Klagende Geige Anatevka in der Oper Bonn

Klagende Geige – “Anatevka” in der Oper Bonn Bonn, Deutschland (Kulturexpresso). Wie “Fiddler on the Roof” mussten sich die Juden im zaristischen Russ...
Author: Alke Adler
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Klagende Geige – “Anatevka” in der Oper Bonn Bonn, Deutschland (Kulturexpresso). Wie “Fiddler on the Roof” mussten sich die Juden im zaristischen Russland fühlen. Ähnlich jener Geige spielenden Figur Marc Chagalls, die wie keine andere die Gratwanderung zwischen Lebensmut und Hoffnungslosigkeit symbolisiert. Jerry Bock komponierte nach dem Buch von Joseph Stein und den Gesangstexten von Sheldon Harnick ein Musical, das vom Broadway aus als „Anatevka“ seinen Siegeszug um die Welt antrat. Dabei ist Anatevka ein jüdisches Schtetl im zaristischen Russland, das nicht nur unter seiner Armut leidet. Hinzu kommt die Launenhaftigkeit der Politik, die schließlich in Pogromstimmung einmündet und der jüdischen Bevölkerung Anatevkas zu Beginn des letzten Jahrhunderts sogar das Existenzrecht abspricht. Packend und ergreifend erzählt und

doch nicht ohne augenzwinkernden Humor, dem Karl Absenger in seiner Bonner Inszenierung mit einem ganzen Kaleidoskop der Gefühle meisterhaft Ausdruck verleiht. Tradition und Revolution Allen voran Tevje, der Milchmann, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden bringt. Geradezu ein Glücksfall in dieser Rolle ist Gerhard Ernst, der auf liebenswerte Weise seinen Traum vom schnellen Reichtum träumt. Hat er sich doch zu sorgen um seine eigenwillige Frau Golde (Anjara I. Bartz) sowie fünf Töchter, davon drei in heiratsfähigem Alter (Sarah Laminger als Tzeitel, Maria Ladurner als Hodel und Lisenka Kirkcaldy als Chava). Und genau dies ist der Ausgangspunkt für die sich anbahnenden Konflikte mit der bislang von allen akzeptierten Tradition. Bekennen sich doch nun die drei Töchter zu einer unerwarteten Liebesheirat, die nicht nur der Heiratsvermittlerin Jente (Maria Mallé) ernsthafte Probleme bereitet. Und die, weit schlimmer, die väterliche Autorität mit ihrem letzten Wort außer Kraft zu setzen droht. So bedarf es zur Gesichtswahrung eines von Tevje inszenierten Albtraums mit Goldes verstorbener Großmutter (Barbara Teuber), um ein an Fleischer Lazar Wolf (Martin Tzonev) gegebenes Eheversprechen wieder rückgängig zu machen. Dramatischer Aufbruch So können der arme Schneider Mottel (Christian Georg) und der von revolutionären Ideen getriebene Student Perchik (Dennis Laubenthal) als zukünftige Schwiegersöhne noch mit Verständnis und dem erhofften väterlichen Segen rechnen. Nicht jedoch der nichtjüdische Russe Fedja (Jeremias Koschorz), den er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, mitsamt seiner Lieblingstochter Chava gnadenlos verstößt. Und diese Trennung aufrecht erhält selbst noch zu einem Zeitpunkt, als die Gewitterwolken über der jüdischen Gemeinde von Anatevka längst

aufgezogen sind. Es ist die zu Herzen gehende Stunde des Abschieds, die nicht nur die Familie sondern auch die ganze Dorfgemeinschaft auseinander reißt. Eine Situation, in der sich zeigt, auf welcher Seite der sich bislang leutselig gebärdende russische Wachtmeister (Stefan Viering) zu stehen hat. Bei einem mit überzeugenden Stilmitteln gestalteten dramatischen Flüchtlingstrek (Ausstattung: Karin Fritz, Licht: Friedel Grass) in eine Ungewissheit, der sich, daran soll wohl erinnert werden, schon wenige Jahrzehnte später unter anderen politischen Vorzeichen noch steigern sollte. Farbige Glanzpunkte Und zweifellos setzt die Inszenierung auch Assoziationen frei zu der Flüchtlingssituation unserer Tage. So sind es Szenen wie diese, in denen das Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von Stephan Zilias unglaublich anrührend aufspielt. Als ebenso überzeugend erweisen sich auch der Chor des Theater Bonn, der Kinder- und Jugendchor sowie eine Tänzergruppe (Choreographie Vladimir Snizek), die dem jüdischen Dorfleben Anatevkas, vor allem während der Hochzeitsfeier, mit ihren tänzerischen Ausdrucksmitteln farbige Glanzpunkte verleiht. So erbringen die abschließenden lang anhaltenden stehenden Ovationen den Erweis, wie jung das Stück in all den Jahrzehnten geblieben ist. Und wie sehr es diese Bonner Inszenierung auch heute noch vermag, die klagenden Töne des „Fiddler on the Roof“ vernehmbar zu machen. Weitere Aufführungen: 13. und 30. April, 15. und 22. Mai, 03., 12., 15., 19. und 22. Juni 2016.

Dokumentarfilmfestival Thessaloniki rückt Flüchtlingskrise in Perspektive Thessaloniki, Griechenland (Kulturexpresso). Am 20. März ist in Thessaloniki das 18. Dokumentarfilmfestival zu Ende gegangen. Ein thematischer Fokus in diesem Jahr war die Flüchtlingskrise. Deutlich wurde vor allem eins: Das Phänomen existiert nicht erst seit letztem Sommer. Ein Rückblick gegen das Vergessen. Das Olympion ist das Zentrum des Dokumentarfilmfestvials in Thessaloniki. © EUdysseus, Foto: Florian Schmitz Thessaloniki liegt nur eine knappe Autostunde von Idomeni entfernt. Etwa 15.000 Flüchtlinge harren dort aus und wollen die Hoffnung auf die Öffnung der Grenze nicht aufgeben; nicht nach allem, was sie auf sich genommen, um bis dorthin zu

gelangen. Die Welt hat die Augen und Kameras auf sie gerichtet. Auch auf dem 18. Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki sind sie nicht vergessen worden. Dabei wurde aber vor allem an die zeitlichen Dimensionen der Flüchtlingskrise erinnert, an tragische Geschehnisse und symbolische Orte, die im kollektiven Gedächtnis bereits keine Rolle mehr spielen. Von Idomeni zurück nach Lampedusa Die Situation für die Flüchtlinge in Idomeni wird immer kritischer. Sie harren aus in Regen und Kälte und hoffen darauf, einen Ort zu erreichen, an dem sie sich in Sicherheit wiegen und mit neuen Perspektiven ein besseren Leben beginnen können. In Europa tut man gerade so, als sei das Problem ein Novum. Dabei zeigen die Beiträge auf dem Dokumentarfilmfestival vor allem, dass man bereits in der Vergangenheit versäumt hat, den Herausforderung vorzubereiten.

Kontinent

auf

diese

Der Film „Winter in Lampedusa“ des Österreichers Jakob Brosman porträtiert das Leben auf einer Insel, die im Oktober 2013 traurige Schlagzeilen machte, als beinahe 400 Menschen ertranken. Wie so viele versuchten auch sie von der etwa 110 km entfernten afrikanischen Küste auf europäischen Boden zu gelangen. Brosman gelingt es den ohnehin schon schweren Inselalltag ungekünstelt mit der Flüchtlingskrise zu verbinden. Er lässt eine Lampeduserin zu Wort kommen, die beklagt, warum man sie interviewe, warum man sie zur Protagonistin mache. Seit Jahren ertränken hier Menschen. Künstler sammeln auf der Hafenmüllhalde Überbleibsel aus dem Wasser: Kleidungsstücke, Babyflaschen für Milch, Geld, Briefe, Fotos – Erinnerungsstücke von Menschen, von denen man nicht weiß, ob sie die Überfahrt nach Europa überlebt haben. „Wir sind die einzigen, die um die Toten trauern“, beschreibt die Bürgermeisterin von Lampedusa das Vergessen nach dem

Medienhype. Eine andere Inselbewohnering erklärt vor den Gräbern der Ertrunkenen: „Wir müssen die Geschichte dieser Menschen für uns aufbewahren. Nicht für sie, für uns, damit wir uns überhaupt als Menschen definieren können.“ Das Versagen Europas heißt Dublin Der Film „I am Dublin“ zeigt die Geschichte von Ahmed. Auch er erreicht Europa Lampedusa. Er hinterlässt dort seine Fingerabdrücke. Nach den Dubliner Abkommen bedeutet das: Ahmed ist Italiens Problem. Dort sieht er keine Perspektive und flüchtet über Finnland nach Schweden. Es beginnt eine Odyssee der Illegalität. Er taucht unter in Stockholm. Dann meldet er sich erneut bei den Behörden und er wird nach Finnland abgeschoben. Es ist eine Existenz ohne Leben. Die DublinAbkommen halten keine Lösungen parat. Auf besondere Weise wurde dies auch im dänischen Beitrag „Dreaming of Denmark“ deutlich. Der traumatisierte 15-jähriger Wasiullah aus Afghanistan schafft es allein nach Kopenhagen. Zu Hause wurde er missbraucht und erniedrigt. In einer Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge findet er Rückhalt, lernt fließend Dänisch und schließt Freundschaften. Dann soll er abgeschoben werden und flüchtet nach Norditalien. Bei der dortigen Caritas sagt man ihm: „Unsere Einrichtungen sind voll. Über deinen Fall wird in frühestens einem halben Jahr entschieden. Das bedeutet, dass Du den ganzen Winter über draußen bist.“ Immer weiter driftet der Junge in psychotische Zustände ab, kann sich nicht mehr erinnern, wer seine Freunde sind, erkennt den Regisseuren nicht wieder. Während er anfänglich in Italien noch von Dänemark träumt und ein Freund aus Kopenhagen ihn besuchen kommt, verschließt er sich im Verlauf immer weiter in sich selbst. Der Regisseur fragt ihn: „Willst Du noch nach Dänemark?“ Verwirrt antwortet er: „Warum? Warum soll ich nach Dänemark?“ Wasiullahs Vergessen ist nichts anderes als eine Waffe gegen den permanenten Schmerz zerstörter Hoffnungen. Es

ist ein Schutzmechanismus, der die Demütigungen seines Lebens tief in der Seele vergräbt. Was ist ein Flüchtling? Die Dokumentaristen leisten noch einen weiteren, entscheidenden Beitrag zum Diskurs um den Umgang mit Flüchtlingen. Sie erinnern daran, dass der Flüchtlingsstrom keine homogene Masse von Andersgläubigen ist, sondern ein Komplex aus vielen verschiedenen Ethnien und Gläubigen, die aus verschiedenen Gründen die beschwerliche Reise nach Europa antreten. Der griechische Beitrag „Dreaming of Life“ begleitet Flüchtende auf dem Weg von Lesbos nach Idomeni und fokussiert so die jüngste Geschichte der Flüchtlingskrise. Dabei brachte der Film interessante Aspekte zur Sprache. Beispielsweise zahlen Flüchtlinge überdurchschnittlich viel für die Fähre nach Athen und werden in der Regel in einem überteuerten Bus von dort bis an die Grenze gebracht. Auch kam zur Sprache, dass nicht alle Flüchtlinge gleich sind, dass es Konfliktpotenzial unter den vielen ethnischen Gruppierungen gibt und dass sie auf dem Weg durch Europa unterschiedlich behandelt werden. So wurden Bilder von Camps auf Lesbos gezeigt, die bestimmte Nationalitäten offensichtlich bevorzugen und besser unterbringen. Der Mythos vom Wirtschaftsflüchtling Und während man zur eigenen Beruhigung über sichere Herkunftsland spricht und die konservativen Stimmen am rechten Rand abschätzig von Wirtschaftsflüchtlingen reden, geht der Film „France Is Our Mother Country“ des kambodschanischen Regisseuren Rithy Panh zurück in der Zeit. Thema ist die französische Kolonialisierung Indochinas. Aus Archivmaterial zusammengeschnitten führt der Regisseur wortlos durch den Film. Wie beim Stummfilm erscheinen Kommentare aus der Zeit, die erst zwischen Rassismus und Naivität oszillieren, dann von Neugierde in ein Überlegenheitsgefühl übergehen und später die

deutlichen Schriftzüge imperialistischer Narrative tragen. Nach und nach enttarnt der Film die französischen Gäste, die dem Leben im besetzten Land zunächst mit arroganter Erheiterung begegnen, als böse Eindringlinge. Parallel dazu verkünden propagandistisch Nachrichten die heil- und zivilisationsbringende Rolle des Vaterlandes Frankreich. Die Bilder dazu sprechen eine andere Sprache: Sklaverei, Zerstörung, Rohstoffkrieg, Zwangsprostitution und Ausbeutung. Der Film beschreibt eine der Geburtswehen der großen Welle ökonomischer Flüchtlinge. Die Bilder sind von erschreckender Aktualität. Bis auf den sogenannten Fortschritt zeigen sie im Wesentlichen dieselbe Situation wie heute. Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung, die drei Säulen der modernen Zivilisation, haben zu Leid und Elend geführt. Der Film endet in Bildern des Krieges. Die Narrative der Zivilisation, die Hoffnung auf ein gutes Ende mit dem „Noble Savage“ erstickt im Bombenhagel. Keine Erkenntnis an der Oberfläche Wie auch in den Vorjahren hat Thessaloniki gezeigt, dass es zu den großen Events der Dokumentarfilmszene gehört. Festivalleiter Dimitris Eipides wies bereits während der Eröffnungsveranstaltung auf die globalen Ausmaße der Flüchtlingssituation hin. Menelaos Karamaghiolis, einer der bekanntesten Dokumentaristen Griechenlands, sieht im Medium Dokumentarfilm eine wesentliche Funktion: „Die Welt wird von Bildern überschwemmt, die immer nur einen kleinen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Der Dokumentarfilm ist anders. Er vermag eine Situation ganzheitlich erfahrbar zu machen.“ Es ist diese Ganzheitlichkeit, die das Festival zu einem Ort der Erkenntnis werden lässt. Es ersetzt nicht die tägliche Berichterstattung. Doch der Vorteil des Dokumentarfilms liegt in seiner Entschleunigung. Die rasante Geschwindigkeit, mit der Nachrichten Themengebiete aufgreifen, abarbeiten und dann

vergessen, wird der Komplexität unsere Welt nicht gerecht. Dokumentarfilme und die Art und Weise, wie sie auf Festivals regelrecht kuratiert werden, brechen die Berichte der Leitmedien auf und bringen sie zurück in den Kontext. Für den Zuschauer hat dies vor allem eine Erkenntnis: Die strukturellen Probleme unserer Zeit kennen weder geographische noch zeitliche Begrenzungen.

Musical und Sicherheid – Die Theatergruppe der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg, die den Präventionspreis erhielt, zeigt das Musical „Anatevka“ Heidelberg, Deutschland (Kulturexpresso). Am Donnerstag, den 3. März läuft die letzte Vorstellung von „Anatevka“ der preisgekrönten Theatertruppe der Jüdischen Kultusgemeinde. Endlich eine Vorführung, zu der man noch Karten kaufen kann! Waren doch die Aufführungen in der Jüdischen Kultusgemeinde (JG) alle drei ausverkauft. Drei Auftritte an zwei Tagen! Für Baden-Württemberg und den Neckarraum heißt es also: Nix wie hin. „Anatevka“ ist ein Stück, das inzwischen fast jeder kennt und vielerorts gegeben wurde: Im Stadttheater Lüneburg, im ältesten polnischen Opernhaus in Breslau, vor einem Jahr in Dortmund – die Liste ist ellenlang. In den Worten von Dr. Manfred Lautenschläger (Gründer und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates der MLP AG): „Das Stück an sich ist schon etwas Besonderes.“ Die Uraufführung fand am 22. September 1964 in New York statt. „Anatevka – Fiddler on the roof“ gehörte zu den am längsten gespielten Shows am Broadway. „Vielleicht weil es einen so universellen Charakter hat. ‚The Fiddler on the Roof‘ wurde praktisch in allen Ländern der Welt aufgeführt, und überall erkannten die Zuschauer Parallelen zu ihren Ländern. Die Handlung ist heute noch so aktuell wie damals.“ Dr. h. c. Manfred Lautenschläger, Vorstandsmitglied des

Vereins Sicheres Heidelberg sagte dies als Laudator bei der Vergabe des Heidelberger Präventionspreises mit der Website, die man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bisher immer falsch geschrieben hat (siehe Überschrift). Es gab Anerkennungspreise sowie einen 3., 2. und 1. Platz – den eben die Theatergruppe verliehen bekam. Der Präventionspreis 2015 zeichnete Projekte aus, die im Team und mit Partnern an einer präventiven Zielsetzung arbeiten. Denn der vergangenes Jahr das 7. Mal vergebene und mit 1000 Euro dotierte Preis hatte das Thema „Teamarbeit Prävention“. Sechs Initiativen hatten sich um die Trophäe und das Preisgeld beworben, darunter der Stadtjugendring unter dem Titel „Kein Missbrauch“ und die Julius-Springer-Schule mit ihrem interessanten Projekt „Gewaltprävention und Zivilcourage als Lebenskompetenz“. „Bronze“ ging an „Sport für Vielfalt“ des Sportkreises. Lautenschläger hatte in seiner Laudatio die HerrenfußballNationalmannschaft als Vorbild erwähnt, die als Weltmeister amtiert, obwohl andere Mannschaften gute Einzelspieler wie Messi hatten. Für alle sichtbar gibt es hier ein Zusammenspiel über oberflächliche Grenzen wie Hautfarbe hinweg und am Ende lernte die Welt sogar ein wenig deutsch: „La Mannschaft“ wurde zum Markenzeichen. Den 2. Platz belegten die GLORIA-Filmtheaterbetriebe Heidelberg mit den „Kino-Specials“. Erstmals wurde damit ein Unternehmen der Privatwirtschaft ausgezeichnet, das sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung für sozialpolitisch aktuelle Themen bewusst ist. Polizeipräsident Thomas Köber hielt die Lobrede. Seit der Jahrtausendwende beteiligen sich etwa 700 Schüler jährlich an diesen Veranstaltungen, bei denen sie bei ermäßigten Eintritt aktuelle Filme schauen und mit einem erfahrenen Medienpädagogen in die Diskussion gehen. Auf die Spitze des „Treppchens“ gelangte die Theatergruppe, die aus Schülern mehrerer Heidelberger Gymnasien und

Berufstätigen aus verschiedenen Ländern besteht. Christen, Moslems, Atheisten, Jugendliche und Erwachsene bilden eine interkulturelle Einheit, die Spaß hat und ein Ziel: die nächste Aufführung. Unter der künstlerischen Leitung von Stefanie Ferdinand und Jennifer Münch leben der Fiedler auf dem Dach und Tewje der Milchmann auf, um ihre Botschaft zu verkünden. Alle haben ihrem Bekunden nach Spaß, das junge Gemeindemitglied wie der Atheist aus Ecuador und die Muslima mit der christlichen Mutter. 2016 wird sich der Heidelberger Preis mit dem Thema „Flüchtlinge und Prävention“ befassen. „Anatevka“ als Stück wurde Anfang 2015 von den Teilnehmern und dem Vorstand der jüdischen Gemeinde beschlossen und stellte sich dann als hochaktuell und passend heraus. Stefanie Ferdinand sagte: „Zur Flüchtlingskrise: Die Realität hat uns eingeholt“. Wie die künstlerische Assistentin Jennifer Münch es formulierte: „Im Laufe des Jahres kristallisierte sich eine erschreckende Parallele zur Gegenwart heraus.“ Das Musical spielt im Jahre 1905 im russischen Zarenreich. Rußland war neben England, Frankreich, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn eine der fünf Weltmächte, die sich alle in Europa befanden, wenn auch mit Kolonien und das russische Reich als größtes Land der Welt mit einem überwiegend asiatischen Anteil: Sibirien, Altai, Tuwa. 1905 hatte Rußland im russisch-japanischen Krieg gerade eins auf die Mütze gekriegt und befand sich ein bisschen auf dem absteigenden Ast; Japan hingegen stieg auf, hatte 1895 China besiegt und Formosa (heute Taiwan) als Beute behalten – die Alten können immer noch japanisch – und 1905 das Unglaubliche geschafft: Ein nichteuropäisches Land hatte eine Weltmacht besiegt. Wenn das Umfeld interessiert, lese Frank Thiess‘ Roman „Tsushima“, benannt nach der Seeschlacht und der kleinen Insel zwischen Korea und Nippon. Außerdem war das Zarenreich erstmals von den Linken bedroht, es gab Attentäter, die fälschlich Anarchisten genannt wurden, Bakunin und andere mit „neuen“ Denkansätzen. Zudem war das autarke Russland der

Finanzwelt Londons und New Yorks ein Dorn im Auge, die im Konflikt des Zaren mit den lästigen „Zecken“ im eigenen Land gern als Lachender Dritter in Lauerstellung warteten und schon auch mal die Opposition unterstützten. Der deutsche Kaiser Wilhelm erlaubte Lenin, verplombt aus der Schweiz nach Petersburg zu reisen und öffnete damit die Büchse der Pandora. Ein paar Jahre nach 1905 wurde unter einem Vorwand ein Weltbrand vom Zaun gebrochen, von dem sich die Welt bis heute nicht erholt hat, der aber die Machtverhältnisse entscheidend prägte: Die Weltmacht Österreich-Ungarn verschwand, das Deutsche Reich wurde erst verkleinert und einen Weltkrieg später zerstückelt, die restlichen drei Großmächte gründeten mit den USA und der Republik China die UNO und sicherten sich ein Vetorecht im Sicherheitsrat, damit nichts gegen ihre Interessen geschähe. Das alles ist im Hinterkopf und -grund, wenn man die Ereignisse, auf denen „Anatevka“ basiert, verstehen will, denn ahistorisch geht es nicht. Das Zarenreich stand unter großem Druck, der irgendwo ein „Ventil“ finden musste. Minderheiten sind immer ein beliebtes schwarzes Schaf gewesen, ein Prügelknabe. Stefanie Ferdinand: Es gilt, „Geschichte künstlerisch herauszuarbeiten und interkulturelle Brücken zu schlagen“. Gewaltprävention im besten Sinne. Seit Ende 2015 sind weitere Mitspieler hinzugekommen. Jennifer Münch berichtet, dass es von ihrer Seite her in doppelter Hinsicht spannend ist, da sie in fast jedem Bereich mitwirkt: künstlerische Assistenz, Schauspiel (Wachtmeister), Chor, Bühnenbild; Schauspielcoach. „Es war es mir eine große Freude das Projekt von „innen“ und von „außen“ wachsen zu sehen und ich bin besonders stolz auf die schauspielerische Entwicklung des Schauspielensembles, besonders des Hauptdarstellers.“ Dieser wurde sogar vom Bürgermeister für seine darstellerischen Qualitäten hochgelobt. “Viele der Mitspieler sind mittlerweile gut befreundet – ein richtiger Austausch.“

In der Jüdischen Gemeinde war es immer voll, allerdings muss man dazusagen, dass es dort auch nur 170 Sitzplätze gibt. Umso schöner die einmalige Gelegenheit im Bürgerhaus am Donnerstag, 3. März: Der Saal hat 350 Plätze! Viele Karten sind schon verkauft worden, aber am Vorabend des Theaterhighlights erhielt ich die Auskunft, dass man noch gute Chancen hat, Tickets zu ergattern. Die Buchhandlung Wortreich in der Blumenstraße 25 zeichnet für den Vorverkauf verantwortlich. Schön auch, dass so ein Stück an einem weniger touristischen Ort aufgeführt wird. Emmertsgrund ist weder die Altstadt noch ein Vorzeigestadtteil, doch Kultur ist überall vonnöten! Wozu Eulen nach Athen tragen, wo dort Euros gerade dringender gebraucht werden. Theater und Musical kann es auf dieser Weltenbühne doch kaum genug geben. Man sollte „Anatevka“ auch dort geben, wo nicht auf jedem Dach ein Geiger sitzt. Später kann man immer hinterherschicken.

noch

ein

paar

Musikinstrumente

Vielleicht, wahrscheinlich gibt es an der Abendkasse in Emmertsgrund noch Eintrittskarten. Anatevka Künstlerische

Leitung:

Stefanie

Ferdinand,

künstlerische

Assistenz: Jennifer Münch, organisatorische Assistenz: Myriam Buddensiek, Gesamtleitung: Stefanie Ferdinand und Halyna Dohayman, Chorleitung: Darya Lenz, Orchesterleitung: Petra Schostak, Bühnenbild: Jennifer Münch, Stefanie Ferdinand u.a. „Anatevka“ im Bürgerhaus HeidelBERG, Emmertsgrund, Forum 1, 69126 Heidelberg, 3. März 2016, 19 Uhr, Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 6 Euro

Die Angst der anderen – „Geächtet“ zum Nachdenken im Theater am Kurfürstendamm Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). In den Schlagzeilen deutscher Zeitungen geworden, die sich

sind flüchtende Menschen zu Zahlen beliebig zusammenstreichen lassen.

Stammtischparolen im Internet lassen den Eindruck feindlicher Horden entstehen, gegen die Grenzen geschlossen und mit Waffengewalt verteidigt werden sollen. Die AFD ist Gesprächsthema Nr. 1 und Horst Seehofer zieht in einem grotesken Machtkampf gegen Angela Merkel zu Felde. Trotz des Gegröles, mit dem Stimmen von WählerInnen herangeschafft werden sollen, ist die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ungebrochen. Ein Großteil deutscher BürgerInnen sorgt sich weniger um die Bewahrung des eigenen Wohlstands und viel mehr um Menschen, die Hilfe brauchen und von denen immer noch viele auf der Flucht vor dem Tod verhungern oder im Mittelmeer ertrinken. Für diejenigen, die etwas tun, ist auch der Begriff Integration noch wichtig, obwohl der gerade unter dem Gebrüll nach Abschiebung zu verschwinden droht. Um Integration geht es in dem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Stück des amerikanischen Schauspielers und Autors Ayad Akthar. Eigentlich handelt es sich um misslungene Integration, auch wenn das am Anfang gar nicht so aussieht. Schauplatz ist eine elegante Wohnung in New York. Bühnenbildner Paul Lerchbaumer hat mit einem schräg gestellten, dreieckigen Podest und einem Tisch mit ein paar Stühlen, Designer-Möbeln aus Acryl, das Ambiente perfekt getroffen. Hier lebt der Anwalt Amir Kapoor in offenbar glücklicher Ehe mit seiner Frau Emily, einer Malerin auf Erfolgskurs. Amir stammt aus Pakistan und sein eigentlicher

Nachname ist Abdullah. Aus Furcht, seine Herkunft könne sich abträglich auf seine Karriere auswirken, hat Amir sich zum Inder gemacht, sich von seiner Religion abgewendet und seinen Namen geändert. Er arbeitet in einer renommierten jüdischen Kanzlei und hat berechtigte Hoffnungen, dort zum Partner aufzusteigen. Emily, in den USA geboren, behütete Tochter liberaler, kulturinteressierter Eltern, ist in ihrer Malerei vom Islam inspiriert. Sie hat sich mit den Ursprüngen und der Geschichte des Islams befasst und sieht darin ausschließlich Reichtum und Weisheit. Der Anfang des Stücks gestaltet sich etwas zäh. Dem Publikum werden etwas zu lehrhaft die zum Verständnis für den weiteren Verlauf notwendigen Informationen vermittelt. Dann aber nimmt die Inszenierung Fahrt auf und Spannung entsteht, die sich bis zum Schluss steigert. Emily und Amir haben ein befreundetes Ehepaar zum Abendessen eingeladen: Jory, Afroamerikanerin, ist Anwältin und arbeitet in derselben Kanzlei wie Amir. Isaac, jüdischer Amerikaner, arbeitet als Kurator und ermöglicht Emily gerade eine wichtige Ausstellung. Das Quartett wirkt weltoffen und tolerant. Durch Emilys Bilder kommt das Gespräch auch auf den Islam. Während Emily in schwärmerische Begeisterung gerät, Jory dem Ganzkörperschleier kritisch gegenüber steht und Isaac nicht den Islam, sondern lediglich den Islamismus für bedrohlich erklärt, erteilt Amir der Religion seiner Väter eine wütende Absage. Aufgrund einer provozierenden Frage von Isaac wendet sich das Blatt jedoch. Es zeigt sich, dass Amir durchaus nicht der Mann ist, der er gern sein möchte. Nachdem noch weitere Geheimnisse aufgedeckt worden sind, ist am Ende eine Ehe zerbrochen, Freundschaften gehen auseinander und Amirs amerikanischem Traum folgt ein böses Erwachen.

Nicht ganz unbeteiligt an der Entwicklung ist Amirs Neffe Abe, der seinen Onkel um Beistand für einen Imam gebeten hatte. Rauand Taleb ist sehr anrührend in der Rolle des jungen gläubigen Muslims, der sich fremd fühlt in New York und sich nach Zuwendung und Ermutigung sehnt. Amir, zunächst Abes großes Vorbild, enttäuscht den eigentlich gutartigen jungen Mann mehr und mehr, während radikale Kreise ihm scheinbar Verständnis entgegen bringen. Mehdi Moinzadeh als Amir steht unentwegt unter Strom. Amir ist getrieben von beruflichem Ehrgeiz und dem Zwang, dem Klischee des perfekten US-Amerikaners zu entsprechen. Im Umgang mit seinem Neffen ist er unsicher, hin und her gerissen zwischen aufrichtigem Verantwortungsbewusstsein und der Versuchung, den armen Verwandten aus seinem Leben auszuschließen. Entspannt wirkt er nur am Anfang, als er seiner Frau Modell steht. Bei ihr fühlt er bedingungslos.

sich

geborgen,

denn

ihr

vertraut

er

Emily (Katja Sallay) entspricht schließlich doch nicht dem Idealbild, das ihr Mann sich von ihr gemacht hat, auch wenn sie weder böse noch verlogen ist. Sie ist eine lebensbejahende, liebenswerte Person, die an das Gute in allen Menschen glaubt und, weil sie imstande ist, Fehler zu verzeihen, überzeugt ist, dass auch ihr verziehen wird, wenn sie einen Fehler gemacht hat. Katja Sallay gestaltet überzeugend die Entwicklung einer Frau, die all zu lange in einer heilen Kinderwelt gelebt hat. Unsympathisch ist keine der Personen in dieser Inszenierung, auch Isaac nicht, obwohl der eine durchaus zwielichtige Persönlichkeit ist. Isaac ist einer, dem Erfolge zufallen und der sich seinen Ehrgeiz nicht anmerken lässt. Gunther Gillian präsentiert sich in dieser Rolle mit jungenhaftem Charme und lässt nur leise erahnen, dass die Einfühlsamkeit dieses anscheinend ganz aufrichtigen Mannes auf einer klugen Verführungsstrategie beruhen könnte.

Einen Hauch Unterschicht bringt Dela Dabulamanzi als Jory ins Spiel. Jory kann sich in der etablierten Gesellschaft bewegen ohne sich ihr anzudienen. Sie verfügt über ein gesundes Selbstbewusstsein, ist absolut ehrlich und versteht es, Aussagen ohne Umschweife klar zu formulieren. Dela Dabulamanzi fasziniert mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Pointensicherheit und der präzisen Ausgestaltung ihrer Rolle. Ivan Vrogoc, Gründer der Santinis Production GmbH, ist erst während der bereits laufenden Proben in die Regie eingestiegen. Ihm und seinen DarstellerInnen ist es gelungen, das Stück ganz leicht und unterhaltsam auf die Bühne zu bringen und die brisanten, höchst aktuellen Aussagen erfahrbar und nachvollziehbar zu machen. „Geächtet – Disgraced“ von Ayad Akthar, ins Deutsche übersetzt von Barbara Christ, produziert von Santinis Production GmbH, hatte am 28. Januar Premiere im Theater am Kurfürstendamm. Weitere Aufführungen bis zum 27. Februar täglich außer montags.