Unbeholfene haben Anspruch auf Anwalt

URTEILE Strafprozessrecht Unbeholfene haben Anspruch auf Anwalt Es besteht ein Anspruch auf Verbeiständung, wenn ohne anwaltlichen Beistand prozessr...
Author: Adam Bergmann
1 downloads 0 Views 202KB Size
URTEILE

Strafprozessrecht

Unbeholfene haben Anspruch auf Anwalt Es besteht ein Anspruch auf Verbeiständung, wenn ohne anwaltlichen Beistand prozessrechtliche Rügen nicht sachgerecht erhoben und begründet werden können. Sachverhalt:

Wegen Widerhandlungen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen erhob die Staatsanwaltschaft gegen die brasilianische Staatsangehörige X. Anklage und beantragte eine bedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten. Den Antrag von X. auf amtliche Verteidigung lehnte das Bezirksgericht ab, den dagegen erhobenen Rekurs wies auch das Obergericht ab. Im November 2009 wurde X. in einem Abwesenheitsverfahren zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 10 Franken bedingt und einer Busse von 200 Franken verurteilt. Dagegen erhoben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch X. Berufung. Nachdem das Obergericht das Gesuch von X. um amtliche Verteidigung erneut abgewiesen hatte, gelangte X. ans Bundesgericht. Sie verlangte die Aufhebung der Verfügung des Obergerichts und beantragte einen amtlichen Verteidiger. Auch für das Verfahren vor Bundesgericht seien ihr die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu bewilligen.

nicht gewachsen, da sie aus einfachen Verhältnissen stamme und ihre schulische Bildung bescheiden sei. In juristischen Angelegenheiten sei sie überfordert. Es gehe um die Verjährung, die Tatbestandsmässigkeit ihres Verhaltens, die notwendige Verteidigung und die Verwertbarkeit von Beweismitteln. Die Behauptung der Vorinstanzen, der Fall biete keine grossen Schwierigkeiten, sei widersprüchlich, da die Begründung des erstinstanzlichen Entscheids 56 Seiten umfasse. 2.3 Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Nach der Rechtsprechung ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes grundsätzlich geboten, wenn das Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreift (BGE 129 I 281 E. 3.1 S. 285 mit Hinweisen). Notwendig zur Rechtswahrung ist die Verbeiständung namentlich dann, wenn sich die aufgeworfenen Rechtsfragen nicht leicht beantworten lassen und die betreffende Person nicht rechtskundig ist (BGE 119 Ia 264 E. 3b S. 266). Als besondere Schwierigkeiten fallen nicht nur Umstände wie Kompliziertheit der Rechtsfragen, Unübersichtlichkeit des Sachver-

Bemerkenswerte Urteile Aus den Erwägungen:

2.1 Die beschwerdeführende Partei macht geltend, ihr drohe zwar keine schwere freiheitsentziehende Sanktion. Aufgrund der beantragten Strafe gehe es aber auch nicht um eine Bagatelle. Sie sei den besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten des Falls

plädoyer 6/10

Ein wegweisendes Urteil erwirkt? plädoyer veröffentlicht auch relevante Urteile unterer Instanzen. Zusendungen an: Redaktion plädoyer Postfach 431, 8024 Zürich [email protected]

halts und dergleichen in Betracht, sondern insbesondere auch die Fähigkeiten der betroffenen Person, sich im Verfahren zurechtzufinden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232f.; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51f. mit Hinweisen). Bei offensichtlichen Bagatellfällen, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die schweizerische Rechtsprechung jeglichen verfassungsmässigen Anspruch auf die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 233). 2.4 Ein besonders starker Eingriff in ihre Rechtsposition droht der Beschwerdeführerin nicht. Es handelt sich aber auch nicht um einen Bagatellfall. Es ist deshalb zu prüfen, ob besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten vorliegen, denen die Beschwerdeführerin nicht gewachsen ist. Die heute 48-jährige Beschwerdeführerin stammt aus Brasilien. Ihr Vater arbeitete als Bauarbeiter und ihre Mutter als Reinigungsangestellte. Die Beschwerdeführerin besuchte die Schule bis zur fünften Klasse, später einen Kurs für Krankenschwestern und lernte Schneiderin. Sie arbeitete indessen nicht in diesen Berufen, sondern in Restaurants und als Hausmädchen. In der Schweiz arbeitete sie als Putzfrau und Babysitterin. Aufgrund ihrer bescheidenen schulischen Bildung und sozialen Herkunft muss davon ausgegangen werden, dass sie mit Fragen des schweizerischen Rechts grundsätzlich überfordert ist. Zwar ist der ihr vorgeworfene Sachverhalt überschaubar, doch ist dessen rechtliche Würdigung – wie die einlässlichen Erwägungen des Bezirksgerichts dazu zeigen – geradezu komplex. Es geht namentlich um Fragen des intertemporalen Rechts. Ohne anwaltlichen Beistand ist die Beschwerdeführerin nicht in der Lage, derartige pro-

zessrechtliche Rügen sachgerecht zu erheben und sie zu begründen. Soll sie nicht lediglich als Objekt, sondern als Subjekt am Rechtsmittelverfahren teilnehmen, ist sie auf anwaltliche Verbeiständung angewiesen. Im Lichte der dargelegten Rechtsprechung, die wesentlich auf die Fähigkeiten der betroffenen Person abstellt, sich im Verfahren zurechtzufinden, ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf amtliche Verteidigung zu bejahen (vgl. BGE 120 Ia 43, wo das Bundesgericht [E. 3c S. 47] die amtliche Verteidigung bei einer ähnlich hilflosen Person als notwendig erachtete). 2.5 Die von der Beschwerdeführerin erhobene Berufung erscheint im Übrigen nicht zum Vornherein aussichtslos (vgl. BGE 128 I 225 E. 2.5.3 S. 235f.). Mit Blick auf die bescheidene schulische Bildung und soziale Herkunft der Beschwerdeführerin ist es namentlich vertretbar, wenn sie die Frage der genügenden Verteidigung im Untersuchungs- und erstinstanzlichen Verfahren aufwirft und damit die Verwertbarkeit der Beweismittel in Frage stellt. Nach den Feststellungen des Bezirksgerichts erzielte die Beschwerdeführerin ein Einkommen von maximal 800 Franken pro Monat, weshalb ihre Bedürftigkeit zu bejahen ist. 3. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Gerichtskosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin eine angemessene Entschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht zu entrichten (Art. 68 BGG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist deshalb gegenstandslos. Urteil 1B_184/2010 der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundes gerichts vom 9. September 2010

61

URTEILE

Arbeitsgesetz

Nachtarbeit und wirtschaftliche Zweckmässigkeit Wirtschaftliche Zweckmässigkeit allein ist kein Grund für Nachtarbeit. Für eine Bewilligung sind objektive Erfordernisse des fraglichen Arbeitsverfahrens nötig. Die «manchmal unzureichende Qualität der Daten» sowie die Belastung des eigenen Personals reichen nicht zur Begründung. Sachverhalt:

Die Manor AG plante, die gesetzlich geforderten Inventurarbeiten künftig rollend im Frühling jeweils nach Ladenschluss bis drei Uhr in der Nacht durchzuführen. Dazu ersuchte das Unternehmen beim Seco um Bewilligung für Nachtarbeit wegen «wirtschaftlich unentbehrlicher Betriebsweise» für 50 eigene und 180 Mitarbeiter von externen Dienstleistern. Nach einer Probephase erteilte das Seco (Vorinstanz) die entsprechende Bewilligung unter Auflagen und Bedingungen. Die Gewerkschaft Unia (Beschwerdeführerin) erhob dagegen Beschwerde und beantragte die Aufhebung der Verfügung. Ein Vergleich kam nicht zustande. Aus den Erwägungen:

4.6 Die angefochtene Verfügung ist nach dem Gesagten insoweit, als sie 180 Mitarbeitende externer Dienstleister betrifft, formell fehlerhaft und wegen dieses Mangels aufzuheben. Weil die Bewilligung für maximal 50 Arbeitnehmer der Beschwerdegegnerin durch die Vorinstanz mit der Bewilligung für 180 Mitarbeitende externer Dienstleister verknüpft wurde und ohne Bewilligung für die Mitarbeitenden der externen Dienstleis-

62

ter der Beschwerdegegnerin keine Bewilligung erteilt worden wäre, führt dies zur Aufhebung der gesamten Verfügung. 5. Die Beschwerde ist im Übrigen auch materiell begründet. 5.2 Gemäss Art. 17 Abs. 2 ArG wird dauernde oder regelmässig wiederkehrende Nachtarbeit bewilligt, sofern sie aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen unentbehrlich ist. Bei den Begriffen der technischen und wirtschaftlichen Gründe handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die auf Verordnungsstufe und letztlich durch die Praxis konkretisiert werden (Jean-Fritz Stöckli / Daniel Soltermann, in: Thomas Geiser / Adrian von Kaenel / Rémy Wyler [Hrsg.], Stämpflis Handkommentar zum Arbeitsgesetz, Bern 2005, Art. 17, Rz. 4). Nach Art. 28 Abs. 1 ArGV 1 liegt technische Unentbehrlichkeit insbesondere dann vor, wenn ein Arbeitsverfahren oder Arbeiten nicht unterbrochen oder aufgeschoben werden können, weil mit der Unterbrechung oder dem Aufschub erhebliche und unzumutbare Nachteile für die Produktion und das Arbeitsergebnis oder die Betriebseinrichtung verbunden sind (Bst. a); andernfalls die Gesundheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder die Umgebung des Betriebs gefährdet werden (Bst. b). Wirtschaftliche Unentbehrlichkeit liegt gemäss Art. 28 Abs. 2 ArGV 1 vor, wenn die Unterbrechung eines Arbeitsverfahrens und dessen Wiederingangsetzung hohe Zusatzkosten verursachen, die ohne die Leistung von Nachtoder Sonntagsarbeit eine merkliche Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes gegenüber seinen Konkurrenten zur Folge hat oder haben könnte (Bst. a); das angewandte Arbeitsverfahren mit unvermeidlich ho-

Gerichte des Bundes aktuell Keine Haftentschädigung für türkischen Flüchtling Die Schweiz muss einen türkischen Flüchtling für seine in Deutschland erlittene Haft nicht entschädigen. Der Mann war 2007 von der Schweiz nach Deutschland zum Einkaufen gefahren und dort aufgrund eines Haftbefehls von Interpol Ankara verhaftet worden. Die Schweizer Behörden hatten ihn zuvor nicht über die ihnen bekannte Tatsache informiert, dass er von seinem Heimatland nach wie vor international zur Verhaftung ausgeschrieben ist. 2009 anerkannte das Bundesverwaltungsgericht anerkannte einen Anspruch aus Staatshaftung auf Schadenersatz und Genugtuung, da der Betroffene nicht nach Deutschland gereist wäre, wenn ihn die Schweizer Behörden über die bestehende Ausschreibung informiert hätten. Das Bundesgericht hat nun dem Eidgenössischen Finanzdepartement Recht gegeben und einen Entschädigungsanspruch mangels Kausalzusammenhang verneint. Laut der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung ist davon auszugehen, dass sich der Mann der Gefahr bewusst war. Aus eigenen Erfahrungen habe er darüber im Bilde sein müssen, dass ihn die Türkei auch im Ausland weiterverfolge. Zudem hätten Schweizer Medien prominent über vergleichbare Fälle berichtet, was ihm nicht habe entgehen können. 2C_834/2009 vom 19.10.2010 Schlechte Beratung bei der Arbeitsvermittlung Die schlechte Beratung durch einen Mitarbeiter in einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (Rav) darf nicht zum Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung führen. Das Bundesgericht hat einem Zürcher Recht gegeben, der sich 2007 beim Rav abgemeldet hatte, da er den Sprung in die Selbständigkeit wagen wollte – in der Meinung, dass er die ihm für zwei Jahre zustehenden Arbeitslosentaggelder später beziehen

könne, falls er scheitern sollte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, seine Pläne zu realisieren, wurde ihm 2009 der Bezug von Arbeitslosenentschädigung verwehrt, da die Rahmenfrist abgelaufen sei und er keine neue Beitragszeit erfüllt habe. Laut Bundesgericht hätte der Betroffene vom zuständigen Rav-Mitarbeiter darüber aufgeklärt werden müssen, dass er das Arbeitslosengeld nicht einfach später beziehen könne. Mit diesem Wissen hätte der Mann seine Selbständigkeitspläne bereits früher aufgegeben und sich wieder zur Arbeitsvermittlung angemeldet. Die Rahmenfrist muss nun entsprechend verlängert werden. 8C_383/2010 vom 28.9.2010

Veröffentlichung des Patententzugs im Amtsblatt Die St. Galler Anwaltskammer hat einem Rechtsanwalt zu Recht das Patent entzogen und ihn aus dem kantonalen Register gelöscht (Art. 9 BGFA). Dieser hat im Rahmen der Gründung einer Aktiengesellschaft die Beteiligungsverhältnisse von ausländischen Personen falsch beurkundet und wurde wegen Urkundenfälschung verurteilt. Anwälte, die – wie in St. Gallen – auch beurkunden dürfen, enttäuschen laut Bundesgericht mit einer Urkundenfälschung das in sie gesetzte Vertrauen. Der Patententzug darf im kantonalen Amtsblatt veröffentlicht werden. Dieser Schritt ist im öffentlichen Interesse und verhältnismässig. 2C_183/2010 vom 21.7.2010 Kritik des Bundesgerichts an EGMR-Entscheid Die Richter der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts haben anlässlich einer öffentlichen Beratung in ungewohnt heftiger Weise Kritik an einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geübt. Die Strassburger Richter hatten im vergangenen Jahr festgestellt, die Schweiz habe das Recht ei-

plädoyer 6/10

URTEILE

ner transsexuellen Person auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) verletzt. Der Betroffenen war die Übernahme der Kosten für die Geschlechtsumwandlung durch die Krankenkasse verwehrt worden, weil sie vor der Operation die zweijährige Beobachtungsphase nicht vollständig durchlaufen hatte. Nach bundesgerichtlicher Praxis ist das eine Voraussetzung für die Kassenpflicht. Das Bundesgericht zeigte sich bei der Neubeurteilung des Falls ratlos, wie es mit dem EGMR-Entscheid umgehen soll. Es sei nur schwer erkennbar und bedürfe der Interpretation, worin der EGMR nun genau die Konventionsverletzung erblickt habe, lauteten noch die moderateren Äusserungen. Öffentliche Beratung vom 15.9.2010

im Verfahren 9F_9/2010; schrift liche Urteilsbegründung ausstehend

Massnahmen gegen Hooligans abgesegnet Das Bundesgericht hat die im Hooligan-Konkordat (Konkordat über Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen) vorgesehenen Massnahmen abgesegnet. Laut dem Sitzungsentscheid der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung ist insbesondere der vorsorgliche Polizeigewahrsam von unbelehrbaren Gewalttätern mit der EMRK vereinbar. Nach Ansicht des Gerichts ist davon auszugehen, dass der vorsorgliche Polizeigewahrsam nur angeordnet werden darf, wenn ein Rayonverbot oder eine Meldepflicht zuvor erfolglos geblieben ist. In diesem Fall sei der Polizeigewahrsam im Sinne der EMRK «zur Durchsetzung der Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht» erforderlich. Zu beachten sei weiter, dass der Polizeigewahrsam angekündigt werde und so im Einzelfall einer gerichtlichen Prüfung offenstehe. Mit Rayonverboten, so räumt das Gericht ein, sei das Problem von Gewalt an Sportanlässen nicht endgültig zu lösen. Als Gegenmassnahmen seien sie aber trotzdem geeignet. Ob ein Ray-

plädoyer 6/10

onverbot gerechtfertigt sei, müsse und könne im Einzelfall geprüft werden. Unproblematisch ist schliesslich, dass die Behörden den Organisatoren Stadionverbote gegen Personen empfehlen dürfen, die bereits mit Gewalt in Erscheinung traten. Öffentliche Beratung vom 13.10.2010 im Verfahren 1C_428/2009; schriftliche Urteilsbegründung ausstehend

Widerspruch zwischen den Kammern bei Tempoexzess Ein Autolenker muss den Fahrausweis wegen eines «versehentlichen» Tempoexzesses für drei Monate abgeben. Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgericht ist zum Schluss gekommen, dass der Freiburger eine schwere Verkehrsregelverletzung begangen hat, als er das im Februar 2008 wegen der Feinstaubbelastung verhängte Tempolimit 80 auf Berner Autobahnen «übersehen» hatte und mit 136 km/h unterwegs war. Die strafrechtliche Abteilung hatte ihm 2008 (bei der Beurteilung der verhängten Busse) in einem nur marginal begründeten Entscheid zugebilligt, nur ein einfaches Verkehrsdelikt begangen zu haben: Er habe zwar das Tempolimit pflichtwidrig unaufmerksam übersehen, es könne ihm aber weder Rücksichtslosigkeit noch bedenkenloses Verhalten vorgeworfen werden. In seinem aktuellen Entscheid hält das Gericht nun fest, dass das Übersehen des Tempolimits als grobfahrlässig bewertet werden muss. Das Erkennen der signalisierten Höchstgeschwindigkeit habe von ihm erwartet werden können und müssen. 1C_224/2010 vom 6.10.2010 Kinderlärm gehört durchaus zu einer Wohnzone Eine Kindertagesstätte ist in der Wohnzone zulässig. Das Bundesgericht weist mit seinem Entscheid die Beschwerde von zwei Nachbarn des Kantonsspitals in Aarau ab. Sie hatten wegen dem

befürchteten Kinderlärm die Baubewilligung zur Umnutzung von früheren Personalhäusern als Tagesstätten angefochten. Das Bundesgericht hält ihnen entgegen, dass Wohnzonen offensichtlich auch für den Aufenthalt von Kindern bestimmt sind, womit Kinderlärm grundsätzlich zu dulden ist. Kleinere Einrichtungen für den Aufenthalt oder die Betreuung von Kindern seien in der Wohnzone damit zulässig. Den Nachbarn sei zuzumuten, von Montag bis Freitag zwischen 6.30 und 12 sowie von 13 bis 19 Uhr den Lärm von maximal zwanzig im Garten spielenden Kindern zu ertragen. Keine Rolle spielt, dass es sich um «quartierfremde» Kinder handelt. 1C_148/2010 vom 6.9.2010

Völkermord an Armeniern geleugnet Die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat das Urteil des Zürcher Obergerichts wegen Rassendiskriminierung gegen den türkischen Nationalisten Ali Mercan (Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 30 Franken) und zwei seiner Mitstreiter bestätigt. Mercan hatte 2007 bei einer Pressekonferenz gesagt, es habe sich bei Massakern an den Armeniern durch das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg ab 1915 nicht um einen Völkermord gehandelt. Der behauptete Genozid sei vielmehr eine internationale und historische Lüge. Das Bundesgericht verweist auf seine Erwägungen im Fall von Dogu Perincek. In der Wissenschaft und der Öffentlichkeit herrsche ein breiter Konsens über die Einstufung als Völkermord. Daran ändere nichts, dass einzelne Staaten den Genozid an den Armeniern nicht anerkennen würden. Zu Recht wurden den Verurteilten zudem rassistische Motive angelastet. Das gelte namentlich im Hinblick auf die gewählte Darstellung der Armenier als Aggressoren gegen das türkische Volk. 6B_297/2010 vom 16.9.2010 PJ

hen Investitionskosten verbunden ist, die ohne Nacht- oder Sonntagsarbeit nicht amortisiert werden können (Bst. b); oder die Konkurrenzfähigkeit gegenüber Ländern mit vergleichbarem sozialem Standard wegen längerer Arbeitszeiten oder anderer Arbeitsbedingungen im Ausland erheblich beeinträchtigt ist und durch die Bewilligung die Beschäftigung mit grosser Wahrscheinlichkeit gesichert wird (Bst. c). Der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit gleichgestellt sind die besonderen Konsumbedürfnisse, deren Befriedigung im öffentlichen Interesse liegt und nicht ohne Nacht- oder Sonntagsarbeit möglich ist (Art. 28 Abs. 3 ArGV 1). 5.3 Gemäss Art. 28 Abs. 4 ArGV 1 braucht die technische oder die wirtschaftliche Unentbehrlichkeit nicht besonders nachgewiesen zu werden, sofern ein Bewilligungsgesuch für Nachtarbeit Arbeiten betrifft, welche im Anhang zur ArGV 1 aufgeführt werden; Inventuren im Detailhandel sind darin nicht erwähnt. Für die Durchführung von Inventuren besteht nach Art. 12 Abs. 1 Bst. b ArG die Möglichkeit einer ausnahmsweisen Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit (Art. 9 ArG). 5.4 Die Beweislast für den Nachweis der Bewilligungsvoraussetzungen liegt demnach beim Gesuchsteller. Art. 42 ArGV 1 legt fest, dass in den behördlichen Arbeitszeitbewilligungen unter anderem die Rechtsgrundlage und die Begründung der Bewilligung anzuführen ist. Die Vorinstanz verfügt bei der Beurteilung einer Arbeitszeitbewilligung über eine gewisse Ermessensfreiheit, um die Ausnahme vom Gesetz zu gewähren (Benoît Bovay / Pierre Siegenthaler, in: Thomas Geiser / Adrian von Kaenel / Rémy Wyler [Hrsg.], Stämpflis Handkommentar zum

63

URTEILE

Arbeitsgesetz, Bern 2005, Art. 49, Rz. 2), die bei pflichtgemässer Wahrnehmung jedoch bedingt, dass sämtliche entscheidrelevanten Unterlagen vorhanden sind und beurteilt werden können. 5.4.2 Die Beschwerdegegnerin hat das Gesuch schriftlich am 27. November 2009 bei der Vorinstanz gestellt. Die Beschwerdegegnerin präsentiert die Lösung durch externe spezialisierte Firmen nach Ladenschluss unter der Woche bis spätestens drei Uhr in der Nacht. Die Vorbereitung und Inventur der Lagerräume könne dagegen im Laufe des Tages durchgeführt werden. Die Auswertung der Pilotinventuren (Bewilligung vom 27. April 2009) sei positiv gewesen. Das eigene Personal werde deutlich entlastet. Im Rahmen der Prüfungen durch die kantonalen Arbeitsinspektorate in den Kantonen Zürich und Bern sei es zu keinen Beanstandungen gekommen. Die Inventuren seien zwischen Februar und Juni 2010 geplant. Die Vorinstanz hat in der Folge keine zusätzlichen Unterlagen einverlangt oder Abklärungen getroffen. Sie hat dagegen mit Schreiben vom 13. Januar 2010 die Erteilung der Bewilligung in Aussicht gestellt. Am 19. Januar 2010 reichte die Beschwerdegegnerin eine Auflistung der betroffenen Warenhäuser mit den aktuellen Öffnungszeiten und den geplanten Inventurterminen nach. Die Vorinstanz ermächtigte die Beschwerdegegnerin, mit dem vorgesehenen Arbeitszeitsystem ab dem 1. Februar 2010 zu beginnen beziehungsweise fortzufahren. 5.4.3 Die Beschwerdegegnerin behauptet zwar das Vorliegen der Bewilligungsvoraussetzungen, hat diese jedoch nicht genügend substanziiert beziehungsweise belegt, auch nicht im Beschwerdeverfahren. Allein damit, dass die Be-

64

schwerdegegnerin zur Begründung ihres Gesuchs die «manchmal unzureichende Qualität der Daten» sowie die Belastung des eigenen Personals durch die Inventuren und deren Vorbereitung anführt, ist der Nachweis der technischen und wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit nicht erbracht. Auch der Hinweis, dass eine Inventuraufnahme während der Ladenöffnungszeiten nicht möglich sei beziehungsweise es nicht wirtschaftlich und gegenüber den Kunden unverständlich sei, die Läden zu schliessen, um Inventuren durchzuführen, kann nicht als Nachweis im Sinne von Art. 41 Bst. g ArGV 1 gewertet werden, zumal die Beschwerdegegnerin die Inventuren bisher ohne besondere wirtschaftliche Nachteile mit eigenem Personal und in hinreichender Qualität in der davon im Arbeitsgesetz vorgesehenen Abendarbeit bewältigen konnte. Für die in Frage stehende Bewilligung lag somit kein genügender Nachweis vor, dass es für die Beschwerdeführerin technisch und wirtschaftlich notwendig wäre, die Inventuren ausserhalb der gesetzlichen Möglichkeiten (vgl. Art. 12 Abs. 1 Bst. b ArG) während der Nacht durchzuführen. Es ist weiter insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Ansatzpunkt für die Beurteilung der Unentbehrlichkeit nicht Überlegungen der (wirtschaftlichen) Zweckmässigkeit sein können, sondern einzig die objektiven Erfordernisse des fraglichen Arbeitsverfahrens (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts B-2841/2009 vom 22. Januar 2010 E. 3.3.2, mit Hinweisen; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 2C_748/2009 vom 15. Juli 2010 E. 3.2, mit Hinweisen). Im Rahmen der Bewilligungserteilung für Nachtarbeit ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber ein strenger Massstab anzuwenden (BGE 131 II 200 E. 6.3f.; Urteil des Bundesverwal-

Zur Publikation vorgesehen Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:

Staats-/Verwaltungsrecht < Für den Familiennachzug eines Kindes nahe der Volljährigkeit (gemäss Art. 42, 43 und 47 AUG) ist laut Bundesgericht entscheidend, ob das Gesuch noch vor seinem 18. Geburtstag eingereicht worden ist und nicht der Zeitpunkt, an dem der Entscheid gefällt wird. 2C_84/2010 vom 1.10.2010 < Eine Liegenschaft in der Wohnzone mit Gewerbeerleichterung darf nicht für begleitete Suizidhilfe (um-)genutzt werden (keine Baubewilligung für eine DignitasWohnung in Wetzikon ZH). Die Gemeindebehörden durften die ideellen Immissionen als «mehr als nur mässig störend» beurteilen. Das Zürcher Verwaltungsgericht hat mit seiner gegenteiligen Würdigung zu Unrecht in das Ermessen der kommunalen Behörden eingegriffen. 1C_66/2010 vom 6.9.2010 < Die Öffentlichkeit erhält Einblick in die Verfügung zur Einstellung des Strafverfahrens (gemäss Art. 53 StGB) gegen ExArmeechef Roland Nef. Das Bundesgericht verweist auf Art. 30 der Bundesverfassung, in dem der Grundsatz der Justizöffentlichkeit verankert ist. Dieses für den Rechtsstaat und die Demokratie zentrale Prinzip muss laut Bundesgericht auch bei einer Verfahrenseinstellungen Anwendung finden. 1C_322/2010 vom 6.10.2010

Strafrecht < Scheitert die ambulante Massnahme, darf eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet werden, auch wenn zu diesem Zeitpunkt keine vollzieh-

bare Reststrafe mehr besteht. Es bedarf allerdings in materieller Hinsicht einer Verknüpfung zwischen der Verurteilung sowie der Anordnung der fraglichen stationären Massnahme. 6B_750/2009 vom 13.7.2010 < Urteilsbegründung zum verweigerten Strafunterbruch für den Walliser Hanfbauern Bernard Rappaz: Die schriftliche Begründung enthält im Wesentlichen die bekannten Erwägungen der öffentlichen Beratung. Kaum nachvollziehbar ist, wieso sich die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zu der folgenden, nicht näher begründeten Feststellung veranlasst sieht: Die Ärzte hätten die von den Behörden angeordnete zwangsweise Ernährung eines Hungerstreikenden durchzuführen, sie könnten sich nicht auf medizinisch-ethische Grundsätze berufen (etwa Achtung des Patientenwillens). 6B_599/2010 vom 26.8.2010

Zivilrecht < Erhält ein Ehegatte, der nie einer Pensionskasse angehört hat, eine Rente der AHV- oder der Invalidenversicherung, so stellt dies mit Blick auf Art. 122 ZGB – Teilung der Austrittsleistung bei einer Scheidung – keinen Vorsorgefall dar. 5A_304/2010 vom 27.8.2010 < Die Adoption eines Kindes durch die Grosseltern liegt in der Regel nicht im Interesse des Kindes, wenn die leibliche Mutter oder der leibliche Vater noch eine mehr oder weniger enge Beziehung zu ihren oder seinen adoptionswilligen Eltern hat. 5A_198/2010 vom 23.8.2010 < Die Bezeichnung «Madonna» erhält in der Schweiz keine Eintragung ins Markenregister. Laut Bundesgericht muss die markenmässige Verwendung des Namens der Mutter Gottes als sittenwidrig gelten, weil die reli-

plädoyer 6/10

URTEILE

giösen Gefühle der Katholiken im Tessin verletzt werden könnten. Ein Anspruch auf eine Eintragung ergibt sich auch nicht daraus, dass «Madonna» in streng katholischen Ländern wie Italien, Spanien oder Portugalbereits als Marke eingetragen worden ist. 4A_302/2010 vom 22.9.2010 < Im qualifizierten Arbeitszeugnis darf und muss eine Krankheit erwähnt werden, die einen starken Einfluss auf Leistung oder Verhalten des Angestellten hatte. Hingegen sind Bemerkungen zu geheilten Gesundheitsproblemen, die keine Auswirkungen auf die Arbeit hatten, laut Bundesgericht verboten. 4A_187/2010 vom 6.9.2010 < Tritt das Bundesgericht auf eine Beschwerde gegen eine Fürsorgerische Freiheitsentziehung nicht ein, weil die Massnahme bereits aufgehoben worden ist, darf die betroffene Person zur Feststellung einer allfälligen Unrechtmässigkeit der Freiheitsentziehung auf den Weg von Art. 429a ZGB verwiesen werden. 5A_432/2010 vom 26.7.2010

Sozialversicherungsrecht < Eine Lohndiskriminierung im Sinne von Art. 6 GlG zwischen den männlichen und weiblichen Angestellten kann auch dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber die weiblichen Beschäftigten unter sich ebenfalls ungleich behandelt 8C_78/2009 vom 31.8.2010 < Gemeinden sind als Erbringerinnen von Fürsorgeleistungen in diesem Bereich (gestützt auf Art. 89 Abs. 1 BGG) zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten befugt. 8C_79/2010 vom 24.9.2010 PJ

plädoyer 6/10

tungsgerichts B-2841/2009 vom 22. Januar 2010 E. 3.3.2). Die vorliegenden Unterlagen sind dürftig und beinhalten nicht genügend Informationen, um eine Ausnahmebewilligung nach Art. 17 ArG zu erteilen. Die Vorinstanz ist ihrer Verpflichtung nach Art. 12 VwVG, von Amtes wegen den rechtserheblichen Sachverhalt vollständig und richtig zu ermitteln, nur ungenügend nachgekommen. 5.5 Die Vorinstanz führt aus, es sei in diesem Zusammenhang wichtig zu unterstreichen, dass sich in den vergangenen Jahren solche Dienstleistungsunternehmen immer mehr entwickelt hätten. Viele Unternehmen würden auf ihre Dienste zurückgreifen, und häufig sei das Dienstleistungsunternehmen in mehreren Kantonen tätig. Es handle sich um sehr komplexe Situationen. Das Arbeitsgesetz sei dieser neuen Realität nicht angepasst, und es gelte deshalb, pragmatische Lösungen zu finden. Dazu ist zu bemerken, dass grundsätzlich jedes Gesetz einer zeitgemässen Auslegung zugänglich ist; dadurch können die gegenwärtigen tatsächlichen Gegebenheiten und die heute herrschenden Wertvorstellungen berücksichtigt werden (Vgl. Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich / St. Gallen 2010, Rz. 218, mit Hinweisen; im Verwaltungsrecht häufig mit der teleologischen Auslegungsmethode kombiniert fragt man nach Sinn und Zweck einer Norm im Lichte der aktuellen Gegebenheiten und Wertvorstellungen, vgl. hierzu Pierre Tschannen / Ulrich Zimmerli / Markus Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bern 2009, § 25 Rz. 5, mit Hinweisen). Die durch die Vorinstanz vorgenommene Anwendung des Arbeitsgesetzes, besonders zum Begriff des Arbeitgebers und den Anforderungen an den Nachweis der Vorausset-

zungen für die Bewilligung von Nachtarbeit, geht jedoch über eine zeitgemässe Auslegung hinaus und entfernt sich vom klaren Gesetzeswortlaut und der bisherigen Praxis. 6. Das von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Argument der mutmasslich tiefen Löhne der (mutmasslich) ausländischen Arbeitnehmer der Sigma und der Tradelog erweist sich in Bezug auf die Beurteilung der Nachtarbeitsbewilligung als nicht einschlägig, da die Lohnhöhe nicht zu den Bewilligungsvoraussetzungen oder entscheidrelevanten Kriterien gehört. 7. Zusammengefasst ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung im Umfang, in welchem sie 180 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer externer Dienstleister betrifft, formell fehlerhaft ist, und die Vorinstanz zu Unrecht die Voraussetzungen für die Bewilligung von Nachtarbeit bejaht hat. Damit ist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann, und die angefochtene Verfügung aufzuheben. Urteil B-2257/2010 des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010

Steuerrecht

Allgemeine Weiterbildungskosten sind abzugsfähig Nach mehr als zwanzig Jahre Tätigkeit in bestimmten Berufen kann auch ein allgemeiner Ausbildungskurs steuerrechtlich als Weiterbildung gelten. Sachverhalt:

X., geb. 1962, begann im Jahr 1982 nach Abschluss seiner Maturität ein Geographie- und Musikstudi-

um, das er nach einem Jahr abbrach. Seither ist er als Journalist tätig. Im Frühjahr 2006 nahm er das berufsbegleitende, anderthalbjährige Nachdiplomstudium «Philosophie und Management» an der Universität Luzern auf. Hierzu erwuchsen ihm 2006 Auslagen von insgesamt 10 199 Franken, welche X. beim Kantonalen Steueramt Zürich als Weiterbildungskosten geltend machte. Das Steueramt liess die Auslagen nur im Umfang der Ausbildungspauschale von 400 Franken zum Abzug zu. Dieser Entscheid wurde letztinstanzlich vom Verwaltungsgericht bestätigt. Dagegen erhob X. Beschwerde beim Bundesgericht und beantragte, den Entscheid aufzuheben und die Auslagen von 10 199 Franken bei der Staatssteuer 2006 als Gewinnungskosten anzuerkennen. Aus den Erwägungen:

3.1 Die Vorinstanz hat angenommen, dass die vom Beschwerdeführer im Jahr 2006 getätigten Aufwendungen keine vom steuerbaren Einkommen abziehbare Weiterbildungs-, sondern nicht abzugsfähige Ausbildungs- beziehungsweise Berufsaufstiegskosten darstellten. Namentlich fehle der notwendige Zusammenhang mit dem erlernten und ausgeübten bisherigen Beruf. 3.2.1 Bezüglich der massgeblichen Beurteilungskriterien lässt die Vorinstanz ausser Acht, dass es bei der hier zu treffenden Unterscheidung zwischen Weiterbildungsund Ausbildungs- beziehungsweise Berufsaufstiegskosten nicht pauschal und undifferenziert darum gehen kann, ob die getätigten Aufwendungen für die Ausübung des bisherigen Berufs «notwendig» sind. Dieser Begriff wird zwar abstrakt und konkretisierungsbedürftig in Art. 9 Abs. 1 StHG genannt, der (wie § 25 StG/ZH) den generellen Beurteilungsrahmen für die ver-

65

URTEILE

schiedenen Kategorien der Berufsund Gewinnungskosten der unselbständig Erwerbenden festlegt. Die gleiche Vorschrift führt aber weiter aus: «Zu den notwendigen Aufwendungen gehören auch die mit dem Beruf zusammenhängenden Weiterbildungs- und Umschulungskosten.» Schon daraus wird klar, dass es die Aufgabe der Praxis ist, allgemeingültige und gleichzeitig der Verschiedenheit der jeweiligen Einzelfälle gerecht werdende Kriterien zu erarbeiten, um festzulegen, wie stark der Zusammenhang zwischen den getätigten Kosten und dem ausgeübten Beruf sein muss, um die notwendige Intensität aufzuweisen. Dieser Aufgabe ist die Rechtsprechung differenziert nachgekommen (vgl. oben E. 2.2 u. 2.3, insb. E. 2.2.2). Namentlich hat sie (vor dem erwähnten doppelten Hintergrund) festgehalten, dass das Kriterium der «Notwendigkeit» (bzw. der «Erforderlichkeit» gemäss dem zuvor gültigen Bundesratsbeschluss) weit auszulegen ist und es unter anderem darauf ankommt, ob die getätigten Aufwendungen im Rahmen des Üblichen liegen und sich als nützlich erweisen. 3.2.2 In Bezug auf den hier zu beurteilenden Fall hat das Verwaltungsgericht namentlich zwei Besonderheiten nicht genügend berücksichtigt: Zuerst ist wesentlich, dass der Beschwerdeführer im massgeblichen Zeitpunkt schon mehr als zwanzig Jahre in seinem Beruf tätig war. In einer solchen Situation liegt es durchaus im Rahmen des Üblichen und Nützlichen, eingehend(er) über die Hintergründe beziehungsweise Grundlagen und die breiteren Zusammenhänge der ausgeübten Tätigkeit nachdenken zu wollen, was nicht einer Aktualisierung, aber einer Vertiefung der für den bisherigen Beruf bedeutsamen Kenntnisse

66

entspricht. Zwar belegte der Beschwerdeführer nicht ein Nachdiplomstudium der Medienphilosophie, -ökonomik, -soziologie, psychologie, -geschichte, sondern einen allgemeine(re)n Kurs. Das muss jedoch gerade aufgrund der zweiten Besonderheit nicht gegen einen genügend engen Zusammenhang mit dem ausgeübten Beruf sprechen: Weil der Beschwerdeführer im Journalismus tätig ist – und zwar, wie unbestritten geblieben ist, als Generalist namentlich im Kulturbereich –, können die neu erworbenen, wenn auch allgemeinen, philosophischen sowie wirtschaftlichen Kenntnisse durchaus zu einem besseren Verständnis der vom Beschwerdeführer in seinem Beruf verfolgten und beschriebenen Gesellschafts- beziehungsweise Kulturerscheinungen geführt haben. Somit kann zumindest das Zusammentreffen der beiden Besonderheiten unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände (vgl. oben E. 2.4 in fine) darauf schliessen lassen, dass der von der Rechtsprechung verlangte Bezug zum erlernten und ausgeübten Beruf hier im notwendigen beziehungsweise genügenden Ausmass gegeben war. Dementsprechend handelte es sich auch nicht bloss um eine persönliche Bereicherung beziehungsweise eine kulturelle, ausserberufliche Weiterbildung (vgl. oben E. 2.3). 3.3.1 Vorliegend handelt es sich somit um einen ausgesprochenen Spezialfall: Das gilt vorab gegenüber den bisher zu beurteilenden Fällen,indenenesbeiNachdiplomstudien um die Unterscheidung zwischen Weiterbildungs- und Ausbildungs- beziehungsweise Berufsaufstiegskostenging:Einerseits kann vom befolgten Kurs «Philosophie und Management» zumindest im speziellen Fall des Beschwerdeführers nicht gesagt werden, dass es

Strassburg aktuell Hürden für unentgeltliche Rechtspflege Einstimmig abgewiesen hat der Gerichtshof die Beschwerde eines Genfer Kochs, der 2005 für ein Zivilverfahren (umstrittene Zahlungspflicht von 80 000 Franken aus einem Bierlieferungsvertrag) beim Bundesgericht vergeblich unentgeltliche Rechtspflege verlangt hatte. Eine Befreiung bedürftiger Prozessparteien von Bezahlung der Gerichtskosten und von der Sicherstellung der Parteientschädigung sieht das Gesetz nur vor, falls ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Das Bundesgericht stufte die beiden Rechtsmittel des Kochs als aussichtslos ein und stützte sich dabei auf eine 16 Seiten umfassende interne Analyse. Dass dieser Bericht nicht von den Richtern selber stammte, sondern von einer GerichtsPublikation der Entscheide Die Entscheide des EGMR werden in Reports of Judgements / Recueil des arrêts et dé cisions (Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Strasse 449, D-50939 Köln) in eng lischer und franzö sischer Sprache of fiziell veröffentlicht. Deutsche Übersetzungen finden sich bisweilen in der Euro päischen Grundrechte-Zeit schrift (EuGRZ; N. P. Engel Verlag, D-77694 Kehl am Rhein), in der Österreichi schen Juristen-Zei tung (ÖJZ; Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Kohlmarkt 16, A-1014 Wien) sowie im News letter des österreichi schen Ins ti tuts für Men schen rechte (Ed munds burg, Mönchs berg 2, A-5020 Salzburg). Im Internet auf der Web site des EGMR: www.echr.coe.int

schreiberin, spielt nach Ansicht des Gerichtshofs keine Rolle. Das Bundesgericht habe diese Analyse dem Beschwerdeführer zwar nicht zugestellt, doch sei sein Beschluss dennoch ausreichend begründet. Der EGMR verneinte einstimmig eine Konventionsverletzung. Zwei Richter äusserten allerdings in einem schriftlichen Sondervotum gewisse Vorbehalte. Eigentlich sollte die Durchführung eines Gerichtsverfahrens als «Service public» nicht von einem Vorschuss der Gerichtskosten abhängen. Die Strassburger Praxis habe sich aber flexibel gezeigt und es genügen lassen, dass das Recht auf Zugang zum Gericht nicht seiner Substanz beraubt werde. Das sei hier nicht geschehen, zumal der Betroffene im kantonalen Verfahren unentgeltliche Rechtspflege erhalten hatte. Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 10111/06 «Pedro Ramos c. Schweiz» vom 14.10.2010

Verletzte Waffengleichheit: Neunte Verurteilung Zum neunten Mal hat der Gerichtshof die schweizerische Justiz wegen unzureichender Möglichkeit von Stellungnahmen in (höchst-)gerichtlichen Verfahren gerüffelt (vgl. zuletzt die beiden EGMR-Urteile «Werz c. Schweiz» vom 17.12.2009 in plädoyer 1/10 und «Kessler c. Schweiz» vom 26.7.2007 in plädoyer 5/07). In einem Streit um die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wies das Bundesgericht die Beschwerde der entlassenen Lehrerin am 16. März 2005 ab (Urteil 2P.266/2004 und 2P.275/2004). Die Lehrerin beschwerte sich in Strassburg dagegen, dass ihr das Bundesgericht die Eingaben der Vorinstanzen (Luzerner Verwaltungsgericht und Regierungsrat) und der betroffenen Schulpflege lediglich mit dem Vermerk «Zur Kenntnis» zugestellt, sie aber nicht im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels um eine förmliche Antwort

plädoyer 6/10

URTEILE

gebeten hatte. Die Schweiz argumentierte in Strassburg vergeblich mit dem Bundesgerichtsentscheid BGE 132 I 42, wonach sich nach schweizerischem Verständnis ein Gericht bei der Zustellung der Vernehmlassungen in einem ersten Schritt auf die entsprechende Information beschränken kann, ohne förmlich zur Stellungnahme aufzufordern. Es sei dann Sache der Beschwerdeführerin, die Notwendigkeit einer Stellungnahme von ihrer Seite zu prüfen und ein derartiges Anliegen wahrzunehmen. Andernfalls ist gemäss BGE 132 I 42 davon auszugehen, dass sie darauf verzichte. Diese Praxis des Bundesgerichts setze Art. 6 Ziff. 1 EMRK pragmatisch um. Der Gerichtshof gab jedoch zu bedenken, dass der fragliche BGE 132 I 42 erst am 22. November 2005 – und damit einige Monate nach dem Fall der entlassenen Lehrerin – erging und ihr deshalb auch nicht entgegengehalten werden könne. Der Gerichtshof lässt darüber hinaus Zweifel an der bundesgerichtlichen Verzichtspraxis durchblicken. Er sei nicht überzeugt, dass der nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin ein Verzicht auf ihre in Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantierten Anhörungsrechte angekreidet werden könne. Denn die fragliche Eingabe enthielt klarerweise den blossen Vermerk «Zur Kenntnis» und das Gesetz sah einen zweiten Schriftenwechsel nur ausnahmsweise vor (Art. 93 Abs. 3 des damals geltenden OG). Urteil der 1.EGMR-Kammer N° 41718/05 «Schaller-Bossert c. Schweiz» vom 28.10.2010

Schweizer Namensrecht diskriminiert Geschlechter Die schweizerisch-französische Doppelbürgerin Iris Rose und ihr ungarischer Gatte Laszlo Losonci, die im Kanton Bern leben, verlangten vergeblich, nach der Eheschliessung ihren jeweiligen Nachnamen behalten zu dürfen. Zwar wurde das Gesuch der

Ehefrau, ihren Namen als Familiennamen zu führen (Art. 30 Abs. 2 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs; ZGB) gutgeheissen. Sie behielt damit ihren Nachnamen Rose. Dem Ehemann hingegen wurde durch die bernischen Behörden die – nach ungarischem Recht vorgesehene – Beibehaltung ausschliesslich seines Namens verweigert. Stattdessen wurde er gestützt auf Art. 160 Abs. 1 ZGB mit dem Namen Losonci Rose ins Zivilstandsregister eingetragen. In seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht bemängelte das Ehepaar einen Verstoss gegen das Prinzip der Gleichberechtigung. Behalte die Ehefrau ihren Namen, so müsse auch der Ehemann diese Möglichkeit haben. Das Bundesgericht räumte in seinem Urteil vom 24. Mai 2005 (5A.4/2005) zwar ein, die schweizerische Regelung verstosse in ihrer Gesamtheit gegen die Gleichstellung der Geschlechter, die Art. 8 Abs. 3 der Bundesverfassung (BV) garantiert. Eine verfassungskonforme Regelung habe das Parlament im Juni 2001 jedoch abgelehnt. Mit der EMRK sei die namensrechtliche Regelung vereinbar, denn Strassburg akzeptiere den in Art. 160 ZGB verankerten Grundsatz der Einheit des Familiennamens. Diese Ansicht der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat der Gerichtshof einstimmig abgelehnt. Es liege eine konventionswidrige Diskriminierung (Art. 14 in Kombination mit Art. 8 EMRK) vor, denn in der vergleichbaren Situation eines Schweizer Mannes mit ausländischer Gattin erlaube das Schweizer Recht sehr wohl, dass die Frau gemäss ihrem Heimatrecht ihren ausschliesslichen Nachnamen behalte. Der Name gehöre als wichtigstes Element der Individualisierung in einer Gesellschaft zum Kern des Privat- und Familienlebens. Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 664/06 «Losonci Rose und Rose c. Schweiz» vom 9.11.2010 FZ

zu einem Titel mit eigenständigem Wert geführt oder die beruflichen Aufstiegs-oderVeränderungschancen deutlich verbessert hätte. Andererseits ist nicht dargetan, dass der Beschwerdeführer solches überhaupt (primär) angestrebt hätte. Soweit ersichtlich hat er sich zwar im Jahr 2009 selbständig gemacht, wozu das Verwaltungsgericht aber nichts festhält; das muss auch hier nicht näher geprüft werden, weil der Zusammenhang mit dem bisherigen Beruf so oder anders im erforderlichen Ausmass gegeben ist. 3.3.2 Der vorliegende Fall unterscheidet sich aber auch namentlich von einem bestimmten Präzedenzfall, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation des Beschwerdeführers aufweist. In dem in StR 59/2004 S. 451ff. publizierten Bundesgerichtsurteil 2A.277/2003 vom 18. Dezember 2003 ging es um einen Steuerpflichtigen, der nach der Matura zwar ein Wirtschaftsstudium begonnen, aber nach rund zwei Jahren ohne Abschluss abgebrochen hatte. Von diesem Fall unterscheidet sich die Situation des Beschwerdeführers insbesondere dadurch, dass es bei dem von ihm befolgten Nachdiplomstudium unbestrittenermassen nicht darum ging, an sich notwendiges, aber aufgrund des Studienabbruchs nicht erlerntes und deshalb bei der konkreten Berufsausübung fehlendes Wissen nachzuerwerben.

Hälfte der Pensionskasse auch für Begüterte Auch wenn ein Ehegatte über ein beträchtliches Vermögen verfügt und deshalb für die Zukunft finanziell abgesichert ist, hat er bei einer Scheidung Anspruch auf die Hälfte des Guthabens aus beruflicher Vorsorge des anderen Ehegatten. Sachverhalt:

Ehemann X. und Ehefrau Y. heirateten im Jahr 1988. Die Ehe blieb kinderlos. Die Ehefrau besorgte den Haushalt und arbeitete zu Beginn der Ehe teilzeitlich, gab die Tätigkeit aber nach wenigen Jahren auf. X. war stets vollzeitlich in leitender Funktion angestellt, während Y. aus ihrem geerbten Vermögen ein Einkommen erzielte. Im Oktober 2005 trennten sich die Ehegatten, und das Kantonsgericht schied die Ehe auf Begehren der Ehegatten. In seinem Entscheid verweigerte das Gericht die Teilung des Guthabens des Ehemannes aus beruflicher Vorsorge. Y. legte dagegen Berufung ein und beantragte die hälftige Teilung. Das Obergericht hiess die Berufung gut. Darauf wandte sich X. ans Bundesgericht und beantragte, die Teilung seines Vorsorge-Guthabens zu verweigern. Erwägungen:

4. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben, mit den sich daraus ergebenden, im Dispositiv festgehaltenen Kosten-, Entschädigungs- und Verfahrensfolgen (vgl. Art. 65ff. BGG). Urteil 2C_104/2010 der II. öffent lichrechtlichen Abteilung des Bundes gerichts vom 23. Juni 2010

plädoyer 6/10

Familienrecht

2. In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht festgestellt, dass das Vermögen der Beschwerdegegnerin rund 3,1 Mio. Franken (Steuerwert) betrage, während der Beschwerdeführer über kein Vermögen verfüge. Der Beschwerdeführer habe 2007 als Banker einen jährlichen Nettolohn von 190 567 Franken (inklusive Bonus von 70 000 Franken) erzielt,

67

URTEILE

das heisst monatlich 15 880 Franken beziehungsweise 12 057.70 Franken inklusive 13. Monatslohn ohne Bonusanteil. Die Beschwerdegegnerin habe aus ihrem Vermögen einen monatlichen Nettoertrag von durchschnittlich 9216 Franken erwirtschaftet (E. 3b S. 8 des angefochtenen Urteils). 3. In rechtlicher Hinsicht hat das Obergericht die unterschiedlichen Auffassungen der Gerichtsmehrheit und der Gerichtsminderheit dargelegt. Die Gerichtsmehrheit ist davon ausgegangen, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei das Vorsorgeguthaben hälftig zu teilen (E. 3b S. 7ff.). Die Gerichtsminderheit hat angenommen, dass sich der vorliegende Fall von den bundesgerichtlich bisher beurteilten Fällen unterscheide, die hälftige Teilung deshalb unbillig sei und das Vorsorgeguthaben im Verhältnis von 5 zu 8 zugunsten des Beschwerdeführers und von 3 zu 8 zugunsten der Beschwerdegegnerin zu teilen sei (E. 3c S. 9 f. des angefochtenen Urteils). Der Beschwerdeführer schliesst sich der Ansicht der Gerichtsminderheit an, beantragt gestützt darauf aber, die Teilung seiner Austrittsleistung ganz zu verweigern (S. 8ff. Ziff. 19–38 des Beschwerdeschrift). 4. Die Gerichtsmehrheit kann ihre Entscheidung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts stützen. Davon abzuweichen, geben weder die Überlegungen der Gerichtsminderheit noch die Einwände des Beschwerdeführers begründeten Anlass. Im Einzelnen geht es um Folgendes: 4.1 Anders als die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführer ab der Eheschliessung bis zur Ehescheidung einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge angehört. Für diesen Fall sieht Art. 122 Abs. 1 ZGB vor, dass die Beschwerdegegnerin Anspruch auf die Hälfte

68

der nach dem Freizügigkeitsgesetz vom 17. Dezember 1993 (SR 831.42) für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistung des Beschwerdeführers hat. 4.2 Das Gericht kann die Teilung gemäss Art. 123 Abs. 2 ZGB ganz oder teilweise verweigern, wenn sie aufgrund der güterrechtlichen Auseinandersetzung oder der wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Scheidung offensichtlich unbillig wäre. Der Begriff «offensichtlich unbillig» meint absolut stossend, äusserst ungerecht und völlig unhaltbar (vgl. Urteil 5C.49/2006 vom 24. August 2006, E. 3.1, in: FamPra.ch 2006, S. 930). Die Bestimmung ist restriktiv auszulegen (BGE 135 IIII 153 E. 6.1 S. 155). Die Tatsache, dass der anspruchsberechtigte Ehegatte über beträchtliches Vermögen verfügt und deshalb für die Zukunft finanziell abgesichert ist, rechtfertigt den Ausschluss der Teilung für sich allein nicht (BGE 133 III 497 E. 4.5 S. 503; vgl. zit. Urteil 5C.49/2006 E. 3, in: FamPra.ch 2006, S. 929ff., und zit. Urteil 5A_79/2009 E. 2). Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers begründen Vermögen und finanzielle Sicherheit, wie sie bei der Beschwerdegegnerin vorhanden sind, für sich genommen keinen Ausschlussgrund im Sinne von Art. 123 Abs. 2 ZGB. 4.3 Die Beurteilung der offensichtlichen Unbilligkeit gemäss Art. 123 Abs. 2 ZGB beruht auf Ermessen (Art. 4 ZGB; BGE 129 III 577 E. 4.2.2 S. 578). Im Rahmen der gesetzlichen Ausschlussgründe sind deshalb sämtliche Umstände des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen (anschaulich: zit. Urteil 5A_79/2009 E. 2). Das Obergericht (Mehrheit) hat denn auch die lange Ehedauer und die Aufgabenverteilung in der Ehe und die Tatsache in die Beurteilung einbezogen, dass der bald 48jährige Beschwerdeführer in den

verbleibenden Erwerbsjahren bis zu seiner Pensionierung bei seinem Verdienst noch ein deutlich grösseres Vorsorgeguthaben werde ansparen können als die 53-jährige Beschwerdegegnerin, die mangels beruflicher Erfahrung und aufgrund ihres Alters kaum eine (annähernd gleichwertige) Arbeit finden dürfte. Die obergerichtlichen Ausführungen tragen sämtlichen Umständen des zu beurteilenden Falls Rechnung. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers (z.B. S. 15 f. Ziff. 34) darf die Ehe, die bis zur tatsächlichen Trennung 17 Jahre und bis zur Scheidung über 20 Jahre gedauert hat, aufgrund der sogenannten klassischen Rollenverteilung unter den Ehegatten als lebensprägend betrachtet werden, selbst, wenn die Ehegatten kinderlos geblieben sind. 4.4 Die Gerichtsminderheit, deren Ansicht sich der Beschwerdeführer anschliesst, hat gegenüber einer hälftigen Teilung der Austrittsleistung zu Bedenken gegeben, dass die Beschwerdegegnerin keine Kinder habe aufziehen müssen und daher grundsätzlich auch die Möglichkeit gehabt hätte, ein eigenes Vorsorgeguthaben aufzubauen, was sie jedoch – aus Gründen, die dahingestellt bleiben könnten – nicht getan habe, und dass der Beschwerdeführer – abgesehen vom Vorsorgeguthaben – über keinerlei Vermögen verfüge, weil die Parteien offenbar einen hohen Lebensstandard geführt hätten. Zu diesen beiden Punkten ist lediglich festzuhalten, dass sich kein Ehegatte nach einer langjährigen Ehe seinen Beitrag an den gebührenden Unterhalt der Familie muss vorwerfen lassen, den er aufgrund der – allenfalls konkludent erfolgten – Verständigung der Ehegatten geleistet hat (Art. 163 Abs. 2 ZGB). Die von beiden Ehegatten während langer Ehe gelebte und damit gewollte Aufgabenteilung schafft berechtigtes Vertrauen, das im

Zeitpunkt der Scheidung nicht enttäuscht werden darf. Die Tatsache sodann, dass der Beschwerdeführer heute über kein Vermögen verfügt, liegt nicht darin begründet, dass er mit seinem monatlichen Einkommen für einen Zweipersonenhaushalt allein hätte aufkommen müssen. In tatsächlicher Hinsicht verhält es sich vielmehr so, dass die Ehegatten ihre Errungenschaftsmittel, das heisst sowohl den Arbeitserwerb des Beschwerdeführers von über 10 000 Franken monatlich (Art. 197 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB) als auch die Erträge des Eigenguts der Beschwerdegegnerin in vergleichbarer Höhe (Art. 197 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB), vollständig für den Familienunterhalt verwendet und deshalb keine hälftig zu teilende Errungenschaft (Art. 215 ZGB) gebildet haben. Die während langen Ehejahren gelebte und damit gewollte Verwendung der vorhandenen Mittel ist auch im Zeitpunkt der Scheidung zu beachten, so dass es grundsätzlich kein Ehegatte dem anderen Ehegatten zu entgelten hat, dass im Scheidungszeitpunkt kein während der Ehe erwirtschaftetes Vermögen in Form von Ersparnissen vorhanden ist, die geteilt werden könnten. 4.5 Insgesamt kann der auf Ermessen beruhende Entscheid nicht beanstandet werden, in Anbetracht der konkreten vorsorgerechtlichen Situation sei die Austrittsleistung des Beschwerdeführers hälftig zu teilen und diese Teilung weder ganz noch teilweise zu verweigern (vgl. zum Ermessensentscheid und dessen Überprüfung: BGE 135 III 121 E. 2 S. 123f. und 259 E. 2.5 S. 264). 5. Aus diesen Gründen muss die Beschwerde abgewiesen werden, soweit darauf einzutreten ist. Urteil 5A_377/2010 der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 4. Oktober 2010

plädoyer 6/10

Suggest Documents