Robin Shapiro

Ego-State-Interventionen – leicht gemacht Strategien für die Teilearbeit

Aus dem amerikanischen Englisch von Theo Kierdorf & Hildegard Höhr

G. P.  PROBST VERLAG  Lichtenau /  Westfalen

Kapitel 1

Definieren und Diagnostizieren von Ego-States

Ego-States sind Bündel neuronaler Verbindungen, die konsistente Muster von Informationen, Affekt, Aufmerksamkeit, Verhalten und manchmal Identität beinhalten, welche sich bestimmten Entwicklungsstufen oder Situationen zuordnen lassen. Menschen verfügen wie andere Säugetiere über neuronale Netzwerke für die verschiedensten Arten von Zuständen. Wir haben Schaltkreise für den Wachzustand, den Schlaf, die Essensaufnahme, die Kontaktaufnahme, das Spielen, den Ausdruck von Aggression und Neugier, und wir können diese Zustände nötigenfalls auch hemmen. Jaak Panksepp (1998) hat nachgewiesen, daß die bei einer spielenden Ratte aktivierten neuronalen Netzwerke, und die bei einem spielenden Menschen aktiven ähnliche vorprogrammierte Bereiche im Gehirn stimulieren. Daniel Hughes und Jonathan Baylin (2012) erklären, daß Säuglinge für verschiedene für sie wichtige Betreuer jeweils separate neuronale Netzwerke für die Verbundenheit, die sie diesen Menschen gegenüber empfinden, und für ihre Erwartungen ihnen gegenüber aufbauen können. Beispielsweise kann sich ein Kind bezogen auf seine Mutter in einem ruhigen, verbundenen Zustand befinden, gegenüber seinem spielerisches Raufen liebenden Vater in einem begeisterten und glücklichen Zustand und seinem aggressiven großen Bruder gegenüber in einem aufgebrachten und gleichzeitig bekümmerten Zustand. Untersuchungen haben ergeben, daß das Kind in diese Zustände im Moment der Begegnung mit der betreffenden Person eintritt, also noch bevor es zu einer neuen Interaktion gekommen ist. Die Neuronen in unserem großen Gehirn bereiten uns unablässig auf die Zukunft vor. Wir verfügen über Neuronencluster, die habituell handeln,

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•  Ego-State-Interventionen – leicht gemacht fühlen und denken, und zwar meist unbewußt und automatisch. Sobald wir etwas Neues erleben, uns neuen Aktivitäten widmen, einen uns neuen Ort aufsuchen oder ein starkes Gefühl verspüren, beginnt unser Gehirn, Verbindungen zu den mit dem betreffenden neuartigen Erlebnis verbundenen Gedanken, Emotionen und Handlungen herzustellen. Versetzt uns das Leben oder bewußtes Üben immer wieder in die gleiche Situation, entwickeln wir Tausende von dickeren und stärkeren neuronalen Verbindungen. Für die meisten Dinge, die wir tun, und für vieles von dem, was wir denken und fühlen, verfügen wir über bewußte und unbewußte Programme. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Sie über jede Aktivität, die Sie beim Autofahren, Kaffeemachen, Duschen oder beim Gespräch mit einem Freund ausführen, nachdenken müßten. Zwar bemühen sich einige unter uns, in der Meditation dem sogenannten »Anfängergeist« näherzukommen, doch sollten wir uns einmal vorstellen, was es bedeuten würde, wenn wir ihn tatsächlich hätten! Wir müßten dann jede noch so geringfügige Handlung sorgfältig durchdenken. Babys und Menschen, die etwas wirklich zum allerersten Mal tun, sind die einzigen, die Dinge tun, fühlen und herausfinden, ohne bereits bestehende innere Muster und Schablonen zu benutzen. Und selbst in ihrem Inneren sind feststehende Programm aktiv. Therapeuten müssen sich so gut wie nie mit den Handlungssystemen für alltägliche Reaktionen, Aktivitäten und Tausende von Gewohnheiten, Präferenzen und reflexhafte Ansichten ihrer Klienten befassen. Die meisten Klienten sind in der Lage, ohne therapeutische Hilfe zu gehen, zu reden und zu lesen und auch die meisten anderen Aktivitäten im Leben zu bewältigen. Werden die regulären Zustände jedoch durch belastende Situationen, Krankheiten, inadäquate Reaktionen primärer Bezugspersonen, Panikattacken, schwerwiegende traumatische Erlebnisse oder chronische Behinderungen der normalen Entwicklung beeinträchtigt, können die entsprechenden neuronalen Verbindungen zu dysfunktionalen Ego-States bzw. Ichzuständen erstarren, die plötzlich in Funktion treten und die Alltagsfunktionsfähigkeit massiv stören. In schwerwiegenderen Fällen können traumatisierte oder affektiv gestörte Klienten bestimmte Sets neuronaler Reaktionen deaktivieren und sie durch neue Sets ersetzen. Die normale Regulation ihrer Zustände kann beeinträchtigt sein. Wenn Babys in übertrieben starkem Maße positiv sti-

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muliert werden, wenden sie sich manchmal einen Augenblick lang ab und »schalten sich ab«, was einer Art »Reset« ihres Nervensystems gleichkommt. Im Falle eines stark belastenden Erlebnisses kann sich ihr zuvor neutraler Zustand innerhalb von Minuten zunächst in starke Aufgewühlt­ heit/Mobilisierung und dann in völlige Erschlaffung/Immobilität verwandeln (Tronick, Adamson, Als & Brazelton 1975). Bei den meisten Menschen, die ein überwältigendes Trauma erleben, entsteht eine neuronale Spur dieses traumatischen Erlebnisses, wobei die Betroffenen manchmal in einen »mobilisierten« Kampf-oder-Flucht-Zustand verfallen und in anderen Fällen in einen »immobilisierten« Zustand des Erschlaffens oder Aufgebens (Porges 2011/2010). Ist das Trauma intensiv genug oder wiederholt sich, kann der Ichzustand sich in einen dissoziativen Zustand verwandeln, der von der Gegenwart abgetrennt und mit Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen verbunden ist, die mit früher erlebten Situationen und entsprechenden Identitäten zusammenhängen.

Warum Ego-State-Arbeit? Ego-State-Interventionen verbinden adäquat ausgewählte (nicht reflexhafte) Fähigkeiten mit den aktuellen Anforderungen an die Alltagsfunktionsfähigkeit. Die Ego-State-Arbeit kann

• das Gewahrsein des Wechsels (Switching) zwischen normalen oder pathologischen Zuständen stärken und diese Wechsel der Kontrolle des Bewußtseins unterwerfen; • einen reifen Erwachsenenzustand »nach vorn« holen, damit er sich mit Menschen, Situationen und Emotionen auseinandersetzt; • Traumata heilen, indem sie eine echte »duale Aufmerksamkeit« kreiert, die einerseits auf einem traumatischen Ereignis verhaftete Anteile fokussiert und andererseits auf den Erwachsenen im Hier und Jetzt in einer relativ sicheren Welt, und schließlich den traumatisierten Anteil auf integrationsfördernde Weise in die sichere Gegenwart zieht; • ältere Ressourcen in aktuellen Situationen nutzbar machen (Können Sie zu dem spielerischen Kind in Ihrem Inneren in Kontakt treten? Wie ­würde

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•  Ego-State-Interventionen – leicht gemacht dieses Kind mit der Situation umgehen? Oder: Denken Sie an eine Zeit, in der Sie Ihr Leben im Griff hatten. Wie fühlten Sie sich damals? Könnten Sie diesen Anteil von sich in die Gegenwart bringen?); • bei stärker dissoziierten Klienten die erwachsenen »Anscheinend Normalen Persönlichkeiten (ANPs)« dazu bringen, den übrigen Anteilen gegenüber die bewußte Führung zu übernehmen (van der Hart et al. 2006/ 2008); • eine »Parentektomie« durchführen – negative elterliche Introjekte eliminieren; • anhaltende Empfindungen und Gedanken, die mit einem Mißbrauch/einer Mißhandlung zusammenhängen, entfernen; und verinnerlichte kulturspezifische Einschränkungen der eigenen Sicht (Vorurteile hinsichtlich der Ethnie, der äußeren Erscheinung, der Klassenzugehörigkeit, der Geschlechterrollen usw.) auflösen.

Ressourcenreiche Ego-States verstehen Die Ego-State-Arbeit konzentriert sich in der Regel auf zwei Arten von Zuständen: auf mit positiven Ressourcen verbundene Zustände und auf dysfunktionale, reaktive und nicht mit der gegenwärtigen Realität verbundene Zustände. Ressourcenreiche Zustände können kompetente Erwachsenenzustände sein oder, falls es sich um dissozierte Zustände handelt, ANPs (»Anscheinend Normale Persönlichkeiten«) (van der Hart et al. 2006/2008), die sich um die Erledigung der Alltagsaktivitäten kümmern, die wissen, wo sie sind und in welcher Zeit sie sich befinden, und die Gedanken und Emotionen haben, die auf das Geschehen in ihrer Umgebung adäquat eingehen. Fühlt sich ein Klient mit einer Situation überfordert, kann der Therapeut ihn auffordern, an einen Augenblick des Triumphs zu denken, sich die damit verbundenen Gedanken und Emotionen zu vergegenwärtigen und diese samt den eigenen Fähigkeiten in die neue Situation mitzunehmen (Leeds 2009). Ein Therapeut kann sich an den inneren Wissenschaftler eines Klienten wenden, um die Familiendynamik des Betreffenden aus einer distanzierten und durch Neugier gekennzeichneten Sichtweise zu untersuchen.

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Stellen Sie sich vor, Sie sind Anthropologe und untersuchen anläßlich eines Familientreffens das Verhalten der anwesenden Familienmitglieder. Was würden Sie in dieser Situation sehen? Sie können auch den »ältesten/weisesten« Ichanteil aufrufen, der mit einer Situation besser umgehen kann als ein präsenter reflexhaft agierender Kindanteil: Können Sie Ihren ältesten und weisesten Erwachsenenanteil herbeirufen und bitten, an diesem Interview teilzunehmen? Ich nehme an, daß dieser Anteil das besser kann als Ihr verängstigter Kindanteil, der von vornherein annimmt, er sei ohnehin nicht erwünscht. Manchmal stammen die Ressourcen zwar von außerhalb des Klienten, aber nicht von außerhalb seines Erlebens. Therapeuten, die imaginierte Beschützer, nährende oder spirituelle Gestalten herbeirufen (Parnell 2013; Schmidt 2009), nutzen äußere Ressourcen. Ressourcenreiche Zustände können sein:

• Erwachsenenanteile: gegenwartsbasierte elterliche, berufliche, sexuelle,

intellektuelle Anteile; • nährende Anteile: können sich dafür entscheiden, sich um sich selbst und andere zu kümmern, wobei sie sich in den besten Fällen daran orientieren, wie sie selbst von anderen genährt wurden, oder aber ihre Vorstellungen darüber zugrunde legen, wie es wäre, genährt zu werden; • Beschützeranteile: abgrenzend, selbstsicher, erfahren im Umgang mit Konflikten; in der Lage zu erkennen, wann es besser ist wegzulaufen und wann man kämpfen sollte (und wie); • spirituelles Zentrum/das Selbst/der Kern: enthält oft die zentrale Identität, Verbundenheit mit der Spiritualität/dem Planeten/Gott – der Anteil, der immer war und immer sein wird; und • Anteile mit besonderen Fertigkeiten, die für die Bewältigung des Alltags erforderlich sind: technische Fertigkeiten, spezifisches Wissen.

Dysfunktionale Ichzustände verstehen Dysfunktionale Zustände sind gebündelte Gedanken, Emotionen und Reaktionen, die der aktuellen Situation nicht gerecht werden. Denken Sie ein-

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•  Ego-State-Interventionen – leicht gemacht mal an Streitigkeiten, die Sie mit Ihren wichtigsten Bezugspersonen gehabt haben. Ist es Ihnen in solchen Situationen gelungen, in Ihrem rationalsten und erwachsensten Selbstanteil zu bleiben? Wahrscheinlich nicht! Wenn Sie nicht im »Erwachsenen«-Modus waren, befanden Sie sich wahrscheinlich in einem weniger funktionalen Ichzustand, der durch Interaktionen in Ihrer Ursprungsfamilie, mit Ihrem Ehepartner oder mit früheren Partnern entstanden war. Wäre es nicht wunderbar gewesen, wenn Ihr ruhiges, mitfühlendes reifes Erwachsenen-Ich in jedem Konflikt, den Sie im Leben hatten, für Ihre Emotionen, Worte und Handlungen ausschlaggebend gewesen wäre? Belastende Ereignisse, insbesondere als körperlich (»Ich werde sterben!«) oder sozial (»Du wirst mich verlassen!«) gefährlich angesehene, können starke neuronale Cluster erzeugen, die in einer gegenwärtigen Situation möglicherweise aktiviert werden.

Arten dysfunktionaler Ichzustände

• Anteile oder Zustände, die sich mit adaptiven Verhaltensweisen, Emotionen und Auffassungen über die gegenwärtige Situation nicht vereinbaren lassen; sie können dissoziativ, affektiv oder nur habituell sein.



Mobilisierte, schützende Zustände (Porges 2011/2010): hyperalert entsetzt und bereit zu fliehen wütend und kampfbereit sind anders als beschützende »Ressourcen«-Zustände für die aktuelle Situation inadäquat.



Zustände der Immobilisierung (Porges 2011/2010): hoffnungslos/hilflos untätig/depressiv schamerfüllt

° ° ° ° ° ° °

• dem dysfunktionalen Verhalten von primären Bezugspersonen oder Tätern nachempfundene Introjekte

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Alle diese dysfunktionalen Zustände manifestieren sich als Verhaltensweisen und Gefühle, die dem Überleben in der Vergangenheit dienlicher waren, als sie es in der Gegenwart sind.

Nichtdissoziative dysfunktionale Ichzustände Wenn in den 1980ern Hubschrauber im normalen Stadtverkehr in der Luft auftauchten, verfielen die Vietnamveteranen unter meinen Klienten in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit; zudem wurden sie sehr direktiv (oder aggressiv) und stellten jede emotionale Verarbeitung ein. Ich lernte damals zu sagen: Soldat, stillgestanden, und berichten Sie mir, was gerade passiert ist, um die Betroffenen dazu zu bringen, ihre zwar funktionalen, aber in der aktuellen Situation unpassenden Zustände, die durch Trigger aktiviert worden waren, wieder zu verlassen. Durch diese Arbeit lernten sie allmählich zu erkennen, wann in ihrem Alltagsleben der »Soldat« auftauchte und wann sie sich wieder auf die Gegenwart hinorientieren mußten. Die Muster, die der »Soldat« aktivierte, waren zwar in Notsituationen nützlich, sie eigneten sich aber nicht gut im Bereich der Kindererziehung, bei dem Bemühen, zu Hause oder im beruflichen Umfeld Konflikte zu lösen, oder um mit den eigenen Emotionen oder denjenigen anderer Menschen zurechtzukommen. Die Veteranen lernten, sich wieder auf die Gegenwart hin zu orientieren und bewußt jeweils »den richtigen Mann für den Job« zu finden. Oft beschäftigen sich Therapeuten mit Kindzuständen, die in Situationen auftauchen, in denen eigentlich ein Erwachsener erforderlich wäre. Beispielsweise greifen Klienten mit Sozialangst, wenn sie sich einer neuen Situation nähern, oft auf ihre »verängstigtes Kind«-Zustände zurück. Ich frage dann: Wie alt ist dieses Kind, das so große Angst davor hat, an dieser Besprechung teilzunehmen? Dreizehn. Weiß Ihr Erwachsener etwas, das dieses Kind nicht weiß? Ich weiß, daß die Leute mich mögen, daß ich weiß, was ich tue und wie ich mich präsentieren muß.

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•  Ego-State-Interventionen – leicht gemacht Welcher Anteil von Ihnen ist besser in der Lage, an dieser Besprechung teilzunehmen? Der Erwachsene! Welchen Anteil von sich werden Sie dann zu der Besprechung schicken? Ich weiß welchen. Ich werde meinen Erwachsenen hinschicken und mir klar machen, daß ich eins bin. Wie gehen Sie mit dem Kind-Anteil um? Ich mache ihm klar, daß ich die Sache im Griff habe und daß er sich beruhigen kann.

Introjekte verstehen Wenn wir Glück haben, bewahren wir das nährende und sonstige beispielhafte Verhalten unserer primären Bezugspersonen und Rollenmodelle in uns – die positiven Introjekte. Sicher gebundene und gut genährte Kinder beruhigen sich aufgrund der Umarmungen und der tröstenden Worte ihrer Eltern: »Es ist okay. Bald wird es dir wieder gut gehen.« Solche Kinder verinnerlichen positive Ichzustände, die den positiven Rat, die Warnungen und den positiven Affekt ihrer Eltern spiegeln. Und wenn sie älter werden, nehmen sie Konzepte, Verhaltensweisen, Affekt und sogar die Eigentümlichkeiten anderer Kinder, ihrer Lehrer und aller anderen in ihrem Umfeld auftauchenden Menschen in sich auf. Wir verinnerlichen aber auch die negativen Dinge, die wir in unserer Umgebung erleben. Sensible Kinder nehmen die Angst, Wut oder Depression ihrer Eltern in sich auf. Wenn Kinder geschlagen wurden, können sie sich die Flüche und Drohungen ihrer Eltern ihnen gegenüber zu eigen machen. Sexuell mißbrauchte Kinder lernen: »Dazu bin ich da. Ich existiere nicht um meiner selbst willen. Ich bin minderwertige Ware.« Und manchmal lernen sie auch: »Das tust du anderen Kindern an.« Bei allen diesen Kindern können Zustände entstehen, die den Mißbrauch/die Mißhandlungen oder sonstiges schädigendes Verhalten ihrer Eltern ihnen gegenüber nachahmen. Bei längerfristigem Erleben von Mißbrauch, Mißhandlungen oder Vernachlässigung kann bei Kindern eine innere Stimme entstehen,

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die sie wegen jedes Verhaltens, das für eine primäre Bezugsperson negative Konsequenzen haben könnte, kritisiert. Manchmal sind solche Stimmen sogar bösartiger als die realen Eltern.

Dissoziative Ichzustände verstehen Die obigen Beispiel-Ichzustände mögen dysfunktional sein, sie sind aber nicht unbedingt dissoziativ. Worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Bezeichnungen? Viele Ichzustände resultieren aus Funktionsbeschreibungen: Der Anteil von mir, der weiß, wie man eine Therapie durchführt; der Anteil von mir, der weiß, wie man mit Katzen umgehen muß; mein Ernährer; mein aggressiver Konkurrent; usw. Eine Dissoziation entsteht durch die reflexhaften Bemühungen eines Menschen, durch den Wechsel in einen separaten neuronalen »Gang«, der nicht mit dem Kernselbst verbunden ist, mit Bindungsbrüchen oder Traumata fertig zu werden. Dissoziative »Anteile« sind stärker abgegrenzt als andere Ichzustände, weil es zum Zeitpunkt ihrer Entstehung um das Überleben ging. Edward Tronick hat im Internet ein Video über das sogenannte Stillface-Experiment veröffentlicht (Tronick 2007), in dem ein zunächst glückliches, gesundes Baby mit einer guten Mutter innerhalb von Minuten aus einer Haltung der Kontaktbereitschaft in eine der Bekümmertheit, Wut und Verschlossenheit wechselt, nachdem die Mutter nicht mehr mit ihrem Kind interagiert. Kinder, die länger anhaltende, nicht behobene Bindungsbrüche erlebt haben, dissoziieren reflexhaft, wenn niemand auf sie reagiert (Putnam 1997). Ein Kind mit einer nicht reagierenden, drogenabhängigen, depressiven, ängstlichen oder überlasteten Betreuungsperson kann in Zusammenhang mit einer Bindungsstörung fest verwurzelte dissoziative Muster entwickeln, die sich in Form einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer schizoiden Persönlichkeitsstörung äußern können. Kinder mit beängstigenden, unberechenbaren (was ebenfalls eine beängstigende Wirkung hat) oder zu Mißbrauch/Mißhandlungen neigenden Eltern können einen dissoziativen Anteil entwickeln, der ihnen hilft, mit den verschiedenen Zuständen ihrer Bezugspersonen fertig zu werden. Kathy Steele, eine brillante Therapeutin, Trainerin und Autorin, hat mir gesagt:

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•  Ego-State-Interventionen – leicht gemacht Im Gegensatz zu vielen dissoziativen Anteilen haben Ichzustände durchlässige Grenzen. Weil es bei Ichzuständen keine Amnesie gibt, agiert keiner von ihnen in der äußeren Welt, ohne eines anderen Ichzustandes gewahr zu sein. Ichzustände dringen nicht »schrill« in das Erleben der Person ein, so wie dissoziative Anteile es tun. Ichzustände bringen einen Menschen nicht so wie dissoziative Anteile dazu, Schneidersche Symptome ersten Ranges der Schizophrenie zu erleben: Hören kommentierender oder debattierender Stimmen; das Gefühl, der eigene Körper unterliege der Kontrolle eines anderen Menschen; künstliches Produzieren von Gedanken, Gefühlen und Impulsen, usw. Sie haben kein separates Selbstempfinden wie dissoziierte Anteile. Ichzustände erleben sie als die Person, der sie zugehören, allerdings eventuell in einem anderen Zustand oder Alter oder zu einem anderen Zeitpunkt des Lebens dieser Person. Dissoziative Reaktionen können »spacing out« (Abdriften) einschließen, eine reflexhafte Opioidreaktion auf eine belastende Emotion oder Situation, insbesondere bei Vorliegen eines frühen Traumas oder eines Bindungsbruchs (Schore 1994). Dabei kann es sich um affektive Zustände wie Wut, tiefe Scham oder Furcht handeln, die mit einem anderen Zeitpunkt im Leben des Betroffenen verbunden sind. Dissoziative Zustände sind komplexer:

• Sie verfügen oft über eine eigene Identität und ein eigenes Selbstempfinden. • Sie haben eine charakteristische Selbstrepräsentation, die nicht unbedingt der Selbstrepräsentationen der Gesamtpersönlichkeit entspricht. • Sie haben eigene autobiographische Erinnerungen, die sich von denjenigen anderer dissoziativer Anteile unterscheiden können. • Sie haben das Gefühl, über eigene Gedanken, Gefühle, Handlungen usw. zu verfügen – eine gute Faustregel lautet: »Alle dissoziativen Anteile sind Ichzustände, aber nicht alle Ichzustände sind dissoziative Anteile« (K. Steele, persönliche Mitteilung, 19.09.2009; über Shapiro 2010).

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