Melissas Reisen mit dem Mond

Melissas Reisen mit dem Mond Jeden Abend, wenn Melissa ins Bett ging, bat sie ihre Mutter, das Rollo nicht ganz herunterzuziehen. „Bitte lass es unten...
Author: Thomas Seidel
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Melissas Reisen mit dem Mond Jeden Abend, wenn Melissa ins Bett ging, bat sie ihre Mutter, das Rollo nicht ganz herunterzuziehen. „Bitte lass es unten ein bisschen offen, nur so viel, dass der liebe Mond hindurchscheinen kann“, sagte sie dann, und ihre Augen glänzten, als wären sie voller Vorfreude. Stella Norden Ihre Mutter tat ihr den Gefallen lächelnd, obwohl sie nicht verstand, warum ihre kleine Tochter so großen Wert darauf legte. Sie hatte das Kind einmal gefragt:„Soll ich die kleine Lampe anlassen, wenn du dich so vor der Dunkelheit fürchtest?“, doch da hatte das Mädchen entrüstet geantwortet: „Ich fürchte mich doch nicht. Ich will nur den Mond sehen.“ Und so war es tatsächlich: Melissa war erst fünf Jahre alt, doch sie fürchtete sich selten. Vielleicht vor dem großen, schwarzen Hund des Nachbarn – aber den sah sie nur manchmal im Treppenhaus. Eigentlich war ihr das Tier nur unheimlich, weil es einen Maulkorb trug – da musste es doch gefährlich sein. Oder wollte der Nachbar nur verhindern, dass sein Hund ihm widersprach? Sobald ihre Mutter das Licht ausgemacht und die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, setzte Melissa sich halb im Bett auf und spähte durch den Spalt unter dem Rollo hinauf in den dunklen Himmel. „Pst, hey, Mond, bist du da?“, fragte sie dann jedesmal erwartungsvoll. Und egal, ob der Himmel sternenklar oder schwer von dräuenden Wolken war, pflegte ihr der Mond von irgendwoher mit leiser, silbern schimmernder Stimme zu antworten: „Ja, Kind, ich bin da. Warte, ich komme zu dir herunter.“ Melissa sah, wie er das tat: Der Mond verließ seinen Platz oben am nächtlichen Himmel, schwebte langsam durch die Luft

und glitt lautlos als eine tellergroße, perlmuttglänzende Scheibe unter dem Rollo hindurch auf die Fensterbank. Sein sanfter, silberner Glanz tauchte das Zimmer in unwirkliches Zwielicht. Dann sprang er mit bleistiftdünnen Beinen auf den Holzfußboden vor ihrem Bett, stemmte seine ebenso dünnen Arme in die Seiten und sah Melissa vergnügt an. „Und, junge Dame, wohin soll es heute Abend gehen?“, fragte er dann, und Melissa fing an, zu überlegen. „Nach Afrika, zu den Elefanten! Oder nein, warte, doch lieber zu den Eisbären an den Nordpol… Nein, jetzt weiß ich es: zum Schlittschuhfahren auf die Milchstraße!“ Wenn Melissa sich entschieden hatte, lächelte der Mond und legte sich flach auf den Boden, machte sich ein bisschen größer, sodass das Mädchen im Schneidersitz auf ihm Platz finden konnte, und dann sagte er sanft: „Augen zu, Kleine!“ und flog mit ihr davon. Auf ihren Flügen mit dem Mond kam Melissa an die entlegensten Orte und tat die ungewöhnlichsten Dinge. Sie ritt auf schokoladenbraunen Okapis im Kongo und ließ sich von ihnen den dichten, grünen Dschungel zeigen, aus dem raunende Stimmen geheimnisvoll zu ihr sprachen, sie schwamm zusammen mit übermütigen Jaguaren, die ihr zärtliche Prankenschläge versetzten, im Amazonasdelta um die Wette, spielte in Persien Schach mit stolzen Schneeleoparden, vor indischen Tempeln Nüsseweitwerfen mit heiligen Rhesusaffen und in Australien Golf mit Blätter kauenden Kängurus. Sie hörte auf ihren Flügen die Farben der Sonne rauschen und schmeckte nassgraue Wolken, die im Vorbeiziehen Schattenflecken auf das Land unter ihnen warfen, fragte vorbeifliegende Schwäne: „Wo wollt ihr hin?“, und ihre Stimmen waren wie pfeifender Gesang, wenn sie antworteten: „Nach Dänemark, zu unseren Verwandten…“ Ungezählt waren die Orte, die Melissa nachts mit ihrem Mond

besuchte, und er zeigte ihr, wie wunderschön die Erde war. „Du bist ein Teil von allem, von allem ringsherum um dich her“, erklärte der Mond, „genau wie die Antilopen in Afrika, die Berge im Himalaya, die Flüsse in Südamerika und die Kastanienbäume vor deiner Haustür. Du bist nicht allein, sie sind alle deine Brüder und Schwestern. Vergiss das nie…“ Bei diesen Worten fühlte sich Melissa immer sehr glücklich, sie atmete tief die aufregenden, fremden Gerüche um sie herum ein, als wollte sie auf diese Weise von allem etwas mitnehmen und in ihrem Herzen bewahren. Manchmal besuchte Melissa mit ihrem Mond auch Menschen. Zum Beispiel ihren Bruder Malte, der im Krankenhaus lag, weil er seinen Fußball von der Straße zurückholen wollte und ihn ein Auto dabei angefahren hatte. Zum Glück hatte er nur eine Gehirnerschütterung davongetragen. Melissa vermisste ihn sehr, und so bat sie ihren Mond, sie zu Malte zu bringen. Sie flogen ganz leise in sein Zimmer, um ihn nicht zu wecken, und Melissa ging auf Zehenspitzen zu ihm ans Bett. „Wird er wieder gesund?“, fragte sie ihren Mond flüsternd, und er antwortete: „Mach dir keine Sorgen um ihn, der wird wieder ganz, so wie ich“, und dann blies er ein wenig kühles Mondlicht in Maltes Gesicht und lächelte liebevoll. „Das lindert seine Kopfschmerzen“, erklärte er. Der Mond machte Melissa immer wieder Mut. „Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest, du bist ein sehr kluges, mutiges Mädchen“, versicherte er ihr immer wieder, und genauso oft wiederholte er: „Du bist nicht allein, sondern ein Teil dieser Welt, bist wie ein Tropfen Wasser im Ozean, wie ein Ton in einem großen Lied – einem Lied, das niemals endet. Sing einfach mit.“ Und weil Melissa fühlte, dass ihr Mond es gut mit ihr meinte und die Wahrheit sagte, sang sie den ganzen Tag. Sie war wirklich ein sehr glückliches Kind.

Als Melissa in die Schule kam, erzählte sie manchmal von ihren nächtlichen Erlebnissen und musste enttäuscht feststellen, dass man ihr nicht glaubte, ja, sie auslachte und verspottete. Die Lehrer hielten sie für eine Träumerin, für ein Kind, das viel Fantasie hatte, aber nur mäßige Leistungen erbrachte, und das schrieben sie auch in ihr erstes Zeugnis. Sie tadelten Melissa, sagten, sie solle lieber mehr im Unterricht aufpassen, und so hörte sie auf, von ihren Reisen mit dem Mond zu sprechen. Und weil ihre Nachmittage verplant waren mit Nachhilfeunterricht und verschiedenen Lernkursen, hatte sie keine Zeit mehr zum Träumen und vergaß mit den Jahren ihren Mond ganz und gar. Sie wurde erwachsen, lernte einen Beruf, heiratete und bekam Kinder. Ihr Leben war ein ganz normales Leben, wie es die Leute heutzutage so führen, es bestand aus ihren täglichen Pflichten, Kindererziehung und Kontakten mit Freunden, Kinound Restaurantbesuchen. Und wenn sie manchmal spätabends mit ihrem Mann spazieren ging und der Mond am Himmel schien, dachte sie an ihn wie so viele andere Menschen auch: Er war nur ein kalter, toter Gesteinshaufen, der den Planeten umkreiste, auf dem sie stand. Doch seit ihrer Schulzeit wurde sie das Gefühl nicht los, etwas unendlich Schönes verloren zu haben, etwas, das ihr Mut und Kraft im Leben gegeben hatte, weil es ihr eine tröstliche Gewissheit gegeben hatte, deren Bedeutung sie nicht mehr wusste. Am Anfang merkte sie es kaum. Aber im Laufe der Jahre wurde es immer schlimmer, als würde der Verlust immer größer, und sie hatte das Gefühl, als ob sich immer mehr Teile ihrer Selbst auf die Suche nach diesem verlorenen Etwas machten. Immer mehr spürte sie, dass sie sich selbst verlor. Und so blieb es nicht aus, dass sie sich eines Tages ganz leer fühlte. Das Loch in ihr war schwarz und tief geworden, und haltlos fiel sie dort hinein.

An manchen Tagen war es so schlimm, dass sie einfach nur dasaß und sich nicht bewegen konnte, als hinge sie fest in diesem großen schwarzen Nichts, das ihr jede Hoffnung nahm. An anderen Tagen hingegen fühlte sie sich wie von Gott verlassen und weinte, weil sie sich, sogar unter Menschen, entsetzlich einsam fühlte. Familie und Freunde konnten sie nicht aufmuntern, sie zog sich von ihnen zurück, weil sie ihre Ratschläge nicht mehr ertragen konnte. Auch die Restaurantbesuche machten ihr keine Freude mehr, denn sie hatte keinen Appetit mehr und zog es vor, früh ins Bett zu gehen, denn sie schlief sehr schlecht und war ständig sehr müde. Sie fühlte sich durch und durch krank und ging zum Arzt, der ihr Tabletten verschrieb, die sie die Traurigkeit nicht so spüren ließen. Sie spürte, wie sich erst ihr Herz, dann ihr ganzer Körper schmerzhaft zusammenkrampfte, als wollte er das schwarze Loch innen drin zusammendrücken. So ging das über mehrere Jahre, und Melissa verlor die Lust am Leben ganz und gar. Es war in einer dieser Nächte, als sie wieder einmal dalag und nicht schlafen konnte. Die Jalousie war fast ganz hinuntergezogen, durch den übrig gebliebenen Spalt schimmerte Mondlicht. In Melissa stieg eine unbestimmte, vage Erinnerung an etwas Wunderbares auf, das sie als kleines Mädchen verloren hatte. „Mein Mond“, flüsterte sie zögernd, erinnerte sich völlig unerwartet an ein überwältigendes Gefühl von Freude aus ihrer Kindheit. Melissa vermeinte, ein leises, doch deutlich vernehmbares Läuten von Glocken zu hören, ein feines, silbriges Klirren, und dann schob sich behutsam eine perlmuttschimmernde, tellergroße Scheibe durch den Spalt unter der Jalousie hindurch und füllte den Raum mit sanftem, mondweißen Licht. Sie sprang auf den Boden, stellte sich aufrecht hin, stemmte die Hände in die Seiten und sagte sanft: „Du bist groß geworden, Melissa.“ Dann legte sie sich lächelnd auf den

Boden, vergrößerte sich um einiges und bat Melissa, sich im Schneidersitz auf sie draufzusetzen. „Mein Mond“, sagte Melissa wiederum nur, überwältigt von plötzlich aufsteigenden Erinnerungen, und der Mond sagte liebevoll: „Mach die Augen zu, Kleine“, und dann flog er mit ihr davon. „Wohin geht die Reise?“, fragte Melissa unterwegs mit klopfendem Herzen, und der Mond antwortete: „Zu den schönsten Orten dieser Erde, damit du wieder verstehst, dass du ein Teil von ihr bist. Das hast du vergessen, und deshalb bist du krank geworden.“ Melissa schwamm mit Jaguaren im Amazonasdelta, ritt im Kongo auf Okapis durch den Dschungel, spielte in Persien Schach mit Schneeleoparden, vor indischen Tempeln Nüsseweitwerfen mit heiligen Rhesusaffen und in Australien Golf mit Kängurus, hörte das Rauschen der Sonne, schmeckte vorbeiziehende Wolken und wurde gesund.