Melissas Reisen mit dem Mond

Melissas Reisen mit dem Mond Jeden Abend, wenn Melissa ins Bett ging, bat sie ihre Mutter, das Rollo nicht ganz herunterzuziehen. „Bitte lass es unten...
Author: Lioba Bergmann
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Melissas Reisen mit dem Mond Jeden Abend, wenn Melissa ins Bett ging, bat sie ihre Mutter, das Rollo nicht ganz herunterzuziehen. „Bitte lass es unten ein bisschen offen, nur so viel, dass der liebe Mond hindurchscheinen kann“, sagte sie dann, und ihre Augen glänzten, als wären sie voller Vorfreude. Stella Norden Ihre Mutter tat ihr den Gefallen lächelnd, obwohl sie nicht verstand, warum ihre kleine Tochter so großen Wert darauf legte. Sie hatte das Kind einmal gefragt:„Soll ich die kleine Lampe anlassen, wenn du dich so vor der Dunkelheit fürchtest?“, doch da hatte das Mädchen entrüstet geantwortet: „Ich fürchte mich doch nicht. Ich will nur den Mond sehen.“ Und so war es tatsächlich: Melissa war erst fünf Jahre alt, doch sie fürchtete sich selten. Vielleicht vor dem großen, schwarzen Hund des Nachbarn – aber den sah sie nur manchmal im Treppenhaus. Eigentlich war ihr das Tier nur unheimlich, weil es einen Maulkorb trug – da musste es doch gefährlich sein. Oder wollte der Nachbar nur verhindern, dass sein Hund ihm widersprach? Sobald ihre Mutter das Licht ausgemacht und die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, setzte Melissa sich halb im Bett auf und spähte durch den Spalt unter dem Rollo hinauf in den dunklen Himmel. „Pst, hey, Mond, bist du da?“, fragte sie dann jedesmal erwartungsvoll. Und egal, ob der Himmel sternenklar oder schwer von dräuenden Wolken war, pflegte ihr der Mond von irgendwoher mit leiser, silbern schimmernder Stimme zu antworten: „Ja, Kind, ich bin da. Warte, ich komme zu dir herunter.“ Melissa sah, wie er das tat: Der Mond verließ seinen Platz oben am nächtlichen Himmel, schwebte langsam durch die Luft

und glitt lautlos als eine tellergroße, perlmuttglänzende Scheibe unter dem Rollo hindurch auf die Fensterbank. Sein sanfter, silberner Glanz tauchte das Zimmer in unwirkliches Zwielicht. Dann sprang er mit bleistiftdünnen Beinen auf den Holzfußboden vor ihrem Bett, stemmte seine ebenso dünnen Arme in die Seiten und sah Melissa vergnügt an. „Und, junge Dame, wohin soll es heute Abend gehen?“, fragte er dann, und Melissa fing an, zu überlegen. „Nach Afrika, zu den Elefanten! Oder nein, warte, doch lieber zu den Eisbären an den Nordpol… Nein, jetzt weiß ich es: zum Schlittschuhfahren auf die Milchstraße!“ Wenn Melissa sich entschieden hatte, lächelte der Mond und legte sich flach auf den Boden, machte sich ein bisschen größer, sodass das Mädchen im Schneidersitz auf ihm Platz finden konnte, und dann sagte er sanft: „Augen zu, Kleine!“ und flog mit ihr davon. Auf ihren Flügen mit dem Mond kam Melissa an die entlegensten Orte und tat die ungewöhnlichsten Dinge. Sie ritt auf schokoladenbraunen Okapis im Kongo und ließ sich von ihnen den dichten, grünen Dschungel zeigen, aus dem raunende Stimmen geheimnisvoll zu ihr sprachen, sie schwamm zusammen mit übermütigen Jaguaren, die ihr zärtliche Prankenschläge versetzten, im Amazonasdelta um die Wette, spielte in Persien Schach mit stolzen Schneeleoparden, vor indischen Tempeln Nüsseweitwerfen mit heiligen Rhesusaffen und in Australien Golf mit Blätter kauenden Kängurus. Sie hörte auf ihren Flügen die Farben der Sonne rauschen und schmeckte nassgraue Wolken, die im Vorbeiziehen Schattenflecken auf das Land unter ihnen warfen, fragte vorbeifliegende Schwäne: „Wo wollt ihr hin?“, und ihre Stimmen waren wie pfeifender Gesang, wenn sie antworteten: „Nach Dänemark, zu unseren Verwandten…“ Ungezählt waren die Orte, die Melissa nachts mit ihrem Mond

besuchte, und er zeigte ihr, wie wunderschön die Erde war. „Du bist ein Teil von allem, von allem ringsherum um dich her“, erklärte der Mond, „genau wie die Antilopen in Afrika, die Berge im Himalaya, die Flüsse in Südamerika und die Kastanienbäume vor deiner Haustür. Du bist nicht allein, sie sind alle deine Brüder und Schwestern. Vergiss das nie…“ Bei diesen Worten fühlte sich Melissa immer sehr glücklich, sie atmete tief die aufregenden, fremden Gerüche um sie herum ein, als wollte sie auf diese Weise von allem etwas mitnehmen und in ihrem Herzen bewahren. Manchmal besuchte Melissa mit ihrem Mond auch Menschen. Zum Beispiel ihren Bruder Malte, der im Krankenhaus lag, weil er seinen Fußball von der Straße zurückholen wollte und ihn ein Auto dabei angefahren hatte. Zum Glück hatte er nur eine Gehirnerschütterung davongetragen. Melissa vermisste ihn sehr, und so bat sie ihren Mond, sie zu Malte zu bringen. Sie flogen ganz leise in sein Zimmer, um ihn nicht zu wecken, und Melissa ging auf Zehenspitzen zu ihm ans Bett. „Wird er wieder gesund?“, fragte sie ihren Mond flüsternd, und er antwortete: „Mach dir keine Sorgen um ihn, der wird wieder ganz, so wie ich“, und dann blies er ein wenig kühles Mondlicht in Maltes Gesicht und lächelte liebevoll. „Das lindert seine Kopfschmerzen“, erklärte er. Der Mond machte Melissa immer wieder Mut. „Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest, du bist ein sehr kluges, mutiges Mädchen“, versicherte er ihr immer wieder, und genauso oft wiederholte er: „Du bist nicht allein, sondern ein Teil dieser Welt, bist wie ein Tropfen Wasser im Ozean, wie ein Ton in einem großen Lied – einem Lied, das niemals endet. Sing einfach mit.“ Und weil Melissa fühlte, dass ihr Mond es gut mit ihr meinte und die Wahrheit sagte, sang sie den ganzen Tag. Sie war wirklich ein sehr glückliches Kind.

Als Melissa in die Schule kam, erzählte sie manchmal von ihren nächtlichen Erlebnissen und musste enttäuscht feststellen, dass man ihr nicht glaubte, ja, sie auslachte und verspottete. Die Lehrer hielten sie für eine Träumerin, für ein Kind, das viel Fantasie hatte, aber nur mäßige Leistungen erbrachte, und das schrieben sie auch in ihr erstes Zeugnis. Sie tadelten Melissa, sagten, sie solle lieber mehr im Unterricht aufpassen, und so hörte sie auf, von ihren Reisen mit dem Mond zu sprechen. Und weil ihre Nachmittage verplant waren mit Nachhilfeunterricht und verschiedenen Lernkursen, hatte sie keine Zeit mehr zum Träumen und vergaß mit den Jahren ihren Mond ganz und gar. Sie wurde erwachsen, lernte einen Beruf, heiratete und bekam Kinder. Ihr Leben war ein ganz normales Leben, wie es die Leute heutzutage so führen, es bestand aus ihren täglichen Pflichten, Kindererziehung und Kontakten mit Freunden, Kinound Restaurantbesuchen. Und wenn sie manchmal spätabends mit ihrem Mann spazieren ging und der Mond am Himmel schien, dachte sie an ihn wie so viele andere Menschen auch: Er war nur ein kalter, toter Gesteinshaufen, der den Planeten umkreiste, auf dem sie stand. Doch seit ihrer Schulzeit wurde sie das Gefühl nicht los, etwas unendlich Schönes verloren zu haben, etwas, das ihr Mut und Kraft im Leben gegeben hatte, weil es ihr eine tröstliche Gewissheit gegeben hatte, deren Bedeutung sie nicht mehr wusste. Am Anfang merkte sie es kaum. Aber im Laufe der Jahre wurde es immer schlimmer, als würde der Verlust immer größer, und sie hatte das Gefühl, als ob sich immer mehr Teile ihrer Selbst auf die Suche nach diesem verlorenen Etwas machten. Immer mehr spürte sie, dass sie sich selbst verlor. Und so blieb es nicht aus, dass sie sich eines Tages ganz leer fühlte. Das Loch in ihr war schwarz und tief geworden, und haltlos fiel sie dort hinein.

An manchen Tagen war es so schlimm, dass sie einfach nur dasaß und sich nicht bewegen konnte, als hinge sie fest in diesem großen schwarzen Nichts, das ihr jede Hoffnung nahm. An anderen Tagen hingegen fühlte sie sich wie von Gott verlassen und weinte, weil sie sich, sogar unter Menschen, entsetzlich einsam fühlte. Familie und Freunde konnten sie nicht aufmuntern, sie zog sich von ihnen zurück, weil sie ihre Ratschläge nicht mehr ertragen konnte. Auch die Restaurantbesuche machten ihr keine Freude mehr, denn sie hatte keinen Appetit mehr und zog es vor, früh ins Bett zu gehen, denn sie schlief sehr schlecht und war ständig sehr müde. Sie fühlte sich durch und durch krank und ging zum Arzt, der ihr Tabletten verschrieb, die sie die Traurigkeit nicht so spüren ließen. Sie spürte, wie sich erst ihr Herz, dann ihr ganzer Körper schmerzhaft zusammenkrampfte, als wollte er das schwarze Loch innen drin zusammendrücken. So ging das über mehrere Jahre, und Melissa verlor die Lust am Leben ganz und gar. Es war in einer dieser Nächte, als sie wieder einmal dalag und nicht schlafen konnte. Die Jalousie war fast ganz hinuntergezogen, durch den übrig gebliebenen Spalt schimmerte Mondlicht. In Melissa stieg eine unbestimmte, vage Erinnerung an etwas Wunderbares auf, das sie als kleines Mädchen verloren hatte. „Mein Mond“, flüsterte sie zögernd, erinnerte sich völlig unerwartet an ein überwältigendes Gefühl von Freude aus ihrer Kindheit. Melissa vermeinte, ein leises, doch deutlich vernehmbares Läuten von Glocken zu hören, ein feines, silbriges Klirren, und dann schob sich behutsam eine perlmuttschimmernde, tellergroße Scheibe durch den Spalt unter der Jalousie hindurch und füllte den Raum mit sanftem, mondweißen Licht. Sie sprang auf den Boden, stellte sich aufrecht hin, stemmte die Hände in die Seiten und sagte sanft: „Du bist groß geworden, Melissa.“ Dann legte sie sich lächelnd auf den

Boden, vergrößerte sich um einiges und bat Melissa, sich im Schneidersitz auf sie draufzusetzen. „Mein Mond“, sagte Melissa wiederum nur, überwältigt von plötzlich aufsteigenden Erinnerungen, und der Mond sagte liebevoll: „Mach die Augen zu, Kleine“, und dann flog er mit ihr davon. „Wohin geht die Reise?“, fragte Melissa unterwegs mit klopfendem Herzen, und der Mond antwortete: „Zu den schönsten Orten dieser Erde, damit du wieder verstehst, dass du ein Teil von ihr bist. Das hast du vergessen, und deshalb bist du krank geworden.“ Melissa schwamm mit Jaguaren im Amazonasdelta, ritt im Kongo auf Okapis durch den Dschungel, spielte in Persien Schach mit Schneeleoparden, vor indischen Tempeln Nüsseweitwerfen mit heiligen Rhesusaffen und in Australien Golf mit Kängurus, hörte das Rauschen der Sonne, schmeckte vorbeiziehende Wolken und wurde gesund.

Der Auftrag Männleins

des

grünen

Mike zurrte eilig die Bänder seiner Fußballschuhe fest. Es war noch sehr früh am Morgen, gegen sechs; eigentlich pflegte er um diese Zeit noch zu schlafen – schließlich waren Sommerferien –, aber er wollte mit zwei Freunden die schönen, kühlen Morgenstunden zum Fußballspielen nutzen. Stella Norden Er war gerade im Begriff, auf Zehenspitzen die Wohnung zu verlassen, da hörte er von irgendwo draußen eine Flöte, so süß, so drängend und betörend, dass er wie betäubt da stand

und die Welt um sich herum vergaß. Sein Blick wurde starr, und seine Füße setzen sich wie von selbst in Richtung Haustür in Bewegung. Magisch angezogen von den seltsamen, drängenden Tönen, ging er aus dem Haus und die Straße hinunter. Wäre er nicht wie in Trance gewesen, hätte er bemerkt, dass mit ihm noch mehr Kinder unterwegs waren. Sie kamen von links und rechts aus den Seitenstraßen der Südstadt, wurden immer mehr und vereinten sich zu einem Strom, der sich in Richtung Bahnhof wälzte und dann durch die Innenstadt am Rathaus vorbei. Die Kleinsten trugen noch Windeln und watschelten eifrig – manche barfüßig – mit kurzen, strammen Schritten; die Jugendlichen, hoch aufgeschossen wie der 14-jährige Mike, schlurften lässig, die Hände in den Hosentaschen. Manche gähnten. Keines der Kinder sprach ein Wort. Nur das überirdisch schöne, fremdartige Flötenspiel war aus nördlicher Richtung deutlich vernehmbar. Es war ein eigenartiges Schauspiel, aber niemand schien es zu sehen. Die Kinderschar wurde immer größer. Es waren schließlich Hunderte, die die Straße entlang wanderten und die Stadt in nördlicher Richtung verließen. Kurz vor dem ersten Dorf bogen sie dann nach links zum ehemaligen städtischen Müllberg ab und blieben davor stehen. Vor der versammelten Menge, zu der sich inzwischen auch die letzten Nachzügler gesellt hatten, tauchte plötzlich ein dünnes, altertümlich gekleidetes Männlein auf. Es hüpfte hektisch vor den Kindern herum und kicherte, dass sich einem zufällig vorbeikommenden Fuchs die Nackenhaare sträubten und er machte, dass er wegkam. Das Männlein trug eine grüne Filzjacke, die seine langen, dürren Arme mit spitzen Ellbogen nicht verleugnen konnte. Auf dem Rücken war eine große, weiße Aufschrift erkennbar: www.rumpelstilzchen.com. Darunter stand: Auftragsarbeiten aller Art. Das Männchen klopfte mit seiner silbrigen Flöte an den Berg und schnarrte: „Müllberg, groß und fein, lass die Schar an Kindern rein“, und der Berg öffnete sich rumpelnd. Die Kinder

gingen, immer noch ohne irgendeine Regung zu zeigen oder zu sprechen, hinein in die dunkle, feuchte Höhle, sanken drinnen still zu Boden und fielen sofort in einen tiefen Schlaf. Das Kerlchen befahl dem ehemaligen Müllberg, sich zu schließen und verschwand hastdunichtgesehen im Gestrüpp. In der Stadt erwachte der Tag. Aber es war anders als sonst – es war ruhig. Unheimlich ruhig. Eine Unheil verkündende, drohende Stille unter einem strahlend blauen Himmel lag wie ein schwarzer Schatten über der Stadt. Die Spatzen hüpften in den Büschen der städtischen Anlagen herum und schienen sich nicht zu trauen, laut zu tschilpen. Hunde liefen mit eingeklemmten Schwänzen umher und sahen sich bisweilen ängstlich um, als fürchteten sie sich. Die städtischen Müllmänner hantierten vorsichtig mit ihren Tonnen, als wollten sie heute ausnahmsweise Lärm vermeiden, sahen sich ab und an irritiert um. Irgendetwas lag in der Luft, irgendetwas war anders, das spürten auch sie. Aber was? Mikes Mutter vermisste ihren Sohn an diesem Morgen noch nicht. Andere Eltern riefen ihre Kinder mehrmals vergeblich zum Frühstück, suchten sie dann im Kinderzimmer, im Bad, vor dem Fernseher und auf der Straße. Sie wurden zunehmend unruhiger. Schließlich waren überall Erwachsene unterwegs und riefen bange nach ihren Kindern – aber es waren keine Kinder mehr da. Kein einziges. Die Eltern sahen sich an. Ratlos. Schließlich setzten sie sich erst zögernd, dann immer schneller in Bewegung. Eine halbe Stunde später waren sämtliche Zufahrtsstraßen, der Parkplatz sowie der Vorraum der örtlichen Polizeiinspektion überfüllt von aufgebrachten, wild durcheinander redenden und weinenden Eltern, die Vermisstenanzeigen aufgeben wollten. Die Ersten hatten dies auch noch tun können, aber als die Polizeichefin die Menge an Menschen sah – es kamen immer noch welche – ließ sie in ihrer Not eilends erstellte und hundertfach kopierte Fragebögen verteilen, in die jeder die Daten selbst eintragen musste.

Eineinhalb Stunden später starteten Hubschrauber; Polizeibeamte wurden aus dem Urlaub zurückgerufen und in Suchstaffeln eingeteilt, Stadt und Landkreis von Polizei, Feuerwehr, Bundesgrenzschutz, Eltern und anderen Freiwilligen durchkämmt. Aber es war wie verhext: Die Kinder blieben bis zum Abend verschwunden, und auch bis zum nächsten Morgen. Da gab es natürlich kein anderes Thema in der Tageszeitung. Egbert Maulbaum, viel geprüfter Deutsch- und GSE-Lehrer einer 8. Hauptschulklasse mit 32 SchülerInnen, schlürfte seinen Morgenkaffee und las die Zeitung. „Dem Himmel sei Dank“, murmelte er und wischte sich mit zitternden Händen den Schweiß von der Stirn, zusammen mit ein paar langen, dünnen Strähnen, die eigentlich sein schütteres Haupthaar kaschieren sollten. Die Aussicht, in Frührente gehen zu können, ohne jemals wieder ein Kind sehen zu müssen, gab ihm ein Gefühl nie zuvor erlebter Leichtigkeit. Er fühlte 31 Jahre zermürbender, demütigender Lehrtätigkeit von sich abfallen wie eine schwere Last. Zufrieden schmierte er sich ein Marmeladenbrötchen und leckte sich die Finger ab. „Na also, geht doch“, murmelte er. Im Rathaus war zur gleichen Zeit der gesamte Stadtrat zu einer eilends einberufenen, nicht-öffentlichen Stadtratssitzung versammelt. Nicht wenige der Stadtratsmitglieder waren ungekämmt, rochen eigentümlich und hingen mehr denn dass sie saßen in ihren Stühlen. „Und“, fragte der Oberbürgermeister, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, barsch in die Runde, „wie ist der letzte Stand?“ Nichts Neues“, sagte ein Parteigenosse schwach und versuchte, den Knoten seiner schief sitzenden Krawatte zu öffnen, denn er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der OB kratzte sich die Stoppeln. Zum Rasieren hatte er keine Zeit gefunden. „Die Sitzung ist hiermit beendet“, presste er, nachdem sämtliche Stadtratsmitglieder außer einem längeren Schweigen nichts vorgebracht hatten, schließlich hervor, nahm seine Jacke, zog sie an und ging leicht schwankend hinaus. Er

wusste sich keinen Rat mehr. So ging es auch in den nächsten Wochen weiter. Jeden Dienstag und Freitag traf sich der Stadtrat und der OB fragte, ob es etwas Neues gäbe, und jedes Mal bekam er eine verneinende Antwort, die von Mal zu Mal hoffnungsloser und leiser ausfiel. Die Kinder blieben spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Die Eltern hatten indessen auf dem Marktplatz ein Feuer entzündet, das Tag und Nacht brannte und ein Symbol der Hoffnung darstellen sollte. Viele Menschen, die vorbeikamen, auch kinderlose Bürger, legten als Zeichen der Solidarität ein Holzscheit oder anderes Brennmaterial hinein, damit die Flamme nicht ausging. Die Eltern hielten nachts am Feuer Mahnwachen ab, sie gründeten je nach politischer Gesinnung Bürgerinitiativen, die sie „Mein Kind – unsere Zukunft“ oder „Nieder mit diesem Staat“ nannten. Erstere gingen regelmäßig in die Kirche, um zu beten und Kerzen anzuzünden, Letztere führten unangemeldete und deswegen regelmäßig von der Polizei aufgelöste Demonstrationen durch. Beides nützte nichts. Nicht wenige Eltern gingen das erste Mal seit Jahren in die Kinderzimmer und betrachteten sie aufmerksam. Beim Aufräumen fanden sie dann oft Dinge, die sie dort nie für möglich gehalten hätten. Es wurde Oktober. Die Schulen standen leer. Die Kirchweih fiel aus. Am ersten Dienstag des Monats traf sich wieder der Stadtrat. „Gibt’s was Neues?“, fragte der Oberbürgermeister schon gewohnheitsmäßig und kratzte sich am Bart. Beim Aufstehen musste er neuerdings aufpassen, dass er ihn nicht zwischen Tischkante und Bauch einklemmte. „Äh, Chef, ich hab’ da eine Idee“, sagte ein Stadtratsmitglied

mit aufkeimender Euphorie. „Wir könnten ja überall Süßigkeiten auslegen, alle Kinder mögen Süßigkeiten, sie können ihnen nicht widerstehen, und dazu Plakate aufhängen, dass die Eltern ihre Kinder sehr vermissen.“ Der OB sah ihn vernichtend an und begann nachzudenken. „Wir werden einen Fachmann anheuern, der sich im Auffinden von Personen versteht“, bestimmte er schließlich. „Wir werden eine Anzeige aufgeben.“ Und so geschah es auch. In der nächsten Samstagsausgabe der örtlichen Tageszeitung zog eine ganzseitige, farbige Anzeige in großen Lettern die Blicke der Leser auf sich: „Gesucht! Fachmann, der den Verbleib unserer Kinder aufklärt. Auto wird gestellt. Gute Bezahlung. Anfragen an den Oberbürgermeister. Die Stadt XY.“ In den darauf folgenden Tagen klingelte das Telefon des OB heiß; merkwürdige Gestalten gingen bei ihm ein und aus. Manche sahen so finster und abgerissen aus, dass der OB ihnen lieber nie im Dunkeln begegnen wollte, andere waren vielleicht noch verdächtiger, so aalglatt rasiert und teuer gekleidet wie sie waren. Keiner von ihnen entsprach den Vorstellungen des OB. Es wurde langsam November. Trübe sah das Stadtoberhaupt aus dem Fenster seiner Amtsstube. Die Geranien in seinen Blumenkästen, die ihn im Sommer mit ihrem leuchtenden Rot noch so erfreut hatten, waren längst verdorrt und struppig wie sein knielanger Bart, den er über die Schulter nach hinten geworfen hatte. Auch der schöne Ausblick aus seinem Fenster, von dem aus er die halbe Stadt sah, konnte ihn nicht mehr erfreuen. Er musste an die kinderlos gebliebenen Eltern denken, die ihre Hoffnung zwar noch nicht aufgegeben hatten, aber physisch wie psychisch merklich angegriffen waren, an die leeren Schulen, die Geschäfte, die über massiven Umsatzeinbruch in den Sektoren Mobiltelefone, teure Markenklamotten und ebensolche

Schuhe, Schulbedarf, Süßigkeiten, Spielwaren und Computerzubehör klagten, seitdem die Kinder weg waren. Auch viele Lehrer, Mitarbeiter von Jugendamt und Kinderheim sowie diverse Nachhilfeinstitutionen beschwerten sich immer lauter und gaben ihrer Sorge Ausdruck, in Zukunft aus Mangel an Kindern von Hartz IV leben zu müssen. Am meisten Bauchschmerzen bereitete ihm aber das Schicksal der Stadt, die aussterben würde ohne Kinder, denn diese waren schließlich ihre Zukunft, waren ihre – hoffentlich verantwortungsbewusste – Bevölkerung von morgen. Wie der OB wieder einmal so am Fenster lehnte und Trübsal blies, betrat ein kleines dünnes Männlein mit grüner Jacke sein Zimmer. Seine schwarzen Augen funkelten undefinierbar. „Hi“, sagte es Kaugummi kauend. „Sie haben mich gerufen.“ Irritiert sah der OB das Kerlchen an. „Ich melde mich auf Ihre Anzeige hin“, fügte der kleine Grüne mit leicht verächtlicher Stimme hinzu. Der OB richtete sich unwillkürlich auf. „Ach so“, sagte er und begriff doch gar nichts. „Unter einem Lamborghini tue ich es nicht, und bezahlt werden möchte ich im Voraus“, sagte das Männlein und klebte sein Kaugummi unter die Schreibtischkante. Der Oberbürgermeister starrte den Besucher an und verstand sich selbst nicht mehr, als er sich „okay“ sagen hörte. Sie besiegelten den Pakt mit einem Handschlag. (Die Hand seines Vertragspartners war feucht und kalt, der OB bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, als er sie berührte.) Der Lohn, den das Männlein erhielt, tauchte unter der Ausgabenrubrik des Stadtkämmerers später nirgendwo auf. Gegen Mittag sah man einen funkelnagelneuen, roten Lamborghini aus dem Rathaushof rollen. Am Steuer saß ein grün gekleidetes Männlein mit Sonnenbrille, aus den Boxen dröhnte mit vollem Bass der Song „I’m real“ von Jennifer Lopez. Die Nobelkarosse verließ rasch die Stadt und glitt auf der Ausfallstraße nach Norden so schnell dahin, dass niemand den Wagen sehen konnte.

Der kleine Grüne parkte den Wagen abseits der Straße hinter dem städtischen Müllberg und machte sich zu Fuß hinüber zum Hügel. „Müllberg, riesengroß und voller Graus, lass die Schar an Kindern raus“, krächzte er und klopfte mit einem silbernen Brieföffner, den er aus dem Zimmer des OB hatte mitgehen lassen, lässig an den Berg. Der öffnete sich wieder rumpelnd, und heraus kamen die Kinder. Langsam, zögernd, verschlafen rieben sie sich die Augen. „Hurtig, hurtig, auf nach Haus’, sie warten schon auf euch“, befahl das Männlein ihnen barsch und dem Müllberg, sich zu schließen, und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Gestrüpp. Die Freude war natürlich riesengroß, als die Kinder nach und nach alle zu Hause eintrudelten. Man versprach ihnen, sich von jetzt an nie wieder mit ihnen zu streiten, nie wieder von ihnen zu verlangen, den Mülleimer runterzubringen sowie das Taschengeld rückwirkend zu erhöhen. Die Stadtratsmitglieder trafen sich noch am selben Abend zu einer außerordentlichen Sitzung im Rathaus. Die Erleichterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Einige hatten schon öffentliche Erklärungen abgegeben und bei der Gelegenheit das unermüdliche Bemühen ihrer Partei hervorgehoben. Der Lamborghini war bereits von einer Polizeistreife gefunden und auf Befehl des OB so diskret wie möglich zum Autoverleih zurückgefahren worden; allerdings wurde nie aufgeklärt, warum der teure Wagen neben dem Müllberg abgestellt worden war. Entsprechende Anfragen seiner politischen Gegner schmetterte der OB jedes Mal kategorisch mit der Begründung ab, das könne er nicht beantworten, da er seine Familie beschützen müsse. Als der OB dann drei Wochen später auf einer dieser Stadtratssitzungen seinen letzten Mut zusammennahm und stockend von dem kleinen grünen Männlein erzählte, glaubte man ihm kein Wort, man lachte ihn aus, und er beschloss reuevoll, es nie wieder zu erwähnen. Schreiber von Leserbriefen an die örtliche Tageszeitung

äußerten noch Monate später wahnwitzige Theorien über den Grund der Kindesentführung. Von „Außerirdische“ bis „Zeitschleife“ war alles vertreten. Einer der Schreiber namens E. Maulbaum behauptete, die Kinder hätten alles selbst inszeniert, um eine Taschengelderhöhung zu erpressen. Der Oberbürgermeister hielt sich aus den Diskussionen heraus. Er verbrachte mehr Stunden als früher allein in seinem Amtszimmer, pflegte seine Geranien, rasierte sich fünf Mal am Tag, schuf Kindergartenplätze und Freiräume für jedes Kind – und die Bedingungen dafür, dass in seiner Stadt nie wieder ein Kind irgendeinem Rattenfänger hinterher laufen musste.

Anton der Zaubergeiger Es war einmal in vergangenen Zeiten und doch in unseren, da lebte in einer kleinen russischen Stadt ein Geigenbauer namens Grigorij. Er baute jedoch nur noch sehr wenige Geigen, meistens reparierte er nur welche, denn die Zeiten waren schlecht und die meisten Leute zu arm, um eine Geige kaufen zu können. Stella Norden So hatte Grigorij gerade genug zum Leben, dass er und seine Frau nicht hungern mussten. Damit wäre er recht zufrieden gewesen, denn er verlangte vom Leben nicht viel. Das Einzige, was ihn ernsthaft betrübte, war, dass sein kleiner Sohn von Geburt an blind war. Der Junge selbst allerdings bezeichnete sich weder als unglücklich noch als blind – „ich sehe auch, aber anders als ihr, ich sehe das Wesen der Dinge“, sagte er einfach nur, wenn er darauf angesprochen wurde. Aber mit solchen Erklärungen konnte

Grigorij nichts belastete ihn.

anfangen,

die

Blindheit

seines

Sohnes

Eines Nachmittags saß Grigorij in seiner Werkstatt und arbeitete, da kam ein Kunde, um seine reparierte Geige abzuholen. Er war ein alter, schmächtiger Mann, und der verbrauchte Zustand seiner Kleider bestätigte, was Grigorij schon bei seinem ersten Auftauchen befürchtet hatte: „Ich habe kein Geld, um die Reparatur meiner Geige zu bezahlen“, sagte er bittend, „aber ich bezahle dich hiermit“, und dann wickelte er aus einem verschlissenen Stück Tuch einen langen Gegenstand. „Das ist eine Pferdekopfgeige, ich habe sie einst in der Mongolei von einem alten Mann erhalten. Er nannte sie Morin Khuur“, erklärte er und legte sie behutsam auf den Tisch, „bewahre sie gut auf…“ Dann nahm er seine reparierte Geige, nickte Grigorij zu und ging, ohne abzuwarten, ob dieser mit dem Handel einverstanden wäre. „Was soll ich mit diesem komischen alten Ding?“, rief Grigorij erbost hinter ihm her, doch die Tür war schon ins Schloss gefallen. Er sprang auf und riss sie auf, blickte links und rechts die staubige Straße hinunter – doch es war niemand zu sehen außer den Nachbarn. Und diese verneinten, irgendjemanden gesehen zu haben, der in Grigorijs Geschäft hinein oder dort hinaus gegangen wäre. Missmutig ging Grigorij in seinen Laden zurück und betrachtete stirnrunzelnd das unerwünschte Zahlungsmittel. Der Resonanzkörper des Instruments war ungewöhnlich für eine Geige, weil viereckig, noch dazu bestand er aus einem Holzrahmen, der mit braunem Leder bespannt war, dem man eine jahrelange Benutzung ansah. Grigorij lachte spöttisch über die lediglich zwei Saiten dieser Geige, welche dazu noch recht primitiv und dick aussahen, denn sie bestanden aus Pferdeschweifhaaren, welche weder umsponnen noch auf irgendeine andere Art miteinander verbunden waren. Die linke Saite sah außerdem dicker aus als die rechte.

Der Instrumentenhals endete in einen geschnitzten Pferdekopf, der allerdings sehr kunstvoll ausgeführt war und Grigorij gut gefiel. Er wickelte die fremdartige Geige wieder in das alte Tuch ein, zog seinen Schemel heran, stieg hinauf und verstaute sie ganz oben in eines der Regale. „Was soll ich denn nur damit“, murrte er wieder, „wer kauft hier denn schon so etwas?“ Und weil in Grigorijs Laden die Regale bis unter die dunkle Decke reichten und voll waren von alten und noch älteren, von noch nicht oder bereits reparierten und selbst gebauten Geigen sowie deren Teilen, Zubehör, Pflegemitteln und Werkzeug, fiel der Neuzugang dem Vergessen anheim. Grigorijs Sohn hieß Anton, und je größer er wurde, desto größer wurden auch die Probleme mit ihm. So empfand es Grigorij. Wie sollte sein Sohn sich eines Tages selbst ernähren? Er konnte weder Geigenbauer werden und seines Vaters Laden übernehmen, noch irgendetwas anderes tun. Oft saß er jedoch bei seinem Vater und hörte ihm zu, wenn dieser arbeitete. Dann fragte Grigorij seinen Sohn manchmal seufzend: „Anton Grigorjewitsch, was soll nur aus dir werden?“, und Anton lächelte nur jedes Mal, gab immer die gleiche Antwort, die Grigorij freilich nicht zufriedenstellte: „Der Himmel wird es wissen.“ Grigorij brachte seinem Sohn das Geigespielen bei, und das lernte er schnell. Sein Gehör war äußerst fein und sein Gedächtnis sehr gut. Er brauchte ein Musikstück nur wenige Male zu hören, dann konnte er es auswendig spielen. Jede einzelne Geige, die je auf dem Ladentisch seines Vaters landete, hielt er irgendwann in den Händen und spielte auf ihr, als suche er etwas und könne es nicht finden. Wohl deshalb fragte er seinen Vater nach Jahren: „Papa, hast du nicht noch andere Instrumente?“, doch Grigorij verneinte knurrend – wo sollte er das Geld für eine brauchbare musikalische Ausbildung seines Sohnes hernehmen? Dann fiel

sein Blick plötzlich auf jenen vergessenen Gegenstand auf dem obersten Regal, der seit sicher nun schon zehn Jahren dort verstaubte. Er zog seinen klapprig gewordenen Schemel bis an das Regal heran, stieg hinauf und holte das alte Instrument herunter. „Da ist noch eine seltsame Geige mit zwei Saiten – wenn du ein paar Töne aus ihr herausbringen kannst…“, sagte er, verspürte Zorn und Verzweiflung, weil er seinem Sohn nichts Besseres bieten konnte. „Gib sie mir“, bat Anton mit ungewohnter Bestimmtheit. Grigorij packte sie eher unwillig aus, wischte den Staub von der ausgetrockneten Lederhaut, fettete diese dann nach einigem Überlegen und Hin und Her unter Zuhilfenahme eines alten Lappens mit Pferdetalg ein, bestrich die Bogenhaare mit Lärchenharz und drückte Anton dann links die viereckige Geige, rechts den Pferdehaarbogen in die Hand. Anton befühlte das Instrument lächelnd und sah so glücklich aus, als hätte er sein Leben lang auf diesen Moment gewartet, strich die Saiten an und spielte einfach. Die Melodie, die er der Geige entlockte, bestand aus vier Grundtönen, begann mit dem niedrigsten, schraubte sich hoch, verharrte dort, fühlte dem letzten Ton nach, wiederholte ihn, um dann die Tonleiter wieder hinabzusteigen. Dann spielte er das Gleiche noch einmal in einer anderen Tonlage, indem er die Saiten mit seinen Fingerspitzen etwas wegdrückte. „Ich spiele im Quadrat“, erklärte er seinem Vater auf dessen kopfschüttelnde Frage, was er eigentlich damit bezwecke, dass er immer nur dieselbe Melodie spiele, „der Bauch der Geige ist viereckig, und ich schicke meine Musik in alle vier Himmelsrichtungen…“ Himmlisch fand Grigorij die Musik allerdings nicht gerade, doch er duldete es, wenn Anton neben ihm saß und übte. Doch dann, als Anton das Instrument wirklich beherrschte, merkte Grigorij, dass ihm die Arbeit leichter von der Hand ging, wenn Anton bei ihm saß und seine Musik machte. Und nicht nur das,

die Kunden waren auf einmal zufriedener – manche kamen wieder, nur, um Grigorij mitzuteilen, dass das reparierte Instrument sich jetzt viel schöner anhören würde als je zuvor. „Wie hast du das nur hingekriegt?“, fragten sie Grigorij dann verwundert, und er antwortete ebenso erstaunt: „Ich weiß es nicht, ich habe nur meine Arbeit getan, wie immer…“ Aber so wie immer war es nicht – spielte Anton seine zweisaitige Pferdekopfgeige, war es, als läge ein Zauber in der Luft, ein Zauber, der ein Lächeln auf den Gesichtern der Menschen hervorrief, sodass sie ihr Leben leichter ertrugen, der alles um sich herum zum Guten veränderte. Deshalb besuchte er eines Tages ein krankes Mädchen aus der Nachbarschaft. Ihre Familie stand um ihr Bett, und Anton begann zu spielen. Er sah, wie die Geigentöne im Raum emporschwebten und sich mit dem Lächeln des Mädchens trafen, wie sich Töne und Lächeln umschlangen und vereinten, sich verwandelten in einen zarten, rosagelben Hauch, einen sanft vibrierenden Nebel. Der Hauch hüllte das Mädchen ein und verscheuchte die Krankheitsgeister. Er erreichte auch die Eisblumen am Fenster, woraufhin diese geschwind in wunderschönen Ornamenten an der Glasscheibe emporwuchsen und filigrane, blassrosagelbe Blüten trieben. Am nächsten Tag stand das Mädchen wieder auf. Und so begann Anton, mit seiner Geige auf die Straße zu gehen und dort zu spielen. Ging er vorbei, hörten kleine Kinder auf zu weinen und die Erwachsenen hielten inne in ihrem Alltagstreiben, oft sahen sie ihm nach und lächelten versonnen, als hätte er etwas in ihrem Herzen angerührt, das sie vergessen geglaubt hatten. Das Lied der Pferdekopfgeige nahm Gestalt an, und diese sah bei jedem Menschen anders aus. Der eine stellte nach Jahren das Gerichtsverfahren gegen seinen Nachbarn ein, ein anderer schimpfte nicht mehr über spielende Kinder in seinem Hof, sondern erinnerte sich an seine eigene Kindheit und ließ sie

gewähren. Ein weiterer beschwerte sich nicht mehr über das Laub des Baumes vor seiner Tür und bezeichnete es als Schmutz, sondern pflegte und goss den Baum geduldig. Geizhälse wurden großzügig, Diebe reumütig und Jähzornige friedfertig. Die Leute begannen, einander Zeit zu geben, und so hatte ein jeder genug davon. Doch mochte sich bei einem jeden auch das Lied der Pferdekopfgeige anders ausdrücken, im Grunde war es immer das gleiche.Antons Geige brachte einfach nur in den Herzen der Leute Saiten zum Klingen, die jeden auf seine Art und Weise die gehörte Musik ausdrücken ließ. So wurde Anton bekannt als der blinde Zaubergeiger. Als Anton sah, dass die Musik seiner Pferdekopfgeige alle Herzen in seiner Heimatstadt erreicht hatte, ging er zu seiner Mutter und sagte ihr Lebewohl, ging dann zu seinem Vater und verabschiedete sich auch von ihm. Doch bevor er ging, zupfte er behutsam je ein Pferdehaar aus der linken und eines aus der rechten Geigensaite sowie eines aus dem Bogen, wickelte die drei Schweifhaare umeinander und drehte sie dann zu einer Kordel, die er seinem Vater ums Handgelenk band, bis nur noch zwei kurze Enden übrig blieben. Diese knotete er halb zu, sprach: „Möge der Geist meiner Geige dir weiterhin behilflich sein“, pustete diese Worte durch den offenen Knoten und zog ihn dann fest zu. „Ich bin ein Krieger geworden“, sagte er zum Abschied, „doch meine Waffen sind nicht von dieser Welt – die Geige ist mein Schild, ihr Bogen mein Schwert… Ich muss in die Welt hinaus.“ Dann nahm er seine viereckige Geige und ging die Straße hinunter, hinaus aus der Stadt. Die Pferdekopfgeige führte ihn, die Menschen auf seinen Wegen gaben ihm zu essen. Nachts wurde die Geige sein Haus, indem sie ihm Raum so groß wie eine Hütte bot, und der Bogen wurde sein Bett, indem er sich streckte, bis Anton sich auf ihm langlegen konnte. Und wenn die Götter es wollen, so wandert Anton noch immer mit

seiner mongolischen Morin Khuur durch die Welt, damit das Gute und Lichte über die Finsternis siegt.

Willenloses Werkzeug unter der Knute eines Ideals Anfangs kam die kleine Gruppe recht gut voran, alldieweil ein paar Ortskundige unter ihr sich befanden, die unnötiges Aufsehen vermieden, in dem sie gewisse Schleichwege einschlugen. In Zeiten feindseliger Verhältnisse, die schon eine ganze Weile andauerten, sollten solche Menschen vorteilhaft ihnen zu Diensten sein. Immerhin herrschte viel Unsicherheit, Gewalt und Mißtrauen scheuchten viele Bürger auf, die nahezu orientierungslos durch die Lande zogen, zumal jedwede gewohnten elektronischen Kommunikationsmittel plötzlich sich als nutzlos erwiesen, da eine einzige mega E-Bombe dazu ausgereicht hatte. Besonders die junge Generation war völlig hilflos, weil sie keine Erzählungen ihrer Vorfahren kannte, sie nicht auf altes Wissen einfach zurückgreifen konnte. Was war bloß geschehen? Sollte des Menschheits Traum von einer friedlichen Welt zerplatzt sein aufgrund niederträchtiger Instinkte, die tatsächlich Wege ihres bösen Daseins stets fanden, um die Knute eines haßerfüllten Ideals alle spüren zu lassen? Wie willenlose Werkzeuge hatte ein Großteil der Bürger sämtliche gezielten Entwicklungen mitgetragen, ahnungslos den Vorgaben einer durchdachten Wirtschaftspolitik Folge geleistet, zumal für raffinierte Unterhaltung gesorgt wurde, schließlich durfte keine Zeit vorhanden sein, daß kritische

Gedanken nur ansatzweise entstanden. Aber wie immer in der langen Menschheitsgeschichte gab es dennoch ein paar wenige wache Geister, die das perfide Manipulationsgehabe durchschauten, eben nicht der Propanda und dem zerstörerischen Herrschaftsstreben auf den Leim gingen, vielmehr sich im Stillen organisierten, um Widerstand zu leisten. Selbstverständlich mit einer entsprechend durchdachten Vorgehensweise, um nicht entdeckt zu werden, was ihnen dank ihrer geduldig geplanten Aktionen ziemlich gut gelang. Und nun war auch diese Gruppe unterwegs, um einen Ort aufzusuchen, der Überleben, Sicherheit bedeutete. Überall rauchende, zerstörte Landschaften, zerfallene Bauruinen, die dem Bombenhagel nicht standhalten konnten, dazwischen zerfetzte Menschen und Tiere, üble Gerüche umwehten die gespenstisch stille Szenerie, während die kleine Gruppe wortlos vorbeitaumelte. Ein schwarzhaariges Mädchen schrie kurz auf, weil eine Hunderotte mit gefletschten Zähnen in eindeutiger Absicht alle angriff. Nach kurzem Aufheulen lagen die Hunde niedergeknüppelt am Boden, einer konnte jedoch winselnd davonlaufend entkommen und verschwand in einem zerfallenen Bürogebäude. „Laughing to our Lord we are drawing the sword heavenwards, asking what mankind has forgotten, why some of us are rotten. Let’s remember the dead and always go ahead with feelings of love”, sang eine Mittdreißigerin und manche Stimmen gesellten sich dazu. Ansonsten waren sie versunken in Gedanken und Erinnerungen an bessere Zeiten, die vielleicht wieder entstehen durften, wenn Mensch nur den Mut besitzen würde, sie zuzulassen. Ein kalter Regenschauer überraschte die wankenden Wesen, die schnell Schutz unter einer verlorenen Baumgruppe suchten. Tiefschwarze Wolkenpakete verdunkelten die Umgebung, größere Wasserpfützen lösten sich auf in einen reißenden Sturzbach, der alles mitriß, was ihm nicht standhielt. Ein verlorener

Teddybär zog an ihnen vorrüber, umspült im lauten Naß, während eine Krähe krächzend das Weite suchte, im Dunkel der Wolken verschwand. Das schwarzhaarige Mädchen kniete sich nieder und hielt die Hände vors verweinte Gesicht, zitternd suchte es Schutz am Stamm einer Rotbuche. Der Laubbaum gab ihr ein wenig Wärme und Trost, eine alte Katze gesellte sich dazu, die durchnäßt auf ihrem Schoß sich zusammenrollte. Niemals sollte des Menschheits Hoffnung von dannen ziehen, solange noch eine Chance der Rückbesinnung vorhanden. Erinnern mag sie sich an ihren ureigenen Wurzeln längst vergangener Tage, als noch kein Neid, kein Habitus die reinen Gedanken vergiftete, der Nächste liebevoll umsorgt und geachtet wurde, Botschaften der Liebe die Tage versüßten, sorgsamer Umgang sich der Natur öffnete, der man mit Respekt und Andacht begegnete. Ihr Lotar Martin Kamm

Vergänglichkeit trifft Leben Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, zumal ringsherum kein einziges Geräusch zu vernehmen war, während selbst die Luft bewegungslos verharrte, fast hätte man meinen können, dieser Moment würde einem Gemälde gleich ewiglich anhalten. An jenem Spätsommerabend irgendwo auf der nördlichen Erdhalbkugel tummelten sich Spatzen auf dem Boden zwischen den ersten welken Blättern einer Rotbuche, die sichtlich kränkelnd ihr Dasein fristete. In anderthalb Meter Höhe zwei Buchstaben durch ein Pluszeichen getrennt den unteren Baumstaum keineswegs zierten, eingerahmt mittels einer Ahnung von Herzform.

Ob die damalig Verliebten jetzt noch an jene Augenblicke gedachten, als sie umständlich mit des Taschenmessers Klinge die Initialen ihrer Namen in die Borke schnitzten? Völlig nutzlose Buchstaben verblieben, hastig Beauftragte hatten der mächtigen Buche ohnehin viel größeren Schaden zugefügt, einen weggebrochenen Hauptast nicht beachtet, so daß Nässe und Getier tief eindringen konnten in den zerfransten Krater. Ein deutlich sichtbares, gelbes X verriet ihr baldiges Ende, daß wohl im Herbst sie gefällt werden würde. Den Spatzen sollte dies egal sein, sie spielten unter der alten Buche, der Platz füllte sich wieder zumal plötzlich wie aus dem Nichts eine rot-weiße einem einzigen Satz einen Altvogel erwischte,

unbedarft mit Leben, Katze mit der nicht

rechtzeitig von dannen geflogen. Das bestialische Spiel eines langsamen Todes ihm bevorstand. Aus sicherer Entfernung seine Artgenossen mitlitten, sich bei ihnen erneut einprägte, daß Wachsamkeit oberstes Gebot. Wer mag schon die Beweggründe natürlicher Kreisläufe gänzlich durchschauen, wieso diese grazilen Säugetiere ein derart erbarmungslos sich hinziehendes Todesspiel trieben? Nachdem nur noch ein paar Federn eine Restspur des Singvogels verrieten, verschwand die Katze mit erhobenen Schwanz. Eine Windböe wirbelte den welken Blätterhaufen auf, die Abendsonnenstrahlen tauchten den Platz in ein Hauch von Lila und die Haussperlingschar flog aufgeregt zwitschernd davon. Kurz darauf läuteten die Glocken, kündigten eine volle Abendstunde an. Eine Marderfamilie durchstreifte den Ort, witterte neugierig die Restspuren der Vogelmahlzeit, rannte ungeheuer schnell, ähnlich wie Eichhörnchen den Buchenstamm empor, tobte im weitläufigen Geäst, verließ den Laubbaum kurz darauf in Windeseile und suchte sich neue Herausforderungen. Das Knarren eines Eisentores durchbrach die kurzweilige Stille, eine alte Frau betrat leicht gebückt den Platz, setzte sich umständlich auf eine Bank, die vor Jahren schon von der Gemeinde gespendet wurde. Nicht weit entfernt lag der

Dorffriedhof, den sie allabendlich aufsuchte. Vor zwei Jahren hatte ihr Arthur das Zeitliche gesegnet, mußte aber nicht leiden, war einfach des morgens nicht mehr aufgewacht. Da saß sie nun und erinnerte sich vergangener Tage. Mit einem leichten Grinsen im faltigen Gesicht durchlebte sie erneut ihre ersten zaghaften Treffen mit Arthur, die Eltern durften nichts davon erfahren, dachte sie und fragte sich zugleich, warum eigentlich? Jedesmal folgten diese Rückerinnerungen auf dieser Bank unter der alten Buche. Zuhause geschah dies eher sporadisch, wenn überhaupt. Hier draußen konnte sie abschalten, kehrte Gelassenheit ein. Vielleicht hilft mir auch die Buche, überlegte sie kurz, entschloß sich aber, lieber wieder aufzustehen, der Weg nach hause wurde für sie in letzter Zeit immer beschwerlicher, und der Tag neigte sich seinem Ende. Ganz langsam kroch sie dahin, erreichte die mächtigen Wurzeln der Buche, ihr Erdloch konnte man kaum erkennen, doch die Rote Wegschnecke wußte zielsicher ganz genau, wo es sich befand. Die letzten Sonnenstrahlen verblaßten, die Nacht stand bevor, um mit ihrem dunklen Schleier alles in den Schlaf zu tauchen. Ihr Lotar Martin Kamm

Axxietess – eine Spezies begegnet uns ohne großes

Aufsehen Unendlich riesig erstreckt sich der Kosmos, in dem Milliarden von Sonnensystemen ihn zu füllen scheinen, obwohl in den Weiten des unbegrenzten Raumes ein luftleeres Nichts kaum endenwollend einem begegnet, wer denn sich auf Reisen durch ihn begibt. Schon lang waren sie unterwegs, Zeit spielte nicht die geringste Rolle in ihrem Bewußtsein, weil diese lediglich die Menschen beschäftigte. Noch betrug die Distanz zu diesem herrlich blau anzuschauenden Planeten an die 180 Millionen Kilometer, ein wenig weiter als des Fixsterns Licht diesen erhellte, für die Axxietess ein Katzensprung, zumal sie just einen Kurztrip von rund 6 Millionen Parsecs hinter sich hatten. In der begrenzt geistigen Welt des Homo sapiens würden solche Flüge in keiner Weise zu realisieren sein, wie die herannahenden Außerirdischen nur zu genau wußten, was jene aber nicht weiter beschäftigte. *** Karin schloss für einen herrlich anmutigen Moment ihre grünen Augen, nachdem sie die von Ost nach West ziehenden Wolkenpakete beobachtet hatte, während das duftend kühle Naß der Wiese ihr ein Gefühl von irdischer Geborgenheit gab, lang ausgestreckt liegend und voller Zuversicht, ohne jedwede Vorahnung, was da noch geschehen könnte. Markus hatte sie nach schon viel zu langer, beschwerlicher Beziehung endlich verlassen, befand sich längst auf dem Weg nach Norden, sie selbst lag hier mitten in der Schwäbischen Alb unweit der Burgruine Hohenlupfen und starrte in den unruhigen Wolkenhimmel. Irgendwie beschlich Karin urplötzlich ein merkwürdiges Gefühl, welches sie zunächst nicht einzuordnen vermochte. Trotz geschlossener Augen offenbarte sich ein grelles Licht, was die

eigentlich intensiven Strahlen der Sonne um ein vielfaches an Intensität übertraf, zugleich schien die gesamte Umgebung in eine Schockstarre zu verharren, sie selbst eingeschlossen. Trotz heftigsten Versuchen ihre Augen zu öffnen, schienen die Lider diese zunächst wie eine verriegelte Falltür in Bann zu halten. Doch schon im nächsten Moment obsiegte ihr eiserner Wille und setzte sich durch. Was sie dann sah, ließ sie kurz erschrocken einer Ohnmacht nahe aufschreien. Aus dem Licht tauchte just ein extrem violett-schwarz schimmerndes Oval auf, ganz ähnlich wie eine Frisbee-Scheibe, aber dafür um ein vielfaches größer und vor allem sich stetig langsam um die eigene Achse drehend, stoppte auf einmal und eine blitzartige Flamme schoss aus der Unterseite, dermaßen laut und vor allem heiß, daß ähnlich wie schwere Hagelkörner einige Vögel tot vom Himmel fielen, direkt neben ihr ein junger Habicht, dessen Gefieder den ausdünstete.

typischen

Geruch

von

verbranntem

Horn

*** Irgendwie hatte Random-1349, so wurde der Axxietesser genannt, es bereits vorausgeahnt, daß die enorm hohe Hitze zu unvermeidbaren Opfern führen würde, was er dennoch zutiefst bedauerte, als die Vögel zunächst verendeten. Aber das kurze Leiden hatte ein schnelles Ende, und Augenblicke später flogen alle wieder von dannen, so als ob nichts vorgefallen wäre. Der Trick bestand darin, die Zeitspanne zwischen Eintritt in die Erdatmosphäre und Landung selbst „auszublenden“, sie quasi ungeschehen zu machen, um sie mit genau den Geschehnissen zu füllen, was passiert wäre ohne die Präsenz der Außerirdischen. Das weibliche Erdenwesen wirkte ein wenig anders auf ihn, denn nach kurzer, vorbereitender Studie mittels geistig immaterieller Annäherung meinte er noch, ihre Aura begriffen zu haben. Nunmehr stellte sich doch ein Unterscheid ein zwischen geistigen Erfahrungswerten und physisch real wirkenden. Allein schon die enorm heftigen Gerüche machten ihn zu schaffen, bedenkt man, daß seine Spezies mit knapp einer

halben Milliarde Geruchszellen gleich über doppelt so viele verfügte wie irdische Hunde. Aber auch alle anderen Sinne übervorteilten ihn, von seinen geistigen Fähigkeiten mal ganz abgesehen. Im Gegensatz zur vielfach völlig überzogen ängstlich-aggressiven Einstellung vieler Menschen allem Unbekannten gegenüber, verhielten sich die Axxietesser gelassener, jedoch aus dem einfachen Grund, nichts dem Zufall zu überlassen. Eine exakte Analyse wurde stets vor sämtlichen kosmischen Reisen vorgenommen. *** Als Karin sich langsam ein wenig irritiert erhob, kam schon Random-1349 auf sie zugeschwebt, ohne den Boden zu berühren. Allerdings verspürte sie nicht im geringsten Berührungsängste, sondern ganz im Gegenteil durchfuhr sie eine gewisse Sympathie, fast schon euphorisch lief sie auf ihn zu. Aber anstatt eines Gesprächbeginns, empfing sie im Innern selbst eine Stimme, die ohne Umschweife sie ansprach. „Wir haben dich bereits erwartet, Karin. Bei uns spielt Zeit nicht die geringste Rolle. Man nennt mich Random-1349, wir kommen von sehr weit her, um uns ein wenig auf Eurem schönen blauen Planeten umzuschauen, aber auch, Euch anzuraten, alles menschenmögliche zu tun, den Weg der Zerstörung zu beenden, bevor Ihr selbst an den Folgen des unbedachten Handelns zugrunde geht.“ Sie wußte, daß die Erscheinung die Wahrheit verkündete und bestätigte die gedanklich übertragene Botschaft mit sichtbaren Kopfnicken, verneigte sich sogar vor ihm und setzte sich ins Gras. Keine dreihundert Meter weiter liefen zwei Jugendliche im Dauerlauf ihrem Rottweiler hinterher, schauten sogar in die Richtung des Raumschiffs, welches sie allerdings nicht erfassen konnten, weil die Begegnung zwischen Karin und Random-1349 mittels „zeitlicher Verschiebung“ längst Vergangenheit war, obwohl zugleich stattfand. Wie praktisch doch der Faktor Zeit gezielt ein- und ausgeblendet unnötige

Spannungen erst gar nicht aufkommen ließ. Eine ganze Weile lang tauschten die Beiden sich noch aus, ohne daß ein Wort hörbar gewechselt wurde, rein auf gedanklicher Ebene. Anschließend entfernte sich das Oval in rasender Geschwindigkeit und Karin begab sich zurück nach Hohenlupfen, wo auch die beiden Jungs mit dem Rottweiler ihren Weg kurz kreuzten. Ganz tief in ihrem Herzen trug sie die Botschaft der Axxietesser in sich, wissend, daß sie nicht allein ihnen begegnet war, die Menschheit beobachtet wurde, im Kosmos wesentlich mehr Spezies vorhanden waren, die untereinander meist friedlich begegneten. Erst wenn der Homo sapiens seine uralten Wurzeln wieder finden würde, die mal vor langer Zeit ihn begleiteten, sollte endlich der Weg frei sein für Reisen ins All, ohne Hass und in tiefer und allem Sein gegenüber.

Verbundenheit der Schöpfung

Ihr Lotar Martin Kamm Artikelbildquelle: Gerd Altmann/Shapes:AllSilhouettes.com

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Mitten in Afrika – letzten Momente Kindersoldaten Mokabi Langsam kroch Mokabi im Dunkel der Nacht entlang, obwohl die Venus strahlend Häuserschluchten hervorlugte, wissend, jemand sichten könnte, was wiederum sein

die des

die staubige Straße hell zwischen den daß jederzeit ihn Leben kosten würde,

welches ohnehin am seidenen Faden hing Verwundungen. Eine Blutspur verfolgte das spielte jetzt keine Rolle mehr so wobei die Schmerzen unerträglich heftig

angesichts der etlichen seine Kriechspur, aber kurz vor der Ohnmacht, ihn aufstöhnen ließen.

Was war nur geschehen, daß Mokabi ausgerechnet in diese simple Falle tappte, obwohl er nur zu genau wußte, worauf zu achten war? Das Leben raste in sekundenschnelle an dem 15-jährigen Kindersoldaten vorüber, während im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo der Bürgerkrieg seine dramatisch häßliche Seite nach wie vor zeigte. Und nun lag Mokabi verblutend am Straßenrand mitten in der Großstadt Bunia, keine andere Menschenseele schien ihn zu bemerken, obwohl vorhin sogar seine kurzen Schmerzensschreie unüberhörbar durch die Nacht hallten. Dabei hatte Antoine den Kindersoldaten in wenigen Wochen gelehrt, wie mit einer AK-47s umgegangen wird. Soruma, welches sie rauchten, verhalf ihnen, über Trauer, Wut, Angst und Verzweiflung hinwegzukommen, von den Traumata ganz zu schweigen, die sie ohnehin ständig begleiteten in den Minuten, wo sie mal nicht in Anspannung sich befanden vor lauter Drill und Morden. Der drittgrößte Staat Afrikas hatte wie so viele andere Nationen 1960 seine Unabhängigkeit nach 75 Jahren belgisch grausamer Kolonialherrschaft erlangen können, dem danach zunächst fünf Jahre lang heftige innenpolitische Streitigkeiten folgten, bis schließlich der Diktator Mobutu Seso Seko die Macht an sich riss und 32 Jahre lang regierte. Mit dessen Sturz durch den Rebellenführer Laurent-Désiré Kabila flammte ein Bürgerkrieg auf, der schließlich in den sogenannten Afrikanischen Weltkrieg mündete, da mehrere afrikanische Staaten involviert waren. Das 2002 beschlossene Friedensabkommen erreichte nicht sein Ziel im Osten des Landes. In diesem Spätsommer des Jahres 2006 war drei Jahre zuvor zwar

der Zweite Kongokrieg offiziell beendet worden, aber hier in Bunia herrschte weiterhin Gewalt und Zerstörung zwischen Hemas und Lendu Milizen. Mokabi war nur einer der vielen Tausend Miliz Mitglieder, der für die Sache rekrutiert wurden, manche seiner Kumpels waren gerade mal acht Jahre alt. Der sterbende Jugendliche erinnerte sich zurück, als er als 9-Jähriger zusammen mit einigen gleichaltrigen Freunden bei einem Überfall verschleppt und gezwungen worden war, mit der Waffe in der Hand als Miliz alles zu töten, was sich ihnen in den Weg stellte bei ihren gezielten Streifzügen. Die schrillen Todes- und Angstschreie der Getroffenen hatte er durch nichts vergessen können, selbst im zugekifftesten und besoffensten Zustand verfolgten ihn die Bilder der Massaker. Und jetzt lag Mokabi selbst verblutend völlig hilflos am Straßenrand. Ein Basenji, auch Congo Dog genannt, hatte die Blutspur wohl gewittert und roch hinter Mokabis rechtem Ohr, fuhr einmal mit der Zunge über dessen Gesicht und sprang kurz weg, als dieser aufstöhnte. Die tierische Neugier ließ aber nicht ab von dem fast leblos liegenden Körper, und so inspizierte der rotbraune Rüde seinen Fund. Fünfzehn Jahre sind viel zu kurz, um nunmehr hier am Straßenrand kläglich zu sterben, dachte Mokabi noch, wissend, daß wohl niemand kommen würde, um ihm zu helfen. Ohnehin steckten zu viele Projektile in seinem hageren Körper, in dem ein rasch zunehmendes Taubheitsgefühl sich ausbreitete. Der Jugendliche war nicht mehr in der Lage sich zu bewegen, lediglich seine Augenlider verrieten eine noch vorhandene, rege Denkfähigkeit in den letzten Momenten seines Lebens. Einmal noch winselte der Hund auf, ehe er von dannen lief. Am nächsten Morgen entdeckte eine vorbeifahrende Patrouille den toten Kindersoldaten, ließ ihn aber zunächst liegen, orderte per Funk allerdings ein Fahrzeug, welches ihn einsammeln sollte. Der Bürgerkrieg hatte schon viele Todesopfer gefordert ohne Aussicht auf Frieden, viel zu komplex waren die Machtinteressen hier vor Ort. Die

Waffengeschäfte blühten so wie bei jedem Krieg, was bedeuteten schon ein paar Millionen Menschen, die im Zweiten Kongokrieg, dem wohl tödlichsten Krieg in der modernen afrikanischen Geschichte, ihr Leben ließen. „Weisheit ist keine Medizin zum Hinunterschlucken.“ (ein Sprichwort aus dem Kongo) Ihr Lotar Martin Kamm

Freiheitswölfe – ein Leben für die Gerechtigkeit Sobald man die Zeitung aufschlägt, das Radio oder den Fernseher anmacht, wird man überhäuft mit Nachrichten, welche einen Menschen nicht selten in Angst und Schrecken versetzen. Wir leben in einer scheinbar geordneten Gesellschaft, doch sind umgeben von einem undurchsichtigen, strategischen Chaos. Nach wahren Helden sucht man oft vergebens, und so muss man als Vorbild das nehmen, was einem vorgesetzt wird. Muss man das wirklich? Um diese Frage zu beantworten, fangen wir bei einem Menschen an, den alle Marino nannten. Marino war eigentlich ein typischer junger Erwachsener, der sich aber ungewöhnlich viel in der freien Natur aufhielt, denn immer, wenn Kollegen ihn versucht hatten zu erreichen, war er mal wieder unterwegs in den örtlichen Wäldern eines kleinen Dorfes in Bayern. Ein Handy besaß Marino nicht, denn er wollte sein Leben nicht von Strahlen abhängig machen, die seinen ganzen Körper negativ beeinflussen konnten. Marino lebte ein freies Leben, weshalb

er sich von seinen Mitmenschen oft gefallen lassen musste, als Rebell bezeichnet zu werden. Solche Äußerungen belächelte Marino aber schon seit Jahren, denn er wusste, dass die Menschen zu sehr von ihrem Weg abgekommen waren, als das sie diese Sehnsucht in ihm richtig hätten deuten können. Sicherlich hatte er eine rebellische Haltung, aber nur, weil das Leben der Masse eben nicht mehr natürlich war, seines aber schon. Marino wohnte alleine in einer kleinen Wohnung, direkt am Waldrand. Eine Freundin hatte er nicht, denn keine Frau kam bisher mit seiner Lebenshaltung zurecht, und auch die Familie hatte sich abgewandt, weil Marino immer ein seltsames Feuer in den Augen hatte, eine Lebensleidenschaft, die so intensiv war, dass viele Menschen Angst davor hatten, weil sie mit den Augen sahen, nicht aber mit der eigenen Seele. Traurig war Marino schon darüber, dass seine Eltern so reagierten, hatte aber trotzdem auch Verständnis für ihr Verhalten, denn Marino war nicht nur ein Mensch, sondern auch Wolf, was er erst im Alter von 17 Jahren merkte. Immer wieder kochte es in ihm, wenn er irgendwo Ungerechtigkeit erleben musste, merkte, dass Menschen in wirklicher Gefahr waren. Seltsamerweise konnte er schon immer wirkliche Gefahr von einer Gefahrenillusion unterscheiden, was Menschen an sich heute kaum noch können. Im Alter von 17 Jahren war dann einmal sein engster Freund so sehr in Gefahr, dass er innerlich heftig anfing zu schreien, dass er auf einmal als Wolf verwandelt vor den Menschen stand, die seinen besten Kollegen Lorano angegriffen hatten. Sie waren so geschockt, dass sie von alleine davonliefen, und auch Lorano war starr. Nachdem die Situation sich beruhigt hatte, verwandelte Marino sich zurück und war selber sprachlos, was da mit ihm passiert war. Schon immer hatte er gespürt, dass in ihm ein Feuer entflammt war, dass er sein eigener Held sein wollte, schwächeren Menschen immer wieder helfen wollte, doch damit hatte er nicht gerechnet. Seit diesem Tage lebte er abgelegen am Waldrand, denn er musste erst einmal zu sich finden und dieses Wesen verstehen lernen. In den darauffolgenden Monaten und Jahren lebte er daher so einsam,

dass er zu niemanden mehr Kontakt hatte. Er brauchte die Ruhe der Wälder, um sich bewusst zu werden, welch wichtige Verantwortung er fortan zu tragen hatte. Am Anfang hatte er Angst davor, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, doch schon nach einigen Wochen war dieses Wolfswesen zu seinem eigentlichen „Ich“ geworden. Er trainierte die Sprungfähigkeiten, schärfte seine Sinne, die Fähigkeiten des Wolfes, lernte sich kontrolliert zu verwandeln und beide Wesen ineinander fließen zu lassen. Viel trainierte er am Lagerfeuer oder auch im See. Alle natürlichen Lebensquellen nutzte er, um sich auf das vorzubereiten, was noch auf ihm zukommen würde. Selbst den Kontakt zu Lorano hatte er abgebrochen. Was er nicht wusste war, Lorano merkte nur einige Wochen später, dass auch er einer der besonderen Menschen war, die sich ebenfalls in einen Wolf verwandeln konnten. Deshalb akzeptierte Lorano diese Entscheidung und wusste, dass der Zeitpunkt kommen würde, an den beide wieder den Weg der Gerechtigkeit gemeinsam beschreiten werden. Zwar wollte Lorano in den ganzen Jahren Marino mitteilen, dass er ebenso ein Wolfswesen in sich trug, doch genau das tat er nicht, denn ihm war klar, dass beide erst mal für sich alleine lernen mussten, dieses Leben zu verstehen. So trainierte Lorano in den österreichischen Alpen, da er dort einen Fleck hatte, an welchem er schon immer viel Energie in sich aufnehmen konnte: Ein Stück unberührte Natur, Vogelgezwitscher und das Rauschen eines kleinen Wasserfalls, welcher umgeben war von einer paradiesischen Pflanzenkultur. Lorano war begeistert davon, dass die menschliche Unvernunft hier noch kein Einzug erhalten hatte. Dann war der Tag gekommen, nach vier Jahren der Einsamkeit und des täglichen harten Trainings, der endlosen Meditationsstunden ging Lorano Marino besuchen, denn er wusste ja, wo er war, Marino aber nicht, wo er steckte. Plötzlich stand Lorano dann ganz unerwartet im Wald, wo Marino mal wieder an seiner Reaktionsgeschwindigkeit gearbeitet hatte.

Marino erkannte seinen alten Freund sofort und war etwas nervös, denn er dachte sich, was Lorano wohl von ihm denken mochte, nachdem er sich einfach auf und davon gemacht hatte. So brachte er nur ein kurzes „Hallo, Lorano“ raus, wobei er sogar ein wenig stotterte. Lorano lachte und sagte: „Schon gut, mein Freund, auch das gehört zu einer Freundschaft, warten zu können und den Schritt des Anderen zu akzeptieren, ich hätte ja auch kommen können.“ Man sah Marino die Erleichterung an, und genau in diesem Moment viel ein schwerer Ast herunter, worauf Lorano sich sofort verwandelte und mit einem Sprung verhinderte, dass dieser Ast auf Marino sein Kopf fallen konnte. Marino reagierte sofort und sagte: „Wie, du auch, Lorano?“, worauf dieser entgegnete, „ja, nur etwa zwei Wochen nach deiner ersten Verwandlung musste auch ich erkennen, wer ich wirklich war.“ Beide lachten und waren froh, wieder als Freunde vereint zu sein. Nur aus Freude trainierten beide ein wenig zusammen, um voneinander zu lernen, aus den Erfahrungen des Anderen, die man selber vielleicht noch nicht gemacht hatte. Das ging nochmals ein halbes Jahr so. Nach dieser Zeit waren beide so gefestigt in Form ihrer beiden Gestalten, dass sie sich wieder ins Alltagsleben hinaustrauten. Was sie dort sahen, sorgte aber für Traurigkeit in ihren Herzen, denn die Menschen waren noch stressiger geworden, machten sich das Leben gegenseitig noch schwerer als noch vor einigen Jahren. Auch von ehemaligen Bekannten hörten sie nur, dass wieder eine Beziehung zu Bruch gegangen war, der Arbeitgeber mal wieder Druck machte und sie ihre Familie so ganz aus den Augen verloren hätten. Nicht ein alter Bekannter trug mehr seine Träume in sich oder hatte versucht diese in die Realität umzusetzen. Es war so, als hielten sich die Menschen gegenseitig davon ab, auf ihrem natürlichen Weg zu leben, es waren Produktionsroboter geworden, Hörige, ausführende Kräfte. Sie hatten Angst, eine Existenz zu verlieren, die gar nicht existierte, denn sie lebten nicht für sich und ihre Familien, sondern so wie man es von ihnen verlangte. Marino und Lorano versuchten durch sanfte Gespräche ihre Bekannten und Freunde auf den richtigen Weg

zurückzuholen, doch sie ließen alles nicht an sich ran, es war, als sei die Seele aller verschlossen gewesen, eingesperrt im letzten Winkel des eigenen Daseins. Lorano und Marino wollten aber etwas erreichen, denn als Wolf besaßen sie so viele natürliche Gaben, konnten als innerer Lehrer und Weggefährte die Menschen an die Hand nehmen, nur musste man dazu erst mal die Wurzel allen Übels erkennen, das war den Beiden schon lange klar geworden. Kurz unterhielten sich beide und waren sich einig darüber, dass es an der Zeit war, das Training zu verschärfen. Sie wählten die totale Abgeschiedenheit und begaben sich in ein Kloster in Japan. Dort angelangt, erlernten sie alle denkbaren Meditationsformen, wie man aus der inneren Kraft heraus seelische Narben und äußere Wunden anderer Menschen heilen konnte. Der japanischen Lebensphilosophie öffneten sich beide voll und ganz, waren sie doch schon immer begeistert von diesem Weg. Alles verlangten sie sich ab, übten sich ebenfalls in der Kampfkunst und suchten das Gespräch mit den Weisen im Kloster, die begeistert darüber waren, dass Europäer diese Tradition leben konnten, was selbst vielen jungen Japanern nicht mehr möglich war, da auch diese ähnlich lebten wie die Gesellschaft in ihrem Land, unter Dauerstress, jeder für sich. Die Weisen erklärten, wie alles zusammenhängt, und dass man den Menschen nicht von dieser Lebensillusion lösen könne, weil er jedes Ungeheuer selber erschaffen hatte. Um das Gehör all dieser Menschen wieder zu öffnen, müsse man ihr Herz erreichen, was nur ginge, wenn man der dunklen Lebensphilosophie Helden entgegensetzen würde. Beide verstanden sofort und hatten erkannt, dass es Zeiten gab, in denen man „kämpfen“ musste, um die Harmonie im Sinne der Menschlichkeit zu erreichen. Zwei Wochen nach diesem Gespräch bedankten sich die Beiden bei den Mönchen, die sie aufgenommen

hatten und teilhaben ließen an ihrem Weg und wollten weiterziehen. Doch noch bevor sie den ersten Schritt machten, trat einer der Weisen an sie heran und sagte: „Ich weiß, dass ihr Wolfswandler seid und bitte euch daher, diesen Jungen hier neben mir mitzunehmen, da auch er einer der ganz wenigen Wandler in der Welt ist und euch behilflich sein kann.“ Marino lächelte und gab zu Antwort: „Gerne Meister, es erwartet uns eine schwere Aufgabe, und wir danken für diese Unterstützung.“ Alle drei verabschiedeten sich nun noch einmal und gingen weiter ihres Weges nach Australien. Dort angekommen, lebten sie in einem Zelt und stählten ihren Körper in der extrem hohen Hitze dieses Kontinents. Noch mehr wollten sie sich abverlangen und auch Nakina, der japanische Wolfswandler, wurde zu einem echten Freund. Unter Wolfswandlern war es üblich, sich Freundschaft zu schwören, denn man hatte sich ganz dem Kodex des aufrechten Weges verschrieben. Wettrennen quer durch Australien machten sie, gegen Tiere oder auch Menschen. Weit über ihre Grenzen gingen sie hinaus und merkten, dass es nicht mehr anstrengend war. Auch hier nahmen sie die Philosophie in sich auf, sprachen mit den dort lebenden Menschen und stellten fest, dass eine gewisse Leichtigkeit und Ruhe hier gegeben war. Sie lebten diese Lebenseinstellung mit, und man erklärte ihnen alles, was man über die Lebensart der Australier wissen musste. Sie wurden eingeladen zu einem Lagerfeuerabend, wo man gemeinsam über die alten Geschichten sprach, die dieses Volk erlebt hatte. Man nannte die Ureinwohner Indigenous People, welche sich schnell anfreundeten mit den drei Fremden. Diese wiederum waren fasziniert von der Herzlichkeit der Indigenous People, welche übrigens sofort erkannten, dass es Wolfswandler waren. Auch hier lebte wieder ein Wolfswandler unter ihnen, der sie begleiten sollte. Marino lachte und sagte zu Nakina und Lorano: „Jungs, so langsam aber sicher finden wir uns ja alles zusammen auf diesem Kontinent“, sofort entgegnete ihm Nakina mit den Worten, „da hast du wohl Recht Marino, aber nur gemeinsam können wir eine bessere Gegenwart ermöglichen und

eine bessere Zukunft erhalten und pflegen.“ Humor hatte der australische Wolfswandler auf jeden Fall, und so war auch hier die Harmonie gegeben. Duscho hieß der Neue, der sofort seine Sachen packte und sich nach einer längeren Verabschiedung mit den anderen drei auf die Reise machte nach Kanada. Kaum waren sie in Kanada angelangt, erlebten sie, wie eine junge Wölfin angegriffen wurde. Sie war ebenfalls Gestaltenwandlerin, und Marino konnte durch seinen Instinkt sofort wahrnehmen, dass die Gefahr hier ernst war. Nakina sah Marino an und sagte sofort, dass er ruhig bleiben solle, er würde sich darum kümmern. Diese junge Wolfswandlerin wurde von Menschen mit einem Gewehr bedroht, also sprang Nakina sofort hinein und biss in den Arm dieses Menschen, worauf sich Duscho verwandelte und das Gewehr mit dem Maul ergriff, um es den nahegelegenen Abhang hinunter zu werfen. So hatten sich die Vier zwar die Ankunft nicht vorgestellt, aber wo Ungerechtigkeit und Gefahr lauerten, konnten sie nicht einfach zusehen. Es harmonierte alles in dieser Situation, was gerade Marino sehr froh stimmte. Die Wolfswandlerin, Jackina mit Namen, bedankte sich von Herzen, und die Tränen kamen ihr vor Freude. Durch ihren Clan war sie bereits informiert worden, dass 4 Wolfswandler auftauchen würden, um auch sie in dessen Reihen aufzunehmen. Nakina war daraufhin doch etwas verblüfft, denn ihre gemeinsame Reise schien sich unter den besonderen Clans, die für Gerechtigkeit eintraten, schnell herumzusprechen. Irgendwie konnte er auch nicht mehr seinen Blick lassen von Jackina, denn sie war eine junge Dame, die aussah wie eine Prinzessin und auch so zärtlich und sanftmütig war. Ein Traum von einer jungen Frau und Wölfin. Nakina ergriff die Gelegenheit, als die anderen am nächsten Tag nun in eisiger Kälte trainierten und sprach Jackina an, ob sie denn vergeben sei. Sie lächelte verlegen, wurde ein wenig rot und antwortete: „Nein, denn der Mann, der mich verstehen würde, der ist mir bisher noch nicht begegnet.“ Sofort nach diesem kurzen Austausch nahmen sich beide unbewusst an die Hand und gingen ein wenig spazieren, hielten an einem kleinen,

aber sehr gemütlichen Lokal an, um eine Kleinigkeit zu essen und gingen dann ganz verträumt weiter, die ganze Zeit ohne ein Wort zu sagen. Am Abend dann konnte Jackina nicht mehr an sich halten und sagte zu Nakina: „Du bist es, denn wir konnten miteinander reden, ohne Worte suchen zu müssen – du bist der Prinz in meinem Leben“, worauf Nakina mit einem sanften Lächeln antwortete, ihre Wangen streichelte, sanft ihren Kopf umfasste, ihre langen Haare zur Seite strich, die glänzend wie der Mondschein wirkten und sie dann ganz liebevoll und zärtlich küsste. Sie konnten voneinander nicht genug bekommen und küssten bis in den Sonnenuntergang hinein. Inzwischen waren auch die anderen wieder aufgetaucht, und Marino rief mit einem Lächeln: „Hey, ihr Beiden, freut mich, aber jetzt kommt rein ans Kaminfeuer, ist doch etwas zu kühl jetzt.“ Gemeinsam mit Marino gingen sie rein und alle freuten sich, dass die Beiden sich gefunden hatten, denn anders wie bei vielen anderen Menschen, war das Glück eines Freundes auch ihr Glück, so dass sie sich ehrlich freuen konnten. In den nächsten Tagen trainierte Jackina mit ihnen in der Kälte, und man merkte ihr an, dass sie von dort kam, denn die anderen hatten nun doch hart mit der Kälte zu kämpfen. Sie wussten, dass dieser massive Temperaturunterschied ihnen alles abverlangen würde, aber genau das wollten sie auch. Nakina sah man an, dass er sehr intensiv verliebt war in Jackina, denn auch er merkte die Kälte überhaupt nicht und gab sich ganz dem mollig warmen Gefühl der Schmetterlinge hin. Hauptsächlich nutzten sie die Zeit, aber um ein Team zu werden, eine Einheit. Sie unternahmen viel zusammen, gingen essen, setzten sich vor den Kamin in der Hütte, in welcher sie ganz abseits hausten und erzählten sich schöne Geschichten bis tief in die Nacht hinein. Nakina und Jackina beteiligten sich sehr an diesen Abenden, denn trotz ihrer Liebe war ihnen die Freundschaft zu den Anderen sehr wichtig. Kanada faszinierte alle so, dass sie dort sechs Monate lebten. Nach diesen sechs Monaten hatten alle Fünf Feuer in den Augen, lächelten selbstsicher und gingen zurück nach Bayern, wo das größte

Problem auf sie wartete, die menschliche Unvernunft, das massive Leben an der Oberfläche, fern jeglicher Emotionen. Lorano und Marino waren froh, dass sie Nakina, Jackina und Duscho an ihrer Seite hatten für diese doch sehr schwierige Mission – gemeinsam waren sie die Freiheitswölfe für Gerechtigkeit. Gerade erst angekommen in Deutschland gingen ihnen bereits die Menschen aus den Weg, das fröhliche Lachen, dieses Feuer aus der Seele heraus, durch ihre Augen dringend, machte vielen Menschen Angst. Wie eng und aufrichtig sie alle befreundet waren, dass sie quasi zu einer Familie zusammengewachsen waren, das merkte jeder, der an ihnen vorbeiging, denn das warme Gefühl, das Licht der Sicherheit, dem konnte keiner entkommen. Alle merkten sie, wie die Menschen eine Sehnsucht in sich unterdrückten, und Marino konnte sogar die Gedanken aller Mitmenschen spüren, wie traurig sie waren, dass nicht auch sie so geschlossen mit anderen Mitmenschen auftreten konnten. Schnell schritten sie zur Tat, denn erst mal wollten sie enge Freunde und Bekannte aus dem Zwang befreien. In Menschengestalt gingen sie also zu den Unternehmen und Banken etc., um diesen mitzuteilen, dass man so erpresserisch mit Menschen nicht umgehen könne, immer wieder versuchten sie an die Menschlichkeit zu appellieren. Als dies nicht klappte, verwandelten sie sich und zeigten, dass sich die Angst, die sie selber säten, auch gegen sie selber richten konnte, denn es gab immer einen Stärkeren, und wer heute einem zum Verlierer macht, sei morgen schon selber betroffen, genau das wollten sie damit klar machen. Nachdem man die Freunde erleichtert hatte und diese gelernt hatten, wie schön ein intensives Leben mit ehrlichen Emotionen und Gefühlen sein konnte, gingen die Fünf durch alle weiteren Städte, in der viele Menschen unterdrückt wurden und ihr eigenes Leben aufgegeben hatten. Marino konnte den Schmerz spüren, und es war einfach grausam. In keiner Stadt schafften sie es nur, durch ruhige Gespräche an die Menschen heranzukommen und mussten immer wieder ihre Wolfsgestalt einsetzen, um

aufzuzeigen, dass ein Leben im natürlichen Kreislauf für alle Menschen weniger gefährlich und lebenswerter war. All ihre Kraft, die Wärme ihrer eigenen Herzen setzten sie ein und konnten deshalb am Ende auf eine Gesellschaft blicken, die zumindest im Ansatz wieder lebendiger und wärmer geworden war. Alle Fünf wussten, dass noch viel Arbeit in der ganzen Welt vor ihnen lag, doch erst mal hatten sie einen kleinen Schritt gewagt und etwas positiv bewegen können. Sie waren einfach nur glücklich und zufrieden und nutzten in den darauffolgenden Jahren immer wieder den Zauber der Natur, um sich zu entspannen und zu reisen. Jeder mag sich selber ein Bild davon machen, wie schön es sein kann, in der tiefen Lebensleidenschaft zu leben, in der wahren langfristigen Liebe, in der Freundschaft, die kein Tornado beenden könnte. Jede Maske, die der Mensch tragen muss, ist eine Last, der wir nicht gewachsen sind und auch nicht gewachsen sein müssen. Wenn man morgens seine eigenen vier Wände verlässt, wünscht man sich einen ehrlichen und liebevollen Umgang, jeder tut das, auch wenn er noch so hart markiert, also schenkt Anderen, wie diese fünf Freiheitswölfe, Wärme, Ehrlichkeit und wahre Freundschaft. Wenn auch der letzte, kleinste Traum nicht mehr gelebt werden kann, wird die Menschheit aufhören zu existieren. Ihr Joachim Sondern

Das Haus im Wald Innere Ruhe und Zufriedenheit ist in der heutigen Zeit zu einem seltenen Gut geworden. Das mussten auch Julia und

Steffen erkennen, beide Mitte 30 und in der Blüte des Lebens stehend. Alles hatte so schön angefangen: Sie lernten sich kennen in einer Zeit, wo beide keinen Job hatten, bei einem Spaziergang mit ihren Hunden. Julia stolperte dabei über Steffens Hundeleine, denn an diesem Tag hatte es geregnet, und die Wiese war extrem rutschig. Eben einer dieser berühmten Frühlingstage, an welchen es in der einen Minute strömend regnete und in der nächsten schon strahlender Sonnenschein zum Vorschein kam. Julia fiel dabei direkt in die Arme von Steffen, dessen Wangen ganz rot wurden, und er sie schon fast hätte fallen lassen vor Schock – doch Julias Lächeln verzauberte ihn, und so fragte er prompt, ob er sie zu einem Eis einladen dürfe. Da auch sie sich einsam fühlte und sich gern unterhielt, nahm sie diese Einladung freudig an. Es wurde ein sehr schöner Tag für beide, denn sie hatten sich viel zu erzählen, obwohl sie sich noch gar nicht richtig kannten. In den darauffolgenden Tagen, Wochen und Monaten verabredeten sich die Beiden immer wieder, und keiner ging mehr alleine mit den Hunden spazieren. Sie fühlten sich innerlich leicht, ja geradezu als würde man sie durch das Leben tragen. Es war einfach eine andere Beziehung, die da entstanden war: geprägt von guten und tiefsinnigen Gesprächen, von viel Fröhlichkeit und einfach einer natürlichen Zärtlichkeit, die mit der Zeit entstand. Alles entwickelte sich sehr langsam, und genau das war das Schöne daran. So kam es, dass Steffen sie nach einem Jahr unter strahlend blauem Himmel fragte, ob sie seine Frau werden wolle und zwar bei einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge. Julias Atem konnte jetzt die ganze Welt hören, ihre Freude konnte sie nicht mehr bremsen, hatte sie doch schon förmlich darauf gewartet, denn diese einfache und natürliche Art von Steffen hatte sie fasziniert, und auch wenn beide zu dem Zeitpunkt weder großartig Geld noch Status hatten, so waren sie im Herzen wirklich glücklich und hatten doch alles, was sie zum Leben brauchten. Nur drei Monate nach dem Heiratsversprechen hatten

die Beiden sich das Ja-Wort gegeben. Sie lebten in der Stadt, fühlten sich dort aber nicht wirklich wohl, und so heirateten beide auf einem kleinen Bauernfeld auf dem Lande unter freiem Himmel, nur sie beide alleine und der Pfarrer. So waren sie nun mal, bescheiden und ruhig lebend, aber voller Glück. Umgeben von wundervollen Blumen, einem Bach und Vogelgezwitscher, an einem herrlichen Sommertag, es war einfach traumhaft. Anschließend setzten sich beide auf einen kleinen Hügel, von wo aus man die gesamte herrliche Landschaft überblicken konnte. Dort machten sie ein Picknick an ihrem Hochzeitstag mit einigen Broten, Obst und Tee. Stundenlang saßen sie einfach nur da und beobachteten gemeinsam das Schauspiel der Natur, Arm in Arm. Sie merkten gar nicht, wie die Zeit verging, und so wurden sie auch noch mit einem Sonnenuntergang belohnt. Eine schönere Hochzeit hätten sich beide nicht vorstellen können. Ihren Eltern erzählten sie nichts davon, denn diese hätten wieder eine große Sache daraus gemacht, im Gegensatz zu Steffen und Julia waren ihre Eltern sehr um den gesellschaftlichen Status bedacht, das Ansehen musste stimmen. Bei Steffens Eltern war es ganz schlimm, sie schämten sich so sehr, dass ihr Junge keine Arbeit hatte und sagten immer, er sei auf geschäftlichen Auslandsreisen. Steffen wusste das, und ihm tat es sehr weh, deshalb besuchte er seine Eltern nicht oft. Für die Beiden war dieser Hochzeitstag einfach ein Stück gelebter Traum. Ihre Flitterwochen verbrachten sie auch in dieser natürlichen Landschaft am Stadtrand. Jeden Tag fuhren sie mit dem Fahrrad hinaus aufs Land und widmeten sich gemeinsam ihren Hobbys. Mal spielten sie Gitarre, ein anderes Mal gingen sie spazieren oder malten einfach nur wunderschöne Landschaftsbilder, hielten die Welle ihrer inneren Empfindungen bildlich fest. So vergingen Monate, unter denen sie auch gemeinsam Zukunftspläne machten, wie sie ihre Art der besonderen Kunst auch an die Menschen herantragen könnten, und wie man evtl. davon leben könnte, denn sie hatten zwar keine hohen Ansprüche, wollten aber ihren Lebensunterhalt wieder

eigenständig bestreiten. Eines Abends rief jedoch plötzlich ein Kollege von Steffen an, den er Jahre nicht gehört hatte. „Hallo Steffen, ich bin es, Kai. Kennst du mich noch?“, waren seine ersten Worte und Steffen antwortete: „Na klar. Wie geht’s dir denn, Kai? Lange nichts von dir gehört.“ Kai überging die Frage und wirkte sehr hektisch, viel anders als es früher noch der Fall war. Gestresst sagte er zu Steffen: „Du, ich habe da einen Job für dich. Du bist doch auf der Suche, oder?“ Steffen antwortete: „Eigentlich schon, aber ich habe Pläne mit meiner Frau gemacht.“ Kai war für einen Moment ganz stumm geworden und fragte: „Wie, du bist verheiratet?“ Steffen lachte glücklich und sagte: „Ja, Kai, das bin ich.“ Anstatt sich zu freuen, kam Kai wieder auf den Job zu sprechen – er schien nur noch dafür zu leben. Steffen war gelernter Medienberater, hatte sich aber freiwillig damals von seiner guten Stelle getrennt, da er die verlogene Haltung seiner Vorgesetzen nicht nachvollziehen konnte und kritische Medien längst nicht mehr das waren, was er sich darunter vorstellte. Kai ließ aber nicht locker und sagte zu Steffen: „Ich habe da einen Job für dich bei einem Privatsender, die dich aufgrund deiner Erfahrungen gerne als Regionalleiter einstellen würden mit einem guten Gehalt.“ Steffen holte dabei tief Luft und Kai sagte hektisch: „Hast du Interesse? Das ist deine Chance“, worauf Steffen antwortete: „Du weißt doch, dass ich diesem Beruf den Rücken gekehrt habe, aber ich werde einmal drüber schlafen und mit meiner Liebsten darüber sprechen.“ Kai war etwas sauer darüber, lenkte dann aber ein und sagte: „Überleg aber nicht zu lange, wir leben in einer schnellen Welt.“ Während Steffen noch über alte Zeiten quatschen wollte, würgte Kai ihn am Telefon ab, er hätte noch Termine. Am nächsten Tag gingen Julia und Steffen außerhalb der Stadt wieder schwimmen, in ihrem Lieblingssee. Auf der Wiese erzählt er Julia dann von diesem seltsamen Anruf. Beide diskutierten und überlegten hin und her, denn auf dieses schnelle Leben

hatten sie keine Lust, wussten aber auch, dass sie ihre Pläne nur umsetzen könnten, wenn sie ein wenig Startkapital hätten. So sagte Julia mittendrin: „Du, Schatz, mach es, so kommen wir schneller zum Ziel, und es wäre ja nur für einige Monate.“ Steffen wusste, dass es in der Tat sehr eng bei Beiden wurde und nicht mehr viel Zeit blieb, um eine unabhängige Existenz aufzubauen, in der sie in ihrer Arbeit ohne eine Normvorgabe ihre Erfüllung finden würden. Also dachten beide, dass einige Monate zu verschmerzen seien, wenn sie sich hinterher ihren Traum erfüllen könnten, der ein Leben lang dann dauern könnte. Julia und Steffen waren sich also einig, dass Steffen diesen Job auf Zeit annehmen würde. Zu dem Zeitpunkt unterschätzten beide aber noch die Gefahr des Geldes, dieses Leben auf der Überholspur, denn viel zu lange schon lebten sie in ihrer eigenen Welt. Noch am selben Abend rief Steffen Kai an und teilte ihm mit den Worten mit: „Ich mach’s und nehme das Angebot an.“ Kai antwortete mit einer fröhlichen Stimme am Telefon: „Richtige Entscheidung, mein Freund.“ Er wirkte ganz anders wie noch den Abend vorher, doch darum machte sich Steffen noch keine Gedanken, denn jeder hatte mal einen schlechten Tag, dachte er sich. Dass menschliche Emotionen aber gar nicht mehr vorhanden waren im Leben seines „Freundes“, sondern nur eiskalte Berechnung, daran dachte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er kannte nur den Kai von früher, und so vertraute er ihm. Bereits am nächsten Morgen holte Kai ihn mit einem Lächeln von zu Hause ab, denn ein Auto hatten Julia und Steffen nicht. Sofort sagte Kai, dass sich das aber ändern müsste, diesen Job könne man nur mit Auto erledigen. Kai war dazu bereit, ihm erst mal seinen Zweitwagen zu leihen, worüber Steffen sehr glücklich war. Kaum angekommen, stand ein sehr nervöser Chef vor ihm, welcher nur sagte, „willkommen im Team, Herr Rohmann wird Ihnen alles zeigen.“ Herr Rohmann, das war Kai, denn so hieß er mit Nachnamen. Steffen merkte, dass er genau diese Welt nicht vermisst hatte. Alle überschlugen sich förmlich,

machten keine Mittagspause, nahmen keine Flüssigkeit zu sich. Es wirkte so, als wenn jeder schneller sein wollte als der andere. Alle seine neuen Arbeitskollegen wirkten unzufrieden, denn es ging ihnen scheinbar nur darum, sich selber zu überholen. Steffen dachte sich, dass es schon nicht so schlimm würde für ihn, er würde es ja nur einige Monate machen. Bereits am ersten Tag vertraute man ihm eine große Reportage an, und so kam er bereits einige Stunden später nach Hause als erwartet – Julia musste zum ersten Mal alleine essen. Steffen war so geschafft von dieser Welt, dass er nur noch ins Bett fiel und seiner Frau nichtmals mehr zuhören konnte, was sie an diesem Tag so erlebt hatte. Julia ging auch traurig zu Bett, denn schon jetzt fehlte ihr diese Geborgenheit, diese Zweisamkeit. Um sich selber zu trösten, schlief sie mit dem Gedanken „ es ist ja für unseren Traum“ ein. So vergingen auch die nächsten Wochen wie ein Blitz, und beide hatten bereits jetzt kein Privatleben mehr. Selbst am Samstag und Sonntag musste Steffen arbeiten und wurde so extrem unter Druck gesetzt, dass er sogar langsam sehr gereizt wirkte und immer mehr wurde wie seine Kollegen, ohne es aber selber zu merken. Steffen merkte nicht, wie seine Julia sich vor Traurigkeit immer mehr zurückzog, denn sie konnte einfach nicht mehr mit ihm reden, in tiefsinnigen Gesprächen verweilen wie früher. Kai war inzwischen auch nicht mehr so freundlich wie am Anfang und teilte Steffen mit, dass er sich nun ein eigenes Auto zulegen müsse, denn so ginge es nicht weiter. Längst hatte Steffen vergessen, dass er sparen wollte für seine gemeinsame, berufliche Zukunft mit Julia zusammen und kaufte sich aus „Existenzangst“ einen Wagen auf Abzahlung. Als er abends Julia den Wagen vorstellte, war diese innerlich geschockt und fragte sich, wo ihr alter Steffen nur geblieben war – dieser Mann konnte es auf keinen Fall mehr sein. Steffen begab sich immer mehr in eine Abhängigkeit und konnte längst nicht mehr aus diesem Beruf einfach so aussteigen, wie er es mal vor hatte. Im Strom der schnellen, unüberlegten Handlungen hatte er sich selbst abhängig gemacht von diesem Job, von

diesem Leben auf der Überholspur. Das bekam er auch in den darauffolgenden Wochen zu spüren, während er am Anfang noch alle vierzehn Tage sonntags mit Julia essen konnte, war nun auch das nicht mehr möglich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen, denn immer wenn er um Freizeit gebeten hatte, kam Kai oder sein Chef mit den Worten: „Du kannst es dir nicht leisten hier Forderungen zu stellen, deine Rechnungen willst du ja wohl auch noch im nächsten Monat bezahlen können.“ Nichts mehr mit Freundschaft oder guten Arbeitsverhältnis – man forderte nur noch, dass er sich wie ein Funktionsroboter verhielt und seine Arbeit machte, ohne Fragen zu stellen. Innerlich merkte er langsam, wie sehr er in die Abhängigkeit gerutscht war und in ein Leben, dass er so niemals führen wollte. Doch durch die vielen Zahlungsverpflichtungen, ergebend aus seinem neuen Lebensstandard, der ihm förmlich auferzwungen wurde, lebten fortan in ihm nur noch Ängste: Die Angst, sich seiner Julia zu offenbaren, was ihm früher leicht gefallen war oder sich zu trennen und sein Leben wieder neu zu ordnen und dem Chef seine Meinung zu sagen. Er konnte das alles nicht mehr und ließ sich seelisch ein jeden Tag weiter durch das Leben prügeln. Nach rund acht Monaten kam Kai auf Steffen zu und sagte ihm, dass er noch mehr bringen müsste, denn ein jüngerer Kollege sei noch schneller und bringe noch mehr und würde für seinen Posten im Unternehmen in Betracht gezogen. Wieder einmal merkte Steffen, dass er zurecht diese Welt ablehnte, denn wer heute noch oben war, konnte morgen tiefer unten sein, als er es vorher war. Diese Statuswelt barg viele Gefahren, die nicht immer auf den ersten Blick erkennbar waren, auch nicht für den sonst so wachsamen Steffen. Eher durch Zufall belauschte er ein Gespräch zwischen Kai und seinem Chef und musste so erfahren, dass Kai ihm das Auto nicht mehr geben wollte, damit Steffen in die Schuldenfalle lief und so vom Betrieb abhängig wurde. Kaum nach dem Autokauf musste er eine Gehaltskürzung in Kauf nehmen, längere Arbeitszeiten und musste sich auch gefallen lassen, regelmäßig

schikaniert zu werden, wenn er aus gesundheitlichen Gründen kein „Vollgas“ geben konnte. Das Geld hatte Besitz von seinem Leben ergriffen, und genau das wollte er nie. Zwar redeten seine Eltern jetzt ganz begeistert von ihm, aber das war kein Trost, denn sie liebten den Sohn, der er nicht wirklich war. In den letzten Monaten hatte er sich sogar mit Julia gestritten, was es nie zuvor bei ihnen gab. Freunde sagten, dass dies der Alltag und das Leben sei, doch tief im Herzen wusste er, dass dieses Leben nicht der Weg eines Menschen sein konnte. Schon immer sagte Steffen, dass der Mensch sich selber in einen Käfig gesperrt hat, und plötzlich war auch er in diesem Käfig. Nachts merkte er, wie seine Julia weinte, doch er war selber zu schwach geworden, um ihr Trost zu spenden. Trotzdem hielt Julia zu ihm, ging nicht auf Männer ein, die sie trösten wollten, sie kennen lernen wollten. Ihr bedeutete wahre Liebe noch etwas, und sie hielt nichts davon, im Sturm des Lebens sich sofort zu flüchten in andere Arme. Sie liebte ihren Steffen und wusste, dass es die Liebe für immer noch gab, wenn man sie als Menschen bereit war zu leben. Allerdings war ihr auch klar, dass dieses Leben, was Steffen gerade führte, kein Platz ließ für diese heile Welt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, musste sie eines Abends, wo sie mal wieder alleine zu Hause war an das Bild denken, was sie vor einiger Zeit malte, sie verarbeitete ihre Trauer auf ihre Art. Aus dem Impuls heraus entstand ein Bild, das wie ein Käfig wirkte und doch keiner war, mit einem beängstigenden Grauton im Hintergrund, der sich wie ein Nebelschleier über das ganze Bild legte. Als Julia genau an dieses Bild von sich dachte, war ihr klar, dass der Mensch sich des Glücks ein jeden Tag selber beraubte und zuließ, das vergängliche, oberflächliche Werte wichtiger waren als der wirkliche Lebensimpuls, wie zum Beispiel die Liebe auf lange Zeit. Julia mochte diese Welt noch nie, in der es alltäglich wurde und sogar zum guten Ton gehörte, andauernd neue Partnerschaften aufzubauen und mehr den Spaß miteinander zu leben, als das

wirkliche Leben zu teilen. Julia war eine natürliche Frau des Lebens, eine sensible, die einfach mit einem Menschen alt werden wollte, mit Steffen. Um das aber zu erreichen und die Ehe und vor allem Steffen selbst zu retten, wusste sie, dass sie jetzt die Starke sein musste. Steffen war wie in Trance, also musste sie einen Moment abpassen, um ihn von dieser Scheinwelt zu lösen und ihn wieder in ihre reale Welt zu tragen. Julia wusste, dass Steffen dieses Gefühl noch kannte und nur Angst in sich trug, und deshalb war sie sich auch sicher, dass er sich schnell in dem alten Leben wieder festigen würde, wenn sie denn nur einige Tage abseits von allem mit ihm verbringen könnte. Zum ersten Mal fasste sie einen Entschluss alleine und zwar jenen, endlich mit Steffen aufs Land zu ziehen – doch vorher musste sie erst mal Steffen wieder erwecken. Einige Tage später kam Steffen einmal früher nach Hause, denn die Technik versagte bei einem Termin. Diese Chance nutzte Julia. Kaum zu Hause angekommen, ging sie auf Steffen zu mit den Worten: „Du, Schatz, es wird Zeit, dass wir einmal reden, du musst wieder zu dir finden.“ Am Anfang erstarrte Steffen etwas, doch dann sah er dieses Lächeln in den Augen von Julia, was sie bei ihrer ersten zufälligen Begegnung schon hatte und war wieder so warm verzaubert für einen Moment, dass er zum ersten Mal seit langem wieder sagte: „Gerne, mein Schatz, du hast Recht, das müssen wir.“ Sofort ging er in die Küche, schnappte sich seine Kochschürze und bereitete einen ganz leckeren Auflauf zu, wie beide ihn liebten. Liebevoll deckte er den Tisch, zündete Kerzen an und machte das Licht aus, nachdem der Tisch gedeckt war. Noch bevor Julia zu Wort kam, schnappte er sich im Kerzenschein ihre Hände und sagte ihr mit zitternder Stimme: „Meine Julia, ich liebe dich so sehr und danke dir, dass du trotz aller Probleme noch immer bei mir bist, ich habe begriffen, dass ich aus diesem Leben wieder ausbrechen muss mit dir gemeinsam, um endlich unseren Traum zu leben – nur habe ich Angst um unsere Existenz, die ich verblendet in eine Abhängigkeit gedrängt habe.“ Julia

streichelte sanft Steffen seine Wange und sagte: „Mach dir keine Gedanken, mein Prinz, wir haben so viel durchgestanden und nichts in dieser Scheinwelt ist es wert, dass wir unser Leben nur aus Existenzangst aufgeben müssen.“ Richtig erleichtert sah er Julia in die Augen, küsste sie sanft und sagte: „Danke mein Schatz, du bist eine sehr starke Frau, und ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben, ich möchte alt mit dir werden und werde diesen Job kündigen, das Auto verkaufen – wir stehen dann zwar wieder am Anfang, aber wir haben uns.“ Beide setzten sich auf die gemütliche Couch nach diesen Worten und entspannten einfach nur beim Plätschern des Brunnens, den sie von einem Kollegen geschenkt bekommen hatten. Am nächsten Morgen klingelte das Telefon, und nachdem Steffen dranging, teilte man ihm mit, dass in der letzten Nacht die ganze Ausrüstung zu Schaden gekommen sei und er jetzt bitte seinen Urlaub nehmen sollte, zumindest eine Woche. Er dachte sich, nach den ganzen Strapazen und Intrigen könnte er diesen ruhig noch mitnehmen, bevor er kündigen würde, und so willigte er ein. Gemütlich weckte er Julia mit einem Frühstück am Bett, lecker warmen Brötchen, einen Frühjahrstee und teilte ihr nach einem sanften Kuss mit, was er gerade am Telefon erfahren hatte. Julia war damit einverstanden, und so gingen sie mittags zu einem Kollegen, der den Wagen gerne kaufen würde und die Raten ab sofort übernehmen wollte. Schnell war der Papierkram erledigt, und Julia und Steffen konnten aufatmen. Sie waren noch einmal der Schuldenfalle entkommen, und Steffen hatte sogar noch etwas Geld ansparen können für ihre gemeinsame, berufliche Zukunft fern von Zwängen. Allerdings hatten sich beide am Abend zuvor neue Ziele gesetzt: Sie mochten aufs Land ziehen, fern der Stadt an einem Waldrand in eine „helle“ Wohnung und sich mitten im Wald ein großes Haus zulegen, wo sie Menschen die Möglichkeit geben wollten, durch kreative Arbeit wieder zueinander zu finden: egal, ob nur einzelne Paare oder ganze Familien. Für diesen Weg gingen sie gerne nochmals ein unternehmerisches Risiko ein, da waren sie

sich einig und wurden hier sogar von Julias Eltern unterstützt, die inzwischen auch davon überzeugt waren, dass dieser Weg auf der Lebensautobahn nicht der richtige sein konnte. So ermöglichten diese durch ihre Ersparnisse, dass Julia und Steffen dieses große Haus im Wald noch in der selben Woche kaufen konnten. Am Wochenende überraschte er dann Kai und seinen Chef im Unternehmen mit dem Fahrrad und teilte ihnen mit, dass er fristlos kündige und ab sofort wieder seinen Lebensweg ging. Er solle an seine Ratenzahlungen denken, sagte der Chef und es sich nochmals gründlich überlegen, doch er lachte nur laut und sagte: „Den Wagen habe ich längst verkauft, und meine Existenz in nur einer Woche neu aufgebaut – mein Leben lasse ich mir von eurer Gier nicht zerstören.“ Steffen ließ beide einfach stehen, und man sah ihnen den Schock an. Lange schon hatte es keiner mehr gewagt, so mit ihnen zu reden, mit den großen Herren des Unternehmens. Schnell war aber die Angelegenheit „Steffen“ vergessen, und sie lebten ihr Leben weiter, sich der Gier und dem Statuswahn ergebend. Steffen dachte nur, wie traurig, dass Menschen ihre Seele so sehr zerstören mussten. Er freute sich riesig auf seine neue Lebensaufgabe zusammen mit Julia, denn genau vor dem endgültigen Verlust natürlicher Lebensgefühle mochte er Menschen bewahren, die noch nicht so weit gekommen waren wie sein einstiger Freund Kai, und bei denen noch Hoffnung bestand, dass sie den Sprung aus diesem Mainstreamleben schaffen. Nur drei Wochen später hatte sich das „Haus im Wald“ rumgesprochen und erste Familien, die aufgrund des Beruflebens drohten auseinander zu brechen, nahmen diesen alternativen Weg in Anspruch, um wieder zu sich zu finden. Steffen und Julia lebten in diesem Haus in den ersten vierzehn Tagen, um selber ein Gefühl dafür zu entwickeln, und sie waren sehr stark geworden. Abends am Kamin sitzend, kein Lärm, nur die Geräusche der Natur und eine schöne kleine Lampe. Sie kuschelten sich beide immer wieder aneinander und nutzten die

freien Tage, um ihrer kreativen Arbeit weiter Ausdruck zu verleihen. Genau deshalb nahmen sie auch nie so viel an, dass der Terminkalender drückte, denn sie wollten für die Menschen wirklich da sein, ihnen einen anderen Weg zeigen, und deshalb war es wichtig für alle Zeiten ohne Zeitdruck zu arbeiten, denn Menschlichkeit durfte keinen Druck kennen. Einen Fernseher hatten sie dort nicht, denn im Grunde empfanden sie es schon immer als lästig, sich diesem visuellen Druck auszusetzen. Sie hatten noch eine Mietwohnung, nur einige Meter entfernt am Waldrand, denn immer, wenn sich Familien dort anmeldeten, war es wichtig, dass diese nach dem Tagesprogramm abends alleine dort nächtigen konnten, um wieder zu erlernen, wie man unbefangen aufeinander zuging und in der Gemeinsamkeit lebte. Es war eine Arbeit, die etwas bewegte, wertvoll war, aber in dieser schnelllebigen Industrie für die Außenwelt keine Bedeutung hatte. Doch das war Beiden egal, denn sie konnten davon leben und waren jedes Mal im Herzen voller Glück, wenn sie anderen Menschen auch helfen konnten, diesen Weg der Gemeinsamkeit über das ganze Leben hinweg zu gehen ohne sich abhängig machen zu müssen oder ihre Seele einem dauerhaften Schmerz aussetzen zu müssen. Sie gaben viel an Familien weiter, konnten aber auch noch etwas von diesen lernen. Leben in Harmonie führten die Beiden, fern von Unzufriedenheit, fern von Lügen und Intrigen in einer Partnerschaft, einfach nur im Sinne der warmen und ewigen Liebe. Was andere Menschen als nicht real ansahen, lebten die Beiden. Vor allem zu Vollmondnächten entwickelten beide eine noch intensivere Wärme, eine Hingabe, die sie oft Nachts nicht schlafen ließ, aber sie beruhigte, es war wie eine zweite Gestalt, die in ihnen lebte, und die durch das Licht des Mondes immer wieder zum Leben erweckt wurde. Diese inneren Momente hielten sie fest und gaben immer auch einen Teil an Mitmenschen weiter, wenn diese sich dafür

öffneten.

Abschließende Bemerkung des Autors: So wie Julia und Steffen leben, kann jeder leben und glücklich sein. Kein Mensch muss seine Familie aufgeben, keiner seine Seele hergeben, nur für die Gier, für das Geld. Laufend neue Partnerschaften, immer wieder vor dem Schönen im Leben wegrennen, lässt einen Menschen nur schneller altern, und dabei ist diese Welt doch viel zu schön und auch viel zu fröhlich, als dass wir so leichtfertig mit ihr umgehen sollten. Die Harmonie beginnt in einer Partnerschaft, in der Familie, und wenn dort schon alles zerbricht, wie sollen Milliarden von Menschen auf einem Planeten dann friedlich zusammenleben können? Eines der wichtigsten Dinge, die der Mensch begreifen muss, ist, dass jeder Mensch anders ist und ein Recht hat, in einer normalen Existenz leben zu können, auch wenn er nicht auf der Überholspur lebt. Jede Tätigkeit ist wertvoll und solche, die nicht alltäglich sind, ganz besonders. Ihr Joachim Sondern