II. Grundlagen der Politischen Philosophie. 1. Grundbegriffe der Staatslegitimation

II. Grundlagen der Politischen Philosophie Aus: Christoph Horn; Einführung in die politische Philosophie; Darmstadt, 2003; S. 15 - 31 Das Kapitel bi...
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II. Grundlagen der Politischen Philosophie

Aus: Christoph Horn; Einführung in die politische Philosophie; Darmstadt, 2003; S. 15 - 31

Das Kapitel bietet einen Überblick über einige grundlegende Theorietypen aus Geschichte und Gegenwart der Politischen Philosophie. Im ersten Abschnitt wird zunächst das Legitimationsproblem erläutert; dann geht es um grundlegende begriffliche Merkmale von Staaten und darum, das Feld philosophischer Grundpositionen zum Staat abzustecken. Im zweiten Abschnitt werden die fünf wichtigsten Strategien der Staatslegitimation vorgestellt und auf ihre Vorzüge und Nachteile hin überprüft. Es schließt sich im dritten Abschnitt eine Diskussion um zentrale Positionen und Begriffe der politischen Anthropologie an, welche die Grundcharakteristika des Menschen mit Blick auf Fragen der Staatslegitimation thematisiert.

1. Grundbegriffe der Staatslegitimation Ihrem Selbstverständnis nach sind Staaten legitime Herrschaftsverbände, Das Legiitimationswährend z.B. Räuberbanden, die einen Landstrich beherrschen, als illegi- problem time Regenten betrachtet werden. Die Basis- oder Ausgangsfrage der Politischen Philosophie lautet daher: Worauf stützt sich dieser Legitimitftsanspruch? Welche Gründe sprechen dafür, dass Menschen ihr Zusammenleben staatsförmig organisieren? Man kann dieses Problem in zwei Richtungen ausbuchstabieren. Zum einen lässt sich die Frage stellen, ob es pragmatisch sinnvoll ist, Staaten zu errichten: Welche menschlichen Eigenschaften lassen eine Staatserrichtung als wünschenswert erscheinen? Welche Vorteile bringt sie den Betroffenen? Welche alternativen Organisationsformen wären denkbar, und was spricht gegen diese? Könnte man nicht auf Staaten grundsätzlich zugunsten einer allgemeinen Anarchie verzichten? Zum anderen kann man die Frage aufwerfen, ob es moralisch legitim, angemessen, ja vielleicht sogar geboten ist, Staaten zu etablieren. Ist es überhaupt zu rechtfertigen, dass Menschen über Menschen herrschen? Ist es hinnehmbar, dass Personen dem Zwangsregime von Institutionen, abstrakten Regelwerken und seelenlosen Bürokratien ausgesetzt sind? Was sollte an der Idee einer friedfertigen Herrschaftsfreiheit moralisch anstößig sein? Zunächst wirkt es keineswegs unplausibel, Staatlichkeit als einen fragwürdigen Macht- und Unterwerfungsmechanismus hinzustellen, als ein System menschlicher Konditionierung, Funktionalisierung und Instrumentalisierung. Nennen wir den ersten Fragekomplex das pragmatische Grundproblem der Politischen Philosophie und den zweiten ihr moralisches Grundproblem. Scheinbar nahe liegend wäre es, auf diese Probleme mit Material aus der Ur- und Frühgeschichte sowie der Ethnologie zu reagieren. So könnte man darauf verweisen, dass Staatlichkeit zu den Merkmalen gehört, mit deren Hilfe man historische Hochkulturen von archaisch-primitiven Zivilisationsformen unterscheiden kann [2-1], Auch die Ethnologie scheint empirisch zu belegen, dass allenfalls Kleingruppen ohne Institutionen sowie ohne einen Anführer, also akephal (führungslos), organisiert sein können [2-2]. Größere Menschengruppen oder gar hochdifferenzierte Gesellschaften, mit denen wir es heute zu tun haben, lassen dagegen eine Staatsetablierung als unumgänglich erscheinen. Doch selbstverständlich ist

die ganze Argumentationsrichtung zweifelhaft; eine historisch-empirische Argumentation gibt keinen geeigneten Aufschluss zur Lösung philosophischer Probleme. Pragmatische In einer ersten Annäherung lassen sich zugunsten einer übergeordneten und moralische staatlichen Regelungskompetenz sowohl pragmatische als auch moralische Legitimations- Argumente ins Feld führen. Was die pragmatische Seite anbelangt, so exisaspekte t j e r t e j n offenkundiger Regelungsbedarf in jenen Bereichen unserer geteilten Lebenswelt, in denen individuelles Handeln keine oder keine ausreichenden Wirkungen erzielt. Besonders ist hier an die Gewährleistung kollektiver Güter zu denken: sozialstaatlicher Leistungen, darunter des Gesundheitswesens oder Bildungssystems, bestimmter Kultur- und Freizeitmöglichkeiten, der Verkehrsinfrastruktur und ebenso an die Bewältigung kollektiver Herausforderungen wie der Probleme von Kriminalität, wirtschaftlicher Stagnation, Ressourcenknappheit oder Umweltverschmutzung. Erst recht auf verlorenem Posten stünden Individuen, die sich nicht staatsförmig zusammenschließen würden, gegenüber allen Formen von straff organisierten Wirtschaftsunternehmen, bewaffneten Verbänden, intoleranten Religionsgemeinschaften oder einflussreichen Interessengruppen. So betrachtet ist es die Aufgabe des Staates, die Interaktion individueller und kollektiver Akteure zu koordinieren, erwünschte Lenkungswirkungen zu erzielen und die betreffende Gemeinschaft nach außen zu verteidigen. Der Staat, zumal der der Neuzeit, ermöglicht mit seiner Regelungsleistung eine funktionale Differenzierung und Spezialisierung, die eine Berücksichtigung äußerst unterschiedlicher menschlicher Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen gestattet.

Naturrecht und Rechtspositivismus

Regel- und Rechtsdurchsetzung lässt sich jedoch nicht nur als eine funktionale, sondern auch als eine moralische Leistung begreifen. Nur Staaten vermögen sowohl Interessenkonflikte unparteilich-neutral zu lösen als auch Kriminalität oder Terrorismus rechtsförmig und nach reflektierten Prinzipien zu verfolgen und zu bestrafen. Vom moralischen Standpunkt aus noch wichtiger scheint der Aspekt einer Garantie der Grund- und Menschenrechte zu sein. Erst Staaten sind dazu in der Lage, menschlichen Individuen ein Recht auf Leben, Unversehrtheit, Freiheit oder Eigentum zu gewährleisten. Träte der Staat nicht als deren Garant in Erscheinung, so würde das Recht des Stärkeren, Listigeren, Einflussreicheren, Dreisteren usw. gelten. Jedoch, ergibt es tatsächlich einen guten Sinn, Staaten und ihre tragenden Institutionen sowohl pragmatisch als auch moralisch zu beurteilen? Das pragmatische Urteil über eine Staatsordnung scheint problemlos zu sein, da Effizienzkriterien grundsätzlich einer Objektivierung zugänglich sind. Existiert jedoch so etwas wie ein übergeordneter moralischer Standard, nach dem man an Staaten moralische Maßstäbe anlegen kann? Bereits seit zweieinhalb Jahrtausenden berufen sich Theoretiker auf morausche Standards zur Beurteilung von staatlicher Herrschaft, indem sie darauf verweisen, es gebe neben dem staatlich in Kraft gesetzten, positiven Recht zusätzlich ein überpositives, zeitlos und überall gültiges Naturrecht. Diese Naturrechtstradition ist in der Politischen Philosophie von erheblicher Bedeutung. Da der Naturbegriff in der Philosophie die beiden Grundbedeutungen des Vorfindlichen, des nicht von Menschen Hergestellten einerseits und des Wesentlichen oder Essentiellen andererseits auf-

weist, ist es nicht erstaunlich, dass solche Naturrechtspbsitionen entweder auf bestimmte natürliche Tatsachen oder auf Wesenseigenschaften verweisen, um daraus die besagten moralischen Standards zu gewinnen. Interessanterweise verwendeten die ältesten uns bekannten Vertreter solcher Naturrechtskonzeptionen diese Gedankenfigur überwiegend zur Staatskritik, weniger zur Herrschaftslegitimation. Sie verwiesen darauf, dass Staaten auf menschlicher Setzung beruhten und den Naturtatsachen gar nicht oder ungenügend entsprächen. Es handelt sich um die griechischen Sophisten, besonders Kallikles, Thrasymachos oder Antiphon (5. Jahrhundert v.Chr.), deren Staatskritik teils auf die Zurückweisung von Staatlichkeit überhaupt, teilsauf die Verwerfung bestehender Staaten und teils nur auf ihre Verbesserung zielt. Es wäre so gesehen zu einfach, die sophistische Naturrechtskonzeption auf ein Plädoyer für ein „Recht des Stärkeren" zu reduzieren. Richtig ist aber, dass man den Naturrechtsbegriff erst mit Aristoteles (384-322 v.Chr.) und den älteren Stoikern (3. Jahrhundert v.Chr.) mit der Vorstellung identifizieren kann, dass Staaten und ihre Gesetzgebung unter ein fundamentales Gerechtigkeitsgebot gestellt sind; man spricht hier von einem Rechtsmoralismus. Die rechtsmoralische Lesart des Naturrechts ist geradezu synonym mit dem Naturrechtsbegriff geworden. Zentrale historische Vertreter der Naturrechtstradition in diesem Wortsinn sind Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Francisco Suärez, Hugo Grotius sowie Christian Wolff (dazu etwa [2-3] und [2-4]). Von allen genannten Autoren werden Staaten aus dem Blickwinkel einer universalistischen Moral beurteilt. Den naturrechtlichen Positionen stehen zahlreiche Formen des Rechtspositivismus gegenüber. Diese vertreten in unterschiedlichen Varianten die These, dass der Rechtsbegriff und die Rechtsgeltung unabhängig von moralischen und anderen Wertungen formuliert werden soll. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Trennungsthese, da Recht und Moral dem Rechtspositivismus zufolge voneinander separiert werden. Eine Extremposition geht auf Thomas Hobbes (1588-1679) zurück; danach ist es allein die Autorität des Herrschers, die legitimes Recht begründet. In der Gegenwart ist der Rechtspositivismus nicht mehr von solchen autoritätsbezogenen, sondern von funktionalistischen oder systemtheoretischen Ansätzen geprägt. Idealtypisch betrachtet zerfallen Theorien der Staatslegitimation somit in zwei Lager: Man kann sich entweder für eine rechtsmoralische, naturrechtliehe oder aber für eine pragmatische, funktionalistische Staatsbegründung entscheiden. An diese Differenzierung lässt sich eine weitere wichtige Unterscheidung anschließen: Zur Rechtfertigung von Staaten kann man einen legitimatorischen oder normativen Individualismus oder einen entsprechenden Kollektivismus vertreten. Während ein normativer Individualismus methodisch beim Individuum ansetzt und dann auf irgendwelche Eigenschaften, Interessen oder Ansprüche verweist, die für Individuen ausschließlich (oder zumindest am besten) durch die Errichtung eines Staates gewährleistet werden können, betont ein normativer Kollektivismus die relative oder absolute Unselbständigkeit des Individuums und rechtfertigt die Staatserrichtung mit Blick auf das Kollektivwohl. Normative Individualisten behaupten, der Staat diene dem Individuum, normative Kollektivisten verweisen zur Staatsbegründung auf das Wohl des Ganzen. Varianten des

Legitimatorischer Individualismus vs - Kollektivismus

normativen Kollektivismus sind daher alle diejenigen Ansätze, die mit ihrer Staatslegitimation auf irgendein umfassendes Ziel abheben, welches nur durch die Bildung eines Staates erreicht werden kann. So lässt sich etwa behaupten, dass es zur Ausbreitung einer bestimmten Kultur oder Religion, zur moralischen Zivilisierung oder zum Fortschritt der Menschheit der Staatserrichtung bedürfe. Das zu erreichende Kollektivwohl wird mithin so aufgefasst, als gebe es so etwas wie ein Großindividuum oder Supersubjekt, das die menschlichen Individuen transzendiert und das als der wahre Adressat aller politischen Bemühungen zu gelten hat, z.B. das Volk, Gott, die Geschichte oder die Arbeiterklasse. Nach dieser Denkform sind Menschen weniger wichtig als die vom Staat verfolgten großen Aufgaben und Ideen. Eine extreme Form des normativen Kollektivismus bildet der so genannte Organizismus. Darunter versteht man eine politische Theorie oder Ideologie, nach der sich Individuen bestimmten kollektiven Zielen absolut unterzuordnen haben; diese Unterordnung wird häufig in das Bild vom Staat als einem Organismus gefasst, dessen Teile oder Glieder die Individuen sind.

spricht, sie zusätzlich dem Lager des normativen Individualismus zuzuweisen, ist die Tatsache, dass keiner der beiden bereit wäre, das individuelle Glück für kollektive Interessen zu opfern (für Piaton wird dies allerdings kontrovers diskutiert; vgl. [2-6] und zu Aristoteles [2-7]). Unsere Zuordnung ergibt also dann einen klaren Sinn, wenn man als Unterscheidungsmerkmal zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus die Frage versteht, ob es eine Position verbietet oder erlaubt, das Glück, die Interessen oder gar das Leben von Individuen für das Wohl des Ganzen preiszugeben. Normative Individualisten erklären die individuellen Interessen zum Legitimationstest für Staaten, Kollektivisten das Erreichen übergeordneter Ziele oder das Gemeinwohl im vorher beschriebenen Sinn des Nutzens für ein vermeintliches Supersubjekt

Man kann mit Blick auf die Theoriegeschichte wie auf zeitgenössische Positionen mindestens drei Formen des normativen Individualismus voneinander unterscheiden (vgl. die siebenfache Unterscheidung in [2-5]): 1. Ein perfektionistisch orientierter normativer Individualismus stützt sich auf die These, der Mensch besitze Eigenschaften oder Fähigkeiten, zu deren voller Entfaltung oder Perfektionierung es eines Staats bedürfe; der Staat bildet in dieser Konzeption eine notwendige Bedingung des gelingenden menschlichen Lebens. Wichtige ältere Vertreter dieses Modells sind Piaton und Aristoteles, in der Gegenwart kann man ihm Autoren wie John Finnis und Martha Nussbaum zurechnen. 2. Ein vorteilsorientierter normativer Individualismus verweist darauf, dass die Staatserrichtung ein Gebot der Klugheit oder der strategischen Rationalität ist; seine historischen Hauptvertreter sind Hobbes und Spinoza, in der aktuellen Politischen Philosophie beispielsweise Robert Nozick, David Gauthier und Otfried Hoffe. Und schließlich macht 3. ein natur- und vernunftrechtlich oder aber moralisch orientierter normativer Individualismus geltend, dass es ein göttliches Gebot oder eine Vernunftforderung gibt oder aber dass bestimmte moralische Überzeugungen oder Eigenschaften des Menschen existieren, welche die Etablierung eines Staates religiös verpflichtend, vernunftnotwendig, moralisch wünschenswert oder moralisch geboten erscheinen lassen. Historisch vertreten wurde diese Auffassung von Locke und Kant, in der Gegenwart wird sie (trotz ihrer Ablehnung der Natur- oder Vernunftrechtstradition) von John Rawls und Jürgen Habermas repräsentiert.

Legt man dieses Kriterium zugrunde, dann scheint es ratsam, die Utilitaristen eher der Gruppe der normativen Kollektivisten zuzuordnen. Unter Utilitarismus versteht man eines der grundlegenden Modelle von Moralphilosophie (dem es im Lauf seiner 200-jährigen Geschichte allerdings nie nur um individualethische Fragen, sondern immer auch um die politischsoziale Realität ging). Utilitaristen versuchen unsere moralisch-politische Intuition des Richtigen oder Guten mit dem Instrument von Folgenabschätzungen zu rekonstruieren. Für sie ist eine Handlungsoption Xdann moralisch besser als eine Option V, wenn wir erwarten können, dass X bezogen auf eine Gruppe von handlungsbetroffenen Personen mehr Nutzen oder Glück erzeugt als Moder Schaden und Leiden verhindert). Die Zuordnung der Utilitaristen zum normativen Kollektivismus lässt sich mit dem von ihnen vertretenen Substitutionsprinzip begründen: Danach kann man Nachteile bei der einen Person durch Vorteile bei der anderen kompensieren. Zwar ist es der individuelle Nutzen, das Glück jedes Einzelnen, das der Utilitarismus bei seinen Folgeabschätzungen ins Auge fasst; hierbei zählt niemand mehr oder weniger, sondern alle Individuen fallen gleichermaßen ins Gewicht. Aber Utilitaristen wären in extremen Fällen dazu bereit, die Interessen einer Person weitgehend oder gänzlich preiszugeben, sofern auf diese Weise ein größerer Nutzen bei anderen sichergestellt werden kann. Der Einzelne wird gleichsam nur als Messstation aufgefasst, an deren Zeigerausschlag man Nutzeneinheiten ablesen kann, welche sich dann mit denen anderer Stationen vergleichen lassen. Das Individuum bildet daher lediglich den methodischen Ausgangspunkt; sein Interesse steht nicht per se im Mittelpunkt - was für einen normativen Individualismus grundlegend ist. Andererseits wäre es falsch, Utilitaristen den Vorwurf zu machen, sie missachteten Individualinteressen zugunsten eines imaginären Kollektivs. (Näheres zum Utilitarismus in Abschn. 2.)

Mit einigem Recht lässt sich fragen, ob es richtig ist, Piaton und Aristoteles in die Liste der normativen Individualisten einzutragen. Natürlich hängt diese Zuordnung von bestimmten interpretatorischen Voraussetzungen ab. Was zunächst außer Frage steht, ist der Umstand, dass Piaton und Aristoteles einen anthropologischen Kollektivismus vertreten, also die Ansicht, dass Menschen auf Kooperation hin angelegte, soziale Wesen sind. Zudem ist unstrittig, dass beide Philosophen methodisch bei den Glücksinteressen des Individuums ansetzen, um die Staatserrichtung zu begründen; insofern stehen sie für einen methodologischen Individualismus. Was nun dafür

Eine weitere fundamentale Unterscheidung in Fragen der Staatslegitimation ist die zwischen Liberalismus und Perfektionismus. Der Liberalismus erklärt die Freiheitssicherung zum fundamentalen Staatsziel, der Perfektionismus die Erreichung irgendeines wünschenswerten („vollkommenen") Zustands. Allgemein sind liberale Konzeptionen seit Locke und Kant dadurch gekennzeichnet, dass sie die Freiheit des Individuums ins Zentrum der Politischen Philosophie rücken. Sie legen den Akzent auf individuelle Rechte (besonders Menschenrechte, Bürgerrechte und politische Mitwirkungsrechte), auf das Toleranzgebot sowie auf die Herrschaft des Rechts in

Liberalismus vs. Perfektionismus

einem Staat. Prägnant formuliert interpretieren liberale Theorien den Staat als ein freiheitsfunktionales Instrument im Dienst des Individuums. Das bedeutet: Die staatliche Regelungskompetenz muss sich so weit erstrecken (darf aber auch nur so weit reichen), wie die Probleme gehen, die sich für die Freiheit der Staatsbürger ergeben können. Was den Liberalismus in der politischen Realität so überzeugend aussehen lässt, hat John Rawls in der viel zitierten Formel vom „Faktum eines vernünftigen Pluralismus" (vgl. [2-8] S. 13) zum Ausdruck gebracht. Nach Rawls' Ansicht darf man aus der Tatsache miteinander unvereinbarer Konzeptionen des guten Lebens in der modernen Welt keineswegs auf die Borniertheit oder Bosheit bestimmter abweichender Individuen oder Gruppen schließen; vielmehr lassen sich miteinander gänzlich inkompatible Auffassungen gleichermaßen als vernünftig ausweisen. Folglich soll der Staat in Glücksfragen nicht Partei ergreifen; er hat lediglich die äußeren oder formalen Bedingungen individueller oder gruppenspezifischer Glücksverfolgung sicherzustellen und für einen stabilen Grundkonsens zwischen den gesellschaftlichen Gruppen zu sorgen. Man kann die liberale Auffassung so zuspitzen: Die individuelle Freiheit, den eigenen Auffassungen, Vorlieben und Einsichten oder den Traditionen der eigenen Gruppe zu folgen, wäre auch mit dem möglichen Preis einer verunglückten Lebensführung nicht zu teuer bezahlt. Demgegenüber würde sogar die Aussicht auf ein gelingendes Leben keine Glücksdiktatur rechtfertigen - einmal unterstellt, eine Diktatur könnte überhaupt sinnvoll zum gelingenden Leben von Individuen beitragen.

Alternative Theorieformen

Der direkte historische Gegenspieler des Liberalismus besteht in der Theoriefamilie des Perfektionismus. Diesem Ausdruck begegnet man auch in der Moralphilosophie; er bezeichnet dort Modelle, nach denen Individuen in ihrem Handeln bestimmte in sich wertvolle Ziele verfolgen sollten. In der Politischen Philosophie versteht man unter Perfektionismus die Überzeugung, dass die Aufgabe des Staates in der Realisierung oder zumindest Begünstigung irgendeines Vollkommenheitsideals liegt. Historische Vertreter einer solchen Vorstellung vom Staatszweck sind keine geringeren Philosophen als Piaton, Aristoteles, Thomas von Aquin, Leibniz, Hegel, Marx oder Nietzsche. Näher betrachtet kann es sich um stark divergierende politische Vollkommenheitsideen handeln, die grob typisiert stets einem der folgenden vier Felder entstammen: Gemeint sein kann erstens die Förderung eines perfekten sozialen Zustands (etwa im Fall solcher Ideale wie gesellschaftliche Harmonie, Verzicht auf jegliches Privateigentum oder strikter Egalitarismus); zweitens die Herstellung einer vollkommenen Herrschaftsform (wie es bei den Idealen vom Philosophenkönigtum, der Theokratie oder der Herrschaft einer allwissenden sozialistischen Partei der Fall ist); drittens eine Perfektionierung der menschlichen Gattungsidentität (wie sie in den Idealen der Eugenik, des sozialistischen „neuen Menschen" oder des Übermenschen bei Nietzsche zum Ausdruck kommt) und schließlich viertens die Förderung und Vervollkommnung der Bürger als Individuen - richtiger: bestimmter Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale individueller Staatsbürger. Die vierte Form von Perfektionismus scheint mit dem Liberalismus nicht streng unvereinbar zu sein, da beide Formen eines moralisch gewendeten normativen Individualismus sind. Soweit einige Staatsbegründungen in schematisierter Form. Es gibt je-

doch auch politische Theorien, die keinerlei Begründung dafür liefern, weshalb es Staaten geben soll; andere legen zumindest kein großes Gewicht auf solche Begründungen. So macht die Frage nach der Staatslegitimation etwa innerhalb des Marxismus wenig Sinn, weil man als Marxist einen Geschichtsdeterminismus verteidigt und den Staat nur als unvermeidliches Übel ansieht, welches für ein bestimmtes Durchgangsstadium im Verlauf der Herrschafts- und Sozialgeschichte der Menschheit charakteristisch ist. Für die Politische Philosophie von Karl Marx (1818-1883) ist es kennzeichnend, dass die politisch-soziale Wirklichkeit als ein notwendiges Geschehen beschrieben wird, dessen Stationen einer strengen Verlaufslogik folgen. Bestimmende Faktoren für diesen Verlauf sind die Herrschafts-, Eigentums- und Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft. Marx versucht folglich, die historischen Faktoren herauszuarbeiten, die nach seiner Ansicht z.B. zwangsläufig zur Französischen Revolution führen mussten. Ebenso analysiert er die grundlegenden Entwicklungstendenzen seiner Zeit mit dem Ziel zu zeigen, dass es künftig zu einer Selbstaufhebung des Kapitalismus und zur proletarischen Revolution kommen werde. Menschliche Individuen, ihre Ideen, Einstellungen und Absichten sind hierbei deskriptiv und normativ irrelevant. Zwar ist der kommunistische Endzustand der Geschichte wünschenswert, aber Marx beschreibt ihn nicht so sehr als ein ersehntes Ideal, sondern als eine wissenschaftliche Prognose ([2-9] und [2-10]). Ein illustratives Beispiel für einen Anti-Normativismus liefert auch Friedrich Nietzsche (1844-1900), der mit seinem politischen Denken auf eine dezidierte Form von nicht-moralischem Individualismus abzielt: Nicht der gewöhnliche Mensch stellt einen Zweck an sich dar, wohl aber der geniale Ausnahmemensch. Nach Nietzsches Auffassung ist die hintergründige Realität hinter dem politisch-sozialen Alltagsgeschehen als eine Wille-zurMacht-Dynamik zu charakterisieren, als ein Kampf, bei dem einzelne Kraftquanten miteinander um die Vorherrschaft ringen. Bei diesem Wettstreit setzen sich die starken Individuen durch, es sei denn, es gäbe eine Art von Verschwörung der Schwachen und Neidischen, wie dies in der abendländischen Zivilisation mit ihren Verfallsphänomenen Christentum und Sozialismus der Fall ist. Nietzsche plädiert demgegenüber für ein freies, nicht für ein moralisch reglementiertes Spiel der Kräfte. Sein Bild von Politik und Gesellschaft ist mithin keines, das sämtliche Personen für normativ maßgeblich erklärt, sondern eines, das die Interessen starker Individuen vor dem Hintergrund einer Machtdynamik heraushebt. Der Staat gilt vielmehr als ein künstlerisch geformtes Gebilde, das den Bürgern von einem militärischen oder politischen Genie aufgezwungen worden ist [2-11]. Ein Beispiel dafür, dass eine Staatslegitimation zwar entwickelt wird, aber wenig Aufmerksamkeit erhält, bietet Jean-Jacques Rousseau (1712— 1778). Für ihn bildet der Staat einen Teil jenes historischen Verhängnisses, das den Menschen vom harmonischen Naturzustand wegführte und das den modernen moralischen Dekadenzzustand heraufbeschwor. Erst sekundär rechtfertigt Rousseau den Staat, indem er ihn als unentbehrliches Instrument zur Regulierung des modernen Verfallszustands darstellt. Rousseau möchte unter den ungünstigen Verhältnissen der Gegenwart staatliche

Institutionen schaffen, welche sich zur Umwandlung des dekadenten, eigensüchtigen bourgeois in einen tugendhaften und kooperativen citoyen eignen sollen.

2. Fünf klassische Modelle der Staatsbegründung Grundmodelleder Staatsbegründung

Piaton und Aristoteles

Bislang haben wir lediglich einige philosophische Grundbegriffe und Grundpositionen zum Thema Staatslegitimation vorgestellt. Der vorliegende Abschnitt soll nun die wichtigsten Modelle der Staatsbegründung im Einzelnen vorführen. Die Konzeptionen, von denen auf den nächsten Seiten die Rede sein wird, unterscheiden sich von den zuletzt erläuterten Ansätzen von Marx, Nietzsche und Rousseau dadurch, dass sie dem Problem der Staatsbegründung ein erhebliches Maß an Beachtung schenken. In der Geschichte der Politischen Philosophie sind hauptsächlich fünf verschiedene Versuche einer Staatsbegründung unternommen worden. Entweder [a] behauptete man, der Mensch sei ein Wesen, das auf ein Leben in größeren Gemeinschaften hin angelegt sei; er bedürfe daher der Integration in einen Staat, und zwar im Sinn einer notwendigen (aber nicht hinreichenden) Bedingung der gelingenden Lebensführung. Man kann hiervon einem eudämonistischen Modell sprechen; seine frühen Hauptvertreter sind Piaton und Aristoteles. Oder [b] man vertrat die Ansicht, unsere moralischen Überzeugungen verlangten eine Güterverteilung, die zum größtmöglichen Nutzen der Verteilungsadressaten ausfalle; der Staat sei aber ein unentbehrliches Instrument dieser optimalen Güterdistribution. Natürlich ist hier vom utilitaristischen Modell die Rede. Eine weitere prominente Möglichkeit besteht in der Überzeugung [c], eine staatliche Rechtsordnung liege im aufgeklärten Eigeninteresse jedes rationalen Akteurs. Es war besonders Thomas Hobbes, der Staatlichkeit in seinem vertragstheoretischen {kontraktualistischen) Modell auf der Basis strategischer Rationalität legitimierte. Oder man entwickelte [d] die Auffassung, jedem Menschen kämen bestimmte „natürliche" Rechte zu oder Rechte, die mit seiner Vernunftnatur verknüpft sein sollen; der Staat sei das unentbehrliche Instrument zur Durchsetzung solcher grundlegenden Rechte. Man kann hier von einem natur- oder vernunftrechtlichen Modell sprechen; es gehört ebenfalls der vertragstheoretischen Tradition an. Maßgebliche historische Repräsentanten dieses Ansatzes sind John Locke und Immanuel Kant. Oder schließlich [e] wurde behauptet, Staaten bildeten den konstitutiven Hintergrund für die Herausbildung einer eigenen Identität, da diese notwendig der Verankerung in einer gemeinsamen Tradition, in geteilten Werten und Überzeugungen bedürfe. Nennen wir dieses das kommunitärintersubjektive Modell; man kann G.W.F. Hegel als seinen Hauptvertreter anführen. [a] Das eudämonistische Modell: Piaton und Aristoteles meinen übereinstimmend, dass Staaten für eine gelingende menschliche Lebensführung oder das Glück (eudaimonia) unabdingbar sind. Piaton (427-347 v.Chr.) hat drei größere Schriften zur Politischen Philosophie verfasst: die Politeia {Staat), den Politikos {Staatsmann) und die Nomoi {Gesetze). Da die drei Texte deutlich voneinander abweichende Konzeptionen enthalten, bleibt

unklar, worin letztlich Piatons Überzeugung besteht- falls er überhaupt über eine einheitliche politische Theorie verfügt. Soviel ist jedoch klar: Alle drei Schriften beruhen auf einer glückstheoretischen Basis; grundlegend für Piatons Position ist in jedem Fall die Absicht zu zeigen, wie unentbehrlich eine enge soziale Kooperation für das individuelle Glücksinteresse ist. Piaton versucht sogar den Nachweis, dass ein sozial akzeptables („gerechtes") Kooperationsverhalten den Königsweg zur eudaimonia darstellt. Die Entwicklung einer moralischen Charakterhaltung schadet nicht nur nicht dem Eigeninteresse, sondern bildet wohlverstanden sogar das wichtigste Glückskonstituens. In der Politeia liefert er die anspruchsvolle Skizze eines vollkommen gerechten Staats. Staaten konstituieren sich nach Piaton, weil kein Individuum autark ist, sondern jedes zahlreicher anderer bedarf (II 369b). Nach dem Prinzip, dass jeder das Seine tun bzw. erhalten soll, werden drei hierarchisch gegliederte Stände voneinander unterschieden: Als oberste Gruppe gelten die philosophischen Wächter (Regenten), als mittlere die bloßen Wächter (Sicherheitskräfte) und als untere die Bauern, Handwerker, Kaufleute usw. (Hilfskräfte). Piaton erhebt drei zusätzliche Forderungen, von denen er sich bewusst ist, dass sie erhebliche Provokationen für die Zeitgenossen darstellten: die Gleichstellung der Frauen im Wächterstand, die Abschaffung von Privatbesitz und Familie sowie die Herrschaft der Philosophen. Im 20.Jahrhundert ist gegenüber der Politeia ein massiver Totalitarismusverdacht laut geworden, weil sie u.a. die Forderungen nach Eugenik, Propagandalügen und Euthanasie einschließt. Aber Piatons Modell ist nicht realisierungsbezogen formuliert; er stellt mehrfach ausdrücklich fest, dass eine politische Umsetzung seines Entwurfs als extrem unwahrscheinlich gelten müsse. Während die Politeia das Ideal einer einsichtsgeleiteten Herrschaft entwickelt, bringt der Dialog Politikos den Gedanken einer gesetzesorientierten Staatsform ins Spiel. Im Politikos gelten Gesetze zwar insofern als mangelhaft, als sie gegenüber der Verschiedenheit der Personen und Situationen starr und unveränderlich seien. Andererseits besäßen sie den entscheidenden Vorzug, einen einsichtsgeleiteten Herrscher in der Staatsführung überflüssig zu machen. Ferner entwirft Piaton im Politikos eine stufenförmige Verfassungstheorie, in der sechs Verfassungen nach ihrer Qualität differenziert werden (291 c-303d; vgl. Aristoteles, Politik IM 7). Anhand des Kriteriums Machtausübung werden dabei die drei Staatsformen Einzelherrschaft, Gruppenherrschaft und Volksherrschaft voneinander unterschieden. Außerdem gilt der Grundsatz, dass die Orientierung am Gesetz der Gesetzlosigkeit vorzuziehen ist. Daraus ergeben sich 2 x 3 Staatsformen: Am besten ist die gesetzesorientierte Einzelherrschaft {Monarchie), am schlechtesten die gesetzlose Alleinregierung {Tyrannis). Wertungsprinzip ist, in welchem Umfang ein einsichtsloser Herrscher durch die Staatsform an feste Regeln gebunden ist bzw. willkürlich agieren kann. Die Herrschaft einer tüchtigen Oberschicht {Aristokratie) bildet daher die zweitbeste, die Herrschaft eines kleinen Klüngels {Oligarchie) die zweitschlechteste Staatsform. Die gesetzliche Demokratie erhält den dritten, die gesetzlose Demokratie den vierten Rang. In den Nomoi gibt Piaton schließlich dem Gesetzesprinzip eine breite Ausgestaltung. Er behandelt nunmehr konkrete Fragen der Verfassung, von Staatsämtern, Wahlverfahren, von Handel und Wirtschaft, von Güterverteilung, Strafrecht

oder von Außenbeziehungen, und diskutiert dabei die Frage, wie unter Realitätsbedingungen ein relatives Optimum erreicht werden kann [2-12]. Aristoteles (384-322 v.Chr.) entwickelt seine Politische Philosophie ebenfalls vor dem Hintergrund des eucfa/mon/a-Problems. Unter Rückgriff auf seine Unterscheidung von bloßem Leben (zen) und gutem Leben (eu zen) betont er, der Zweck des Staats (polis) liege im guten Leben seiner Bürger [Politik III 9, 1280b39ff.). Um diese Auffassung zu verstehen, muss man sich klar machen, dass bei Aristoteles zwei Motive eng miteinander verschränkt sind: Zum einen vertritt er die These vom Menschen als einem gemeinschaftsbezogenen Lebewesen (zöon politikon: Politik I 2); Menschen können ihre volle Identität nur gemeinschaftlich realisieren. Zum anderen interpretiert er die polis als dasjenige Gebilde, das der menschlichen Anlage am besten entspricht, indem es sozusagen die „artgerechten" Lebensbedingungen vollständig bereitstellt. Darin unterscheidet sich die polis von der erotischen Partnerschaft, der familiären Hausgemeinschaft (Großfamilie) sowie von der dörflichen Gemeinschaft. Während diese kleineren sozialen Einheiten nur das unmittelbar Lebensnotwendige bereitstellen, sorgt die politische Gemeinschaft für differenziertere materielle Bedürfnisse sowie für die charakterliche Ausformung ihrer Bürger. Moralische und intellektuelle Tugenden lassen sich nach Aristoteles somit nur in politischen Kontexten erwerben. Allerdings hängt der Tugenderwerb ganz davon ab, ob es sich um eine wohlgeordnete, kultivierte, prosperierende Bürgergemeinschaft handelt oder nicht. Ebenso wie Piaton nimmt Aristoteles an, dass die Tugenden, d.h. solche stabilen Einstellungen, die jemanden als vorzüglichen Menschen erscheinen lassen, eine maßgebliche Basis für die eudaimonia darstellen. Somit kann es das Glück einer umfassend gelingenden Lebensführung für Aristoteles nirgendwo sonst als in einem funktionierenden politischen Ganzen geben. Erst dieses stellt alle erforderlichen Güter bereit und verhilft dem Individuum zur Erfüllung seiner Anlagen.

Utilitarismus

Wenn man eine platonisch-aristotelische Position in der Gegenwart verteidigen wollte, käme es entscheidend auf den Nachweis an, dass Menschen über bestimmte essentielle Eigenschaften oder Fähigkeiten verfügen, zu deren Entfaltung es eines Staates bedarf. Attackieren kann man sie dagegen mit der Gegenthese, es gebe keine einheitlichen, für alle Bürgerinnen und Bürger gültigen, homogenen Glücksbedingungen, die von Seiten des Staates gewährleistet werden könnten. Über das Schicksal der Position [a] wird also entschieden, indem man sich der anthropologischen Diskussion über politisch-soziale Grundeigenschaften des Menschen zuwendet (s. unten S. 31 ff.). [b] Das utilitaristische Mode//: Vielfach nimmt man den Utilitarismus nur als moralphilosophisches Modell wahr, ohne seine Bedeutung für die politische Theorie zu beachten. Doch spielen innerhalb des Utilitarismus politische Konzeptionen seit seinen Anfängen eine wichtige Rolle. Bereits bei den drei utilitaristischen Klassikern Jeremy Bentham (1748-1832), John Stuart Mill (1806-1873) und Henry Sidgwick (1838-1900) finden sich beachtliche sozialkritische oder sozialreformerische Tendenzen und andere Anwendungen der Theorie auf die politisch-soziale Realität. Zudem gibt es im 20.Jahrhundert und in der Gegenwart bedeutende politische Utilitaris-

ten (vgl. etwa [2-13], [2-14] und [2-15]). Grundsätzlich ist politischer Utilitarismus egalitaristisch und wohlfahrtstaatlich orientiert. Er betrachtet den Staat als ein machtvolles Korrektiv, das bestehenden sozialen Privilegien und Ungleichheiten entgegentreten kann. Wie oben bereits erwähnt, nehmen Utilitaristen an, unsere moralische Intuition lasse sich dadurch einfangen und präzise rekonstruieren, dass wir uns fragen, ob Nutzeneinheiten angemessen oder unangemessen verteilt sind. Es gibt in der Theoriegeschichte vier Modelle, den Begriff des zu verteilenden Nutzens zu interpretieren: eine hedonistische Deutung (die den Nutzen als Lust und den Schaden als Unlust oder Schmerz versteht), eine Deutung des Nutzens im Sinn von wünschenswerten mentalen Zuständen (womit man nicht auf Lust beschränkt ist), eine Deutung von Nutzen im Sinn der Erfüllung beliebiger Präferenzen und schließlich eine Deutung von Nutzen als Erfüllung wohlinformierter Präferenzen (vgl. [1-16], S. 13-20). Daneben ist nicht zu vergessen, dass George E. Moore (1873-1958) einen idealen Utilitarismus skizziert hat, der nicht Lust oder Präferenzerfüllung, sondern gutes Handeln, Liebe und Kunst ins Zentrum rückt. Ist der Nutzenbegriff erst einmal geklärt, so nehmen Utilitaristen die Folgen individuellen und institutionellen Handelns in Augenschein. Dabei vergleichen sie die Nutzenerwartungen, die sich aus verschiedenen Handlungsoptionen ergeben würden, falls man sie in die Tat umsetzte. Wegen dieses Verfahrens der vergleichenden Folgenabschätzung bezeichnet man den Utilitarismus als eine Form von Konsequentialismus. Der Gesichtspunkt, unter dem die Utilitaristen den Vergleich der Folgen vornehmen, ist die Zunahme an individuellem Nutzen bzw. Schaden. Das Ziel ihrer vergleichenden Folgenabschätzungen liegt in der Maximierung von Nutzen (bzw. der Minimierung von Schaden). Dabei zählt jeder Verteilungsadressat gleich, woraus sich das Prinzip der Substitution oder Kompensation ergibt: Der Nutzengewinn einer Person A ersetzt oder kompensiert den Nutzenverlust einer Person B. Hieraus wiederum ergibt sich nun die egalitaristische und wohlfahrtsstaatliche Pointe des Utilitarismus: Wollte man die enormen Reichtümer einer Person z. B. um 30% vermindern (etwa durch Steuerzahlung oder Teilenteignung) und das gewonnene Geld an arme Familien und Obdachlose verteilen, so entstünde daraus in der Bilanz ein Nutzengewinn. Vielleicht leuchtet dies nicht auf den ersten Blick ein, weil zunächst einfach ein Nullsummenspiel vorzuliegen scheint, bei dem die einen das erhalten, was dem anderen weggenommen wird. Man muss sich jedoch klar machen: Utilitaristen vertreten zwar die Annahme, Individuen besäßen in etwa die gleiche Nutzenfunktion, d.h. jedes Individuum habe von einem gegebenen Gut ungefähr gleich viel Nutzen und von einem zugemuteten Übel ungefähr gleich viel Schaden. Aber sie deuten diese Gleichheit im Sinn eines abnehmenden Grenznutzens, d.h. sie meinen, dass ein Einzelner von einer extrem opulenten Güterausstattung nicht im selben Maß profitiert, wie wenn man dieselbe Gütermenge auf viele Personen verteilen würde. Von einem bestimmten Punkt der Güterausstattung an hätte eine Person von einem weiteren Besitzzuwachs einen kleineren Gewinn, als wenn man die Güter einer schlechter gestellten Person zuweisen würde. Mit seiner egalitaristischen Tendenz entspricht der Utilitarismus zweifei-

26 II. Grundlagen los einer unserer zentralen moralischen Intuitionen; unser Common sense tendiert dazu, eine akteurneutrale Betrachtungsweise gutzuheißen, bei der wir den Folgen einer Handlung das entscheidende Gewicht beimessen, und zwar unabhängig davon, wer der von den Folgen Betroffene ist. Auf der anderen Seite stoßen wir uns an mehreren Aspekten des Utilitarismus. Zunächst würden wir zu bedenken geben, dass Nutzenabschätzung kaum in irgendeinem Fall, geschweige denn in jedem Fall intersubjektiv plausibel möglich ist, ferner, dass sich verschiedene Nutzenformen kaum auf einer einzigen Skala verrechnen lassen; sodann, dass unklar bleibt, ob man die gesellschaftliche Gesamtsumme oder den individuellen Mittelwert des Nutzens erhöhen muss; weiterhin, ob es gleichgültig ist, in welcher Reihenfolge Nutzen und Schaden hintereinander auftreten; und schließlich, ob der Utilitarismus neben einem Summierungsprinzip wirklich eine sinnvolle Verteilungsregel zu bieten hat. Ein zentrales Problem seiner Verteilungstheorie liegt in ihrer Egalitätsannahme: Angenommen, man könnte € 1000,- entweder einem euphorischen, spaßorientierten Jugendlichen oder einem mürrischen, gehbehinderten Greis zukommen lassen; weiter angenommen, der Nutzen des Jungen läge um ein Vielfaches höher als der des Alten: Dann wäre man als Utilitarist gezwungen, das Geld dem Jugendlichen zu geben, auch wenn es nach unseren sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen besser bei dem Greis aufgehoben wäre? Hinzu kommt, dass utilitaristische Folgenabschätzungen im politischen Diskurs nur bedingt taugen: Niemand könnte sich in der Öffentlichkeit ohne weiteres dazu bekennen, Schaden und Nutzen in interpersonellen Vergleichen zu taxieren und Güter von jemandem abzuziehen, um sie an nützlicheren Stellen einzusetzen; ein solches Verfahren wirkt moralisch bedenklich und scheint allenfalls zu technokratischen Planungsvorstellungen zu passen.

Strategischer Kontraktualismus

Zumindest der klassische, hedonistische Utilitarismus dürfte zudem aus deskriptiven Gründen für eine Gütertheorie unbrauchbar sein; er erfasst weder, was Handelnde (Akteure) als Güter ansehen, noch, warum sie dies tun. Zwei weitere Nachteile kommen hinzu. Erstens meinen wir, dass nicht immer diejenige Handlungsoption, die die günstigste Lustbilanz aufweist, zugleich als moralisch vorziehenswert gelten kann. Z.B. darf man keinen Menschen töten, auch wenn zehn vom Tod bedrohte Personen durch seine Spenderorgane gerettet werden könnten; ebenso darf man keine Bevölkerungsgruppe versklaven, auch wenn dies eine deutlich verbesserte gesellschaftliche Nutzenbilanz mit sich brächte. Zweitens scheint der Utilitarismus.unsere geteilte Moralintuition überzustrapazieren: Muss jemand die € 1000,- auf seinem Konto für die örtliche Obdachlosenhilfe spenden, statt sie für eine amüsante Kurzreise auszugeben? Wahrscheinlich dürfte die erste Option mit einer deutlich günstigeren Nutzenerwartung verbunden sein. Dennoch glauben wir, hier gehe der Utilitarismus mit seinen Moralforderungen zu weit (vgl. auch [2-16]). [c] Das vertragstheoretische Modell auf der Basis strategischer Rationalität Das Vertragsmodell geht theoriegeschichtlich auf die Antike zurück. Es findet sich bereits in der griechischen Sophistik, wird später von Epikur (341-271 v.Chr.) verteidigt und spielt am Ende der Antike beispielsweise bei Augustinus (354-430 n.Chr.) eine nennenswerte Rolle (vgl. [2-171, [2-181, [2-19]). Dennoch handelt es sich beim Kontraktualismus von Tho-

mas Hobbes um eine innovative Leistung. Hobbes' Originalität besteht darin, dass er erstmals eine stringente Staatsbegründung auf der Basis strategischer Rationalität formuliert. Vertragstheorien des Hobbes'schen Typs beruhen grundsätzlich auf folgenden Merkmalen: Sie verweisen auf eine soziale Ausgangssituation, den „Naturzustand", in welchem es noch keine Institutionen gibt, die Regeln festlegen und durchsetzen könnten. Dieser Verweis ist entweder historisch gemeint, oder er besitzt die Form eines Gedankenexperiments. In einem solchen Naturzustand soll es gute Gründe geben, zu einer Einigung über die Staatsetablierung zu gelangen. Die Einigung besitzt entweder eine irreversible Gültigkeit, oder sie gilt, solange die Gründe für die Staatserrichtung fortbestehen. Jedenfalls werden Institutionen gebildet, denen gegenüber die fraglichen Personen zu Loyalität und Gehorsam verpflichtet sind. Erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Vertragskonzeptionen ergeben sich aus folgenden Fragen: Wer sind die vertragschließenden Individuen? Mit welchen Eigenschaften, Interessen und Fähigkeiten sind sie ausgestattet? Mit welchen Zusatzannahmen, Abstraktionen oder Idealisierungen ist der Naturzustand versehen? Worin liegen die Motive für ihre Einigung? Worauf genau verständigen sie sich bei ihrer vertraglichen Einigung? In diesem Zusammenhang muss man zwischen hobbesschen und kantisehen Vertragstheorien (vgl. Punkt [d]) unterscheiden. Ihre Differenz ist die zwischen einer starken und einer schwachen Form von Kontraktualismus: Für Hobbes ist der Vertrag ein starkes Verfahren der Normengenerierung, für Kant ein schwaches Verfahren der Normenrealisierung oder Normenumsetzung (Implementation). Das bedeutet: Für Hobbes existieren anders als im vormodernen Naturrecht oder bei Kant keine überpositiven moralischen Regeln und Normen, auf die man verweisen könnte, wenn man einen Staat legitimieren möchte. Gute Gründe für die Einsetzung einer zwangsbefugten, rechtsetzenden Institution ergeben sich jedoch daraus, dass sich der Naturzustand tatsächlich oder zumindest wahrscheinlich zu einer kompletten Anarchie („Kriegszustand") entwickelt. Hobbes versucht dies plausibel zu machen, indem er auf die (ihm als elementar und unkontrovers erscheinenden) Lebensbedingungen im Naturzustand hinweist: relative Güterknappheit, ein allgemeines, unbeschränktes Aneignungsrecht für die relativ knappen Güter, ein wechselseitiges zwischenmenschliches Desinteresse, die strategische Rationalität aller Individuen sowie eine gewisse Bedrohungssymmetrie. Unter den genannten Bedingungen sollen für jedes Individuum unerträglich hohe Kriegskosten oder zumindest Abschreckungskosten entstehen, und zwar genauso lange, wie die rationale Handlungswahl der Individuen die Situation eines Gefangenendilemmas erzeugt. Mit dem spieltheoretischen Begriff des Gefangenendilemmas ist eine Rationalitätsfalle gemeint, die sich zum allgemeinen Nachteil immer dann entwickelt, wenn mehrere rationale Akteure ihrem wohlüberlegten Vorteil folgen, ohne dass eine Absprache oder eine übergeordnete Regelungs - und Zwangsinstanz regulierend eingreift. Dazu stelle man sich zwei Gefängnisinsassen vor, die nicht miteinander kommunizieren können. Sie sollen gemeinsam einen Mord begangen haben; die Justiz verfügt aber als einziges Beweismittel über die Tatwaffe, was allenfalls dazu ausreicht, die beiden wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu verurteilen. Jeder der beiden

Thomas Hobbes

Vorzüge und Nachteile von Hobbes' Modell

erhält das Angebot, von der Kronzeugenregelung Gebrauch zu machen, also zu gestehen, den anderen für den Drahtzieher zu erklären und selbst glimpflich davonzukommen. Rationalerweise wird jeder der beiden von dem Angebot Gebrauch machen, was im Ergebnis beide dauerhaft ins Gefängnis bringt (vgl. besonders [2-20]). Der Ausweg liegt für Hobbes im allseitigen Verzicht auf eine bloß individuelle Interessenverfolgung, d.h. im Eintritt in eine geregelte und überwachte Kooperationsbeziehung. Bei Hobbes wird die Staatslegitimation also vor dem Hintergrund eines unerträglichen Naturzustands geleistet. Der Gebotscharakter der Formel „Man muss den Naturzustand verlassen" {exeundum e statu naturali) ergibt sich für ihn daraus, dass jeder rationale Akteur aus der Staatserrichtung einen massiven Vorteil zieht. Die Beteiligten schließen untereinander (nicht mit dem künftigen Herrscher) einen Kontrakt ab, den man deswegen als „horizontalen Unterwerfungsvertrag" bezeichnet. D.h. die Vertragschließenden verpflichten sich wechselseitig zur Unterwerfung unter einen mächtigen, zwangsbefugten Regenten, der selbst kein Vertragspartner ist. Was Hobbes de facto legitimiert, ist die Herrschaftsform des monarchischen Absolutismus; er charakterisiert den Staat als bedrohliches Ungeheuer (als einen „Leviathan", daher der Werktitel), als einen „Wolf innerhalb der Stadtmauern" sowie als „sterblichen Gott". Dem berechtigten Vorwurf, Hobbes' Staat sei weit von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entfernt, lässt sich aber immerhin entgegenhalten, dass es Hobbes zunächst nur um den Nachweis geht, jeder Staat, also jede Form von zwangsförmig geregelter Kooperation, sei besser als ein Zustand der Anarchie. Wie ist der Hobbes'sche Ansatz zu beurteilen? Gegenüber dem älteren metaphysisch-theologischen Naturrechtsdenken besitzt sein Kontraktua|jSmus zunächst drei Vorzüge, nämlich den Aspekt des Individualismus ( a | s o die Tatsache, dass Hobbes mit seiner Staatsbegründung bei den Individuen ansetzt), den Aspekt des Prozeduralismus (d.h. den Umstand, dass er den Staat aus einer Einigungsprozedur hervorgehen lässt) und den Aspekt des Voluntarismus (die Tatsache, dass auf die willentliche Zustimmung des Einzelnen rekurriert wird). Weitere Vorteile ergeben sich aus folgenden fünf Kennzeichen: 1. Das Anerkennungselement: Hobbes' Kontrakt setzt ein reziprokes Anerkennungsverhältnis voraus; bei jedem Vertragsschluss wird die Gleichberechtigung aller Vertragspartner implizit mitanerkannt. Zumindest unausdrücklich respektiert jeder Kontrahent, dass der andere etwas zu bieten hat, das man selbst nur auf dem Weg einer angemessenen Gegenleistung erhalten kann. 2. Das Publizitätselement: Vertraglich ist nur das regelbar, was das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen braucht, zu dessen Erfolgsbedingungen also nicht Heimlichkeit und Täuschung gehören; auch damit scheint ein wichtiger Bestandteil unserer moralischen Intuition getroffen zu sein. 3. Das Autonomieelement: Ein Vertrag vollzieht sich auf allen Seiten zwanglos; die vertragliche Selbstverpflichtung genügt dem Grundsatz „dem willentlich Zustimmenden geschieht kein Unrecht" (volenti non fit iniuria). Unausdrücklich werden also autonome Akteure vorausgesetzt. 4. Das Element allseitigen Vorteils: Ein Vertragsabschluss bedeutet für alle am Vertrag Beteiligten einen Vorteil: Durch ein Abrüstungs- und Kooperationsabkommen kann jeder seine bisherigen Verteidigungskosten einsparen. 5. Das Element von Äquivalenz und Gleichvertei-

lung: Jedem Vertragsabschluss liegt eine Symmetrie- oder Äquivalenzunterstellung zugrunde; der Vertrag beruht auf einem Gleichwertigkeitskalkül, bei dem jeder der Beteiligten ungefähr gleichermaßen in die Pflicht genommen wird und in etwa gleiche Vorteile dafür erhält. Gravierende Bedenken gegen Hobbes' Modell sind jedoch folgende: 1. Die Vorstellung einer Handlungswahl nach dem Muster strategischer Rationalität wirkt wie eine unzulässige Modellbildung, eine weltferne Idealisierung. Menschen handeln längst nicht immer rational. 2. Der Ausgangszustand, in welchem es zum Vertragsabschluss kommen soll, muss entweder von vornherein in moralisch gehaltvoller Weise beschrieben werden, oder aber er führt nicht zum gewünschten Resultat eines fairen und symmetrischen Vertragsabschlusses. Hobbes scheint nicht in der Lage, die Logik des Übergangs vom Natur- in den Rechtszustand plausibel zu machen. 3. Unklar bleibt sodann, weshalb die Vertragsinhalte beim Sprung von der setzenden Gewalt {pouvoir constituant) zur gesetzten Gewalt (pouvoir constitue) gewährleistet bleiben sollten. 4. Hobbes bietet mit dem Gedanken der Furcht vor dem Sanktionsdruck keine zureichende Quelle für die politische Verpflichtung und die Loyalität der Staatsbürger. 5. Das Prinzip volenti non fit iniuria unterstellt, alle Akteure hätten gute Gründe, der Staatserrichtung zuzustimmen. Doch die Idee der Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag ist doppeldeutig. Man kann einerseits an die empirisch-subjektive Zustimmungsbereitschaft denken, wie man sie durch Meinungsumfragen erheben kann. Doch dann könnte jemand die für ihn bestmögliche Lösung ablehnen und seine Zustimmung einer schlechteren Lösung erteilen. Andererseits kann man die rationale, informierte, im wohlverstandenen Eigeninteresse liegende Zustimmung meinen. Aber dann ist die Zustimmung lediglich hypothetisch; im Extremfall fällt ein Verweis auf sie illiberal und paternalistisch aus. [d] Das vertragstheoretische Modell auf der Basis moralischer Rationalität Hierbei ist nochmals zwischen zwei historischen Varianten zu unterscheiden. Während John Locke (1632-1704) auf die Vorstellung eines göttlich autorisierten Naturrechts zurückgreift, um die Staatserrichtung zu legitimieren, beruft sich Kant auf die kategorische Geltung des moralischen Gesetzes. In seinem Second Treatise of Government (1689) versteht Locke den Naturzustand als eine historisch verortbare Situation. Nach seiner Überzeugung lebten (und leben) die Menschen der zivilisatorischen Frühphase in einem Naturzustand, in welchem sie natürliche, unveräußerliche Rechte göttlichen Ursprungs besitzen, aber noch keine Herrschafts- und Rechtsordnung errichtet ist. Nach Gottes Willen kommt diesen Individuen ein Recht auf Leben, Freiheit und ihr legitimes Eigentum zu (welches sich Locke als Resultat jener Arbeit vorstellt, die wir mit dem uns unmittelbar gehörenden Körper verrichten; s. unten S. 126). Hinzu kommt im Naturzustand ein Recht jedes Individuums auf Selbstverteidigung sowie ein Recht, alle zu bestrafen, die es schädigen oder verletzen. Die daraus entstehende Konfliktlage zwischen den Individuen lässt die Gewährleistung der natürlichen Rechte als prekär erscheinen. Um ihre Geltung, besonders die des Eigentumsrechts, dennoch sicherzustellen, einigen sich die Individuen auf die Einsetzung einer Regierung. Ein wichtiger Unterschied zu Hobbes besteht darin, dass Lockes Kontrahenten mit dem Vertragsschluss keineswegs

Moralischer Kontraktualismus

Immanuel Kant

ihre natürlichen Rechte abtreten. Die natürlichen Rechte bleiben in Kraft; an ihrer Gewährleistung ist der Staatszustand permanent zu messen. Die Staatslegitimation von Immanuel Kant (1 724-1804) findet sich besonders in seiner späten Rechtslehre (1797). Dort wird wie folgt argumentiert: Menschen sind einerseits Naturwesen, andererseits Vernunftwesen. Sie unterliegen zum einen bestimmten natürlichen Bedingungen wie der Güterknappheit und der Koexistenzforderung, die zu einem latenten oder offenen Kriegszustand führen, solange es keine übergeordnete Zwangsgewalt gibt. Zum anderen besitzen sie ein einziges angeborenes Recht, nämlich einen ursprünglichen Anspruch auf Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit von der Willkür anderer (Ak. VI 237). Nun entsteht ein Konflikt zwischen dem Anspruch des Grundrechts auf allgemeine Durchsetzung (d.h. für jeden und durch jeden mit Blick auf alle anderen) und der faktischen oder drohenden Gewalt im Naturzustand. Hinzu kommt, dass Individuen im Naturzustand das Recht auf den vorläufigen Erwerb herrenloser Güter zukommt. Um die Rechtsunsicherheit des Naturzustands zu beenden und das provisorische Eigentum zum endgültigen zu machen, verlangt Kant einen Vertragsschluss, mit dem der Naturzustand verlassen wird. Die Staatsetablierung erscheint somit als Gebot unseres grundlegenden Freiheitsrechts und unserer gefährdeten Besitzansprüche, die prinzipiell rechtens sind.

Gegen das vertragstheoretische Modell |d] lässt sich dreierlei einwenden: (a) Das Problem der begrenzten Reichweite des Vertrags: Wenn die Etablierung eines Staates tatsächlich als Gebot der Moral zu verstehen wäre, dürfte sich derVertragsabschluss dann tatsächlich auf die Konstitution eines Partikularstaates beschränken? Oder müsste aufgrund des universalistischen Charakters der Moral nicht gefolgert werden, legitimiert werde auf diese Weise nur ein einziger umfassender Globalstaat? (b) Das Problem der Restriktivität des Vertrags: Warum wird bei der Grundrechtsetablierung und besonders der Eigentumssicherung haltgemacht? Warum werden etwa bei Locke und Kant nicht alle moralisch relevanten Güter vertraglich gesichert? (c) Das Problem der Redundanz des Vertrags: Die Herausbildung einer Rechts- und Staatsordnung ist ein moralisches Gebot, nicht erst das Derivat eines Vertragsszenarios mit dezisionistischem Grundcharakter. Bei Locke und Kant scheint das Vertragselement redundant zu sein oder lediglich einen implementationspragmatischen Charakter aufzuweisen. C.W. F. Hegel [e] Das kommunitär-intersubjektive Modell: Eine weitere charakteristische Form von Staatslegitimation lässt sich an der sozialen und kulturellen Identität eines Volkes festmachen, wie etwa G.W. F. Hegel (1770-1831) dies konzipiert hat. Um Hegels Staatsbegründung zu verstehen, muss man sich klar machen, dass der Staat für ihn die institutionelle Erfüllung dessen bedeutet, was er als „Sittlichkeit" bezeichnet. Diesen Ausdruck setzt er in seiner Politischen Philosophie markant vom Begriff der Moralität ab. Hegel behauptet, Moralität (im Sinne von Kants kategorischem Imperativ) stelle ein abstraktes, formales, inhaltsleeres und bei gewöhnlichen Akteuren unmotiviertes Gebilde dar, während Sittlichkeit den Inbegriff der gewachsenen, sozial und historisch verwurzelten normativen Standards eines Gemeinwesens bilden soll. Hegel meint mithin, dass Staaten den angemessenen Ausdruck einer gewachsenen soziokulturellen Identität darstellen. Es wäre allerdings ein Missverständnis zu meinen, es gehe ihm einfach um

ein Lob der bestehenden Verhältnisse, um die kritiklose Hinnahme einer faktischen Ordnung. Auch verwechselt Hegel keineswegs den Aspekt der Genesis von normativen Einstellungen bei Individuen mit dem Aspekt ihrer Geltung. Worum es ihm vielmehr geht, ist die These, dass der moralischen Identität der Person bestimmte intersubjektive Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung zugrunde liegen; gelingendenfalls durchlaufen Individuen die drei für die Sittlichkeit konstitutiven Sphären der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates so, dass sie dabei zu einer vollen sittlichen Identität gelangen. Hegels These ist, vergleichbar derjenigen des Aristoteles, eine der Kontextualisierung: Hegel meint, dass sich die Formierungen individueller moralischer Identitäten wechselseitig bedingen; Familie, Gesellschaft und Staat stellen den unverzichtbaren Hintergrund der Konstitution einer Identität dar. Ein Problem dieser Position liegt in dem undeutlichen Bezug zu kontrafaktischer Normativität: Bis zu welchem Punkt sind bestehende Verhältnisse als Ausdruck traditioneller Sittlichkeit hinzunehmen, und ab wann werden sie kritikbedürftig? (Zur Diskussion dieses Standpunkts s. unten S. 99.)

3. Politische Anthropologie Alle erwähnten Formen der Staatslegitimation, aber auch die verschiedenen Spielarten der Staatskritik, beruhen auf anthropologischen Hintergrundannahmen. Man muss sich verdeutlichen: Keine Politische Philosophie kann auf Theorien darüber verzichten, welche menschlichen Grundeigenschaften eine Staatserrichtung als sinnvoll, als geboten, als problematisch oder als inakzeptabel erscheinen lassen und an welchen allgemeinen Merkmalen des Menschen sich eine Staatserrichtung gegebenenfalls zu orientieren hätte. In gewisser Weise bildet die Anthropologie sogar den Dreh- und Angelpunkt der Politischen Philosophie. Denn zweifellos gelangt man zu einem sehr anderen Staatsverständnis, je nachdem, ob man dem Menschen individualistische oder kollektivistische Tendenzen zuspricht, Moralfähigkeit oder Amoralität, Rationalität oder Affektivität, Kooperationsbereitschaft oder konsequenten Eigennutz usw. Entsprechend der Bedeutung solcher Überlegungen hat die klassische Politische Philosophie eine breite Diskussion über essentielle Merkmale des Menschen geführt. Grundlegende Topoi dieser Debatte sind die Thesen vom Menschen als animal sociale, animal rationale oder rationabile, animal rnorale oder animal laborans (arbeitendes Lebewesen), vom homo ludens und homo ridens (spielendes bzw. lachendes Lebewesen), homo religiosus, homo viator, homo faber, homo inventor, homo symbolicus oder homo necans, schließlich vom Menschen als einem Wesen mit Todesbewusstsein, als Mängelwesen, als „degeneriertem Tier", als Wesen mit Schuld, Gewissen und Verantwortung, vom Menschen als offenem, nicht-fixierten Lebewesen oder vom Menschen als Wesen mit „exzentrischer Positionalität" (vgl. die ausführliche Liste bei [2-21] S. 49-71). Diese Diskussion bestand bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als Autoren wie M. Scheler (1874-1 928), E. Cassirer (1874-1945), H. Plessner (1892-1985) und A. Gehlen (19041976) eine Einheit aus philosophischen, kulturhistorischen, humanwissen-

Bedeutung der politischen Anthropologie