mit Bürokratie zu tun hat, gibt es ein Formular.“ 498

Nach der Sender-Empfänger-Beziehung werden zwei Arten von Formularen unterschieden.499 Grundsätzlich kann man nach Mitteilungs- oder Dialogformularen, bestimmt durch die Richtung des Informationsflusses, unterscheiden. Diese Unterscheidung kann noch mal spezifiziert werden, indem man zwischen Formularen für den internen oder externen Gebrauch unterscheidet. Bei den Mitteilungsformularen geht die Information nur in eine Richtung, vom Sender/Herausgeber zum Empfänger/Klienten. Rechnungen, Quittungen, Auftragsbestätigungen, Darlehens- oder Lebensversicherungsverträge sind solche Formulare. Der Sender füllt das Formular mit Informationen, informiert damit den Empfänger und erwartet eine bestimmte Reaktion. Der Empfänger wiederum nimmt diese Informationen zur Kenntnis und handelt eventuell danach. Das Formular verbleibt beim Empfänger. Das Formular hat mit der Informationsübermittlung seine Aufgabe getan. Anders sieht es bei den Formularen für die Informationsgewinnung aus. Bei diesen Formularen geht der Informationsfluss in zwei Richtungen. Der Sender erfragt mit Hilfe des Formulars Informationen vom Empfänger. Dabei gibt der Sender (Herausgeber) die auszufüllenden Abschnitte vor und überstellt sie an den Empfänger (Klienten). Dieser soll dann die Abschnitte mit seinen Informationen füllen. Die Formulare kehren vom Empfänger – er wird jetzt zum Sender – ausgefüllt zum Sender – er wird zum Empfänger – zurück. Durch den Wechsel beim Sender-Empfänger-Prinzip (Herausgeber und Klient werden jeweils zu Sender und auch zu Empfänger) kann von einem Dialog gesprochen werden – Herausgeber und Klient interagieren miteinander. Man spricht hier auch von Dialogformularen. Eine besondere Bedeutung unter den informationsgewinnenden Dialogformularen hat das Antragsformular. Bei behördlichen Antragsformularen bezieht sich der Anspruch des Klienten meist auf gesetzlich verbriefte Rechte. Die Uniformität es Antragsblattes verfolgt mehrere Ziele. Sie betont die Gleichheit des Bürgers vor dem Gesetz, sie sammelt und garantiert die für die Bearbeitung und Entscheidung erforderliche Datenmenge, und sie ermöglicht eine relativ rasche und gut vergleichbare Auswertung.500 Deshalb müssen Antragsformulare auch immer begründet werden, und die Darstellung der Berechtigung auf eine bestimmte Leistung hat immer auf eine bestimmte festgeschriebene Form zu erfolgen. Der Weg der Antragstellung ist ähnlich vorgeschrieben. Der Antragsteller hat seinen Anspruch meist im Vorfeld schon dem Herausgeber mitgeteilt. Dieser überstellt daraufhin dem Klienten ein Antragsformular, um die für seine Entscheidung nötigen Informationen zu sammeln. Der Antragsteller (Klient) ist nun – nach der Mitteilung des Anspruchs auf eine Leistung – erneut gefragt und muss handeln. Er füllt an die vorgesehenen (wiederkehrenden, konstanten) seine individuellen (variablen) Informationen ein und überstellt das ausgefüllte Formular wieder zurück an den Empfänger. Den Antragsformularen sind meist noch Erklärungsformulare zugeordnet. Charakteristisch für Erklärungsformulare sind die vorformulierten Erklärungen, die meist die finanziellen Lebensumstände erfragen.

498 Schwesinger 74 499 vgl. Toebe-Albrecht 22 ff, 173 ff 500 vgl. Grosse 16

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5.3  Typen von Formularen

Weitere Typen von Formularen sind: - Anmeldeformulare: sie übermitteln den Wunsch nach Teilnahme bzw. bestätigen die schon bestehende Teilnahme - Auftrags-und Vertragsformulare: das sind meist standardisierte Verträge, die den Anspruch auf eine Leistung oder ein Produkt festschreiben - Rechnung und Quittung: sie dienen der Aufforderung beziehungsweise Dokumentation von Zahlungsvorgängen oder Überstellungen - Bescheide: sind vorformulierte Mitteilung über den Ausgang einer Entscheidung - Hinweisformular: sie bezeichnen vorformulierte Mitteilung über Ereignisse und Prozesse - Fragebögen: sie dienen der Erhebung vergleichbarer Information nach standardisierten Vorgaben - Urkunden: bezeichnen autorisierte Bekundung bzw. Beweis eines Ereignisses - Wertpapiere: sind eine Unterkategorie der Urkunde, mit ihnen sind Rechte verknüpft, die ohne diese weder geltend noch übertragen werden können - Berichts-Protokollformular: sie dienen der Erfassung und Speicherung von Informationen über Vorgänge, Prozesse, Zustände zur Nachvollziehbarkeit, Rechtfertigung, Archivierung Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit, unabhängig von der Richtung des Informationsflusses, bietet die Unterscheidung nach dem Grad der Nähe zum Rechtstext. Unterschieden wird dabei, ob die Angaben zu einem bestimmten Vorgang einer juristisch nicht gesteuerten Beschreibung oder eher einer „juristisch gesteuerten Beschreibung unter freier Verwendung oder gebundener Verwendung von Begriffen oder unter Verwendung gerade der und nur der Begriffe des Gesetzes“ zuzuordnen sind.501 Einfacher: Formulare mit nicht juristisch gesteuerter Beschreibung sind Formulare wie z.B. „Beschreibung der verlorengegangenen Gegenstände“. Im Gegensatz dazu orientieren sich juristisch gesteuerte Formulare eng an den „im Gesetz, der Verordnung, den Verwaltungsvorschriften vorgegebenen Gliederungen des Tatbestandes in einzelne Merkmale und fragen diese ab.“ 502 Für die weiteren Erörterungen scheint mir aber letztere Unterscheidung nicht von Vorteil zu sein.

501 Brinckmann 215 502 Brinckmann 216

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5.4.3  Schlussfolgerungen

5.4.3  Schlussfolgerungen

Verstehen heißt, die Menge der Einzeldaten durch Ordnung, Darstellung von Zusammenhängen, Visualisierung der Ordnungsbeziehungen und durch Verwendung von Gestaltmustern zu verringern. „Das, was der Empfänger aufgrund bekannter Zusammenhänge und Ordnungsmuster erwarten, erraten oder sonstwie in eine Nachricht einsetzen kann, stellt für ihn keine zusätzliche Information dar. Den Begriff ‚Verstehen‘ auf diese Weise zu definieren, hängt mit der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns zusammen.“ 520 Wenn Informationen schnell und sicher vom Sender zum Empfänger und zurück übertragen werden sollen, so müssen für schriftliche Informationsmittel die menschliche Informationsaufnahme und -verarbeitung, die Arbeitsweise des Auges, des Gedächtnisses und die Lernstrategien des Menschen beachtet werden. Die menschliche Verarbeitung von Informationen geschieht daten- und konzeptuell gesteuert. Deshalb müssen die in einem Formular eingesetzten Mittel die Mustererkennung beim Empfänger ermöglichen. Will sich ein Sender verständlich machen, muss er sich möglichst bekannter Muster bedienen oder sie so gestalten, dass sie erlernbar sind. Der Sender muss versuchen, gezielt Informationen für den Empfänger zu verringern. Möglich wird dies, indem er inhaltliche Ordnungsbeziehungen herstellt und visualisiert. Den Lese- und Bearbeitungsverlauf kann er beschleunigen, indem er die langsame sequenzielle Informationsverarbeitung des Lesens verkürzt. Darüber hinaus kann die Anzahl und die Dauer der Fixationspunkte und damit der Rückläufe reduziert werden. Wichtige Daten können auffällig gestaltet werden, wenn sie dem Empfänger – unterstützt durch die konzeptuelle Informationsverarbeitung – eine schnelle Identifikation von Sender und Vorgang und einer Einordnung in Zusammenhänge ermöglichen. Als wichtige Informationen sollten auch nur diejenigen angesehen werden, die die Reaktion des Empfängers im Sinne des Senders beeinflussen. Eine auffällige Gestaltung darf aber nicht zu Lasten der Information gehen – alle Informationen müssen lesbar bleiben. Gerade das Formular ist durch seine wiederkehrenden Bestandteile prädestiniert, Muster zu gestalten. Dem Empfänger wird durch die Wiederholung der Muster das Erlernen und damit das schnellere Erkennen der Muster ermöglicht – die konzeptuelle Verarbeitung wird angesprochen. Der Empfänger erkennt das Muster „es ist redundant und hat keine oder nur eine geringe Information für ihn.“ 521 Der Empfänger kann aufgrund seines Wissens und seiner Erwartungen die Mitteilung schneller und sicherer einordnen. Die Fehlerquote und damit auch die Lese- und Bearbeitungszeit wird durch die Gestaltung verringert. Verständliche Formulare müssen deshalb die Informationen für den Empfänger verringern, ihn bei der Bearbeitung führen, eine schnelle Identifikation ermöglichen und für ihn lesbar sein. Dies kann nicht ohne die Auswahl und Gliederung der Vordruckdaten im Sinne der Informationsverringerung und Benutzerführung geschehen. Wiederkehrende Daten müssen von den variablen Daten eindeutig unterscheidbar und in ihrer Wiederholung für den Empfänger erlernbar sein. Den wiederkehrenden Daten obliegt die Visualisierung der inhaltlichen Beziehungen. Variable Daten müssen als solche klar erkennbar und im Sinne des Benutzungsablaufs und der Leserichtung angeordnet sein. Für alle Daten – sowohl für die variablen als auch für die wiederkehrenden gilt, dass sie lesbar sein müssen; „eine Forderung, die für alle schriftlichen Informationsmittel gilt.“ 522

520 Toebe-Albrecht 171 521 Toebe-Albrecht 46 522 Toebe-Albrecht 48 97

5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde „Es dürfte kaum noch eine andere Textsorte geben, die vom Autor mit einem solchen Maß an Widerwillen produziert wird. Die fehlende Motivation zum Schreiben und zugleich der Zwang, es doch tun zu müssen, charakterisieren die im Vordruck enthaltenen Mitteilungen des Bürgers als Texte sui generis“ 523

Formulare sollen Kommunikation zwischen dem Herausgeber und dem Ausfüllenden schaffen. Dazu sollen die nötigen Informationen gesammelt, gespeichert und ausgewertet werden können. Weil vorhersehbar ist, welche Informationen für eine Verwaltungsentscheidung nötig sind, kann mit Vordrucken (die „vorgedruckte“ Informationen enthalten) gearbeitet werden. Der Umfang und die Variation der einzutragenden, variablen Informationen wird durch Inhalte, Reihenfolge, Darstellungsarten-, und umfang vorhergesehen und damit vorgegeben.524 Damit ein „korrektes“ Formular entsteht, müssen zu den wiederkehrenden Informationen nur noch die variablen Informationen eingetragen werden. Und eben diese Teilung der schriftlichen Informationen in wiederkehrende und variable Informationen, machen das Formular gegenüber anderen schriftlichen Mitteilungen so besonders. Die wiederkehrenden Informationen sind für alle Empfänger gültige Daten und Voraussetzung dafür, dass das Formular als Muster gestaltet werden kann. Sie dienen der schnellen Identifikation des Senders und des Vorganges. Die wiederkehrenden Informationen erlauben es, dass dieselben Begriffe verwandt und dieselben erlernbaren Gestaltmuster visualisiert werden können.525 Dem Empfänger wird die Möglichkeit gegeben, das Muster zu erlernen und sofort zu erkennen. „Er kann auf diese Weise sein Wissen und seine Erwartungen nutzen.“ 526 Die wiederkehrenden Daten sind der konzeptuell gesteuerte Teil der Informationsverarbeitung. Der Empfänger erkennt durch die Wiederholung den Vorgang, durch das redundante Muster, das eine geringere oder gar keine Information für ihn hat. Die Art der Anordnung und Visualisierung der Daten verringern die Informationen. Der Benutzer wird schnell und sicher geführt, er kann die wichtigen Informationen selektieren. Durch die Gestaltung des Formulars wird dem Benutzer ermöglicht, Einzeldaten, Datenblöcke und die Gesamtinformation zu sehen, seine Lese- und Bearbeitungswege werden gelenkt. Das Formular ermöglicht es, die benötigten Informationen gezielt auszuwählen, es muss nicht der gesamte Inhalt gelesen werden, die langsame sequenzielle Informationsverarbeitung des Lesens wird verkürzt. Es macht auf diese Weise Informationen verständlicher und kann so schnell und sicher vom Sender zum Empfänger übertragen werden. Weil der Empfänger nur noch die für ihn bestimmten variablen Daten zu lesen und zu interpretieren braucht, verringert das Formular die zu verarbeitende Datenmenge. Trotz oder gerade wegen dieser Vorteile haben Formulare mit großen Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Das können externe Probleme sein. Sie beruhen meist auf Voreingenommenheiten und Erfahrungen. Und es sind hausgemachte Probleme – durch Form, Gestaltung und Formulierung. Die Formulare werden oft als notwendiges Übel, das Zeit, Nerven und Privatsphäre raubt, empfunden. Meist sind die Probleme darin zu suchen, dass einzig die Bedürfnisse des Herausgebers im Vordergrund stehen. Viel zu oft sind die Formulare nach der Arbeitsorganisation strukturiert und geordnet. So stehen sich die Informationserhebung und die Informationsübermittlung des Herausgebers mit den Wünschen des Informations-

523 Siegfried Grosse, ehem. Präsident des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim, 1979, Grosse 13 524 vgl. Brinckmann 16 525 vgl. Toebe-Albrecht 175 526 Toebe-Albrecht 46

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5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

gebers konträr gegenüber. Zu wenig sind die Formularelemente an die Belange und Wünsche der Befragten, der Klienten, der Kunden, der Ausfüllenden angelehnt. Zu selten wird gefragt, wie die technischen Verfahren an die menschlichen Lese-und Schreibmethoden angepasst werden können. Zu oft werden die Bedürfnisse des Bürgers den technischen Machbarkeiten untergeordnet.527 Eine juristische Besonderheit gibt es noch bei den Antragsformularen. Ein Antragsformular darf nicht mit einem Antrag gleichgesetzt werden. Für Verwaltungen sind Antragsformulare lediglich eine Arbeitshilfe. Im juristischen Sinne ist ein Antrag eine einseitige Willenserklärung. Diese muss nicht zwangsläufig mit Hilfe eines Antragsformulars geschehen. Für den Antragsteller würde auch schon eine schriftliche Äußerung – beispielsweise durch einen Brief – ausreichen.528 Schwieriger ist die Arbeit an den externen Akzeptanzproblemen. Der Prozess der Informationsgewinnung, weniger der der Informationsübermittlung, wird erschwert, wenn der Informationsgebende negative Assoziationen mit dem Formular verbindet. Gerade behördliche Dialogformulare haben mit diesem Problem zu kämpfen. Behördliche Formulare stehen vor der Zusprache oder Ablehnung einer im Gesetz verbrieften Leistung und werden deshalb als zusätzliche Hürde und Blockade empfunden. Das für die Kontrolle der Prozesse geschaffene Formular wird in dieser Situation vom Ausfüllenden oft als persönliches Kontrollinstrument erfahren. Die Gründe, weshalb behördliche Formulare besonders mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen haben, sind aber noch viel umfangreicher. In Verwaltungsprozessen werden Informationen verarbeitet. Der Teil der Informationen, der variablen bzw. individuellen Inhalts ist, wird extern, also von dem Antragsteller oder einem informationspflichtigen Bürger über ein Formular (über einen formalisierten Weg) der Verwaltung überstellt. Das Formular trägt dabei zwei Botschaften in zwei Richtungen: Es instruiert den Klienten darüber, welches die gewünschten Informationen sind, und wie sie zu übermitteln sind. Und dann transportiert es diese Informationen für die Klärung des Sachverhalts zurück an die Verwaltung. Es sorgt für den Transport und gibt darüber hinaus Instruktionen. Es ist mehr als nur ein Transportmittel – es besitzt eine Interaktionsfunktion. Und deshalb ist es so wichtig zu ermitteln, ob und wie die Informationen von beiden Kommunikationspartnern verstanden werden. Für beide am Kommunikationsaustausch beteiligten Seiten muss ein „zweckrationales und an reziproken Interaktionsnormen orientiertes Handeln“ ermöglicht werden.529 Die Verwaltung gibt dabei allerdings einseitig die Normen für die „reziproke Interaktion“ vor. Der Einsatz von Formularen in Verwaltungsprozessen kennt somit zwei Seiten. Auf der einen Seite steht das Formular als Arbeits- und Informationsmittel. Es ermöglicht eine rationale und effiziente Aufgabenerfüllung. Es sorgt dafür, dass die Spielräume der Interaktion begrenzt und die Informationen und das Handeln kalkulierbar und kontrollierbar werden. Auf der anderen Seite sorgen sie, die Formulare, gleichzeitig für eine Schaffung von „Herrschaftspositionen und deren Absicherung“. 530 Denn auf die Gestaltung der Strukturen und Normen für die Kommunikation haben die Klienten in der Regel keinen Einfluss. So kann das Formular in seiner Funktion als Arbeits- und Informationsmittel konträr den Herrschaftsansprüchen der Verwaltung gegenüber stehen. An anderer Stelle (Kapitel: Definition und Funktion von Formularen) habe ich bereits von einer asymmetrischen Dialogsituation gesprochen. Will man die Asymmetrie in der Interaktion entschärfen, so muss dafür gesorgt werden, das die Interaktion durch reziproke Interaktionsnormen bestimmt wird. Alle per Gesetz garantierten Ansprüche sind „passiv institutionalisiert“, d.h. sie

527 vgl. Grosse 12 528 vgl. http://hartzkritik.bplaced.net/GoldeneRegeln.htm, letzter Zugriff: 04.01.2010 529 Brinckmann 131 530 Brinckmann 26

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5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

werden von einer gesellschaftlich anerkannten Institution verwaltet.531 Diese Aufgabe wird von „organisatorischen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung“, den Behörden, übernommen. Behörden sind der Regierung nachgeordnet und führen die Gesetze aus und überwachen deren Befolgung.532 Die Bundesrepublik Deutschland ist laut Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz und Artikel 28 Absatz 1 Grundgesetz ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Die Verwaltung muss sich bemühen, dass dieser Verfassungsauftrag erfüllt werden kann, d.h. sie soll helfen „den Sozialstaat inhaltlich auszugestalten“. Hauptaufgaben sind dabei die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Daseinsvorsorge, die Organisation der Bildung u.a.. 533 Damit der Bürger seine ihm zugesprochene Rechtsgleichheit, also die Gleichheit vor dem Gesetz wahrnehmen und sein Interesse einbringen und durchsetzen kann, muss er Kontakt zur öffentlichen Verwaltung aufnehmen.534 Die Verwaltung ist für ihn das wesentliche Mittel zur Rechtsdurchsetzung. Der Kontakt mit öffentlichen Verwaltungen vollzieht sich überwiegend über Formulare – mögen sie auch asymmetrisch zu Ungunsten der Bürger sein. „Der Bürger hat sich Verwaltungen über Antragsformulare zu nähern, er hat Informationen und Erklärungen an die Verwaltungen in Formulare zu schreiben, und die Verwaltung gibt ihm Auskunft oder erteilt ihm Bescheid wiederum mittels Formularen.“ 535 Der Bürger begibt sich damit in eine Art Abhängigkeit von der Behörde, denn die Bearbeitung der Anträge setzt das Mitwirken der Antragsteller voraus. „Die Gewährung öffentlicher Leistungen (ist) in der Regel von der Initiative des Anspruchsberechtigten oder eines Dritten abhängig, so daß die Verteilung staatlicher Leistungen in erheblichem Maß von den Handlungschancen der Betroffenen gegenüber der Verwaltung abhängt.“ 536 Der Bürger ordnet sich ebenfalls der Geschäftsordnung der Behörde unter, in der auch festgeschrieben steht, dass eine Entscheidungsfindung auf schriftlicher Kooperation zwischen Bürger und Behörde basiert.537 Mit seiner Unterschrift bestätigt er nicht nur die Richtigkeit und Wahrheit seiner Angaben und schafft ein amtliches Dokument, sondern er akzeptiert auch die Geschäftsordnungen und vorgegebenen Verfahrensregeln. Decken sich seine Angaben zum Lebenssachverhalt mit den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen, ergibt sich aus dem angewandten Gesetz eine Rechtsfolge an dessen Ende die entsprechende Entscheidung steht. Damit die Behörde oder die öffentliche Verwaltung ihre gesetzlich geregelten Aufgaben erfüllen kann, versucht sie durch Fragen und Erläuterungen in Formulargestalt, die für die Bearbeitung notwendigen Informationen zu ermitteln. 538 Die Verwaltung geht dabei davon aus, dass der Antragsteller die schriftlichen Fragen versteht und klar beantworten kann. Die Gliederung des Formulars strukturiert gleichzeitig die Informationspflicht des Bürgers. „Formulare strukturieren die Art und Weise der Bearbeitung durch die Umsetzung normativer und/oder technisch-organisatorischer Regeln im Sinne von Interviewleitfäden, Checklisten u.ä.“ 539 Die Gesetze enthalten, von einzelnen spezialgesetzlichen Regelungen wie etwa dem Meldegesetz abgesehen, keine Aussage zur Verwendung von Formularen und ihrer Ausgestaltung. Die Zweckmäßigkeit eines Formulars wird dort befürwortet, wo Formulare alle erheblichen Tatsachen enthalten können, welche die Verwaltungsentscheidung fördern, aber der Bürger in der Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten nicht unzumutbar

531 vgl. Leibfried, in Albrecht 81 532 vgl. Federwisch 10 533 vgl. Federwisch 31 534 vgl. Albrecht 82 535 Brinckmann 9 536 Kaufmann/Grunow/Hegner, in Federwisch 58 537 vgl. Menne-Haritz 86 538 vgl. Brinckmann 11 539 Brinckmann 163

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5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

belastet wird.540 Die Verwaltung erwartet vom Bürger, dass er seine Antworten ebenfalls in der typischen sprachlichen Form, in der des Formulars, an sie richtet. Das Formular könnte demnach ein Vordruck sein, der etwas in die „richtige sprachliche Form“ bringt – es „formuliert“. Dieses Etwas können persönliche Angaben, Ausschnitte aus der Lebenswelt, Gesetzestexte oder Verwaltungsentscheidungen sein. Diese neue „sprachliche Form“ macht die Inhalte in neuer, besonderer Weise für den Bearbeitungsprozess verwendbar – sie sind durch Selektion und Formalisierung systematisch bearbeitungsfähig geworden. Da der überwiegende Teil der Kommunikation über Formulare bewältigt wird, ist die Verwaltung also gezwungen – oder zwingt sich selber – ein immenses Aufkommen an Formularen zu bearbeiten. Dabei ist man stets um Effizienz bemüht. Das wird möglich, wenn die Lese- und Bearbeitungszeit so gering wie möglich gehalten wird. Eine effiziente Verwaltung kann also nicht ohne effiziente Formulare entstehen. Denn dadurch kann die Komplexität der Informations- und Kommunikationsbeziehungen zwischen Bürger und Verwaltung, aber auch verwaltungsintern, reduziert und strukturiert werden. Dazu ist es nötig, durch Standardisierung, Formalisierung und Programmierung (i.S.v. einen Ablauf festlegen) den Ablauf des Verwaltungsprozesses zu steuern. Ziel ist es, relevante Informationen von nichtrelevanten Informationen zu trennen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass zur Auswertung und Bearbeitung der Formulare Bearbeiter eingesetzt werden. Das heißt, dass die Vorgaben des Formulars durchaus auch unterschiedlich interpretiert werden können, da eine „unpersönliche“ Bearbeitung aufgrund der Voraussetzungen und Qualifikationen des Bearbeiters fast nicht möglich ist. Gehen wir näher auf die Verwaltungsprozesse ein. Die Verwaltungen sind an gesetzliche Weisungen gebunden. Sie können nur mit Hilfe von Formularen feststellen, ob und inwieweit Aspekte für eine Handlung oder eine Entscheidung nach dem Gesetz gegeben sind. Um das zu erreichen, bildet die Verwaltung die gesetzlichen „Tatbestandsmerkmale“ in den Fragen und Erklärungen des Formulars ab. Die Verwaltung „veranlasst den Verwaltungsklienten, solche und nur solche Informationen in das Formular einzutragen, die nach Auffassung der Verwaltung zur Entscheidung über eine Leistungsverpflichtung oder einen Leistungsanspruch erforderlich sind.“ 541 Gesetzestexte, die auf den Formularen wiedergegeben werden, sind „Texte der fachexternen Kommunikation, die der Bürger lesen, verstehen und bearbeiten muß, damit er seine Rechte wahren, seine existenziellen Bedürfnisse artikulieren und seine Pflichten erfüllen kann“. 542 Die Gesetzessprache wird allerdings als etwas Künstliches und Fremdes, der „natürlichen“ Sprache Entgegengesetztes vom Bürger wahrgenommen. Sie unterscheidet sich von der Alltagssprache durch die rechtlichen und verwaltungsorientierten Bestimmungen. Aber der Bürger hat ja gar keine andere Wahl, als die Welt der Rechts- und Verwaltungssprache zu betreten, da ja alle per Gesetz garantierten Ansprüche „passiv institutionalisiert“ worden sind. Durch die zunehmende Komplexität der Gesetze und deren Wiedergabe auf den Vordrucken werden die Texte immer umfangreicher, denen der Antwortende, anders als in einem Gespräch, alleine gegenüber steht. Es kann weder, wie in einem Gespräch, bei Unklarheiten noch einmal nachgehakt werden, noch können die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigt werden. Die Verständlichkeit bleibt auf der Strecke, weil nicht klar ist, aus welchem Kontext die Fragen formuliert worden sind. „Der Bürger wird als Formularbenutzer an diesem generalisierten Subsumtionsvorgang aktiv beteiligt, ohne allerdings die Tragweite und die Folgen seines Handelns immer vollständig überschauen zu können; denn er hat dabei eine doppelte Übersetzungsaufgabe zu bewältigen: Übersetzungen der Fragen und Erklärungen des Formulars in die Umgangssprache und Übersetzung seines individu-

540 vgl. Brinckmann 24, 223 541 Brinckmann 12 542 Mentrup 112

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5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

ellen Lebensweltausschnittes in die Fachsprache des Formulars.“ 543 Dies führt zum einen zu häufigerem Kontakt mit der Verwaltung. Dieser häufigere Kontakt um Probleme zu klären, führt aber nicht zu einer positiven Veränderung des Verhältnisses, sondern eher zu Unverständnis und Ablehnung.544 Viel entscheidender ist allerdings die Tatsache, dass der Bürger handelt, ohne sich der Tragweite und der Folgen seines Handelns immer im Klaren zu sein. Vor Problemen steht aber auch die Behörde. Sie muss dafür Sorge tragen, das ein gegebener Text, z.B. ein Gesetzestext, so transformiert wird, dass keine inhaltliche Veränderung auftritt. Denn das könnte unter Umständen dienstliche Belange wie die Rechtssicherheit des Formulars gefährden. Es gibt zwei Möglichkeiten. Bildet man den eine Aufgabe definierenden Gesetzestext möglichst vollständig ab, behindert das die Interaktion und die Verständlichkeit des Formulars. Bildet man andererseits die komplexen Gesetzestexte und Rechtstatbestände vereinfacht ab, wirkt sich das sicher positiv auf die Verständlichkeit und die Interaktion aus, aber auch genauso sicher, negativ auf die Rechtssicherheit. Ein weiteres Problem kommt noch hinzu. Wird allzu vereinfacht nach den Umständen komplexer Rechtstatbestände gefragt, kann auf diffizile individuelle Sachverhalte nicht eingegangen werden. Es entsteht der „Charakter einer generalisierten Subsumtion“, also eine allzu rigide Unterordnung unter gesetzliche Vorgaben.545 Es kann sich also zwischen rechtlicher Präzision, aber Unverständlichkeit oder zwischen Verständlichkeit, aber mangelnder rechtlicher Präzision, entschieden werden. Die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten kann man bei den arbeitsorganisatorischen Ansprüchen und der kommunikativen Interaktivität aufmachen. Die Aufgabe des Formulars – das Sammeln, Selektieren, Strukturieren und Ordnen aller Informationen über Person und Sachverhalt, die für eine Verwaltungsentscheidung nötig sind – ist also schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. So schwierig wird es, weil dem Formular diese Aufgabe von mehreren unterschiedlichen Seiten übertragen wird. Das Formular muss diese Aufgabe für die Interaktion zwischen Behörde und Bürger, für die arbeitsteilige Sachbearbeitung – damit beispielsweise unterschiedliche Verwaltungsstellen arbeitsteilig an dem selben Verwaltungsprozess mitwirken können, sich also eine Entscheidungs- und Handlungseinheit bilden kann – und für die Unterordnung des Sachverhaltes unter eine Rechtsnorm (Subsumtion) leisten. Und dann müssen noch alle entscheidungserheblichen Daten gesammelt, selektiert, strukturiert und geordnet werden. Die Rationalisierung durch Normen, die spezifische Formulierungen komplexer Vorschriften auf Seiten des Herausgebers, die Koordination von Arbeitsschritten und die individuellen Umstände des Klienten erschweren die Kommunikation und die angenehme Wahrnehmung des Formulars. „Die abweichenden Bezugssysteme der Kommunikationspartner ‚Bürger – Behörde‘, die unterschiedliche Sprache der Verwaltung und des Alltags, die Asymmetrie der Kommunikationssituation, allgemein: das Auseinanderklaffen von Alltagswelt und Verwaltungswelt sowie die durch die Formulare gegebene Überführung eines konkreten Vorgangs in einen dem gesetzlichen Auftrag gemäßen Fall als Realität des Bürgers von Amts wegen – all dies führt zu einer in der Fremdheit der Verwaltungssicht begründeten negativen Einstellung der Bürger gegenüber der Verwaltung überhaupt und den Vordrucken speziell.“ 546 Deshalb ist für die Formularentwicklung und -gestaltung die Einsicht wichtig, dass es sich in erster Linie um eine Organisationsarbeit handelt. Daten und Informationen müssen so aufgearbeitet, strukturiert und geordnet werden, dass beiden Seiten, Herausgeber wie Klient, ein für seine Ansprüche optimales Arbeitsmittel zur Verfügung steht. „Die Koordination verschiedener Arbeitsschritte eines komplexen Bearbeitungsvorganges durch ein Formular kann zu widersprüchlichen Gestaltungsanforderungen führen, bei Antragsformularen entstehen solche Probleme hinsichtlich des nach außen gerichteten Prozesses der Infor-

543 Brinckmann 13 544 vgl. Grosse 12 545 Brinckmann 136 546 Mentrup 121

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5.5  Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde

mationssammlung und der internen Sachbearbeitung.“ 547 Die Vorteile eines optimal arbeitenden Formulars liegen dabei klar auf der Hand: Probleme und Missverständnisse können verringert, Zeit und Nerven geschont werden. Auf die inhaltlichen, systemimmanenten Probleme kann der Kommunikationsdesigner oftmals keinen Einfluss nehmen. Inhaltliche Problemlösungen kann einzig der Herausgeber zufriedenstellend bieten. Er ist es auch, der sich über die Wahrnehmung, die Wichtigkeit und das Leseinteresse im Klaren sein sollte. Es besteht kein Handlungsbedarf für den Herausgeber, wenn ein Vordruck als wichtig und verständlich empfunden wird, weil dann auch das Leseinteresse hoch ist. Befürchtet der Herausgeber, dass der Vordruck für unwichtig gehalten wird, so muss die Wichtigkeit hervorgehoben und leicht erkennbar gemacht werden. Befürchtet der Herausgeber, dass der Vordruck zwar für wichtig, aber als schwer verständlich wahrgenommen wird, so muss die Verständlichkeit gesteigert werden. Helfen kann darüber hinaus, wenn der Herausgeber dem Empfänger klarmacht, alles für die Verständlichkeit getan zu haben, indem er zum Beispiel kurze Vorbemerkungen über den Zweck des Antrages, der Ausführungen, der nötigen Angaben voranstellt. 548 Das Formular ist eben ein vielschichtiges Medium der Interaktion. Es vereint einen kommunikativen Dialog und soziales Handeln – ein sinnhaftes Handeln des Einen, das auf das Verhalten des Anderen ausgerichtet ist oder „eine sinnhafte Orientierung des eigenen an dem fremden Handeln.“ 549 Nach dieser Ausrichtung wird der Handlungsablauf gestaltet. Wird während eines Prozesses oder einer Maßnahme sozial gehandelt, kann als Erfolgskriterium für das Erreichte nur das durchgesetzte Interesse des Bürgers gelten. Weder die rasche Anwendung einer Maßnahme, noch die Mitteleinsparung am Bürger durch die Behörde dürfen für die Beurteilung eines Erfolges herangezogen werden. Die Probleme eines so vielschichtigen Mediums lassen sich auch nur durch vielschichtige Hilfen lösen. Bessere Ergebnisse lassen sich nur durch die Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftlern, Verhaltenspsychologen, Didaktikern, Designern und Produzenten erzielen.550 Denn ein Formular spricht all diese Dimensionen der Wissenschaft und Forschung an. Es ist „sowohl ein verwaltungsrechtliches und verwaltungswissenschaftliches als auch ein organisationssoziologisches, sozialpsychologisches und sprachsoziologisches Thema.“ 551 Deshalb reicht es auch nicht aus, nur Regeln für eine Kommunikation zwischen Behördenpersonal und Bürger aufzustellen. Es geht vielmehr auch darum, die Behörden- und Formularsprache als Form eines handelnden Verhältnisses zwischen Bürger und Behörde zu begreifen und Regeln für dieses Verhältnis zu schaffen 552 Es reicht nicht, nur den Ton zu ändern. Will sich eine Verwaltung oder Behörde als „bürgernah“ bezeichnen, so muss sie beispielsweise auch eine Verbesserung der räumlichen und örtlichen Erreichbarkeit oder die Beistandsanerkennung während eines Gesprächs vornehmen. Ohne die Ausweitung der finanziellen, rechtlichen, politischen Vorgaben und Machbarkeiten lässt sich das aber nicht umsetzen.

547 Brinckmann 166 548 vgl. Diederich 106 549 Weber, in Albrecht 77 550 vgl. Grosse 20 551 Brinckmann 23 552 vgl. Albrecht 77

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5.8  Ordnungsbeziehungen in einem Formular

5.8  Ordnungsbeziehungen in einem Formular „Formulare sind Informationsträger.“ 579

Formulare zur Informationsgewinnung müssen sowohl dem Empfänger als auch dem Sender sofort visuelle Antworten darüber geben, wer der Sender ist, welcher Vorgang bearbeitet wird, welche Fragen in welchem Zusammenhang wo und wie beantwortet werden müssen und welche Antwort in welchem Zusammenhang wo und wie zu bearbeiten sind. Eine der menschlichen Informationsaufnahme und -verarbeitung möglichst adäquate Auswahl, Gliederung, Aufbau und Gestaltung der Daten ermöglicht eine schnelle und fehlerfreie Informationsaufnahme und -verarbeitung. Da sich die Visualisierung von Informationen nicht von deren Inhalt trennen lässt – gerade das Formular visualisiert inhaltliche Beziehungen – müssen vor der Visualisierung die Informationen inhaltlich geordnet werden. Ordnung verringert insofern die Information, als dass der Empfänger zunächst das Ordnungsprinzip lernt – die übergreifenden Zusammenhänge – in die er die einzelnen Informationen einordnen kann. Der Empfänger kann, wie bereits erwähnt, schneller den Zusammenhang lernen als die Einzelinformationen, die ihn verwirren und keine Ordnung erkennen lassen. Verstehen heißt immer „die Vielfalt elementarer Informationen zu verringern und die konzeptuell gesteuerte Verarbeitung zu nutzen.“ 580 In Bezug auf die Datenreduzierung hat das Formular besondere Eigenschaften. Zum einen erlauben die wiederkehrenden Daten, dass wiederholt dieselben Begriffe verwendet und dieselben erlernbaren Gestaltungsmuster visualisiert werden können. Zum anderen ist das Formularmuster – also die Vordruckform – unabhängig von der Zahl der Einzelinformationen. Das Formular kann eine große Anzahl von Einzeldaten enthalten, durch die der Benutzer durch die Anordnung und Visualisierung der Daten und deren Informationsverringerung schnell und sicher geführt werden soll. Die Visualisierung der Beziehungen ist nur dadurch begrenzt, dass die für „Teilmengen gewählten Zeichen und Muster unterscheidbar sein müssen.“ 581 Der Benutzer kann innerhalb der Gesamtheit aller Informationen Gruppen oder Teilmengen ausmachen, miteinander vergleichen, Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen und bekannte Muster oder Ordnungsstrukturen entdecken. Der Benutzer wird auf diese Art und Weise gelenkt, und es wird ihm ermöglicht, wichtige Informationen so selbst zu selektieren. Für die Bestimmung der inhaltlichen Ordnungsbeziehungen im Formular, also auch für die Auswahl und die Gliederung der Formulardaten, können die gleichen Kriterien zu Grunde gelegt werden, wie sie für die schnelle und sichere Informationsaufnahme und -verarbeitung gelten. Das sind die Informationsverringerung, die Benutzerführung, die Identifikation von Sender und Vorgang und die Lesbarkeit. Die wichtigste Strategie zur Informationsverminderung der Vordruckdaten ist die für den Empfänger sichtbare Trennung der wiederkehrenden von den variablen Daten. Die wiederkehrenden Daten sind für alle Empfänger bestimmt. Die variablen Daten sind nur für den einzelnen Empfänger vorgesehen. Bei ihrer Trennung muss durch die Gestaltung ein für den Empfänger sichtbares und wiedererkennbares Muster geschaffen werden, damit das Formular für ihn so informationsarm wie möglich, er beim Lesen und Bearbeiten schnell und sicher geführt wird, und für ihn die Ordnungsbeziehungen klar werden können. Die Vordruckdaten können sowohl nach formalen als auch nach inhaltlichen Zusam-

579 Toebe-Albrecht 66 580 Toebe-Albrecht 54 581 Toebe-Albrecht 72

111

5.8  Ordnungsbeziehungen in einem Formular

menhängen geordert werden. Formale Zusammenhänge sind beispielsweise eine Zusammenstellung von Zahlen in einer Tabelle, inhaltliche Zusammenhänge sind Gliederungen nach Funktionen in Bezug zum organisatorischen Vorgang oder zu den Gesetzen. Die Ordnung der Daten sollte immer in einem für den Empfänger erkennbaren Zusammenhang stehen. Was inhaltlich und/oder formal zusammengehört, sollte auch zusammenstehen. Innerhalb dieser Ordnungen können sich die einzelnen Funktions- und Frageblöcke überschneiden, so dass eventuell die gleichen Daten für mehrere Funktionen gebraucht werden. Wichtig ist, dass Zusammenhänge für den Empfänger einsichtig sind, und er die benötigten Informationen schneller finden und abrufen kann. Ein gutes Gestaltungsmittel, falls die einzelnen Funktionen und Frageblöcke nicht grafisch eindeutig voneinander getrennt werden können, ist die Zwischenüberschrift. Zwischenüberschriften müssen aber in jedem Fall die Zusammenhänge anzeigen. Gibt es keine bekannten Zusammenhänge, müssen sie vom Sender geschaffen werden – in einer für den Empfänger erkennbaren Logik. Hierbei können Anleitungen und Erläuterungen ein nützliches Hilfsmittel sein. Bei der Festlegung der Ordnung der Funktions- und Frageblöcke ist zu beachten, dass möglicherweise einzelne Blöcke einen besonders großen Datenumfang haben. Der Block mit der größten Informationsmenge erfordert somit den meisten Platz und ist besonders dominant. Auch die Gewohnheiten spielen eine entscheidende Rolle. Funktionsblöcke zur Identifikation sollten – den allgemeinen Lesegewohnheiten entsprechend – an oberer Stelle stehen. Innerhalb der einzelnen Frage- und Funktionsblöcke sind die Daten so zu gliedern, dass sie den Benutzungsablauf, den Lesegewohnheiten und der Leselogik entsprechen. In Bezug auf die Leserichtung von links nach rechts, von oben nach unten, kann das übersetzt „in die zeitliche Dimension heißen links und oben früher, rechts und unten später.“ 582 Eine Gliederung eines Formulars beinhaltet also die Gliederung nach Zusammenhängen in Funktion- und Frageblöcken, nach wiederkehrenden und variablen Daten, nach Benutzungsabläufen (Leselogik, Datenumfang) und nach der Wichtigkeit der Daten. Für die schnelle und sichere Übertragung der Informationen vom Sender zum Empfänger sind folgende Mittel die wichtigsten: die zwei Dimensionen der Fläche des Papiers, Typographie und Schrift mit ihren Schriftarten, -größen und -stärken, Farben, Linien, Rasterflächen, Symbole, Absendermarkierungen, Tabellen sowie Schreibfelder. Diese visuellen Variablen haben im Gesamtsystem ordnende, trennende und selektive Funktionen, die mit der inhaltlichen Ordnung verbunden sind. Diese visuellen Variablen – die für das Formular so definiert sein müssen, dass sie immer die gleichen Bedeutungen haben – ermöglichen eine „Informationsverringerung durch Trennung der wiederkehrenden von den variablen Daten und durch Zusammenfassung zu Funktions- und Datenblöcken, Benutzerführung durch Festlegung der Reihenfolge und Bestimmung der wichtigen Daten und Identifikation von Sender und Vorgang“.583 Die große Vielfalt der Formulare ergibt sich dadurch, dass die zu vermittelnden Informationen durch verschiedene Kombinationen der visuellen Variablen immer wieder reduziert, geordnet, gegliedert und selektiert werden müssen. Jede visuelle Komponente muss dabei eine Bedeutung haben, denn ohne Bedeutung würde die Lesbarkeit und Bearbeitung gestört werden. Jede Störung durch bedeutungslose und undifferenzierte Visualisierungen sollte vermieden werden.

582 Toebe-Albrecht 62 583 Toebe-Albrecht 73

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5.11  Einschätzung Hartz IV Hauptantrag

5.11  Einschätzung Hartz IV Hauptantrag „Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen!“ 624

Um Verbesserungen herbeiführen zu können, muss sich mit dem vorhandenen Formular auseinandergesetzt werden. Dies soll im folgenden geschehen. Bei der Einschätzung nach grafisch-visuellen Aspekten sollen all die Gegebenheiten betrachtet werden, die zur Überwindung des äußeren Lesewiderstandes – also die Bereitschaft sich auf das Formular einzulassen – von Bedeutung sind. Näher betrachtet werden dabei u.a. Formate, Satzspiegel, Typografie, grafische Elemente, Anordnungen, Abstände, Hervorhebungen, Farbgebungen und visuelle Gliederungen. Das Befragen des Formulars nach diesen Aspekten soll dabei helfen, erklären zu können, aus welchen Gründen das Formular besonders unstrukturiert, unübersichtlich, uneinheitlich und unhandlich ist oder auch nicht. Anschließend soll versucht werden, das Formular semantisch-syntaktisch einzuschätzen. Die Befragung der sprachlichen Einfachheit und Prägnanz des Formulartextes sowie die Gliederung und inhaltliche Zuordnung sollen helfen, den Grad der Verständlichkeit bestimmen zu können. Bei der sprachlichen Einfachheit und Prägnanz muss der Formulartext auf Satzbau und Wortwahl überprüft werden. Komplizierte, missverständliche oder gar unverständliche Satz- und Wortschöpfungen können dabei herausgestellt werden. Ob das Formular inhaltlich überschaubar ist, kann durch die Überprüfung der Gliederung und Ordnung bestimmt werden. Damit ist aber nicht die grafisch-visuelle Ordnung gemeint. Es geht vielmehr darum, die Sinnhaftigkeit der Gliederung und Zuordnung zu bestimmen. Semantisch-syntaktische Feststellungen werden sich aber wohl auch mit den pragmatischen Auffälligkeiten überschneiden. Bei der Befragung nach der pragmatischen Verständlichkeit ist es Ziel zu ermitteln, inwiefern das Formular den Kunden bzw. den Bürger handlungsfähig in der Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechtsansprüche im Verwaltungsverfahren macht. Dies geschieht dann, wenn dem Klienten das nötige Kontextwissen, Wissen über Alternativen und Konsequenzen und Hinweise über Grund und Absicht der Abfragungen vermittelt werden. Das kann durch gegebene Nebeninformationen über alternative oder parallel betroffene Verfahrenswege oder Informationen über den Verfahrensgang ermöglicht werden.

624 Wolfgang Clement, Wirtschaftsminister, 20. Juli 2004, http://www.spiegel. de/wirtschaft/0,1518,309529,00.html, letzter Zugriff: 18.11.2009

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5.11.1  Grafisch-visuelle Einschätzung

5.11.1  Grafisch-visuelle Einschätzung

Der Hauptantrag (Stand 04.2009) besteht aus einem DIN A3 Bogen, der beidseitig bedruckt, in der Mitte gefaltet und vorgelocht wurde. Somit ergeben sich vier Seiten. Das Flächengewicht des Bogens beträgt 80 Gramm. Es wurde ein gräulich gefärbtes Recyclingpapier verwendet. Die einzelnen Seiten sind schwarz bedruckt, lediglich die erste Seite weist einen grün-farbenen Streifen in der Höhe auf. Auf Registerhaltigkeit wurde verzichtet, die Rückseiten scheinen allerdings auch nur schwach durch. Beim ersten Durchblättern des Formulars wirkt es unübersichtlich, unstrukturiert, kompliziert und überladen. Die Seiten bestehen aus einer Vielzahl von Schreibfeldern und Gestaltungselementen wie z.B. Linien. Die Randzonen sind nicht besonders großzügig eingerichtet worden. Der Kopfsteg hat eine Höhe von 8,5 mm, der Fußsteg schwankt in seiner Höhe zwischen 18 mm und 34 mm. Der Bundsteg hat eine Breite von 17 mm und der Außensteg ist 9 mm breit. Vom 9 mm breiten Außensteg kann noch einmal der grüne Streifen, mit einer Breite von 6 mm, abgezogen werden. Unterhalb des letzten Abschnittes – auf den Fußsteg – werden die weiteren Hinweise und die Pagina gesetzt. Sie befinden sich nur 7 mm vom unteren Blattrand entfernt. Oberhalb der Pagina wird durch einen Stern gekennzeichnet, dass nähere Erläuterungen in den Ausfüllhinweisen zu finden sind. Die Blätter wirken durch die geringen Randzonen insgesamt sehr voll. Innerhalb des Formulars lassen sich vier Schriftgrößen unterscheiden. Die Hauptüberschrift hat eine Größe von 14 pt. Der ihr untergeordnete Text hat eine Schriftgröße von 11 pt, der Text für die auszufüllenden Stellen hat eine Größe von 9 pt und der Text zur Kennzeichnung der Anlagen hat eine Größe von 8,5 pt. Als Schriftfamilie wurde die Arial gewählt. Sie wird in den Schnitten Bold und Regular verwendet. Auszeichnungen und Hervorhebungen werden mithilfe des Bold-Schnittes gestaltet. Für die restlichen Texte wird der Regular-Schnitt verwendet. Es lässt sich allerdings auch eine Auszeichnung feststellen, die eine Unterstreichung als Hervorhebung benutzt. Die Unterstreichung scheint in diesem Fall aber für eine gute Erkennbarkeit zu gering zu sein. Die Schriftgröße für den Fließtext scheint angemessen zu sein. So wird auch älteren Menschen das Entziffern der Schriftbilder erleichtert. Auch die Schriftgröße für die Hauptüberschrift scheint ausreichend zu sein. Die Hauptüberschrift ist allerdings zu lang, und zu wenig differenziert. Sie lautet: „Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – Arbeitslosengeld II / Sozialgeld“.625 Auch der ihr zugeordnete Erläuterungstext ist in seiner Länge und Darstellung zu undifferenziert. Er lautet: „Füllen Sie bitte den Antragsvordruck (ohne die grau unterlegten Felder) in Druckbuchstaben aus. Beachten Sie bitte auch die beigefügten Ausfüllhinweise. Die Antragsformulare finden Sie auch im Internet unter www.arbeitsagentur.de unter der Rubrik „Formulare > Formulare für Bürgerinnen & Bürger > Arbeitslosengeld II“.626 Besonders auf der Seite 4 wird klar, dass der gewählte Zeilenabstand zu gering ist. Gerade bei Texten mit vielen Zeichen wurde ein derart kleiner Zeilenabstand gewählt, dass es passieren kann, dass das Schriftbild bei längerem Hinsehen vor den Augen zu verschwimmen droht, und die einzelnen Zeilen nicht mehr voneinander zu trennen sind. Es wird sehr schwierig, sich innerhalb der zu eng stehenden Zeilen zu orientieren. Wird eine zusammenhängende Zeile, aufgrund ihrer Länge, auf eine zweite Zeile umbrochen, so besitzt diese einen geringeren

625 vgl. Hauptantrag, S.1 626 vgl. Hauptantrag, S.1

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5.11.1  Grafisch-visuelle Einschätzung

Zeilenabstand als üblich (harter und weicher Umbruch). Gerade Seite 4 wirkt hoffnungslos überfrachtet. Die einzelnen Textelemente sind meist bündig zum linken Rand gesetzt worden. Auf der Seite 4 sind die Formulierungen, die für die Versicherung, dass alle Angaben zutreffend sind (Ort, Datum, Unterschrift des…), im Mittelachsensatz gesetzt. Bei längeren, durchgehenden Textabschnitten wurde der linksbündige Flattersatz verwendet. Zeilen in diesen Abschnitten erstrecken sich meist über die gesamte Satzspiegelbreite. Sie enthalten bis zu 123 Zeichen pro Zeile. Die für einen optimalen Lesefluss geeignete Zeichenanzahl liegt zwischen 60 und 70 Zeichen pro Zeile. Die Zeilen, in denen Eintragungen gemacht werden sollen, sind bündig mit den Kästchen zum Ankreuzen gesetzt. Da aber scheinbar keine Silbentrennungen zugelassen wurden – es gibt allerdings auch immer wieder Ausnahmen auf den Seiten –, scheinen Zeilen nach einem nicht erkennbaren Muster zu enden. Bei kurzen Zeilen wurde versucht, die Linien für die Eintragungen immer wieder an der gleichen Position beginnen zu lassen. Sie liegt 82 mm entfernt vom Bundsteg. Die Linien haben eine Länge von 90 mm. Bei Eintragungen, die auf einer Linie innerhalb von Zeilen gemacht werden sollen, steht die Linie nicht mehr in einem erkennbaren Raster. Die Anordnung der auszufüllenden Felder muss als unübersichtlich bezeichnet werden. Manche Zeilen werden durch die Zeichen und die dazugehörige Linie, auf der die Eintragungen vorgenommen werden sollen, auf die ganze Satzspiegelbreite getrieben. So kann es passieren, dass für den Familiennamen oder den Wohnort 135 mm Linie zur Verfügung stehen. Die Linie für die Eintragungen befindet sich stets 1 mm unterhalb der Schriftlinie. Dies scheint unnötig und der Zuordnung hinderlich. Ebenfalls problematisch ist die fehlende Festlegung des Abstandes zwischen letztem Zeichen der Erläuterung und dem Beginn der Linie. Bei der Frage nach der Kundennummer der Antragstellerin/des Antragstellers beginnt die Linie 1,5 mm hinter dem letzten Zeichen. In der darunter liegenden Zeile, in der nach der Nummer für die Bedarfsgemeinschaft gefragt wird, beginnt die Linie 32 mm hinter dem letzten Zeichen. So stehen zwar die Linien gleicher Länge bündig untereinander, die Zuordnung zu der eigentlichen Formulierung ist aber erschwert, da sich zwischen ihnen 32 mm Abstand befinden. Dies scheint mir völlig unnötig zu sein. Allzu leicht kann es passieren, dass man in der Zeile verrutscht. Es ergibt sich der Eindruck, dass versucht wurde, Ordnung zu erzwingen, indem man die Linien untereinander stellt. Dadurch passiert es auch, dass die unterschiedlichen Zeilenlängen der Formulierungen teilweise riesige Abstände zwischen Linie und letztem Zeichen reißen. Das ist nicht nur aus grafisch-visueller Sicht bedenklich, sondern auch aus semantisch-syntaktischer Sicht. Durch die fehlende Festlegung von immer gleichen Einzügen bzw. Abständen, sowohl horizontal als auch vertikal, wird die Benutzerführung immens erschwert. Bei mehreren untereinander liegenden Linien, die für Eintragungen genutzt werden sollen, erscheint der Abstand zu gering. Geht man von unterschiedlichen Handschriften aus, so ist denkbar, dass einzelne Eintragungen durch ausgeprägte Ober- und Unterlängen mit in andere Zeilen übergehen können. Unübersichtlichkeit durch die vorgenommenen Eintragungen wäre die Folge. Ebenfalls problematisch ist der Abstand zwischen der letzten Eintragungslinie im Abschnitt und der Umrandung. Sie beträgt 1 mm. Werden nun Eintragungen vorgenommen, die eine Unterlänge besitzen, so würden sie über die Abschnittsbegrenzung hinaus gehen. Da die Abschnitte untereinander auch nur einen Abstand von 1 mm aufweisen, ist davon auszugehen, dass solche Eintragungen sogar noch in den nächsten Abschnitt hineinragen würden. Es scheint kein adäquates vertikales Raster zu geben, dass viele Probleme lösen könnte. Innerhalb des Formulars kommen zwei Linienstärken zur Anwendung. Die stärkere Linie von 1 pt grenzt die einzelnen Abschnitte voneinander ab. Innerhalb der einzelnen Abschnitte sollen die Eintragungen auf 0,5 pt starken Linien vorgenommen werden. Tabellen werden ebenfalls mit der 1 pt starken Linie in ein horizontales und vertikales Raster unterteilt. Dabei wird die Tabelle im Abschnitt 2 links und rechts von denen den Abschnitt um-

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5.11.1  Grafisch-visuelle Einschätzung

gebenden Linien begrenzt. Die Tabelle unterteilt so den Abschnitt nochmals unnötig in sich selbst. Die Tabelle im Abschnitt 7 scheint dagegen zu „schwimmen“. Sie ist kürzer und hat nur vier Spalten. Ihre letzte Spalte endet 29 mm vor der rechten Abschnittslinie. Aufgrund der gleichen Linienstärken lässt sich keine Differenzierung ausmachen. Insgesamt ist die Differenzierung der beiden Linienstärken fast ausreichend. Es könnte aber noch einen größeren Unterschied geben. Der Abstand zwischen den einzelnen Abschnitten, die durch Linien voneinander getrennt werden, ist zu gering. Die entstehende Weißfläche reicht nicht aus. Die Linien verlieren in ihrer horizontalen Ausrichtung an Funktion. Innerhalb des für die Sachbearbeitung vorgesehenen Feldes, das grau hinterlegt ist, wechseln sich schwarze und weiße Linien ab. Die weißen Linien sind in der Horizontalen dabei schmaler, als die der Vertikalen. Innerhalb der weißen horizontalen Linien lassen sich aber auch Strichstärkenunterschiede feststellen. Sie scheinen aufgrund mangelnder Durcharbeitung entstanden zu sein. Das Feld für die Sachbearbeitung weist in seiner Umrandung – wie noch im Antrag Stand 04.2008 – keine Strichstärkenunterschiede mehr auf. Die Linien für die Eintragung der Sachbearbeitung sind im Unterschied zu den weiteren Abschnitten in einer Linienstärke von 0,375 pt angelegt. Diese Vielgestaltigkeit an Linien scheint unnötig. Der Abschnitt 8 – der im Unterschied zum Antrag von 04.2008 – um den Punkt 8e erweitert wurde, erstreckt sich über die Seiten 3 und 4. Auf der Seite 3 wird der Abschnitt vollständig umrandet und zeigt sich somit wie ein abgeschlossener Abschnitt. Auf der Seite 4 – auf dem sich der Abschnitt 8 mit dem Punkt 8e fortsetzt – ist er ebenfalls vollständig umrandet. Zusammengehörige Punkte eines Abschnittes wurden also wie zwei getrennte Abschnitte behandelt. Unterschiede gibt es auch bei den Ankreuzkästchen. Die Kästchen im Feld für die Sachbearbeitung weisen als Umrandung sehr dünne Haarlinien auf. Sie heben sich schwer von dem grau gerasterten Fond ab. Die Kästchen in den einzelnen Abschnitten simulieren durch zwei unterschiedlich graue Flächen und eine hellgraue Umrandung eine optische Räumlichkeit. Die Kästchen in den Abschnitten befinden sich alle bündig untereinander und ermöglichen so eine schnelle Kontrolle der gemachten Kreuze. Zwischen dem Kästchen und den dazugehörigen Erläuterungen wurde stets der gleiche Abstand verwandt. Das erleichtert die Zuordnung. Bei mehreren hintereinander liegenden Kästchen und deren Erläuterungen passiert es allerdings, dass der Abstand untereinander zu gering ist. Ist dieser geringer als der Abstand zwischen einem Kästchen und seiner Erläuterung, wird eine Zuordnung erschwert. Oder der Abstand ist, wie auf Seite 4 bei der Frage nach einem Betreuer so groß, dass eine Zuordnung beinahe unmöglich wird. Die einzelnen Abschnitte sind fortlaufend nummeriert. Innerhalb eines Abschnittes wird der Zahl ein Buchstabe zugeordnet, beispielsweise 2a, 2b, 2c usw. Man hat auf die Weiterführung der Nummerierungen mit beispielsweise 2.1, 2.2, 2.3 verzichtet. Dies sorgt nicht nur für eine optische Unruhe, da der Zahl eine Gemeine zugeordnet wurde. Es ist darüber hinaus auch logisch inkonsequent. Für Unruhe sorgen auch mikrotypografische Unzulänglichkeiten. So wird beispielsweise bei Zeichenfolgen wie §§ 67a, b, c ein standardmäßiges Leerzeichen statt eines flexiblen Leerzeichens verwendet.627 Für weitere Ruhe würde auch die Anpassung der Größenwirkung der Zahlen an die Zeichen bringen. Dies erreicht man, indem man die Zahlen in der Schriftgröße leicht verkleinert. Der Abstand der Nummerierung und des dazugehörigen Textes ist überall gleich. Somit lässt sich für die einzelnen Formulierungen eine gedachte Linie ziehen, an der alle Formulierungen beginnen. Diese vertikale Linie wird aber durch Tabellen und Zusatzinformationen durchbrochen. Somit hebt sich auch der geordnete Eindruck wieder auf und kehrt sich ins Gegenteil um. Denn plötzlich bekommen die Zeilen, die keinen Einzug besitzen, besondere Gewichtung. Unterhalb der auf die gesamte Satzbreite ausgetriebenen Tabelle, lassen sich die Zeilen, die ebenfalls ohne Einzug über die gesamte Satzspiegelbreite gehen,

627 vgl. Hauptantrag S.1, Fußsteg

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5.11.1  Grafisch-visuelle Einschätzung

leicht übersehen.628 Teilweise erkennen lässt sich, dass versucht wurde, Hierarchien untereinander durch Einzüge zu definieren. Dies wurde aber nicht konsequent genug fortgeführt und geht somit in der Gesamtgestaltung unter. Das Formular hinterlässt nach dem ersten Eindruck bzw. einem ersten flüchtigen Blick den Eindruck von unruhiger Überfüllung und Unübersichtlichkeit. Bei der Gestaltung des Formulars wurde auf die ordnende Hilfe eines Rasters verzichtet. Es fehlt ein durchgängiges strukturierendes Prinzip, dass die Textteile und deren Elemente anordnet. Man hat sich zu sehr auf die einfachen grafischen Mittel, wie Abschnittsumrandung, Einzüge und linksbündiger Flattersatz beschränkt. Eine mögliche Hierarchie durch die Verwendung von Einzügen wurde durch Inkonsequenz zerstört. Selbst innerhalb der Abschnitte lassen sich Unzulänglichkeiten ausmachen. Mal werden Zeilen durch Silbentrennung umbrochen, mal nicht. Die Linienstärken unterscheiden sich auch innerhalb ihrer Aufgaben. So werden Linien unterschiedlicher Stärke für die Umrandung eingesetzt. Mikrotypografische Aspekte wurden scheinbar gänzlich außer Acht gelassen. Durchgängige grafische Richtlinien (gleich bleibende Bündigkeiten, Achsen und Linien) lassen sich selten aufeinanderfolgend ausmachen. Die Folge ist Unübersichtlichkeit, Chaos und fehlende Benutzerführung. Der Kunde kann keinen roten Faden erkennen, der ihn durch das Formular geleitet. Das visuell unharmonische Formular kann in dieser Gestaltung keinen effektiven Beitrag zur Überwindung des äußeren Lesewiderstandes leisten.

628 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f

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5.11.2  Semantisch-syntaktische Einschätzung

5.11.2  Semantisch-syntaktische Einschätzung

Im folgenden wird das Formular auf semantisch-syntaktische Aspekte hin untersucht. Die Verständlichkeit des Formulartextes leidet in erster Linie an mangelnder Gliederung und Ordnung und weniger an Mängeln in den Formulierungen. Es besteht aus 13 Abschnitten für den Klienten und einem Abschnitt für die Sachbearbeitung. Die einzelnen Abschnitte lauten: 1. Persönliche Daten der Antragstellerin/des Antragstellers 2. Persönliche Angaben zur Leistungsgewährung 3. Angaben für die Prüfung eines Mehrbedarfes 4. Angaben zu den Einkommensverhältnissen 5. Angaben zu den Vermögensverhältnissen 6. Angaben für die Prüfung eines befristeten Zuschlags 7. Weitere Angaben, die für die Leistungsgewährung von Bedeutung sein können 8. Angaben zur Sozialversicherung 9. sonstige Ansprüche gegenüber Dritten (z.B. Unterhaltsansprüche oder Schadensersatzansprüche) 10. Angaben zu den Kosten der Unterkunft und Heizung 11. Anlagenübersicht und Versicherung, dass die Angaben zutreffend sind Wie es scheint, wurde versucht, die Mehrzahl der Formulierung möglichst einfach und prägnant zu halten. Dies gelingt aber nicht immer. Ein Beispiel: „Eine Person in der Haushaltsgemeinschaft hat einen Elternteil außerhalb der Bedarfsgemeinschaft und ist unter 18 Jahren oder zwischen 18 und 24 Jahren und in Schul- oder Berufsausbildung oder will eine solche in Kürze beginnen. Füllen Sie bitte Anlage UH Abschnitt 4 für jede Person und Abschnitt 3 für jeden Elternteil außerhalb des Haushaltes aus.“ 629 Diese Formulierung lässt sich einfacher gestalten. Eine Möglichkeit wäre, sich über Filterfragen zu nähern. Dazu kann die Formulierung aufgeteilt und persönlicher gestaltet werden. Die erste Frage würde lauten: „Lebt in der Bedarfsgemeinschaft ein Kind oder ein Jugendlicher getrennt von einem seiner Elternteile?“ Würde die Frage mit Ja beantwortet werden, so könnten die darauf folgenden Fragen heißen: „Ist diese Person unter 18 Jahre?“ und „Ist diese Person zwischen 18 und 24 Jahre?“ Weiter filtern würde man nach der Beantwortung mit Ja durch die Frage: „Hat diese Person eine Schul- oder Berufsausbildung begonnen oder möchte sie diese in Kürze beginnen?“ Nach der erneuten Beantwortung mit Ja würde der Hinweis stehen, dass die Anlage UH für jede betroffene Person und jeden getrennt lebenden Elternteil auszufüllen sei. Dies könnte in etwa so formuliert werden: „Ihre Eintragungen bedingen eine nähere Prüfung auf Unterhaltsansprüche. Bitte füllen Sie deshalb die Abschnitte 3 und 4 der Anlage Unterhalt (UH) aus. Der Abschnitt 3 betrifft den getrennt lebenden Elternteil. Der Abschnitt 4 betrifft das Kind bzw. den Jugendlichen.“ Im Unterschied zur ursprünglichen Formulierung, werden in der ersten Frage die Wörter Kind und Jugendlicher verwendet. Dadurch wird das Verstehen der Frage erleichtert. Denn würde die Frage lauten: „Lebt in der Bedarfsgemeinschaft eine Person getrennt von einem Elternteil?“, muss erst noch für den Leser definiert werden, was mit Person gemeint ist. Um ihm die Überlegung abzunehmen, an dessen Ende sowieso die Erklärung der Person als Kind oder Jugendlicher steht, sollte gleich von Anfang an Kind oder Jugendlicher verwendet werden. Deshalb kann in den darauf fol-

629 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a

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5.11.2  Semantisch-syntaktische Einschätzung

genden Fragen auch „Person“ verwendet werden. Denn es ist ja schon geklärt worden, dass es sich bei der Person nur um das Kind bzw. den Jugendlichen handeln kann. Die Einfachheit und Prägnanz der Formulierung kann aber auch dazu führen, dass gewollt oder ungewollt ein unpersönlicher Eindruck entstehen kann. Bei dem vorliegenden Antrag wird dies durch die häufige Verwendung von Höflichkeitsformulierungen wieder aufgefangen. So wird, wenn es nötig ist, immer um den Beweis durch entsprechende Nachweise gebeten. „Wenn ja, legen Sie bitte entsprechende Nachweise vor.“ 630 Das einleitende Beispiel des Abschnittes über den Unterhalt macht aber noch ein anderes Problem der Formulierungen deutlich. Das Problem der Abkürzungen. Den Klienten wird das Verständnis der Formulierungen erleichtert, wenn beispielsweise die Anlagen nicht nur mit UH oder HG betitelt werden.631 Auch wenn der Platzbedarf dadurch größer werden würde, so sollten die Anlagen in ihrem vollständigen Namen aufgeführt werden. Sollte dennoch eine Abkürzung vonnöten sein, so sollte sie in Klammern dahinter gesetzt werden. So wird aus der Anlage HG, die Anlage Haushaltsgemeinschaft (HG). Damit wird dem Klienten auch sofort klar, welche Angaben in dieser Anlage abgefragt werden und wofür die Abkürzung steht. Will man die zur Zeit verwendeten Abkürzungen dekodieren, so muss man die Ausfüllhilfe bemühen. Auf der ersten Seite nun befindet sich eine Übersicht über die Vordrucke, deren Bezeichnung und die Beschreibung des Inhalts. Auf Formulierungen des allgemeinen Sprachgebrauchs wurde weitestgehend verzichtet. Einige wenige Abkürzungen, wie beispielsweise die Abkürzung für gegebenenfalls (ggf.) lassen sich finden.632 Häufiger werden gesetzliche Festlegungen verkürzt formuliert. Das Sozialgesetzbuch wird beispielsweise mit SGB abgekürzt. Besser gelöst scheint mir das Problem der Ansprache. Es wurde weitestgehend vermieden, in unpersönlichen Formulierungen nach persönlichen Angaben zu fragen. Ähnlich wie in einem persönlichen Gespräch, wird eine Vielzahl der Fragen in Interviewart gestellt. „Sind Sie – Ihrer Einschätzung nach – gesundheitlich in der Lage, eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich auszuüben?“ 633 Insgesamt könnten aber viele der Formulierungen leicht – wie oben gezeigt – noch persönlicher gestaltet werden. Eine wenige Beispiele für persönlichere Formulierungen finden sich aber schon jetzt auf dem Antrag. Sie sind aber auch nicht von Problemen frei. In Abschnitt 8 findet sich die Formulierung „ich bin zurzeit privat krankenversichert. Füllen Sie bitte Anlage SV Abschnitt 2 aus.“ 634 Innerhalb dieser einen Zeile wechselt die Sprachperspektive. Sie wechselt von der persönlichen ich-Form zur unpersönlichen Anrede durch den Herausgeber. Eine Differenzierung, beispielsweise durch grafisch visuelle Mittel, sollte angestrebt werden. Ansonsten scheint dieser Versuch nur gewollt, aber nicht gekonnt zu sein. Diese Schwierigkeiten im Wechsel der Ansprachen lassen sich verteilt über das gesamte Formular weiter nachweisen. Prinzipiell ist über eine persönlichere Umformulierung der Fragen nachzudenken. Die Sprachperspektive könnte dafür durchgehend in die persönliche ich-Form gewandelt werden. So würde aus der unpersönlichen Formulierung „Familienname/ggf. Geburtsname“ „Mein Geburtsname/mein Familienname ist“ werden. Ungelöst ist auch die Problematik der männlichen und weiblichen Anrede, getrennt durch einen Schrägstrich. Es finden sich nach wie vor Formulierungen wie „Leben Sie zusammen mit… Ihrer/Ihrem nicht dauernd getrennt lebenden Ehegattin/Ehegatten,“.635 Eine bessere, und damit auch persönlichere Formulierung wäre: „Ich lebe zusammen mit:“. Danach würde die Auswahl folgen, die aus zwei getrennten Formulierungen besteht. Zum

630 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2b 631 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2g, S.4, Abschnitt 9 632 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8c 633 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c 634 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8a 635 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f

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5.11.2  Semantisch-syntaktische Einschätzung

einen: „meiner nicht dauernd getrennt lebenden Ehegattin“ und „meinem nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten.“ Eine weitere positive Verbesserung würde die Umformulierung von „dauernd getrennt“ bringen. Diese Formulierung ist aber nicht nur in diesem Verwaltungsprozess maßgeblich, sondern auch in anderen, wie zum Beispiel in Verwaltungsprozessen des Finanzamtes. Eine Änderung würde somit weiterreichende Änderungen nach sich ziehen. Ein weiteres Problem ergibt sich nicht wie sonst aus der Verkürzung von Formulierungen, sondern aus der Erweiterung von Formulierungen. Dies lässt sich am Hinweis auf nähere Erläuterungen zeigen. Die Hinweise auf nähere Erläuterungen werden mit *) markiert.636 Im normalen Schriftgebrauch im Alltag wird ein Zusatz durch die Markierung mit einem * gekennzeichnet. Die Zuordnung der schließenden Klammer scheint aber keinen weiteren Zweck zu erfüllen. Vor allem inhaltlich ist diese Verwendung problematisch. Denn der schließenden Klammer am Ende einer Zeile kann keine eröffnende Klammer zugeordnet werden. Der Lesefluss des Rezipienten wird durch Rückläufe gestört. Ein besonders problematischer Fall ergibt sich aus dieser Kombination auf der Seite 4. Dort heißt es: „Wenn eine oder mehrere Aussagen zutreffen, füllen Sie bitte den entsprechenden Abschnitt der Anlage UH aus (Mehrfachnennungen möglich):*) 637 Aus der Kombination der letzten drei Zeichen lässt sich das – aus dem Schreiben von SMS – bekannte Zeichen für „Betrunken“ ableiten. Ein semantischer Super-GAU. Ein eklatanter Fehler bei Gliederung und Ordnung findet sich im Abschnitt 1. In ihm geht es um die persönlichen Daten der Antragstellerin/des Antragstellers. Bei der Frage nach dem Familienstand werden sieben Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die Antwortmöglichkeit „dauernd getrennt lebend“ und „geschieden“ erfordern zusätzlich eine Datumsangabe, mit „Seit“ beginnend. Diese steht aber nicht den Formulierungen „dauernd getrennt lebend“ und „geschieden“ hinten angestellt. Sondern sie steht davor! Hat der Klient sein Kreuz in einem der Kästchen gemacht, wird ihm die auszufüllende Fläche der Datumsangabe auffallen. Er kann aber keine direkte Beziehung zwischen der Datumsangabe und der Formulierung, auf die sie sich bezieht, herstellen. Denn die Stellungen der beiden zueinander ist widersprüchlich zu seinen bisher gemachten Erfahrungen. Er kennt aus seiner Erfahrung aber, dass nähere Erläuterungen zu seinen Markierungen hinter diesen gemacht werden müssen. Wie schon im vorangegangenen Kapitel erwähnt, erweist sich die starre Festlegung der Linien für Eintragungen untereinander als problematisch. Ist die Zeile der Formulierungen, die der Linie vorangeht, zu kurz, entstehen Lücken von bis zu 31 mm. Der Klient muss – wenn auch unbewusst – zusätzliche Aufmerksamkeit aufbringen, um den Zeilenanschluss nicht zu verlieren. Diese sich ergebende Problematik aus Abstand von letztem Zeichen und Linie lässt sich auf dem gesamten Antrag feststellen. Der Abschnitt 8, der sich über zwei Seiten erstreckt und dessen zusammengehörige Punkte wie zwei getrennte Abschnitte dargestellt werden, enthält keinen Hinweis darauf, dass der Abschnitt sich auf der folgenden Seite fortsetzt. Ein deutliches Zeichen für den arbeitsorganisatorischen Anspruch an das Formular, ist der grau hinterlegte Abschnitt für die Sachbearbeitung. Er befindet sich auf der Seite 1 im oberen Drittel. Dieses Feld ist über alle Maßen auffällig. Es ist aber nicht für den Kunden vorgesehen. Das an den Kunden gerichtete Formular zeigt gleich die Ansprüche der Verwaltung in aller Deutlichkeit. Dies mag vor dem arbeitsorganisatorischen Hintergrund sicherlich nachvollziehbar sein, zeigt aber auch die fehlende Wahrnehmung des Bürgers als Kunden. „Seinem“ Formular, das ihm die Wahrnehmung eines gesetzlich verbrieften Rechts ermöglichen soll, werden gleich zu Beginn Angaben der Sachbearbeitung vorgeschaltet. Der Kunde kann sich aufgrund der Hervorhebung dem Feld nicht entziehen. Und nachdem er

636 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 1 637 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a

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5.11.2  Semantisch-syntaktische Einschätzung

es dann durchgelesen hat, muss er feststellen, dass es gar nicht für ihn bestimmt ist. Also noch bevor er seine Angaben machen kann, wird ihm verboten, Eintragungen vorzunehmen. Einem bürgernahen Formular stünde die Anordnung dieses Feldes am Rande oder am Ende des Dokuments besser zu Gesicht. Ebenfalls bürgerfern, weil in seiner Funktion unklar, ist der Abschnitt, der sich unterhalb des Abschnittes für die Sachbearbeitung befindet. In diesem umrandeten Abschnitt befinden sich zwei Zeilen. Es sind die schon erläuterten Zeilen, in denen die Bündigkeit der Eintragungslinien die Lücke von 31 mm erzeugen. Aber dieser Abschnitt ist noch aus einem anderen Grund problematisch. Denn die Erfahrung des Klienten, das Abschnitte für die Sachbearbeitung grau hinterlegt sind, wird hier scheinbar wieder revidiert. Die Formulierungen der zwei Zeilen, „Kundennummer der Antragstellerin/des Antragstellers“ und „Nummer der Bedarfsgemeinschaft“, weisen eindeutig auf verwaltungsorganisatorische Gegebenheiten der Sachbearbeitung hin. Aber es fehlt an der Kennzeichnung durch die graue Hinterlegung. Rein visuell-grafisch entspricht der Abschnitt denen, wie sie für Klienteneintragungen vorgesehen sind. Er besitzt eine einfache Umrandung sowie Linien, auf denen Eintragungen vorgenommen werden können und ist nicht grau hinterlegt. Der Klient kann somit den Abschnitt weder sich, noch der Verwaltung eindeutig zuordnen. Die Bedeutung des Abschnittes ist also unklar. Verwirrung und Unklarheit ist das Ergebnis. Damit wird die Kommunikationssituation gleich zu Beginn das zweite Mal gestört. Diese Störungen wirken sich nachhaltig auf die weitere Bearbeitung des Formulars aus.638 Viele der Probleme in semantisch-syntaktischer Hinsicht lassen sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ohne eine Erweiterung des Seitenumfangs bewerkstelligen. Verbesserungen in der Gliederung und Aufbau des Textes, die sowohl die semantisch-syntaktische als auch die pragmatische Dimension betreffen, erfordern mehr Platz und Struktur.

638 Auf Nachfrage bei der Behörde bestätigte man mir die unklare Zuordnung, wies aber darauf hin, dass auch der Kunde seine Kundennummer und die Nummer der Bedarfsgemeinschaft eintragen könne, so er diese Nummer wisse. Dies scheint mir aber gerade bei einem Erstantrag unlogisch und nicht praktikabel. Eine eindeutige Zuordnung des Feldes und desjenigen, der dieses Feld auszufüllen hat, scheint mir unbedingt nötig.

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5.11.3  Pragmatische Einschätzung

5.11.3  Pragmatische Einschätzung

Als nächstes soll ermittelt werden, ob das Formular die Handlungsfähigkeit des Klienten verbessert. Man kann auch danach fragen, welche Hinweise und Handlungsvorgaben der Klient für die Durchsetzung seines Anliegens von der Verwaltung bekommt. Bei der Aushändigung des Antrages wird jedem Klienten eine Ausfüllhilfe mitgegeben. Sie enthält erklärende Informationen zu den einzelnen Abschnitten und macht auf Besonderheiten aufmerksam. Die Ausfüllhilfe ist das wichtigste Hilfsmittel bei der Antragstellung. Leider finden sich keine weiteren Hinweise darauf, wo der Klient weitergehendere Auskunfts- und Beratungsangebote finden kann. So wird weder eine Telefonnummer eines Ansprechpartners noch ein Hinweis auf ein Online-Hilfsangebot gegeben. Es wird lediglich der Hinweis aufgeführt, dass die Antragsformulare auch unter dem Internetauftritt der Bundesagentur für Arbeit zu finden sind. Pragmatische Unzulänglichkeiten innerhalb des Antrags werden durch die Ausfüllhinweise teilweise wieder aufgefangen. Auf dem Antrag selbst werden keine näheren Erläuterungen über die Gründe für die Abfragen gegeben. Auf dem Antrag selbst erhält der Klient größtenteils keine Hinweise, warum er bestimmte Fragen beantworten soll. Stattdessen wird beispielsweise gesondert mit der Zeichenkombinationen *) auf die Ausfüllhinweise hingewiesen. Der Hinweis auf die näheren Erläuterungen der Ausfüllhilfe ist allerdings mit Unzulänglichkeiten verbunden. Im Abschnitt 1 des Antrages findet sich eine Eintragungslücke, in der nach der Telefonnummer gefragt wird. Das Wort Telefonnummer wird durch die Zeichenkombinationen *) ergänzt. Am unteren Blattrand wird diese Zahlenkombination erneut aufgegriffen, und es wird erklärt, dass nähere Erläuterungen den Ausfüllhinweisen zu entnehmen sind. In den Ausfüllhinweisen findet sich unter den näheren Erläuterungen zu Abschnitt 1 dann erst die Erklärung, dass die Angaben zur Telefonnummer und E-Mail-Adresse freiwillig sind. Der Klient musste also drei Stufen durchlaufen, um zu erfahren, dass die Angaben freiwillig sind. Dieser Weg ist nicht nur unpraktikabel, sondern hinterlässt auch den Beigeschmack der Kontrolle. Denn freiwillige Angaben sollten auch eindeutig gekennzeichnet werden. In ihrer vorliegenden Art und Weise vermitteln sie den Eindruck einer zwingenden Angabe. Es gibt aber keinen Zwang zur Angabe und schon gar keine gesetzliche Grundlage zur Angabe. Bei dem Klienten kann der Eindruck entstehen, dass er jederzeit erreichbar und damit auch kontrollierbar sein muss, und dass gesetzliche Freiräume verschleiert werden sollen. Neben der Telefonnummer und der E-mail Adresse sind auch die Angaben über die Mitglieder im Haushalt freiwillig. Laut Gesetz darf nur nach Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft – Vater, Mutter, minderjährige Kinder – gefragt werden. Datenschützer empfehlen deshalb eine Beratung schon vor dem Ausfüllen.639 Pragmatisch schwierig sind auch die Verweise auf Paragraphen innerhalb von Gesetzesgebungen. So lässt sich zum Beispiel im Abschnitt 7 die Formulierung finden: „Ruht Ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen des Eintritts einer Sperrzeit gemäß § 144 SGB III?“ 640 Die Problematik, die hinter dieser Formulierung steht, ist offensichtlich. Die Formulierung bezieht sich auf einen eindeutig in einem Gesetz vorgegebenen Abschnitt. Dennoch ist weder davon auszugehen, dass der Klient sich der Formulierungen der Paragraphen im Klaren ist, noch dass er Hilfsmittel zur Verfügung hat, diese Paragraphen nachzulesen. Für den Klienten ist das lediglich ein Verweis auf einen Paragraphen, dessen Inhalt ihm absolut un-

639 vgl. Gieselmann 28 640 vgl. Hauptantrag, S.3, Abschnitt 7b

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5.11.3  Pragmatische Einschätzung

bekannt sein dürfte. Er kann sich über die Konsequenzen seines Handelns nicht bewusst werden. Erst durch die Zuhilfenahme der Ausfüllhilfe wird das Unwissen teilweise abgebaut, indem erkannt werden kann, dass es sich um die vorherigen Bezug von Arbeitslosengeld handeln muss. Die Abkürzung SGB III (Arbeitslosengeld) und eine vereinfachte Erläuterung des Paragraphen 114 findet sich dennoch nicht. Die Reihe der Beispiele lässt sich noch beliebig fortsetzen. Sie beginnen bei Formulierungen wie: „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)“ und gipfeln in Formulierungen wie „Eingliederungshilfen nach § 54 Abs.1 Satz 1 bis 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)“.641 Die Aufgabe an das Formular, gesetzliche Grundlagen zu vermitteln, steht hier leider über der Benutzerfreundlichkeit. Eine sinngemäße oder wörtliche Abbildung des Gesetzestextes könnte dem Klienten helfen, die Verweise nachzuvollziehen. In ihrer pragmatischen Verständlichkeit bedenklich sind auch Wörter wie „zurzeit“, „demnächst“ 642 oder „in Kürze“.643 Für den Klienten ist nicht klar, welche Zeiträume „zurzeit“, „demnächst“ oder „in Kürze“ genau bezeichnen. Sie sind in ihrer Formulierung zu sehr individuell auslegbar. Auch in der Ausfüllhilfe lassen sich keine genaueren Bestimmungen finden. Eine genauere Bezeichnung der Zeiträume würde zum Abbau von Unklarheiten führen. Ein weiterer besonders bedenklicher Hinweis darauf, dass der Klient sich über die Folgen seines Handelns durch das Formular nicht bewusst werden kann, findet sich im Abschnitt 2c. Dort steht die Frage: „Sind Sie – Ihrer Einschätzung nach – gesundheitlich in der Lage, eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich auszuüben?“ 644 Auch dieser Formulierung ist die Zeichenkombinationen *) nachgestellt. Weder in den Ausfüllhinweisen noch auf dem Antrag selbst, findet sich ein Hinweis darauf, dass mit Verneinung dieser Frage der Anspruch auf Arbeitslosengeld II hinfällig ist. Wird die Frage mit Nein beantwortet, so geht der Klient automatisch aus dem Bezug von Hartz IV raus und rutscht in den Bezug des SGB XII. Die Gesetze des SGB XII sind unter dem Namen “Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung” bekannt. Sie ist vergleichbar mit der klassischen Sozialhilfe. Leistungsberechtigt nach SGB XII sind hilfebedürftige Bürgerinnen und Bürger über 65 Jahre sowie aus medizinischen Gründen dauerhaft voll erwerbsgeminderte Personen ab 18 Jahre. Sie müssen dafür aber ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.645 Mit dem Bezug nach SGB XII werden auch alle Möglichkeit genommen Mini- oder Midijobs angeboten zu bekommen. Eine Frage die grundsätzlich über Bezug bzw. NichtBezug der existenzsichernden Sozialleistung von Hartz IV entscheidet, wird ohne besondere Hervorhebung oder Alleinstellung unter weitere Fragen über den Status als Spätaussiedler oder als Asylbewerber gemischt. Die sich ergebenden Konsequenzen werden nicht aufgeführt. Nicht einmal in den Ausfüllhinweisen findet sich eine Eintragung, die über die Konsequenzen einer Verneinung Auskunft gibt. Unklarheit kann bei dem Klienten auch darüber entstehen, welche Nachweise er für die Bearbeitung des Antrages beizubringen hat. Wird zum Beispiel im Abschnitt 2b danach gefragt, ob die Person ein Berechtigter oder eine Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist, so sollen entsprechende Nachweise vorgelegt werden. Im Unklaren bleibt der Klient darüber, welche Art von Nachweisen er vorzulegen hat. Eine genauere Namensangabe des Nachweises wäre förderlich. Eine Vielzahl der Abschnitte beziehen entweder direkt oder durch eine Beantwortung der Frage mit Ja, die Aufforderung eine entsprechende Anlage auszufüllen, nach sich.

641 vgl. Hauptantrag, S.2, Abschnitt 3c 642 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2e 643 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a 644 Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c 645 vgl. http://www.bmas.de/portal/10676/grundsicherung__im__alter__ und__bei__erwerbsminderung.html, letzter Zugriff: 18.11.2009

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5.11.3  Pragmatische Einschätzung

Der Abschnitt 4 zieht beispielsweise das Ausfüllen der Anlage EK direkt nach sich, in dem es heißt: „Angaben zu den Einkommensverhältnissen *); Füllen Sie bitte für sich und ggf. für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft jeweils Anlage EK aus.“ 646 In den Anlagen werden bestimmte Informationen, die zur Antragsbearbeitung und Antragsbewilligung nötig sind, eingehender hinterfragt. Diese Anlagen beginnen mit dem verkürzten Anlagentitel und mit einer kurzen nachgestellten Erläuterung. Diese kurze Erläuterung könnte durchaus etwas ausführlicher gestaltet werden, damit dem Klienten der Zweck noch mehr verdeutlicht werden kann. Noch näher erklärt werden sollte auch die Notwendigkeit dieser Anlage. Ein Beispiel: Vor allem in der Anlage EK (Einkommensverhältnisse) sehen Datenschützer pragmatische Probleme in Bezug auf Art der Fragen und Auskünfte. So sei besonders das Zusatzblatt 2 mit der Einkommenserklärung nicht mit dem Sozialgeheimnis vereinbar. Denn durch den Vordruck erlange der Arbeitgeber eines Angehörigen Einblick in geschützte Daten des Mitarbeiters und des Antragstellers. Diese Daten sind aber nicht für ihn bestimmt. Deshalb wird sogar die Empfehlung gegeben, sich den Verdienst anderweitig, beispielsweise über einen neutralen Gehaltsnachweis, bescheinigen zu lassen. Denn eine gesetzliche Verwendungspflicht für das Formular gibt es nicht. Die Behörde müsste also, will sie diese pragmatische Problematik mindern und dem Bürger das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewähren, den Hinweis auf neutrale Gehaltsnachweise geben oder die Anlage EK überarbeiten.647 Als positiv herauszustellen sind die Hinweise auf den Anspruch, beispielsweise auf den Anspruch auf Mehrbedarf. „Schwangere haben einen Anspruch auf Mehrbedarf.“ 648 So wird dem Klienten bewusst gemacht, dass unterschiedliche Lebenssituationen unterschiedliche Ansprüche nach sich ziehen können. Diese Hinweise könnten allerdings noch etwas deutlicher herausgestellt werden. In diesem Abschnitt lässt sich noch eine andere Auffälligkeit feststellen. Unter der genauen Bezeichnung des Abschnittes findet sich der Hinweis, dass die Angaben freiwillig und nur erforderlich sind, wenn ein Mehrbedarf beansprucht wird. Diese näheren Erläuterungen würden in häufigerer Verwendung zu einer erheblichen Aufwertung der Handlungsfähigkeit des Klienten führen. Ein weiters positives Beispiel für eine Formulierung, mit der sich der Bürger über die Konsequenzen seines Handelns bewusst werden kann, findet sich im Abschnitt 8c. Dort heißt es: „Nachfolgende Angaben sind erforderlich, wenn Sie getrennt lebend sind, da Sie ggf. familienversichert werden können. *)“ Hintergrund ist sicher das Anliegen, den Jugendlichen über die Eltern und nicht zu Lasten des Hartz-IV-Budgets zu versichern. Dennoch ist es ein gutes Beispiel, wie Formulierungen gestaltet werden können, wenn sie die Aufforderung zum Handeln und die Konsequenz des Handelns in einem vereinen. Der Antrag weist somit eine Vielzahl von pragmatischen Unzulänglichkeiten auf. In ihrer Gewichtung sind sie dennoch nicht so stark wie die grafisch-visuellen oder die syntaktisch-semantischen Mängel. Denn ein Großteil der pragmatischen Mängel kann durch die beigelegte Ausfüllhilfe abgefedert werden. Es muss aber noch weiter daran gearbeitet werden, dass der Klient erfahren kann, warum bestimmte Informationen erfragt werden, worin die Informationen bestehen, wo er sie gegebenenfalls beziehen kann. Wenn der Klient sich über Abfragen und deren anspruchsbegründende Bedeutung im Klaren sein kann, dann wird es ihm auch leichter fallen, die nötigen Sachverhalte beizusteuern. Es ist also zu überlegen, ob nicht die leistungsentscheidenden Passagen mit Zusatzinformation versehen werden sollten. Letztendlich kommt das dann auch der Verwaltung zu Gute. Gerade aber solche Abfragen, die über den Leistungsbezug entscheiden, müssen deutlicher herausgestellt werden. Der Klient kann sich noch in zu vielen Situationen nicht dar-

646 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 4 647 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/2804Alg_II_ AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009 648 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 3a

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5.11.3  Pragmatische Einschätzung

über im Klaren werden, welche Konsequenzen seine Eintragungen bzw. sein Handeln nach sich ziehen. Eine eindeutige Kennzeichnung freiwilliger Angaben, nähere Erläuterung, zu welchem Zweck die Fragen gestellt werden, die sinngemäße oder wortwörtliche Abbildung von Gesetzestexten, auf die verwiesen wird, und die eindeutige Bezeichnung von zu erbringenden Nachweisen, sind sehr einfache Mittel, pragmatische Mängel aus dem Weg zu räumen. Aber gerade das Problem der Kennzeichnung der freiwilligen Angaben muss unbedingt gelöst werden. Ob Angaben freiwillig zu machen sind, muss sofort erkennbar sein! Der Klient hat ein Recht auf gesetzlich abgesicherten Schutz von Privatsphäre und Datenschutz!

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5.11.4  Fazit

5.11.4  Fazit

Das Antragsformular muss, wenn es die asymmetrische Dialogsituation vermindern und die reziproke Interaktion fördern will, in mehreren Punkten dringend überarbeitet werden. In erster Linie sind grafisch-visuelle und syntaktisch-semantische Mängel abzubauen. Der Antrag wirkt insgesamt viel zu überladen. Die Gliederung und Struktur des Antrages in sich und auch die Struktur und Gliederung der Abschnitte in sich, weisen erhebliche Mängel auf. Ein klar erkennbares ordnendes Raster ist ebenso wenig vorhanden, wie eine stringente Festlegung der Mittel – sowohl der inhaltlichen als auch der grafischen Mittel. Grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten, die beispielsweise den Lesefluss und die Informationsaufnahme fördern, werden missachtet. Das Vornehmen der Eintragungen wird durch die Unordnung, den Platzmangel und die fehlende Struktur erschwert. Mikrotypografische Gesetzmäßigkeiten wurden ignoriert, genauso wie die Möglichkeiten, optische Ruhe in das Formular zu bringen. Fehler finden sich auch bei der falschen Interpunktion von Abkürzungen. Das Formular kann nicht helfen, den äußeren Lesewiderstand abzubauen. Ebenso wie der optische Eindruck leidet auch die Verständlichkeit des Formulartextes durch mangelnde Gliederung und Ordnung. Eintragungsfelder für Zeitraumangaben müssen immer die gleiche Anordnung zu ihrer dazugehörigen Formulierung haben. Bei der Anordnung der Linien sollte in erster Linie die Benutzerführung entscheidend sein. Und nicht ein erzwungenes Raster. Die Möglichkeiten des Benutzers und dessen optimale Führung müssen die Art und Weise der eingesetzten Mittel bestimmen. Auch wenn in der überwiegenden Zahl der Formulierungen versucht wurde, Einfachheit und Prägnanz zu fördern, so lassen sich immer noch für die Verständlichkeit schwierige Formulierungen finden. Die Teilung von komplizierten und komplexen Fragen in mehrere kleine Teilfragen könnte helfen, die Verständlichkeit zu erhöhen. Ein großes Problem, sowohl in semantisch-syntaktischer Hinsicht als auch in pragmatischer Hinsicht, sind die Abkürzungen. Vor allem die Abkürzungen der Formularnamen und der Gesetzgebungen sind sehr problematisch. Der bloße Hinweis auf ein Gesetz durch dessen Abkürzung, reicht nicht aus bzw. wirkt verwirrend. Deshalb sollte über einen Verzicht oder eine genauere Ausformulierung nachgedacht werden. Genauer bezeichnet und gekennzeichnet müssen in jedem Fall die zu erbringenden Nachweise und Anträge werden. Sprünge in der Ansprache können genauso leicht gelöst werden, wie Probleme in der männlichen und weiblichen Anrede. Den sich aus einem semantisch-syntaktischen Kontext ergebenden Bedeutungen von bestimmten Zeichenfolgen muss unbedingte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Unbedingt gelöst werden muss das Problem der Kennzeichnung der freiwilligen Angaben und das Problem der Verletzung des Sozialgeheimnisses durch bestimmte Antragsanlagen. Ob Angaben freiwillig zu machen sind, muss sofort erkennbar sein! Informationen, die für eine Prüfung auf gesetzlicher Basis unnötig sind, dürfen nicht genauso behandelt werden wie die, die zur Prüfung notwendig sind. Der Klient hat ein Recht auf Privatsphäre und Datenschutz! Die Formulare und Anlagen sowie die Verwaltungsprozesse müssen so strukturiert werden, dass zu jedem Zeitpunkt kein einziges Persönlichkeitsrecht verletzt wird. Es darf nicht passieren, dass datenschutzrechtliche Fragen bei der praktischen Umsetzung der Sozialreformen in Vergessenheit geraten.649 Genauso darf auch nicht der Eindruck entstehen, dass das Formular in erster Linie eine verwaltungsorganisatorischen Zweck er-

649 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/2804Alg_II_ AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009

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5.11.4  Fazit

füllt. Das Formular muss vielmehr als das Mittel zur Rechtsdurchsetzung für den Bürger angesehen werden. Der Bürger erhebt Anspruch auf seine gesetzlich verbriefte Leistung. Er gibt der Behörde den Auftrag, seine Ansprüche zu überprüfen und gegebenenfalls zu gewähren. Er ist der Kunde. Es darf bei ihm nicht der Eindruck entstehen, dass er die Leistung erbetteln muss. Ihm muss die Möglichkeit gegeben werden, in jedem einzelnen Teil „Herr der Lage“ zu sein. Der Vorgang muss für ihn überschaubar und nachvollziehbar gemacht werden. Erläuterungen, wozu die Daten gebraucht werden, finden sich noch zu wenige. Entscheidende vorzunehmende Angaben müssen in ihrer Konsequenz erklärt werden. In Teilen des Antrages sind Bestrebungen zu erkennen, den Klienten durch eine reziproke Interaktion handlungsfähiger zu machen. Dennoch ist die Anzahl der erkennbaren Bestrebungen zu gering und die Fortführung innerhalb des Antrages nicht konsequent genug. Eine gute Hilfe bei der Antragstellung ist die beigelegte Ausfüllhilfe. Sie erhöht zwar den Arbeitsaufwand durch die parallele Benutzung, aber viele der erfragten Informationen werden klarer. Sie ist eine große Hilfe, wenn es um die Nachvollziehbarkeit und die Notwendigkeit der Angaben geht. Dennoch können Hinweise, die erst in der Ausfüllhilfe gegeben werden, schon auf dem Antrag selber erscheinen. Weitere Hilfestellung bekommt der Klient bei der Abgabe des Antrages. Die Mitarbeiter in der Behörde sind angehalten, zusammen mit dem Klienten den ausgefüllten Antrag noch einmal durchzugehen. So sollen eventuelle Unklarheiten oder Versäumnisse herausgestellt werden können. Auch diese Maßnahme fördert eine reziproke Interaktion und letztlich auch den handlungsfähigen Bürger.

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5.13  Die Rolle des Formulargestalters

5.13  Die Rolle des Formulargestalters „Wer es mit Kommunikation zu tun hat, muss auf Kunst verzichten.“ 654

In seiner Rolle als Formulargestalter muss sich der Kommunikationsdesigner darüber im klaren sein, dass es in erster Linie um die Gestaltung von Kommunikation geht. Und diese Gestaltung der Kommunikation visualisiert sich in der Gestaltung des Formulars. Der Gestalter muss sich also in seiner Arbeit entscheiden, welcher Funktion er durch seine Gestaltungen entsprechen will. Und er muss überlegen, wie er diese Funktion gestalten kann. Der Gestaltung des Formulars gehen aber noch inhaltliche und organisatorische Entscheidungen voraus. Entscheidend ist nämlich die Zielstellung – also die Dinge, die erreicht werden sollen – und die Frage, ob ein Formular dafür das richtige Medium ist. Erst danach kann man die Überlegungen anstellen, wie das Formular aussehen soll. Der Informationsträger steht in seiner Funktionen als Nachrichtenübermittler zwischen dem Sender und dem Empfänger. Der Gestalter ist für die Konzeption und Planung sowie die Gestaltung der visuellen Informationen und Informationszusammenhänge verantwortlich. Erreicht werden soll, dass die zu übermittelnden Informationen durch die Gestaltung (Komposition), die Verarbeitung und die Verbreitung auf die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe eingestellt werden.655 Beim Formular gibt der Sender seinerseits eine Auswahl der zu übermittelnden und der zu erfragenden notwendigen und nützlichen Daten vor. Die Gliederung wird durch inhaltliche Ordnungsbeziehungen und Zusammenhänge bestimmt. Dem Sender gegenüber steht der Empfänger. Ihm soll das Sehen und Erfassen von Zusammenhängen ermöglicht werden. Er soll im Aufbau der wiederkehrenden, alle Empfänger betreffenden Formulardaten, Muster erkennen können, die ihm die Informationsaufnahme und -verarbeitung erleichtern. Denn nur so kann die schnelle und sichere Wahrnehmung, Verarbeitung oder Ermittlung der variablen Daten gesichert werden. Dem Formular in der Mitte – zwischen dem Empfänger und dem Sender – kommt die Aufgabe zu, die inhaltlichen Ordnungsbeziehungen mit Hilfe eines Formularzeichensystems und bekannten Mustern zu visualisieren. Es soll u.a. für eine deutliche und gut lesbare Beschriftung der variablen Daten sorgen. Von ihm hängt es ab, wie schnell und sicher der Sender seine Informationen zum Empfänger übertragen kann. Für den Empfänger überflüssige, aber für den Sender zweckmäßige Informationen müssen durch den Formulargestalter so gestaltet werden, dass sie wenigstens für den Empfänger informationsarm dargestellt werden. Denn der Empfänger empfindet alle für den organisatorischen Vorgang nötigen Informationen als störend und überflüssig. Der Empfänger muss die Sicherheit und das Vertrauen haben, dass die wiederkehrenden Daten überprüft, richtig und für die individuellen Angaben das adäquate Mittel sind. Der Formulargestalter muss die typografischen Mittel gezielt zur Identifikation, Informationsverringerung, Benutzerführung und Lesbarkeit einsetzen. Alle Störungen und Verzögerungen in der Informationsübermittlung müssen durch die richtige Auswahl und Gliederung der Vordruckdaten, der entsprechenden Formulartypografie und der zweckdienlichen Beschriftung der variablen Daten verhindert werden. Das Wissen um Informationsverringerung, Datenhervorhebung und Gestaltung von Auffälligkeiten muss dabei vorhanden sein. Der Formulargestalter „ist nicht nur Gestalter ästhetisch schöner Formulare,

654 Otl Aicher, http://public.beuth-hochschule.de/~loopy/otl/, letzter Zugriff: 19.11.2009 655 vgl. Voss 148 f

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5.13  Die Rolle des Formulargestalters

Künstler oder Handwerker, sondern vor allem Nachrichtenübermittler.“ 656 Der Gestaltung eines Formulars wird die Aufgabe übertragen, die inhaltlichen Ordnungsbeziehungen zu visualisieren und das Erkennen von Gestaltmustern zu ermöglichen. Für eine Gestaltung eines verständlichen Formulars müssen Kenntnisse über den Vorgang, den Organisationsablauf, die Informationswege, die Empfängergruppe, die Absendergruppe und die Bearbeitungsart vorhanden sein. Der Formulargestalter muss neben seinen typographischen Werkzeugen auch etwas von menschlicher Informationsaufnahme und -verarbeitung sowie dem menschlichen Leseverhalten verstehen. Er muss die ihm bekannten Mittel gezielt zur Identifikation, Informationsverringerung, Benutzerführung, Hervorhebung, Auszeichnung und Lesbarkeit für den Empfänger einsetzen.657 Mit Hilfe eines fundierten Wissens kann der Formulargestalter die Datenmenge entweder selbst reduzieren, oder er kann solche Daten auswählen, die dem Empfänger bekannt sind. Das sind die Informationen, die keine bzw. eine geringe Information für den Empfänger bedeuten und somit keine Störung durch Unverständlichkeit hervorrufen. Idealerweise ist die Gestaltung eines Formulars eine Teamarbeit zwischen den Fachund Organisationsabteilungen, der EDV und dem Formulargestalter. Die Zusammenarbeit aller genannten Gruppen sollte in einem möglichst frühen Stadium beginnen. Denn auf allen Stufen der Formulargestaltung – der Datenauswahl, der Gliederung, der Anordnung und Beschriftung – werden nun besondere Anforderungen und Techniken für die schnelle und sichere Nachrichtenübermittlung benötigt. Gestaltung bzw. Design ist das „Entwerfen eines integrierten Zusammenhangs von Funktion, Struktur und Gestalt eines Produkts und dessen Beziehung zu seinem Kontext“.658 Gerade der Zusammenhang von Funktion, Struktur und Gestalt ist bei der Formulargestaltung besonders wichtig. Denn gerade bei einem Formular wird die inhaltliche Ordnungsbeziehung visualisiert. Es lässt sich die Visualisierung der Information auf keinen Fall von deren Inhalt trennen.

656 Toebe-Albrecht 50 657 vgl. Toebe-Albrecht 50 658 Suckow 81

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5.14  Zusammenfassung und möglicher Lösungsansatz

5.14  Zusammenfassung und möglicher Lösungsansatz „Kunden nicht ein Formular mehr, sondern ein Problem weniger verschaffen.“ 659

Einen hauptsächlichen Grund für den problematischen Einsatz des Formulars in der Beziehung Bürger – Behörde zu benennen ist unmöglich. Die Gründe sind zu verschieden. Dem Formular werden zu viele und zu unterschiedliche Aufgaben „aufgebürdet“ – das ist auch das Dilemma. Denn die spezifischen Anforderungen bringen jede für sich und in ihrer Gesamtheit verschiedene Probleme mit sich. Das Formular als Verwaltungsvorschrift soll, indem es beispielsweise die für ein Verwaltungsverfahren gesetzlich fixierten Tatbestände vermittelt, das Verwaltungsverfahren und das Entscheidungsverhalten strukturieren. Es soll als Arbeits- und Organisationsmittel den Entscheidungsprozess der Verwaltung organisieren, indem es z.B. die für eine Verwaltungsentscheidung benötigten Informationen sammelt. Es soll das Verwaltungsverfahren ökonomisch rationalisieren, indem es die spezifischen Anforderungen verwaltungsinterner Arbeitsorganisationen bedient. Und es soll den Verwaltungsklienten informieren, nach Möglichkeit in einer reziproken Interaktion. Doch allein die Vermittlung der gesetzlich fixierten Tatbestände ist, wie bereits vorher erörtert, problematisch. Die bessere Verständlichkeit durch weniger Fach- oder Fremdsprachen führt zu einer höheren Rechtsunsicherheit und geringerer Gesetzestreue und umgekehrt. Das sind aber nicht die einzigen Hürden. Will man beim Bürger die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Formular abbauen, indem man beispielsweise dafür sorgt, dass er nach eigenen Kriterien gliedern, beschreiben und auswählen dürfte, zieht das eventuell wieder Probleme im Persönlichkeitsschutz nach sich. Denn nur mit einer engen Orientierung an rechtliche und gesetzliche Merkmale ist gewährleistet, dass nur die für die Entscheidung notwendigen Informationen und entscheidungserheblichen Sachverhalte erhoben werden. Der Bürger ist auch nicht in der Lage, einen realen Sachverhalt juristisch qualifiziert zu betrachten und einem gesetzlichen Tatbestand unterzuordnen. Das obliegt der Verwaltung. Sie muss also alle relevanten Informationen für eine Subsumtion sammeln. Die Verwaltung hat aber keine Möglichkeit, die Richtigkeit der Angaben in der Realität zu überprüfen. Ihr bleibt also nur, die Richtigkeit über Zusatzinformationen zu ermitteln und auf ihre Plausibilität zu untersuchen.660 Allen Anforderungen, die aus der Interaktion von Verwaltung und Bürger, der internen Arbeitsorganisation und der Subsumtion unter gesetzlich fixierte Tatbestände entstehen, kann das Formular nicht gleichermaßen gerecht werden. Was muss getan werden, um diese dem Formular immanenten Schwierigkeiten und Probleme zu mindern? Will man also die Interaktion zwischen Bürger und Behörde verbessern, insbesondere über den Weg der Formulare, muss der Bürger handlungsfähig gemacht werden. Handlungsfähig wird der Bürger schon durch die entsprechende visuelle und sprachliche Gestaltung. Es muss dafür gesorgt werden, dass das Formular auch wirklich als Antrag auf ein gesetzlich verbrieftes Recht wahrgenommen wird. Denn der Bürger erhebt „nur“ Anspruch auf seine gesetzlich verbriefte Leistung. Er soll nicht das Gefühl vermittelt bekommen, die Leistungen „erbetteln“ zu müssen. Der Bürger steckt meist in einer misslichen Lage. Verschuldet oder unverschuldet. Das Formular muss seiner persönlichen Situation adäquat sein. Er muss das Formular so wahrnehmen können, wie es sich für einen Kunden gehört. Für ihn darf es keinen Unterschied geben, ob er sein Geld beispielsweise in Bundesschatzbriefen anlegt oder vom Staat Leistungen fordert. Er darf das Formular nicht als verwaltungsorgani-

659 Schwesinger 29 660 vgl. Brinckmann 257

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satorisches Mittel wahrnehmen. Zusätzliche Handlungsfähigkeit bekommt der Bürger mit dem Wissen um die Voraussetzungen, die alternativen Wege und die Folgen seines Handelns. Mögen diese auch ungewollt sein. Es muss für den Bürger klar sein, was er in Gang setzt, wenn er das Formular ausgefüllt der Verwaltung zukommen lässt. Die Asymmetrie in der Dialogsituation zwischen Bürger und Behörde, muss in Richtung einer wechselseitigen Interaktion auf gleicher Augenhöhe verändert werden. Wie schon in den Kapiteln „Verständlichkeit von Informationen“ und „Verarbeitung von Informationen“ angedeutet, sollte deshalb das jeweilige Formular in Bezug auf die grafisch visuelle Gestaltung, die Verständlichkeit in syntaktisch-semantischer Hinsicht und auf die Verständlichkeit in pragmatischer Hinsicht befragt werden. Formulare sind Informationsträger – sie müssen verständlich formuliert sein, sie müssen klare Zusammenhänge herstellen und visualisieren können, sie müssen Erläuterungen und Hilfestellungen geben. Verständlichkeit verlangt nach der Reduktion auf die elementaren Informationen. Dies kann durch die Herstellung von Zusammenhängen und durch die Gliederung der für den Empfänger bestimmten Informationen geschehen. Dabei kann der Sender dem Empfänger die Verständlichkeit „nicht einfach verordnen.“ 661 Wie verständlich ein Formular ist, kann nur der Empfänger beurteilen, denn Verständlichkeit ist „immer eine Leistung des Empfängers.“ 662 In erster Linie sind es die äußeren optischen und die inhaltlichen Gestaltungen, die eine reziproke Interaktion bestimmen. So ist bei der grafisch visuellen Gestaltung danach zu fragen, was getan werden muss, damit der Bürger seinen Lese- und Bearbeitungswiderstand ablegt und sich bereit erklärt, das Formular als Antrag auf sein verbrieftes Leistungsrecht anzusehen. In Hinsicht auf die syntaktisch-semantische Verständlichkeit muss nach der sprachlichen Einfachheit, der Prägnanz des Formulartextes und nach der Gliederung und inhaltlichen Zuordnung der Einzelteile (inhaltliche Überschaubarkeit) gefragt werden. Wenn man die Verständlichkeit nach pragmatischen Aspekten ermitteln will, so muss man fragen, wie wirksam die empfangenen Informationen das Verhalten des Empfängers in der gewünschten Weise beeinflussen. Also ist zu fragen, ob und wie gut das Formular bzw. der Formulartext den Klienten handlungsfähig macht. Kann der Bürger seine Rechtsansprüche wahren und durchsetzen? Erhält er das nötige Kontext- und Alternativwissen? Kann er sich über die Folgen seines Handelns bewusst werden? Der Kommunikationsdesigner kann leicht auf die äußere Gestaltung und teilweise auch auf die syntaktisch-semantische Verständlichkeit Einfluss nehmen und sie verbessern. Fehlende Attraktivität, mangelnde Aufmerksamkeit durch informelle Überfrachtung, unübersichtliche Strukturen, nicht ersichtliche Konzeption, fehlende Benutzerführung, unklare Zuordnung der Elemente (Linien, Kästchen usw.), erschwerte Lesebedingungen durch fehlende Rücksichtnahme auf eventuelle Schwächen usw., lassen sich durchdacht beheben. Zusätzlicher Raum für die von den vorformulierten Fragen abweichenden individuellen Angaben lässt sich möglicherweise auch leicht bereitstellen. Genauso wie der Gestalter auch versuchen kann, die negative Wahrnehmung der Fragen und des Inhalts, bedingt durch schlechte Erfahrungen mit den betreffenden Formularen oder Institutionen, und die als negativ empfundene Kategorisierung des Einzelnen, wenigstens zu mindern und den äußeren Lesewiderstand zu brechen. Fast nicht lösbar ist die Aufgabe der Pragmatik für ihn. Denn viele der pragmatischen Aspekte sind systemimmanent. Restriktionen entstehen durch die Rechtsförmigkeit von Verwaltungsverfahren oder durch arbeitsorganisatorische Erfordernisse der Verwaltung. Auf den Einsatz von widersprüchlichen, missverständlichen, abstrakten, nicht nachvollziehbaren Formulierungen und auf die fehlende Transformation der Idiomatik der Rechts- und Verwaltungssprache in eine Alltagssprache, kann er keinen Einfluss haben. Das

661 Toebe-Albrecht 181 662 ebd. 181

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gleiche gilt für den Einsatz des Nominalstils, die teilweise bevormundende Ansprache, die schlechte Nachvollziehbarkeit der Notwendigkeit und den Umfang der zu machenden Angaben. Nicht ausschließen sollte man deshalb, dass die Unternehmens- bzw. Verwaltungsstruktur zu befragen und zu verändern ist, will man sich durch das Formular und dessen Struktur und Systematik weiter den Kundenwünschen nähern oder bürgernäher werden. Die Untersuchung eines Formulars auf Effizienz und Ergonomie im Vorfeld des Einsatzes ist dazu nötig. Das Befragen und Verändern der Strukturen und Voraussetzungen sowie ein entsprechendes Formular können, meiner Einschätzung nach, entscheidend zu einer Verbesserung der Beziehung Behörde – Bürger beitragen. Die reziproke Interaktion, die bürgernahe Kommunikation und die bessere Handlungsfähigkeit des Bürgers muss das formulierte Ziel sein. Das Formular muss versuchen, alle Aspekte der Verständlichkeit (Semantik, Syntaktik, Pragmatik) positiv zu verändern oder zu beeinflussen. Dieses „Rezept“ des einen Formulars darf aber dann nicht einfach auf alle anderen Formulare übertragen bzw. angewendet werden. „Jedes Formular ist abhängig von dem zugrundeliegenden Organisationsvorgang, von der Menge der Daten, der Sender-EmpfängerBeziehung, vom Wissensstand der Empfänger, bevölkerungstypischen Verhaltensweisen, dem Informationsträger und den Möglichkeiten der Beschriftung.“ 663 Klar ist, dass die Formulargestaltung deshalb von Formular zu Formular bzw. von Verwaltungsverfahren zu Verwaltungsverfahren variiert und angepasst werden muss. Mit der zukünftig steigenden Informationsmenge wird es immer wichtiger, dass der Empfänger die Informationen sogleich entsprechend ihrer Bedeutung erkennen kann. Sollte sich der Sender nicht des Formularzeichensystems bedienen, so läuft er Gefahr, dass der Empfänger diese wichtigen Informationen nicht erkennt oder nicht richtig zuordnet. Dies wiederum bringt die Gefahr mit sich, dass die immer kritischer werdenden Empfängergruppen sich aufgrund unzureichender oder unverständlicher Informationen verweigern.664 Das Formular ist Transportmittel von Information mit einer eindeutigen Interaktionsfunktion. Eine optimale Interaktion kann nur geleistet werden, wenn die Informationen von beiden Kommunikationspartnern verstanden werden können. Erst dann kann eine Interaktion und Kommunikation auf „gleicher Augenhöhe“ erreicht werden. Bei der Gestaltung müssen also sowohl die Bedürfnisse der Verwaltung bzw. der Behörden als auch die der Bürger und Bürgerinnen berücksichtigt werden. Und das auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel und des Zwecks. Am Ende kann dann ein Formular entstehen, das sowohl förderlich im Verwaltungsprozess ist, als auch im Umgang mit den Bürgern den nötigen „Anstand“ mit sich bringt. „Da die Behörden für die Bürger und nicht die Bürger für die Behörden da sind, muß neben der fachlichen Richtigkeit die Bürgernähe vor der Rationalisierung ein zentraler Gesichtspunkt sein.“ 665 Deshalb müssen alle Aspekte der Verständlichkeit und der Interaktionsförderung neu befragt und bewertet werden. Dass diese Forderung nicht einfach umzusetzen sein wird, ist verständlich und lässt sich nur durch gemeinsame Anstrengungen bewältigen. Nur durch die Bereitschaft der Verwaltung zu Veränderung und die Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen und Wissenschaften, kann die Motivation auf beiden Seiten gesteigert werden. Beim Herausgeber und beim Klienten. Formular und Verwaltungsprozesse müssen unabhängig von persönlichen Arbeits- und Lebensumständen bzw. Situationen – gemeint sind in erster Linie Zeitdruck und existenzieller Druck – für beide Seiten, für den Herausgeber und den Klienten, als Chance gesehen werden. Zum Formular wird es aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung – die Zunahme der differenzierenden Gesetzesvorgaben und Anspruchserhebungen wird zu einer Zunahme

663 Toebe-Albrecht 51 664 vgl. Toebe-Albrecht 126 665 Mentrup 122

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der zu erfragenden bzw. zu ermittelnden Daten führen – keine echte Alternative geben. Bei jeder dieser Vorgaben muss mit Hilfe der Erhebung der Personendaten dem Bürger und seiner Lebenssituation und dem Verwaltungsprozess entsprochen werden. Deshalb führt auch weiterhin kein Weg an Effizienz und Rationalisierung vorbei. Und damit macht sich das Formular auch weiterhin unentbehrlich. Eine Alternative scheint auch insofern unnötig, wenn man zukünftig bei der Gestaltung – sowohl inhaltlich als auch visuell – davon abgehen würde, das Formular ausschließlich als ein Arbeits- und Organisationsmittel aufzufassen. Das Formular könnte so in seiner positiven Wahrnehmung gestärkt und gerade auch in den Gestaltungsdisziplinen als interessantes Wirkungsfeld wahrgenommen werden. Das Formular hat seine Vorteile als Arbeits- und Organisationsmittel längst bewiesen – so argumentiert der Kurator der Ausstellung „Am Anfang war… DAS FORMULAR“ des Museums für Kommunikation in Frankfurt am Main: „Wer am Formular herumkrittelt, zweifelt am Sinn der Bürokratie.“ 666 Ich meine, was jetzt bewiesen werden muss, ist, dass das Formular auch benutzerfreundlich und ästhetisch sein kann.667

666 vgl. http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-derWiege-bis-zur-Bahre.html, letzter Zugriff: 09.12.2009 667 Praktikabilität und Ästhetik dürfen und können sich m.E. nach einander nicht ausschließen. Der Linguist Jan Mukarovský bezieht seine Analysen zwar auf das literarische Werk, sie sollten m.M. bei der gestellten Gestaltungsaufgabe beachtet werden. Mukarovský bezeichnet das literarische Werk als komplexes Werk-Zeichen und unterscheidet vier Grundfunktionen der Sprache: die darstellende, expressive, appellative und (insbesondere, d.V.) die „ästhetische“ Funktion. Er beschreibt die ästhetische Funktion als einen integralen Bestandteil menschlichen Handelns. Die Kunst sei zwar der Bereich, in dem die ästhetische Funktion dominiert – indem sie rein vorkommt – aber alle Gegenstände können ästhetische Funktionen haben oder nicht, sie erhalten oder verlieren.(vgl. Burg 20) „Auch die Breite und Intensität der Wirkung der ästh. F. erweist sich als historisch variabel.“ (Burg 20) Für Mukarovský hat Ästhetik mit dem existenziellen Leben zu tun und nicht nur mit dem künstlerischen – Ästhetik ist für ihn nicht gleich Kunst. (vgl. Burg 21) Die ästhetische Funktion ist merkmalslos, transparent, leer und verfolgt keinen äußeren Zweck – sie ist weder eine reale Eigenschaft der Dinge, noch eindeutig an bestimmte Eigenschaften der Dinge gebunden. (vgl. Burg 23, Mukarovský 29) Sie ist potentiell, universell und nicht an Handlungen, Objekte usw. geknüpft. (vgl. Burg 28) Die ästhetische Funktion hat keinen definierten Zweck, Schema und Ziel – „Diese Leere und Transparenz ist der Grund, weshalb sie sich jeder anderen Funktion zugesellen kann und diese verstärken kann, ohne deren Ziel und Zweck zu verändern.“ (Burg 28) „Bei der Grenzziehung zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Sektor muß man sich immer vergegenwärtigen, daß es sich nicht um streng getrennte voneinander unabhängige Bereiche handelt.“ (Mukarovský 15)

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