KAPITEL 1 DER DREIERPACK

KAPITEL 1 DER DREIERPACK Es ist eine scheinbar unamerikanische Tatsache, dass in den heutigen Vereinigten Staaten bestimmte Gruppen andere leistung...
Author: Stanislaus Hoch
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KAPITEL 1

DER DREIERPACK

Es ist eine scheinbar unamerikanische Tatsache, dass in den heutigen Vereinigten Staaten bestimmte Gruppen andere leistungsmäßig erheblich übertreffen. Einige der erfolgreichsten Gruppen dürften kaum überraschen, andere hingegen schon. Was haben die gegenwärtigen Finanzmanager und Firmenchefs von American Express, Black & Decker, Citigroup, Dell, Fisher-Price, Deloitte, Jet-Blue, Marriott International, Sears, Roebuck, Skullcandy, Sam’s Club und Madison Square Garden gemeinsam?1 Sie gehören alle der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an. Noch 1980 war kaum ein Mormone an der Wall Street zu finden.2 Heute sind sie dominante Akteure in den Führungsetagen von Unternehmen, Investmentfirmen und Wirtschaftshochschulen. Mormonen sind nicht die Einzigen, die aus dem Nichts aufgestiegen sind. In den vergangenen Jahren war viel vom Ende der Aufwärtsmobilität in den USA die Rede.3 Bei Amerikanern, die nach 1960 in den Vereinigten Staaten geboren wurden, ist der Werdegang angeblich weitgehend von der gesellschaftlichen Stellung der Eltern abhängig. Insgesamt mag das stimmen, aber in bestimmten Gruppen, besonders unter Einwanderern,4 ist der amerikanische Traum – auch in der Version »Vom Tellerwäscher zum Millionär« – nach wie vor äußerst lebendig.5 Nach 1959 flüchteten Hunderttausende Kubaner nach Miami, wo die meisten völlig mittellos ankamen.6 Anfangs stießen sie auf Feindseligkeit – an Mietshäusern hingen häufig Schilder mit der Aufschrift: Keine Hunde, keine Kubaner7 –, lebten beengt in kleinen Wohnungen und arbeiteten als Tellerwäscher, Hausmeister und To11

matenpflücker.8 Diese Exilkubaner und ihre Kinder trugen dazu bei, das verschlafene Miami in eines der blühendsten Wirtschaftszentren der Vereinigten Staaten zu verwandeln.9 Der Prozentsatz der in den USA geborenen kubanischen Amerikaner mit einem Haushaltseinkommen von über 50 000 US-Dollar war 1990 doppelt so hoch wie bei Angloamerikanern.10 Obwohl kubanische Amerikaner nur 4 Prozent der hispanoamerikanischen US-Bevölkerung ausmachten, stellten sie 2002 fünf der zehn reichsten Hispanoamerikaner in den Vereinigten Staaten.11 Gegenwärtig haben sie eine zweieinhalbmal höhere Wahrscheinlichkeit als Hispanoamerikaner insgesamt, mehr als 200 000 US-Dollar im Jahr zu verdienen.12 Zwei afroamerikanische Harvard-Professorinnen sorgten 2004 mit dem Hinweis für Furore, dass die Mehrzahl schwarzer Harvard-Studenten – möglicherweise bis zu zwei Drittel – Einwanderer oder deren Kinder waren (im Gegensatz zu Schwarzen, deren Familien seit vielen Generationen in den USA lebten).13 Einwanderer aus vielen Ländern der Karibik und Afrikas – wie Jamaika, Haiti, Ghana, Äthiopien und Liberia – schaffen in den USA ein Hochschulstudium,14 aber am stärksten stechen Nigerianer hervor. Sie machen zwar nur 0,7 Prozent der schwarzen US-Bevölkerung aus15 und werden meist von schwer arbeitenden Eltern aufgezogen, die zuweilen finaziell sehr zu kämpfen haben, sind aber mit annähernd dem Zehnfachen dieses Prozentsatzes unter den schwarzen Studenten an amerikanischen Eliteuniversitäten vertreten.16 Dieser akademische Erfolg schlägt sich erwartungsgemäß in wirtschaftlichem Erfolg nieder. Schon jetzt sind nigerianische Amerikaner in den Investmentbanken der Wall Street und in hochkarätigen Anwaltskanzleien deutlich überrepräsentiert.17 Die Einschätzung, wer in den Vereinigten Staaten »erfolgreich« ist, hängt natürlich davon ab, wie man Erfolg definiert. Manche sehen es vielleicht als größten Erfolg, im Leben möglichst viel Gutes zu tun. Andere werten es als Erfolg, sein Leben Gott zu weihen. Für Sokrates waren Reichtum und Lohn lediglich ein Scheinerfolg; das Leben musste vielmehr erforscht werden, um lebenswert zu sein.18 Aber aus Gründen, deren Beschreibung ganze Bibliotheken füllen

könnte – oder die sich wenig nutzbringend auf die Gesetze von Angebot und Nachfrage reduzieren lassen –, gehören Güte, Religiosität und Selbsterforschung nicht zu den Dingen, die moderne Volkswirtschaften belohnen. Oliver Wendell Holmes Sr. bezeichnete Erfolg »im gemeinen Sinne« als »den Erwerb von Geld und Stellung« (und gab dann Ratschläge, wie man ihn erlangt).19 Mit den Kosten und der Beschränktheit eines so verstandenen Erfolgs befassen wir uns später, aber es stellt sich weiterhin hartnäckig die Frage: Warum steigen manche in diesem »gemeinen Sinne« auf, aber andere nicht? Und warum übertreffen manche Gruppen andere darin? Indische Amerikaner haben das höchste Einkommen aller ethnischen Gruppen, die in der US-Statistik aufgeführt sind: nahezu das Doppelte des mittleren nationalen Haushaltseinkommens.20 In dichtem Abstand folgen chinesische, iranische und libanesische Amerikaner.21 An den Ivy-League-Hochschulen, also den acht Elitehochschulen im Osten der USA, sind Ostasiaten mittlerweile so überrepräsentiert,22 dass man sie bereits als die »neuen Juden« bezeichnet und viele unparteiische Beobachter vermuten, insgeheim würden Zulassungsquoten gegen sie zum Einsatz kommen.23 An dieser Stelle ist zu betonen, dass selbst Kinder armer, schlecht ausgebildeter ostasiatischer Einwanderer – chinesischer Näherinnen, koreanischer Lebensmittelhändler, vietnamesischer Flüchtlinge – bessere Leistungen erzielen als weiße Amerikaner aus entsprechenden Verhältnissen und erheblich bessere als andere ethnische Minderheiten.24 Unterdessen erringen Juden weiterhin Nobelpreise,25 Pulitzerpreise,26 Tony Awards27 und scheffeln Hedgefonds-Millionen28 in einem Maße, das gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil völlig unverhältnismäßig ist. Eine US-weite Studie unter Erwachsenen jungen bis mittleren Alters stellte fest, dass das mittlere Nettovermögen amerikanischer Haushalte 2004 bei etwa 99 500 US-Dollar lag, bei jüdischen Teilnehmern waren es 443 000 US-Dollar.29 Obwohl der jüdische Bevölkerungsanteil in den USA 2009 nur 1,7 Prozent betrug, waren 20 Juden unter den 50 reichsten Amerikanern der Forbes-Liste, und von den 400 Reichsten war sogar über ein Drittel jüdisch.30 13

Gruppen können jedoch in ihrem Erfolg auch einen drastischen Niedergang erleben. Als Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine klassische Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus verfasste, dominierten Protestanten noch die amerikanische Wirtschaft.31 Heute ist der Wohlstand amerikanischer Protestanten unterdurchschnittlich, und in einer evangelikalen oder fundamentalistisch protestantischen Familie aufzuwachsen ist mit wirtschaftlicher Abwärtsmobilität verknüpft.32 Dieses Buch befasst sich mit dem Aufstieg und Niedergang von Bevölkerungsgruppen. Es geht von der These aus, dass ein Zusammentreffen dreier bestimmter Kräfte in der Kultur einer Gruppe den Antrieb zu überproportional großem Erfolg liefert. Leider hat diese Geschichte auch eine Kehrseite. Dieselben Kräfte, die den Erfolg fördern, tragen auch zutiefst pathologische Züge, mit denen sich dieses Buch ebenfalls beschäftigt. Trotz aller Unterschiede weisen die überproportional erfolgreichen Bevölkerungsgruppen in den USA drei kulturelle Gemeinsamkeiten auf, von denen jede gegen ein Kernelement des modernen amerikanischen Denkens verstößt. Da wir keinen Begriff gefunden haben, der weniger unschön klingt, bezeichnen wir diese drei kulturellen Kräfte zusammengenommen als Dreierpack. Seine Elemente sind: Ein Überlegenheitskomplex. Dieses Element des Dreierpacks lässt sich am leichtesten definieren: Es handelt sich um einen tief verinnerlichten Glauben an die Besonderheit, Einzigartigkeit oder Überlegenheit der eigenen Gruppe. Diese Überzeugung kann aus sehr unterschiedlichen Quellen entspringen. Sie kann religiös sein wie bei den Mormonen.33 Sie kann in einer Schilderung der glorreichen Geschichte und Kultur des eigenen Volkes wurzeln wie bei Chinesen oder Persern.34 Oder sie kann sich auf identitätsstiftende soziale Merkmale stützen, von denen die meisten Menschen in westlichen Ländern noch nie etwas gehört haben: Bei manchen Indoamerikanern ist es die Abstammung aus der »Priesterkaste« der Brahma14

nen,35 bei manchen nigerianischen Einwanderern die Zugehörigkeit zum berühmten Volk der Ibo.36 Es kann auch eine Mischung sein. So hören jüdische Kinder bei ihrem ersten Pessach-Seder, dass Juden das »auserwählte« Volk sind.37 Später lernen sie, dass Juden ein moralisches Volk sind, ein Volk des Rechts und des Geistes, ein Volk von Überlebenden.38 Ein wesentlicher Aspekt des Überlegenheitskomplexes ist, dass er im Gegensatz zum breiten liberalen Denken steht, das uns anhält, keinen Menschen für besser zu halten als einen anderen. Alle sind gleich. Und wenn schon individuelle Überlegenheitsansprüche Stirnrunzeln auslösen, so verbieten sie sich erst recht für Gruppen. Gruppenüberlegenheit ist Stoff für Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus. Dennoch pflegt jede extrem erfolgreiche Gruppe in den Vereinigten Staaten den Glauben an ihre eigene Überlegenheit. Unsicherheit. So wie wir den Begriff verwenden, ist Unsicherheit eine Art Unbehagen, eine Verunsicherung in Bezug auf den eigenen Wert oder den eigenen Platz in der Gesellschaft; das Gefühl oder die Furcht, dass man selbst und das, was man tut oder hat, grundsätzlich nicht gut genug ist. Unsicherheit kann viele Formen annehmen: das Gefühl, dass andere auf einen herabsehen; den Eindruck, es bestünde Gefahr; das Gefühl der Unzulänglichkeit; die Angst, das zu verlieren, was man hat. Wahrscheinlich ist jeder auf die eine oder andere Art unsicher, aber manche Gruppen tendieren stärker dazu als andere. Einwanderer sind fast schon definitionsgemäß unsicher: Sie erleben eine tief greifende wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, da sie nicht wissen, ob sie ihren Lebensunterhalt bestreiten oder ihren Kindern zu einem anständigen Leben verhelfen können.39 Die Ansicht, Unsicherheit als wesentlichen Hebel des Erfolgs einzuschätzen, ist ein weiteres Unthema, das sämtlichen Grundlehren der heutigen populären oder therapeutischen Psychologie widerspricht. Das Gefühl der Unsicherheit gilt als diagnostisch anerkanntes Symptom einer Persönlichkeitsstörung.40 Einem Menschen, der unsicher ist – und der das Gefühl hat, auf eine grundlegende Weise 15

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