Kafka und das Jiddische Theater

Proseminar Kafka und das Judentum Dozent: Dr. phil. Friedmann Harzer Wintersemester 2006/07 Kafka und das Jiddische Theater von Beatrice Pawlik und ...
Author: Eike Schuler
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Proseminar Kafka und das Judentum Dozent: Dr. phil. Friedmann Harzer Wintersemester 2006/07

Kafka und das Jiddische Theater

von Beatrice Pawlik und Anna Zachmann

Anna Zachmann, 1. Sem, MA Hauptfach: NDL, Nebenfächer: Neuere/Neueste Geschichte, Kunstgeschichte Kohlergasse 10, 86152 Augsburg, 0821/7107674, [email protected]

Beatrice Pawlik, 3. Sem, LA GS Hauptfach: Deutsch, Drittelfächer: Mathematik, Geschichte, Kunst Annastr. 36, 86368 Gersthofen, 0821/7107674, 0176 23804691 [email protected]

Inhaltsverzeichnis: 1.

Einleitung (B. Pawlik)

S. 3

2.

Kafka und das Jiddische Theater (B. Pawlik)

S. 3

2.1 2.2 2.3

Das Jiddische Theater Erster Kontakt Kafkas mit dem Jiddischen Theater Auswirkungen auf Kafkas persönliche Entwicklung durch seine Faszination für das Jiddische Theater Einflüsse des Jiddischen Theaters auf Kafka als Schriftsteller

S. 3 S. 4

2.4

3. Jiddische Quellen zu "Das Urteil" und Entsprechungen im Werk (A. Zachmann) 3.1 3.2 3.3 3.4

Die Charaktere im Vergleich Analogien in der Thematik Parallelen innerhalb der technischen Einrichtungen Handlungsmuster und Techniken des Dramas in der narrativen Prosa

S. 5 S. 6

S. 9 S. 9 S. 12 S. 14 S. 16

4. Schluss

S. 18

Literaturverzeichnis

S. 19

2

1. Einleitung Unsere Arbeit über Kafka und das Jiddische Theater teilt sich im Wesentlichen in zwei übergeordnete Bereiche. Im ersten Teil gehen wir auf das Jiddische Theater im Allgemeinen ein. Es wird aufgezeigt, wie Kafka mit den jiddischen Schauspielern in Kontakt kam, was ihn an ihnen und ihren Vorführungen faszinierte und wie sich dies sowohl auf seine persönliche als auch auf seine schriftstellerische Entwicklung ausgewirkt hat. Der zweite Teil beleuchtet die im ersten Teil aufgestellten Thesen genauer. Anhand eines Vergleichs von Kafkas Novelle „Das Urteil“ und dem jiddischen Theaterstück Gordins „Gott, Mensch und Teufel“ werden Parallelen und Analogien aufgezeigt. Dies soll belegen, wie stark sich Kafka von Thematik, Charakteristik und Handlung des Jiddischen Theaters beeinflussen ließ.

2. Kafka und das Jiddische Theater

2.1 Das Jiddischen Theater Unter dem Begriff des Jiddischen Theaters versteht man generell eine Theateraufführung in jiddischer Sprache. Franz Kafka lernte die jiddischen Theaterstücke von reisenden Schauspielern kennen, die zumeist Ostjuden waren und von den assimilierten Westjuden verachtet wurden. Die in Prag vorgestellten Stücke entstanden in relativ kurzer Zeit zwischen 1880 und 1910. Nichtsdestotrotz waren die Stücke, die im Café Savoy aufgeführt wurden, unberührt von der Modernität

des

späten

19.

Jahrhunderts,

die

die

europäischen

Stücke

beeinflusste1. Abraham Goldfaden wird als Vaterfigur verstanden, da er die Stücke „Shulamit“ (1880) und „Bar Kockhba“ (1882) verfasste. Sie waren die frühesten Stücke im Repertoire der jiddischen Schauspieler und basieren auf Themen der Bibel und des Talmud. Die beiden Werke Goldfadens sind tief religiös und enthalten Elemente der Operette wie beispielsweise Chorgesänge und tänzerische oder gesangliche Zwischeneinlagen. Ein weiterer wichtiger Autor ist Jakob Gordin, dessen Stücke, wie zum Beispiel „Der wilde Mensch“ (1896) und „Gott, Mensch und Teufel“ (1900),

1 Beck, Evelyn Torton: Kafka and the Yiddish Theater. Its Impact on his Work. Madison: University of Wisconsin 1971, S.22

3

Kafka besonders bewunderte. Seine Stücke waren vom Naturalismus und Realismus beeinflusst und sie handelten von moralischen und sozialen Problemen. Heutzutage existieren nur noch wenige Theaterdokumente, da der Großteil im zweiten Weltkrieg verbrannt wurde. Kafkas Tagebuch ist die einzige verfügbare Auflistung des Repertoires der jiddischen Schauspieltruppe, die in Prag aufgetreten ist, aber selbst diese Liste ist nicht komplett. In dieser teilt Kafka die Stücke in zwei Kategorien: Gordins und Goldfadens Stücke sieht er als Klassiker an, die anderen hingegen als „Schund“. Kafka versteht darunter Werke mit reißerisch komplizierter Handlung und aufregenden Bühneneffekten.2

2.2 Erster Kontakt Kafkas mit dem Jiddischen Theater Eine der prägendsten Erfahrungen für Kafkas persönliche Entwicklung und seine Entwicklung als Schriftsteller ging vom Jiddischen Theater aus. Er sah im Mai 1910 zum ersten Mal eine Truppe jiddischer Schauspieler, die aus Lemberg, der Hauptstadt Galiziens, kamen und in Prag auftraten. Über diese Gruppe berichten Max Brod und Kafka nur flüchtig in ihren Tagebüchern („For May 1 of this year I find this entry in my diary: ‚Café Savoy. Theatrical company from Lemberg. …’ For May 4: ‘Went with Kafka to the Savoy this evening. Marvellous!’”3) . Es ist nicht eindeutig, ob sie nur eine oder mehrer Vorstellungen besuchten, da nur ein einziger genauer Bezug zu dieser Truppe in Kafkas Tagebüchern vorhanden ist. In diesem vergleicht

er

lediglich

die

Auftritte

zweiter

jiddischer

Schauspielerinnen

4

miteinander . Im Gegensatz dazu ist über eine andere Gruppe jiddischer Schauspieler aus Lemberg, deren Vorstellungen Kafka und Brod besuchten, mehr bekannt. Kafkas Tagebücher belegen, dass er mindestens 14 unterschiedliche Vorstellungen dieser Truppe 1911 im Café Savoy besucht hat. Allerdings gibt es Gründe anzunehmen, dass Kafka deren Aufführungen wesentlich häufiger besuchte. Brod schätzt, dass es 20 oder sogar bis zu 30 gewesen sind. Seine Schätzung wird belegt durch einen Brief Kafkas an Felice Bauer, in dem er von 20 Vorstellungen spricht:5 Das ganze Jargontheater ist schön, ich war voriges Jahr wohl 20 mal bei diesen Vorstellungen und im deutschen Theater vielleicht gar nicht.6

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S.22-24 Brod, Max: Franz Kafka: Eine Biographie. Berlin 1954, S. 135 4 Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Stuttgart 1988, S.25 5 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 15 6 Kafka, Franz : Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Born, Jürgen / Heller, Erich (Hgg.). In: Brod Max (Hg.): Franz Kafka / Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1967, Bd. 10 S. 73 2 3

4

Kafka berichtet in seinen Tagebücher selten über den Ablauf einzelner Tage, wodurch Lücken entstanden sind. Oft beschreibt er nur seine Gefühle und Gedanken in Bezug auf das Jiddische Theater. Ein weiterer Beweis dafür, dass Kafka mehr als 14 Vorstellungen besucht hat, ist ein Artikel den Jizchak Löwy, einer der Schauspieler der Truppe, über Kafka und Brod verfasste. In diesem schreibt er, dass Brod keine einzige und Kafka nur sehr wenige Vorführungen verpasst haben.7

2.3

Auswirkungen

auf

Kafkas

persönliche

Entwicklung

durch

seine

Faszination für das Jiddische Theater Das Zusammentreffen mit den jiddischen Schauspielern beeinflusst Kafkas Gedanken und Gefühle zwischen 1911 und 1913 sehr stark. Kafkas Faszination für das Jiddische Theater rührte nicht von der Qualität der Stücke oder Aufführungen her, sondern eher von Seiten der Schauspieler8. Diese Truppe war für ihn die Verkörperung einer lebendigen jüdischen Kultur. Er betrachtete sie wegen ihren Lebensformen, ihrem inneren Zusammenhalt und ihrem engen Bezug zur jüdischen Tradition und Religion als Repräsentanten eines volkhaften Judentums. Er sah darin das Ideal des jüdischen Gemeinschaftswesens, das es anzustreben galt.9 Kafka hatte eine besondere persönliche Beziehung zu dem Schauspieler Jizchak Löwy aufgebaut, an dem er auch nach dessen Abreise noch starkes Interesse zeigte. Beispielsweise schreibt er in Briefen an Felice Bauer immer wieder über Löwy und ihre „Beziehung“ zueinander. Er versucht sie dadurch mit in das Verhältnis einzuführen und ihr ein Verständnis darüber zu vermitteln.10 Löwy war für Kafka im Wesentlichen eine Hauptquelle, um so viele Informationen wie möglich über die jüdische Geschichte und Kultur zu erlangen. Kafkas Freundschaft mit Löwy ermöglichte ihm beispielsweise einen Einblick in die alten jüdischen Gemeinden in Osteuropa und deren Bräuche und Riten. Außerdem führte Löwy Kafka in ersten Kontakt mit jiddisch-lyrischer oder -erzählerischer Dichtung, indem er ihm Werke jüdischer Autoren auf Jiddisch vorlas. Dies war der Ausgangspunkt für Kafkas weiteres Interesse an jiddischer Literatur. Er eignete sich im Laufe der Jahre ein beachtliches Wissen darüber aus Übersetzungen und Sekundärliteratur

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 16 Robertson, Kafka, S. 28 9 Binder, Hartmut: Kafka-Handbuch. Stuttgart 1979, Bd. 1, S. 391 10 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 17-19 7 8

5

an, da kaum Bücher in jiddischer Sprache existierten. Wie stark Kafkas erwachtes Interesse an der jiddischen Kultur im Allgemeinen und der jiddischen Sprache im Besonderen waren, wird besonders deutlich in seiner „Rede über die jiddische Sprache“, die er am 18. Februar 1911 vor der Bar Kochba für Löwy hielt. Ebenfalls als Resultat aus seinem Interesse für das Jiddische können seine Überlegungen zum Charakter kleiner Literaturen sein, die er am 25. Dezember, nach einem Gespräch mit Löwy, in sein Tagebuch eintrug.11 Kafkas starke mentale Bindung zu den jiddischen Schauspielern löst in ihm, neben seiner Faszination, auch einen Prozess der Selbstzweifel über sein Schreiben und einen Hang zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik aus:12 23. Oktober [1911]. Die Schauspieler überzeugen mich durch ihre Gegenwart immer wieder zu meinem Schrecken, dass das meiste was ich bisher über sie geschrieben habe, falsch ist. Es ist falsch, weil ich mit gleichbleibender Liebe [...] aber wechselnder Kraft über sie schreibe [...]. 13

Aus diesem Zitat geht sehr deutlich hervor, dass Kafkas Faszination für das Jiddische Theater groß war und dass er sich sehr stark zu den Schauspielern hingezogen fühlte. Allerdings wird auch deutlich, dass er an seinen Fähigkeiten als Schriftsteller zweifelt und sich nicht als würdig empfindet über sie zu schreiben, da er ihnen nicht gerecht werden kann. Seine Zweifel sich selbst gegenüber lassen sich anhand eines weiteren Tagebucheintrags vom 7. November 1911 noch einmal deutlich: 7. November [1911]. [...] Aber ich konnte sie [Frau Tschissik] eigentlich auch nicht ernst ansehen. Denn das hätte geheissen, dass ich sie liebe. [...] Und das wäre wirklich unerhört gewesen. Ich ein junger Mensch den man allgemein für 18 Jahre alt hält, erklärt vor den Abendgästen des Café Savoy, im Kreis der herumstehenden Kellner, vor der Tischrunde der Schaupieler, [...] erklärt dieser Frau seine Liebe, der er ganz verfallen ist [...]14

2.4 Einflüsse des Jiddischen Theaters auf Kafka als Schriftsteller Zahlreiche Tagebucheinträge Kafkas berichten über die Stücke, die er gesehen hat.

Er

beschreibt

darin

eine

Zusammenfassung

der

Handlung,

Charakteranalysen, die Bühnentechnik bzw. Ausstattung, die Flugzettel, die Entwicklung der Schauspieler, des Stücks oder des Drehbuchs. Diese Einträge geben nicht nur Aufschluss darüber, was für ein detaillierter Beobachter Kafka war,

Robertson, Kafka, S. 29-30 Vgl. Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 19 13 Kafka, Franz: Tagebücher. Koch, Hans-Gerd / Müller, Michael / Pasley, Malcolm (Hgg.) In: Born, Jürgen / Neumann, Gerhard / Pasley, Malcolm / Schillemeit, Jost (Hgg.): Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main 1990, Bd. 3.1 S. 98-99 14 Kafka, Tagebücher, Bd. 3.1 S. 233-234 11 12

6

sondern auch welche Elemente des Jiddischen Theaters ihn besonders beeindruckt haben. 15 Wie oben erwähnt, war er besonders angetan von der Lebensweise der Schauspieler und ihrer Verwurzelung im jüdischen Glauben und ihrer Tradition. Diese kam besonders in den jiddischen Stücken zur Geltung, denen sie als Grundlagen dienten. Aus diesem Grund finden sich immer wieder Ähnlichkeiten in der Handlung zwischen Kafkas Werken und den jiddischen Theaterstücken, die meist Familientragödien und deren Auflösung zum Inhalt hatten, die auf der Grundlage des Judentums basierten.

Für ihn stellten diese Tragödien

Argumentationsstrukturen bereit, die er auf sich und sein Verhältnis zu seinem Vater übertragen und anwenden konnte. Dadurch kam es erstmals zum offenen Konflikt mit dem Vater.16 Kafka verarbeitet diese Tragödien allerdings nicht nur im Allgemeinen in seinen Werken, sondern er nimmt auch bestimmte Stücke als konkrete Vorlagen, wie z. B. ‚Gott, Mensch und Teufel’, worauf später noch im Detail eingegangen wird. Ebenfalls prägend für Kafkas Werke war die Leidenschaft und Lebensechtheit der Schauspieler mit der sie zu spielen pflegten:17 Die jiddischen Schauspieler – und gerade die ärmeren unter ihnen – spielen mit erstaunlicher Lebensechtheit. Da sie völlig in ihrer Rolle aufgehen, spielen sie fast von Anfang an mit einer unmittelbaren Überzeugungs- und Ausdruckskraft. Genau wie ihr Publikum freuen sie sich an dem was ihnen als Wahrheit erscheint. Obwohl sie im allgemeinen über keine wirklich guten Stücke verfügen, haben sie Erfolg, weil sie sie in realistischer Weise darbieten. Sie bemühen sich geradezu um eine naturgetreue Darbietung , und selbst in einem gewöhnlichen Melodram bewahren sie ihre Lebensechtheit oder ihre Charakterisierungskunst in komischen Episoden das Stück vor öder Langeweile.18

Dieser Tagebucheintrag

belegt sehr deutlich, wie sehr ihn diese Spielweise

begeistert hat. Die Expressivität und die starke Übertreibung der Charaktere, die sehr typisch für das Jiddische Theater war, finden sich in seinen Werken wieder. Beispielsweise ähnelt der alte Bendemann in „Das Urteil“ dem Wahnsinnigen in dem

jiddischen

Schauspiel

„Der

wilde

Mensch“

sehr.

Er

drückt

den

Autoritätsverlust, von dem er sich betroffen glaubt, nicht durch Worte aus, sondern dadurch, dass er im Bett aufspringt und sich über seinen Sohn erhebt. Dies weist große Ähnlichkeit mit dem Wahnsinnigen in „Der wilde Mensch“ auf der sich ebenfalls nur schwer artikulieren kann und deswegen Gestik und Mimik zur Hilfe nimmt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Kafka die Charaktere des Jiddischen

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 26 Binder, Kafka-Handbuch, Bd. 1 S. 394 17 Vgl. Robertson, Kafka, S. 27 18 Hutchins, Hapgood: The Spirit of the Ghetto. Cambridge / Massachusetts. 1967, S. 137 15 16

7

Theaters in seinen Werken aufgegriffen hat ist die Figur des Prokuristen in ‚Die Verwandlung’. Diese Figur teilt sich im Wesentlichen durch Gesten mit, die der Erzähler wiedergibt.19 Es fällt bei Kafkas Werken sehr stark auf, dass die Figuren körperlich präsent sind, genau wie Schauspieler auf der Bühne. Ein weiteres Element das Kafka von den jiddischen Theaterstücken übernimmt, ist die dramatische Struktur. Der klassische Aufbau von Exposition, Peripetie und Klimax, was meist im Tod der Hauptfigur gipfelt, findet sich in vielen Stücken wieder. „Die Verwandlung“, „Das Urteil“ und „In der Strafkolonie“ sind hierfür gute Beispiele.20 Weitere Charakteristika für das Jiddische Theater waren das einfache Bühnenbild, die auffallenden Kostüme, der extravagante Stil der Schauspieler, die sich immer wieder wiederholenden Handlungen und ihre Verschmelzung von Komik und Tragödie. Kafkas Erfahrungen mit dem Jiddischen Theater bauen auf diesen Charakteristika auf. Auffallend an Kafkas Werken ist die einfache und spärliche Ausstattung vieler seiner Erzählungen, wie zum Beispiel in „Das Urteil“ oder „Die Verwandlung“. Dies resultiert vermutlich aus der Atmosphäre, die die Stücke des Jiddischen Theaters bei ihm hervorgerufen haben. Ebenfalls auffallend ist noch, dass viele Szenen in seinen Erzählungen wie Regieanweisungen klingen, was vermutlich ebenfalls auf das Jiddische Theater zurück zuführen ist. Sehr deutlich sieht man dies beispielsweise in „Das Urteil“:21 Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf [...] auf die Brust hat sinken lassen. ‚Georg’, sagte der Vater leise, ohne Bewegung. Georg kniete sich sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem müden Gesicht des Vaters [...] auf sich gerichtet.22

In dieser Szene wird besonders deutlich, dass die Beziehung zwischen Georg und seinem Vater durch Gesten ausgedrückt wird. Es kommt klar zum Tragen, dass sie sich beide mit Respekt gegenüber stehen. Georgs Kniefall, als er seinen Namen hört, steht hier symbolisch für die Abhängigkeit und die Unzulänglichkeit, die er dem Vater gegenüber empfindet.23 Im späteren Verlauf wird darauf anhand weiterer Beispiele detaillierter eingegangen.

Robertson, Kakfa, S. 53-54 Vgl. Ebd. S. 54 21 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 26-27 22 Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten. Kittler, Wolf / Koch, Hans.Gerd / Neumann, Gerhard (Hgg.) In: Born, Jürgen / Neumann, Gerhard / Pasley, Malcolm / Schillemeit, Jost (Hgg.): Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main 1996, Bd. 6.1, S. 53 23 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 26-27 19 20

8

3. Jiddische Quellen zu "Das Urteil" und Entsprechungen im Werk Wie zuvor schon erwähnt prägte der Besuch des Jiddischen Theaters Kafkas Werke. „Das Urteil", im Jahre 1912 in nur einer einzigen Nacht verfasst, lässt sich auf drei jiddische Quellen zurückführen: zwei Stücke von Jakob Gordin („Gott, Mensch und Teufel", „Der wilde Mensch"), welchen Kafka nach eigener Aussage sehr geschätzt hat, und ein Werk von Avraham Sharkanski („Kol Nidre").24 Ich werde nun im folgenden Text auf die Entsprechungen zwischen „Das Urteil" und „Gott, Mensch und Teufel" näher eingehen und somit anhand Evelyn Torton Becks „Kafka and the Yiddish Theater" belegen, inwiefern die Charaktere, das Thema allgemein, die verschiedenen Techniken und die Handlungsstruktur in "Das Urteil" von diesem jiddischen Stück beeinflusst wurden.

3.1 Die Charaktere im Vergleich Die Ähnlichkeit der verschiedenen Charaktere in den beiden Stücken ist nicht zu übersehen: Als Erstes wären die beiden Vaterfiguren zu nennen. Sowohl der Vater Hersheles

als

auch

Georgs

Vater

haben

einen

unleugbaren

Hang

zu

übertriebenem, fast schon grotesk theatralischem Verhalten. Beide sind senil, spielen sich jedoch als den Stärkeren auf, obwohl sie in Wirklichkeit Angst vor den eigenen Söhnen haben: Der Vater Hersheles fürchtet, isoliert und ausgestoßen zu werden, und dies geschieht am Ende tatsächlich, da sein Sohn ihn in die Fremde ausliefert25. Georgs Vater Bendemann hat dieselbe Angst: er spielt hier mit dem Wort "unterkriegen" und verwendet den Begriff als bildliche Metapher: Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst [...].26

Sicher war auch dessen Angst nicht völlig unbegründet, denn schon zuvor wird aus der Sicht Georgs geschrieben: Er hatte mit seiner Braut darüber, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, noch nicht ausdrücklich gesprochen, denn sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten Wohnung bleiben würde.27

Eine weitere Ähnlichkeit ist die väterliche Beziehung zu dem jeweiligen Freund des Sohnes. Der Vater Hersheles in „Gott, Mensch und Teufel" fühlt sich sehr viel mehr

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 71 Ebd. S. 80-82 26 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 56 27 Ebd. S. 54-55 24 25

9

mit Khatskel, dem Freund Hersheles, verbunden als mit seinem eigenen Sohn; die aufrichtige Bevorzugung ist nicht zu übersehen. Auch Georgs Vater enthüllt auf einmal das Geheimnis, dass er mit Georgs Freund, welcher seit Jahren in Russland verweilt, viel Kontakt hat, ihm Briefe schreibt, und wörtlich über ihn sagt:28 Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen.29

Überhaupt ist die Vater-Sohn-Beziehung allgemein in beiden Stücken unleugbar negativ. Das Motiv des Ins-Bett-Tragen kommt in beiden Werken vor: Die Söhne reagieren auf die Anklagen der Väter beschämt und tragen sie daraufhin auf ihren Armen ins Bett. Auch Struktur und Funktion dieser Szene innerhalb des vorangegangenen Geschehens sind analog: Zwei Mal diskutiert Georg mit seinem Vater; zwei Mal bittet Hershele den seinen um Vergebung. Zwei Mal wiederholt jedoch der Vater Georgs seine Anklage; entstprechend wiederholt Hersheles Vater zwei Mal sein Liedchen30. Die Anklagen der Väter, welche das tragische Ende des Helden zu veranlassen oder doch zumindest zu beschleunigen scheinen, sind zwar nicht exakt identisch, entsprechen sich in ihrer Essenz jedoch relativ genau: Beide Söhne werden beschuldigt, die Väter sich selbst zu überlassen und sogar ganz loshaben zu wollen, sich hinter ihrer Arbeit zu verstecken und die Freunde zu betrügen. Der Tod der Mutter Georgs fungiert parallel zu Hersheles Scheidung: beides führt zu sexueller Befriedigung und zur Entfremdung von Vater und Freund. So wird Hershele angeklagt, seine Frau zu beschämen, während Georgs Vater seinen Sohn verdächtigt, das Andenken an die Mutter zu entehren31. Überhaupt ähneln sich die tragischen Helden selbst. Sie haben jeweils zwei gegensätzliche Persönlichkeiten: Hershele, einerseits ein gelehrter, gläubiger Mann und Toraschreiber, wird auf der andreren Seite im Verlauf der Handlung ein reicher Kaufmann, verlässt seine Frau, um seine junge Nichte zu heiraten, und lässt sich mit dem Teufel ein. Georg, welcher ein eher ruhiges, zurückgezogenes Leben führt, ist andererseits ein junger, erfolgreicher Geschäftsmann und im Begriff zu heiraten32. Zudem denken die beiden Männer über ihren jeweiligen Freund relativ gleich: Beide blicken mit einer Mischung aus Mitleid und leiser Verachtung auf sie herab. Während Georg und Hershele verlobt beziehunsweise verheiratet sind und

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 83 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 56 30 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 76-77 31 Ebd. S. 78 32 Ebd. S. 84 28 29

10

das Geschäft prosperiert, ist bei den Freunden das Gegenteil der Fall. Die Helden scheinen also erreicht zu haben, wo die Freunde versagten - der Erfolg ist jedoch, wie man am Ende sieht, nur eine Illusion33. Zwischen den beiden Freunden der Helden, Khatskel und Georgs namenlosem Freund in Russland, gibt es demnach Parallelen; das Muster der Freundschaft ist identisch. Die Helden wuchsen mit ihren Freunden zusammen auf, ihre Wege trennten sich als Erwachsene jedoch. Die Freunde fungieren sozusagen als Gegenstück zu den Helden: Hershele ist ein gebildeter Toraschreiber, Khatskel ein einfacher Arbeiter. Georg verbringt sein Leben in der Heimat, sein Freund geht nach Russland. Hershele wird reich und heiratet eine andere Frau, sein Freund aber wird arbeitslos, gerät in schlimme Armut und verliert sogar seinen Sohn. Und der Freund Georgs, dessen Geschäft in keinster Weise floriert und welcher als ewiger Junggeselle beschrieben wird, stellt damit den Gegensatz zu Georg da.34 Einmal weggehend von Gordins „Gott, Mensch und Teufel" möchte ich kurz darauf hinweisen, wie äußerst auffällig sich die Figur des Freundes in Russland an der realen Person des jiddischen Schauspielers und Freundes von Kafka Jizchak Löwy anlehnt. Max Brod vermutet in seiner Biografie über Kafka, dass der russische Freund Löwy entspricht. Tatsächlich schreibt Kafka in einem Brief an Felice Bauer am 27./28. Dezember 1912 über Löwy:35 Ich habe auch schon einige Briefe in der Zwischenzeit von ihm bekommen. Sie sind alle einförmig und voll Klagen; dem armen Mensch ist nicht zu helfen; nun fährt er immerfort nutzlos zwischen Leipzig und Berlin hin und her. Seine frühern Briefe waren ganz anders, viel lebhafter und hoffnungsvoller, es geht vielleicht mit ihm zu Ende. Du hast ihn für einen Tschechen gehalten, nein, er ist Russe.36

In „Das Urteil" schreibt Georg über seinen russischen Freund: Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund [...] klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab [...], dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien.[...] Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte.37

Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Figuren sind also eindeutig: Beide sind Junggesellen, beide in einem fremden Land. Sie beklagen sich, man kann ihnen jedoch nicht helfen; sie sind kränklich und reisen ziel- und sinnlos umher. Beide sind erfolglos im Beruf, beide haben einen direkten Bezug zu Russland.38

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 85 Vgl. Ebd. S. 85-86 35 Ebd. S. 87-88 36 Kafka, Briefe an Felice, Bd. 10 S. 213 37 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 43-44 38 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 87-88 33 34

11

3.2 Analogien in der Thematik Wie oben beschrieben, gleichen sich die Charaktere der beiden Werke. Jedoch gibt es auch in der Thematik und Wortwahl Parallelen: Der Begriff „Geschäft", den es auch in der jiddischen Sprache gibt, spielt eine wichtige Rolle und wird sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinne gebraucht. In „Das Urteil" spricht der Vater von „gewisse[n] unschöne[n] Dinge[n]"39 und dies reicht von der Arbeit, von welcher der Vater Georg verdächtigt, ihn heraushalten zu wollen, bis hin zu Georgs sexuellen Angelegenheiten. Der Begriff wird also weitläufig verwendet. In der nur fünfzehn Seiten langen Erzählung taucht der Geschäftsbegriff siebzehn Mal auf. In „Gott, Mensch und Teufel" vernachlässigt Hershele sein „heiliges Geschäft", um sich profanen Angelegenheiten zu widmen, die ihm jedoch einigen

Reichtum einbringen. Als er im letzten Akt seine

Verfehlungen erkennt, bekommt das Wort „Geschäft" plötzlich eine spirituelle Bedeutung: die finanziellen Rechnungen werden zu Rechnungen, welche mit Gott beglichen werden müssen, die Korruption wird zum Sinnbild für moralische Verfehlung.40 Als ein weiteres Symbol wäre Wasser zu nennen, besonders im Hinblick auf das Ertrinken. In „Gott, Mensch und Teufel" wird ein komischer Wortwechsel zwischen Khatskel und dem Vater Hersheles geschildert; Khatskel neckt den Älteren aufgrund seines nicht vorhandenen Geschäftes: Khatskel: Nu, vos makht ihr, Reb Leyzer? Vi geyn ayere gesheftn? Ayere shifn oyfn ayam zaynen nit dertrunkn gevorn [...]? Leyzer (shtil): [...] bay mir iz kayn zakh nit dertrunkn gevorn [...]. Khatskel: Nu, vo iz dos epes unzer Reb Hershele Dubrovner? [...]

Die überraschend ernste Tonfall, welchen der Vater als Reaktion auf die eigentlich scherzhaft gemeinte Frage Khatskels plötzlich annimmt, lässt auf die Worte selbst und vor allem auf das Folgende aufmerksam werden: die erste Einführung des Namen Hershele folgt direkt auf die Erwähnung der Katastrophe und kann so als eine ironische Vorhersehung auf das tragische Ende des Helden und den folgenschweren Ausgang des Stückes, bei dem der Vater tatsächlich einen Verlust erleidet, gesehen werden. Obwohl sich Hershele nicht ertränkt, spielt das Symbol des Wassers trotzdem eine Rolle; gleich in der ersten Szene fällt der Begriff „mikve", das rituelle Bad der Juden, in welchem sich der Toraschreiber vor dem Niederschreiben des Namen Gottes reinwäscht. Zu einem späteren Zeitpunkt relativ zu Ende des Stückes wird

39 40

Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 52 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 89

12

das

„mikve"

noch

einmal

erwähnt,

allerdings

in

einem

viel

ernsteren

Zusammenhang. Khatskel beschuldigt nämlich seinen ehemaligen Freund Hershele, indem er wörtlich sagt: „Amol farn shraybn Adoshem flegst du zikh toyvl zayn in vaser un itst bist du zikh toyvl in unzer blut." (in etwa „Bevor du früher den Namen Gottes schriebst, pflegtest du dich im Wasser reinzuwaschen; nun wäschst du dich in unserem Blut.") In „Das Urteil" schaut Georg nach dem Schreiben des Briefes auf den Fluss („[...] und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß [...]."41), in welchem er nur kurze Zeit später ertrinkt. Das Schreiben des Briefes, wodurch Georg im übertragenen Sinne den Tod findet, erinnert an Hershele, dessen Tätigkeit als Toraschreiber ja, wie oben erklärt, eine Verknüpfung mit Wasser im wörtlichen Sinn innehält. Der Literaturwissenschaftler W.H. Sokel stellt die Theorie auf, dass der Tod Georgs durch Ertrinken seine Buße darstellt, symbolisch gesehen also die Reinigung durch Wasser. Eine ähnliche Interpretation ist auch bei Erwin R. Steinberg zu finden: Dieser stellt vom Ertrinken Georgs eine Verbindung zum jüdischen Fest Yom Kippur her; der jüdische Glaube impliziert, dass die Vergebung der menschlichen Sünden ausschließlich durch die Gebete an eben diesem Tag erlangt werden kann. In „Gott, Mensch und Teufel" rechtfertigt Hershele seine Demoralisation, indem er sich auf Yom Kippur bezieht.42 Der Bezug auf die jüdische Tradition kann auch bei einem weiteren Detaill in „Das Urteil" herangezogen werden: „[...] deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!« »Sogar im Hemd hat er Taschen!« sagte sich Georg [...]."43 Ein jüdisches Sprichwort besagt: „Takhrikhim makht men on keshenes", dies bedeutet soviel wie „Leichentücher haben keine Taschen". Dass sich Georg seinen Vater demzufolge also schon in Leichentüchern ausmalt, lässt ein Satz wenige Zeilen zuvor schon vermuten: „»Jetzt wird er sich vorbeugen«, dachte Georg, »wenn er fiele und zerschmetterte!«"44. Schließlich zwingt der Vater Georg durch zweimaliges Wiederholen der Frage, ihm zu antworten: »Bin ich jetzt gut zugedeckt?« fragte der Vater, als könne er nicht nachschauen, ob die Füße genug bedeckt seien. »Es gefällt dir also schon im Bett«, sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn. »Bin ich gut zugedeckt?« fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen. »Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.«45

Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S.43 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 90-92 43 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 59 44 Ebd. S. 58 45 Ebd. S. 55 41 42

13

An dieser Stelle jedoch reagiert der alte Mann äußerst theatralisch: Er schleudert die Decke von sich und springt aufs Bett, so dass er nun tatsächlich seinen Sohn überragt. Das Wort „zugedeckt" missinterpretiert er nun mit voller Absicht, und beschuldigt Georg, dass dieser ihn im übertragenen Sinne bedecken und loshaben wollte: „»Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht.«"46. In „Gott, Mensch und Teufel" ist diese Methode der absichtlichen Fehlinterpretation in ähnlicher Art und Weise wiederzufinden: Leyzer bringt Hersheles Frau dazu, etwas zu sagen und legt dieses bewusst falsch aus: Peseniu: Es hart mikh nit. (in etwa: Es macht mir nichts aus.) Leyzer: Nu, shute, az dikh hart nit, far vos zol dos mir haren? (in etwa: Nun, wenn es dir nichts ausmacht, warum sollte es dann mir etwas ausmachen?)

Während dies jedoch als ein Scherz gemeint war, worüber selbst Peseniu noch ins Gelächter mit einstimmt, kann Georg über das Wortspiel seines Vaters nicht lachen.47

3.3 Parallelen innerhalb der technischen Einrichtungen Sowohl im Theater allgemein als auch in der Novelle „Das Urteil" fungieren Kulisse und Beleuchtung des Schauplatzes als

symbolischer Hintergrund. Diese

Einrichtungen dienen entweder der Entsprechung des jeweiligen Gemütszustandes des Protagonisten oder stellen einen Kontrast zu diesem dar. In Gordins „Gott, Mensch und Teufel" spiegelt die Einrichtung der Bühne den Handlungsverlauf wider: Je aufwändiger das Set gestaltet wurde, desto größer ist die spirituelle Armut des Helden vorangeschritten. Waren im ersten Akt noch Torarollen auf der Bühne zu sehen, werden diese später durch einen großen, metallenen Geldsafe ersetzt. Das dunkle Zimmer, in welchem sich Hershele kurz vor seinem Suizid aufhält, steht repräsentativ für seinen inneren Seelenzustand und verdeutlicht somit seine verzweifelte, ausweglose Situation. Der hell ausgeleuchtete Raum Georgs zeigt das Gegenteil: hier resümiert er beim Schreiben des Briefes, was er alles erreicht hat seit dem Tod seiner Mutter. Das düstere Zimmer des alten Mannes stellt einen visuellen Kontrast dazu dar. Zudem reflektiert diese Atmosphäre die verschlossene Haltung, die er gegen seinen Sohn hegt. Die Attribute, welche Kafka nebenbei erwähnt, fungieren exakt wie in einem Theaterstück: das ungegessene Frühstück, die Andenken an die verstorbene

46 47

Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 56 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 92-95

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Mutter, die Zeitung und andere Dinge unterstreichen die jeweils herrschende Atmosphäre48. In beiden Werken dienen die verwendeten Objekte sowohl zum Steigern der Spannung als auch zur Betonung der einzelnen Höhepunkte. Als das Streitgespräch zwischen Georg und seinem Vater den Gipfel erreicht, schleudert der alte Mann plötzlich eine Zeitung auf seinen Sohn. »[...] Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? Glaubst du, ich lese Zeitungen? Da!« und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ins Bett getragen worden war, zu.49

Eine analoge Stelle in „Gott, Mensch und Teufel" dient dem gleichen Zweck: Zur Unterstreichung seiner Anklage wirft Khatskel nach einer sich steigernden verbalen Auseinandersetzung

seinem

ehemaligen

Freund

Hershele

den

blutigen

Gebetsschal (talis) seines toten Sohnes zu und schreit: „Mayn geshtorbener zun hot dir ibergefirt a talis, fershrayb es oyf mayn khezhbm." (in etwa: Mein toter Sohn hat dir einen Gebetsschal hinterlassen, schreib ihn einfach auf meine Rechnung.) Das Werfen der Zeitung beziehungsweise des Gebetsschales können als mögliche Auslöser des Selbstmordes gedeutet werden; in jedem Fall scheinen diese Aktionen aber den Tod vorangetrieben zu haben50. Die symbolische Verwendung von Namen ist bei Kafka keine Seltenheit. Dies lässt sich zurückführen auf sein Interesse an der kabbalistisch-hasidischen Tradition. In der jüdischen Religion hat die Bedeutung von Namen im Allgemeinen einen hohen Stellenwert, auch in „Gott, Mensch und Teufel" spielen sie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Eine ganze Szene handelt ausschließlich vom alten Vater, welcher die Anagramme der Charaktere malt und dabei deren Persönlichkeiten analysiert. In „Das Urteil" lässt sich der Name der Verlobten Georgs, Frieda, in Bezug setzten zu der Nichte in „Gott, Mensch und Teufel", welche den Namen Freydeniu trägt - eine Verkleinerungsform von Frieda. Generell haben die Namen in jiddischen Theaterstücken eine zumeist ironische Signifikanz. Die Figur des Satan in „Gott, Mensch und Teufel" beispielsweise heißt Uriel Mazik; dies ist eigentlich ein Paradoxon, da Uriel wörtlich übersetzt „Gott ist mein Licht" bedeutet, Mazik hingegen Teufel oder Zerstörer51.

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 95 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 60 50 Vgl. Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 95-96 51 Ebd. S. 96-97 48 49

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3.4 Handlungsmuster und Techniken des Dramas in der narrativen Prosa Das Handlungsmuster in „Das Urteil" entspricht exakt dem des Jiddischen Theaters. Der geschlossene Aufbau in Kafkas Novelle spiegelt den des klassischen Dramas wieder: Exposition, Klimax und Katastrophe. „Das Urteil" kann demnach in drei Teile geteilt werden, und diese unterscheiden sich jeweils durch Kulisse, Klangfarbe, Tempo und Erzählart. Die einzelnen Teile können besser verstanden und analysiert werden, wenn man sie sich als Akte innerhalb eines Stückes vorstellt52. Im ersten Abschnitt verwendet Kafka unterschiedliche Erzählweisen: dritte Person, erlebte Rede, direkte oder indirekte Rede und langer Monolog. Die Funktion innerhalb des ganzen Werkes ist klar: Die Exposition dient dazu, die verschiedenen Charaktere einzuführen, die Beziehungen untereinander dem Leser vorzustellen und Hintergrundinformationen zum besseren Verständnis zu reichen53. Der erste Absatz fungiert im Prinzip wie eine Bühnenanweisung: Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.54

Innerhalb dieser drei Sätze gelingt es dem Autor, dem Leser Ort und Zeit mitzuteilen und einzelne Detaills über Kulisse und Hintergrund anzugeben. Die spärlichen Bühnenanweisungen erinnern an die Kulisse im jiddischen Theater: Die Einrichtungen sind jeweils äußerst unspektakulär gehalten. Das Einzige, was der Leser von Georgs Zimmer erfährt, ist das Vorhandensein eines Schreibtisches, eines Stuhles und eben das Fenster, aus welchem Georg hinaus auf den Fluss blickt. Auch das Zimmer des alten Vaters wird nicht als aufwändig eingerichtet beschrieben. Überhaupt spielt sich die Handlung auf sehr begrenztem Raum ab: Nur zwei Zimmer dienen als Schauplatz, diese werden, wie zuvor schon erwähnt, durch die symbolische Licht- und Kulissentechnik definiert55. Der zweite Teil des Textes steht in einigem Kontrast zum ersten: Er wird hauptsächlich durch Dialoge zwischen Georg und seinem Vater bestimmt und liest sich dadurch beinahe wie ein Theaterskript. Wie im Drama jedoch profitiert die

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 104 Ebd. S. 104-105 54 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 43 55 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 105-106 52 53

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Spannung,

welche

im

Laufe

des

Stückes

aufgebaut

wird,

trotz

der

aussagekräftigen Dialoge viel vom Zusammenspiel der Figuren durch nonverbale Kommunikation: Die Gestik und Mimik sagt einiges über den Geisteszustand der Charaktere aus und fungiert wie eine Bühnenanweisung:56 [...] sagte Georg und suchte des Vaters Augen.57 »Nein!« rief der Vater [...], warf die Decke zurück [...]und stand aufrecht im Bett.58 Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater.59 Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht.60

Kafka verwendet in seiner Erzählung noch weitere Techniken des Dramas: Beschreibt ein Theaterautor die äußerliche Erscheinungsform einer seiner Figuren, geht er dabei äußerst sparsam vor. Das jeweilige Detail wird erst dann erwähnt, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, da ebendiese Einzelheit relevant ist. Genauso geht auch Kafka vor bei der Beschreibung des alten Vaters61. Auffällig für eine narrative Prosa ist, dass es zwischen den einzelnen Abschnitten keine Zeitsprünge gibt. Die Übergänge sind fließender als im Drama möglich, da der Autor dem Protagonisten physisch gesehen folgen kann: es wird beschrieben, wie Georg von einem Zimmer ins nächste läuft, während im Theater der Vorhang fallen müsste und somit ein abruptes Ende unumgänglich wäre. Beiläufig eingeschobene Kommentare (beispielsweise: »Im Geschäft ist er doch ganz anders«, dachte er [...].62) bauen die Spannung weiter auf; eine Technik, die im jiddischen Theater gängig ist63. Nachdem der alte Bendemann ganz plötzlich seine Anklage hervorbringt, wird klar, dass eine Rückkehr zu normalen Verhältnisse nicht mehr möglich ist. Das Urteil des Vaters leitet den Übergang zum dritten Teil der Novelle ein und führt somit in die Katastrophe64. Obwohl die narrative Form es Kafka erlaubt, die Gefühls- und Gedankenwelt Georgs zu beschreiben, stützt er sich auf die Technik des Dramas und zeigt die Emotionen durch Gestik und Handlung auf. Das Motiv Georgs ist dem Leser noch unklar, man befürchtet jedoch schon Unheilvolles, da er das Zimmer beinahe fluchtartig verlässt, und das Tempo, mit der er die Treppe des Hauses hinuntereilt, lässt Schlimmes erahnen. Am Schluss der Novelle tritt ganz plötzlich wieder eine gespenstische Ruhe ein. Wie im Drama endet die Handlung so ruhig,

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 106-107 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 51 58 Ebd. S. 56 59 Ebd. S. 57 60 Ebd. S. 59 61 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 106-107 62 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Bd. 6.1 S. 51 63 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 107-108 64 Ebd. S. 111-112 56 57

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wie sie begonnen hatte; auf eine stetige Steigerung der Spannung folgt die wiederhergestellte Ordnung. Struktur und Thema bei „Das Urteil" und „Gott, Mensch und Teufel" enden mit dem Selbstmord des Helden folglich analog65.

4. Schluss Wie

in

der

vorangegangenen

Arbeit

aufgezeigt

wurde,

gibt

es

starke

Verknüpfungen zwischen den Stücken des Jiddischen Theaters und Kafkas literarischen Werken. Im Hinblick auf Charaktere, Handlung, Technik und Aufbau lassen sich zahlreiche Analogien und Parallelen feststellen. Betrachtet man all diese Kriterien, fällt auf, dass das Jiddische Theater stark auf Kafka und sein Schaffen eingewirkt hat. Aus diesem Grund kamen wir, nachdem wir uns intensiv mit diesem Thema auseinander gesetzt haben, zu dem Schluss, dass Kafkas literarischer Erfolg stark mit seiner Hinwendung zum Judentum zusammenhängt, zu der das Jiddische Theater einen großen Beitrag geleistet hat. Kafka ist es somit gelungen eine Synthese zweier unterschiedlicher Kulturen zu erreichen, nämlich der deutschen, in der er herangewachsen ist, und der jüdischen, der er unter Anderem in Form des Jiddischen Theaters begegnet ist.66 Zudem lässt sich sagen, dass Kafka neben einer kulturellen auch eine literarische Verschmelzung gelungen ist. Er hat die tradierte Form der deutschen Novelle mit den Elementen des Jiddischen Theaters verknüpft, welche oben genannt wurden.67 Aus diesen Gründen kann „Das Urteil“ als „jüdisch-deutsche“ Symbiose bezeichnet werden, wie Felix Weltsch treffend formuliert hat68, da es Kafkas erstes Werk war bei dem eine Verschmelzung zweier völlig unterschiedlicher Kulturen zum ersten Mal überaus deutlich zum Tragen kommt.

Beck, Kafka and the Yiddish Theater, S. 115-117 Robertson, Kafka, S. 54 67 Ebd. S. 52 68 Ebd. S. 54 65 66

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Literaturverzeichnis

Beck, Evelyn Torton: Kafka and the Yiddish Theater. Its Impact on his Work. Madison: University of Wisconsin 1971 Binder, Hartmut: Kafka-Handbuch. 2 Bde. Stuttgart 1979 Brod, Max: Franz Kafka: Eine Biographie. Berlin 1954 Hutchins, Hapgood: The Spirit of the Ghetto. Cambridge / Massachusetts. 1967 Kafka, Franz : Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Born, Jürgen / Heller, Erich (Hgg.). In: Brod Max (Hg.): Franz Kafka / Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1967 Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten. Kittler, Wolf / Koch, Hans.Gerd / Neumann, Gerhard (Hgg.) In: Born, Jürgen / Neumann, Gerhard / Pasley, Malcolm / Schillemeit, Jost (Hgg.): Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main 1996 Kafka, Franz: Tagebücher. Koch, Hans-Gerd / Müller, Michael / Pasley, Malcolm (Hgg.) In: Born, Jürgen / Neumann, Gerhard / Pasley, Malcolm / Schillemeit, Jost (Hgg.): Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main 1990 Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Stuttgart 1988

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