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SWR2 Feature Wie wollen wir wohnen? Über solidarische Wohnprojekte Von Jochen Rack Sendung: Mittwoch, 9. Dezember 2015 Redaktion: Wolfram Wessels Regie: Jochen Rack Produktion: SWR 2015

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Musik: Old Friends, Track 9 Atmo Lokal, Küche VinziRast Schavi: Im Prinzip bereiten wir das Menü für die Helfer, in Form von entweder einer Vorspeise oder einer Suppe, einer warmen, und heute wird es geben eine Karottencremesuppe mit Ingwer und Limettenblätter, das ist Menü heute für Gäste und Freiwillige. () Wir haben z.B. am Montag und Donnerstag Schulklassen, die essen kommen, auch ältere Herrschaften, aus jeder Schicht, es gibt Leute, die sich für das Projekt interessieren, die schauen, wer da wohnt und kocht, und andere, die das Angebot nutzen, um sich ein Mittagessen zu einem halbwegs leistbaren Preis zu gönnen. Atmo Ansager: Wie wollen wir wohnen? Über solidarische Wohnprojekte. Von Jochen Rack. Sprecherin: Erstes Projekt: Vinzirast mittendrin, Währingerstraße 19, Wien, 9. Bezirk: Hagner: Wir stehen jetzt im Lokal und schauen uns an die Wand und Deckenverkleidung, die in Summe sind´s 10.000 Obst- und Gemüsekistchenbrettchen, die weggeworfen wurden. Sprecherin: Alexander Hagner, Architekt. Hagner: Es gibt schmale, dunkle, helle, jedes für sich, jedes Brettchen ist Abfall, Müll, aber in dieser Gemeinschaft von all diesen Brettchen entsteht etwas Neues, kein Mensch denkt mehr an Müll, wenn er diese Flächen sieht, es ist für mich Sinnbild des Projekts, der einzelne, wenn er aus den Randgruppen kommt, hat wenig Chance, aber in der Gemeinschaft, die der Plan dieses Hauses ist, entsteht etwas ganz Neues, das ist etwas, das wir mit der Gestaltung zum Ausdruck bringen wollen. Atmo Lokal Zitator: Unser Lokal ist gleichzeitig Cafe, Bar und Restaurant. Hier gibt es eine kleine, feine Speisekarte mit gutem, gesundem Essen. mittendrin hat auch einen sozialen Aspekt: Es ist eine VinziRast-Einrichtung und als solche für die Unterstützung von obdachlosen Menschen da. Der Reingewinn des Lokals kommt dem Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan zugute, der mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen mehrere Einrichtungen für obdachlose oder ehemals obdachlose Menschen betreibt. 1

Hagner: Da steht z.B. „Tischlerei Kirchberger… der hat sich bereit erklärt, die alle so sauber zu schneiden. Dann steht z.B. Badeaccessoires... von denen haben wir die Waschbecken geschenkt bekommen…Und so haben wir die alle verewigt,…Da stehen dann Namen von einzelnen Personen, Miro Slavic oder Sara Baumgartner… oder der Tschabi, der ist hier der Wirt vom Lokal… das sind 50 Namen von Menschen, die geholfen haben, das Lokal so zu machen, wie es heute dasteht: Ehrenamtliche, Studierende, Freiwillige, Obdachlose, dieses Team, mit dem haben wir das so in den Zustand gebracht… Sprecherin: Alexander Hagner, der den Umbau des ehemaligen Biedermeierhauses in Wien zu einem Wohnprojekt für Obdachlose und Studenten realisiert hat, gehört zu den Architekten, die heute an neuen Wohnformen für Benachteiligte arbeiten und wegkommen wollen von den sozial ausgrenzenden Massenunterkünften, jenen Containersiedlungen, von denen unter dem Eindruck der Massenzuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland heute so viel geredet wird. Nicht das billige fabrizierte Wohngetto irgendwo am Rand der Stadt ist nach Überzeugung von Hagner und seinen progressiv denkenden Kollegen die gefragte Lösung für die Unterbringung von Migranten, Obdachlosen oder anderen Benachteiligten, sondern die Nutzung von leerstehenden Räumen in der Stadt, die ihre Integration in das urbane Leben ermöglichen und Ausgrenzung verhindern sollen. Das Ideal ist die soziale Mischung in der Stadt: gelebte Diversität und soziales Miteinander. Zitator: Neben einem kleinen Stammteam sind im „mittendrin“ nur Ehrenamtliche tätig. „mittendrin“ ist Teil von VinziRast-mittendrin, einem innovativen Wohnprojekt, in dem Studierende und ehemals obdachlose Menschen gemeinsam leben, lernen und arbeiten. Wohnungslose Menschen, die sonst am Rande der Gesellschaft leben, sind hier „mittendrin“ unter uns. VinziRast-mittendrin ist ein Haus, das offen ist für alle. Wir freuen uns auf Ihren Besuch! Ihr Küchenteam, die BewohnerInnen und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen von VinziRast-mittendrin Hagner: Wenn Sie jetzt die Bar anschauen, da gibt es diese Balken, aus denen die Bar gebaut wurde…() das sind die alten Sparren vom Dach, das wir abgetragen haben… da ging es nicht um Nachhaltigkeit, sondern um Praktisches… solche Überlegungen spielen eine Rolle.. mit den Mitteln, die wir haben… auf ein Niveau zu kommen, wo die Leute, die hier Mittagessen, wo die nicht wissen, dass es ein Sozialprojekt ist, aber es gefällt ihnen, und dann kommen sie drauf, das ist ein Sozialprojekt und die fragen: Können wir mitarbeiten, nicht etwas machen? Und das war unser großes Ziel, Menschen einzuladen, dieses Projekt zu mögen, was die meisten Sozialprojekte vertan haben, diese Chance, andere, die betroffen sind im urbanen Umfeld, einzuladen, vielleicht wenn sie wollen, einen Beitrag zu leisten. Atmo hoch Sprecherin: Die Realität in Deutschland aber sieht anders aus als in den wenigen gelungenen Gemeinschaftswohnprojekten für sozial benachteiligte Menschen, die es heute 2

überhaupt gibt. Noch immer ist eine Architektur der Ausgrenzung das herrschende Modell. Der Hannoveraner Architekt Jörg Friedrich spricht in seinem Buch „Refugees welcome“ von Gated Communities und kritisiert: Zitator 2: Die Blechkistenarchitektur fördert Aggression, Gewalt, Abgrenzung statt Integration. Sprecherin: Die Kultur der Stadt als Integrationsmodell sei vergessen worden, so Jörg Friedrich. Er diagnostiziert den „momentanen Stand einer trostlosen Unfähigkeit kommunalen Bauens und Helfens.“ Zitator 2: Alles mag hygienisch sein, hat Strom und Wasser, ist möglicherweise sogar funktional sinnvoll. Die Abwesenheit jeglichen städtischen und architektonischen Denkens jedoch erzeugt im Ergebnis lediglich „Nicht-Orte“ im Sinne von Marc Augé; damit schaffen wir den Fremden keine neue Heimat. Sprecherin: In anderen Worten: Es ist die Stunde der Architekten und kreativen Stadtplaner, die neue Lösungen finden müssen, um soziale Segregation und das Entstehen von Gettos und Parallelgesellschaften zu verhindern. Die Notwendigkeit der Integration, vor die die europäischen Gesellschaften durch die Massenzuwanderung und überhaupt durch die zunehmende Mobilität in einer globalisierten Welt gestellt sind, bedarf auch einer integrativen, menschenwürdigen Architektur. Die muss nicht komplett neu erfunden werden, sondern kann anknüpfen an die Kultur der europäischen Stadt als Integrationsmodell für unterschiedliche soziale Gruppen, betont Jörg Friedrich. Zitator 2: Zwischennutzungen, mobiles Wohnen auf Zeit, Verdichtung und Umnutzung innerstädtischer Verkehrsbauten, die Suche nach neuen Wohnstandorten auf innerstädtischen Wasserflächen oder das Füllen von „unbebaubaren“ innerstädtischen Baulücken öffnen den Blick auf neue architektonische Lösungsansätze. Sprecherin: Architekten wie Jörg Friedrich und Alexander Hagner plädieren für die Nutzung von sog. „Lost spaces“ oder „Leftovers“ für die soziale Durchmischung und kleine zentrumsnahe Wohneinheiten. Ideen dafür sind die Aufstockung von Flachdächern, die Ergänzung von Schrebergärten, Wohnen im Zug, Floating Houses und die Umnutzung bestehender Gebäude wie Parkhäuser oder von Industriebrachen. Auch Zwischenbauten, sog. Implantate sind möglich: Fill the gaps! Hagner: Es ist einfach schon seit Jahrtausenden so, dass an Stadtmauern, unter Brücken, in der Kanalisation Menschen, die sich kein Wohnen leisten konnten oder auch den Handel, alles, was sie so getan haben, in solchen Überbleibseln dann ausgeführt haben. Wir haben jetzt im Parkhaus mit Studierenden geplant, weil die werden immer von unten mit den Autos gefüllt, ganz oben mag eigentlich niemand parken, weil das 3

ist zu weit vom Ausgang weg und man will ja schnell wieder raus aus dem Parkhaus. Die Idee war, man könnte jetzt von oben so eine Art Wettbewerb starten, das mit Wohnen zu besiedeln. Und dann mal schauen, wenn man es modular aufbaut zum Beispiel, von oben kommen die Module zum Wohnen und Leben und vielleicht auch Büro und von unten kommen die Autos, wer ist jetzt stärker, mit wem kann man dann letztendlich vielleicht auch mehr Geld machen? Schon dann auch in diesem Kapitalmarktwettbewerb drin. So was finden wir spannend. Sprecherin: Ein Überbleibsel in Alexander Hagners Sinn war auch das Biedermeierhaus im 9. Wiener Bezirk, das leer stand, bis sich die Initiatoren des „VinziRast mittendrin“ seiner annahmen. Die Idee für das alternative Wohnprojekt, das in seiner Art weltweit einmalig ist, kam von Wiener Studenten, die im Rahmen eines Streiks Kontakt zu Obdachlosen bekommen hatten und daraufhin einen Unternehmer zum Kauf des alten Hauses bewegen und den Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan als Träger gewinnen konnten. Corti: Das Haus war in seinem sehr schlechten Zustand… Sprecherin: Cecili Corti, Vorsitzende des Vereins Vinzenzgemeinschaft St. Stephan. Corti: ein altes Biedermeierhaus, aber es stand leer, und das Ungewöhnliche ist, dass es so nah am Zentrum und am Universitätsviertel ist… Ich hab zuerst gedacht, das ist ausgeschlossen, aber es ist Realität geworden. Wir haben dann geplant, dass es ein Haus ist, in dem Studierende und Obdachlose gemeinsam arbeiten, leben wohnen und lernen. Tatsache ist, dass in dem Haus, das im Mai 2013 eröffnen konnte, es hat 3,5 Millionen zusätzlich gekostet, da haben wir Spenden bekommen und einen günstigen Kredit bei der Stadt Wien. Sodass dieses Haus durch den Architekten geplant wurde, der ist sehr engagiert für Soziales, sodass schon die Architektur eine Infrastruktur darstellt, die diesen Gedanken von Gemeinschaft ganz ungewöhnlicher Menschen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, ermöglicht wird. Zitator: 27 BewohnerInnen teilen sich zehn Wohngemeinschaften. Neben den WGs gibt es Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftswohnzimmer, ein Studierzimmer, einen Veranstaltungsraum im Keller, Werkstätten, Beratungsräume und eine Dachterrasse. Überall kann Begegnung und Beschäftigung stattfinden. Max: Wir fahren jetzt mit dem Lift nach oben, das Haus ist nämlich vollständig Behindertenzugänglich, und fahren zur Dachterrasse, wo entweder wir in der Sonne hocken oder Veranstaltungen sind Otto: Man kann auch zusätzlich den Raum oben auf der Dachterrasse für Mitbewohner mieten, für Geburtstagsfeiern, es gibt Grillmöglichkeiten… (Lift piepst) 4

Sprecherin: Maximilian Steiner, Informatikstudent, 24 wohnt seit Eröffnung des VinziRast im Haus, hilft mit beim Abholen von gespendeten Lebensmitteln und führt bei Haussitzungen Protokoll. Otto Krenn, ehemals Obdachloser, Anfang 50 wohnt seit einem halben Jahr im VinziRast. Max: Ich wohne im 3. Stock Otto: Und ich wohne im 1. Stock… also wir steigen jetzt aus bei der Dachterrasse… Max: Da sieht man gleich das tägliche Morgen-Yoga… da gibt es immer wieder Aktivitäten, wo man selber teilnehmen kann, Kulturworkshops, bildende Kunst… Otto: Links von uns steht dann der Griller, den wir auch ab und zu nutzen… Max: Und ganz besonders unser Dachbeet… wo wir Kräuter anbauen. Ich hab ein paar Tomaten da stehen, mal schauen, wie´s denen geht…() und Erdbeeren haben wir …da muss man schnell sein, die werden schnell gepflückt () Zu Veranstaltungen sind Nachbarn eingeladen, monatlich haben wir einen Filmabend… Otto: Ich habe seit den sechs Monaten, die ich da bin, noch keinen Nachbarn erlebt, der wo unguad gewesen ist, im Gegenteil, die grüßen dich ganz normal Max: Grad ins Lokal kommen die Leute, das ja noch etwas vorgesetzt ist…und jetzt laufen die Passanten praktisch in das Lokal rein… Otto: Ich tu Mittagessen unten… weil ich ja mitarbeite … ehrenamtlich gehe ich sechs Tage die Woche Brot holen… mit meinem Hund und einem Wagl… Max: Das ist meine WG… () wir haben die kleine WG, da kochen wir uns Kaffee, kleine Gerichte… geteilter Kühlschrank, Bad, Klo und die drei Zimmer. Sprecherin: Manche der heutigen Bewohner des VinziRast kommen direkt von der Straße, andere hatten ein Bett in Notunterkünften; es sind Menschen mit psychischen Problemen oder mit Drogenerfahrung; wie Markus, der mit Max und einem anderen Mitbewohner in einer 3er-WG wohnt. Markus: Ich bin seit Jänner da, finds gut, dass ich einen Platz gekriegt hab… Die zwei, der Sammi und der Max, da habe ich einen Vorstellungstermin bekommen, das hat 5

gleich gut gepasst, je nachdem hätten die mich auch ablehnen können. () In dem Moment war ich praktisch obdachlos, vorher war ich auf Drogentherapie, und dann war ich obdachlos. Ich finds super, ich kenne alle, die da wohnen… ich steh auf so gemeinschaftliche Sachen. Max: Und die Christl ist die älteste Bewohnerin im Haus von Ex -Obdachlosenseite, die bezeichnet sich selbst immer als Hausmama und hilft beim Wäschewaschen und kocht auch mal für uns. Sprecherin: Im VinziRast finden die ehemals Obdachlosen Ruhe und gute Bedingungen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Jeder hat ein eigenes 10 bis 15 qm großes Zimmer in einer 3er-WG zu einem günstigen Mietpreis von ca. 300 Euro inklusive aller Nebenkosten. Das kann man auch mit einem Sozialhilfe-Einkommen bezahlen. Otto: Wir sind jetzt in der WG 3, wo I wohn. Geh ma eine in mei Zimmer… alles ist eigen eingerichtet… Die Möbel habe ich mir alle selber gekauft, die Einrichtung war mir zu klein… die Pflege ist mir sehr wichtig, dass es gepflegt ausschaut. Ich zahl 317 Euro plus Dachterrasse, plus Gemeinschaftsräume, Internet, Fernsehen, Fernwärme, Strom, alles. Sprecherin: Die Studenten, die im VinziRast einziehen, haben sich bewusst für das Engagement im Projekt entschieden, schätzen aber auch den Vorteil, einer bezahlbaren Wohnung in Uninähe. Max: Das war am Anfang ein ziemlich normales WG-Leben: wer putzt wann? Die typischen Startschwierigkeiten von WGs denke ich. Manchmal gibt’s dann schon Konflikte, wenn ich früh raus muss und da gibt’s dann in der Früh noch Party. Am Anfang hab ich ein Problem damit gehabt, dann hab ich mich aufgerafft und gesagt: Könnts ein bißl leiser sein und dann wars wieder kein Problem. Man muss nur die Konflikte auch lösen können und das Gespräch suchen. Das Haus ist auf dem Grundsatz, dass Gemeinschaft nicht funktionieren kann, wenn du keinen Rückzugsort hast, und so haben wir die Begegnungszonen, die Gemeinschaftsküchen, das Wohnzimmer, in den Innen-WGs begegnet man sich, in der WG Küche… aber ich finde es wichtig, dass man sich zurückziehen kann. Vor allem im Sommer ist es schön mit den Laubengängen und der Dachterrasse. Das genieße ich dann sehr, da lebt das Haus richtig auf im Frühling und Sommer. Sprecherin: Die Erschließung über Laubengänge an den Außenseiten der Häuser ist ein typisches Baumerkmal vieler Wohnprojekte, die die Förderung der Gemeinschaft zum Ziel haben. Hagner: Wenn ich so ein Projekt machen würde, dann nur mit Laubengängen, denn ich kann hier zwischen den Geschossen kommunizieren. Was ständig passiert. Wenn jemand 6

kocht, schaut er nach unten fragt: Hast du noch was? Gerade in der Ebene ist das der Kommunikationsraum, und die Leute reden miteinander, das ermöglicht Architektur. Sprecherin: Für die Architektur des VinziRast bekam das Architekturbüro von Alexander Hagner den österreichischen Bauherrenpreis 2014. Heute arbeiten drei bezahlte Mitarbeiter im VinziRast und 120 ehrenamtliche mit unterschiedlich starkem Engagement. Es gibt eine sozialtherapeutische Betreuung, und wer von den Bewohnern will, kann eine Aufgabe im Haus übernehmen und mitarbeiten. Atmo Sprachkurs: Hallo, wie heißt du? Und woher kommst du? Ich komme aus Algerien. Du kommst aus Algerien… Ich komme aus Österreich, du kommst aus Algerien Ich komme aus Algerien. Sprecherin: Es gibt ein Studierzimmer mit Bibliothek im ersten Stock, in das sich Bewohner zurückziehen können, um in Ruhe zu lesen oder die Computer zu benutzen. In den Räumlichkeiten finden fast jeden Tag Sprachkurse für Migranten statt. Zuspielung Sprachkurs: Was möchtest du arbeiten? Restaurant… ich arbeite kochen Restaurant… Atmo Werkstatt Sprecherin: Im Erdgeschoss befinden sich eine Tischlerei, eine Näherei und Fahrradwerkstatt, die den Bewohnern oder Menschen, die von einer Notschlafstelle kommen, die der Träger-Verein St. Stephan auch betreibt, Möglichkeiten bieten, sich nützlich zu machen, etwas zu lernen und Kompetenzen zu erwerben, die ihnen später auf dem Arbeitsmarkt helfen können. Ein Student aus Kamerun näht gerade Taschen; in der Tischlerei wird der algerische Flüchtling, der gerade noch beim Sprachkurs war, beim Schnitzen von Namensschildern angeleitet. Otto: Wir haben auch eine Radwerksatt dabei, da werden Räder angeliefert und die werden von der VinciChance repariert und für eine kleine Spende zurückgegeben… Werkstatt, Anleiter: Normalerweise arbeiten da zwei bis drei Flüchtlinge, ich mach das ehrenamtlich und erkläre, was zu tun ist und lehre, Räder zu reparieren, das beginnt damit, dass gespendet wird und jemand sagt, ich hab da Räder, die brauche ich nimmer, die werden hergebracht, repariert, entweder sie kriegen die Hausbewohner oder sie werden verkauft, die Spende geht dann ans Haus … das ist so der Job… 7

Hagner: Wir sind ja auch neugierig. Und die Neugier, das ist zum Beispiel ein Ansatz, mit dem wir viel lieber arbeiten. Und wenn wir jetzt dort Werkstätten schaffen und die Tür steht offen und da arbeitet jemand an einem Fahrrad und ein Nachbar kommt vorbei und hat ein Problem mit seinem Fahrrad, dann liegt die Frage nahe, ob man vielleicht das da reparieren kann oder reparieren lassen kann. Und schon ist ein Kontakt hergestellt. Es ist städtisches Leben! Und in dem Moment, wo das ein Wohnprojekt ist, das im Erdgeschoss nur Müllräume hat und eine Tiefgarageneinfahrt und das war es, kommt dieser Kontakt nicht zustande. Damit haben wir große Chancen vergeben. Da es wurscht ist, was für einen sozialen Hintergrund jemand hat, wie viel Geld er hat, was er so beruflich tut, sondern einfach da Mensch, da Mensch. Warum soll man nicht miteinander kommunizieren? Sprecherin: Um 12 Uhr mittags wird gegessen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Werkstätten versammeln sich an einem Tisch im Innenhof des VinzRast und lassen sich Tschabis Karottensuppe schmecken. Musik: Old Friends, Track 9 Sprecherin: Je mehr Menschen heute mit unterschiedlichem kulturellen und sozialen Hintergrund an einem Ort zusammenleben wollen und zusammen leben müssen, desto wichtiger ist es, Möglichkeiten zur Begegnung zu schaffen, das privatistische Wohnen zu öffnen und damit die Chancen für Integration und sozialen Frieden zu erhöhen. Das betrifft nicht nur das Wohnen von Benachteiligten, sondern geht als Bewegung in die bürgerlichen Schichten hinein. Ein neues Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Wohnformen drückt sich z.B. in den Baugenossenschaften aus, die heute vor allem in den Städten Gemeinschaftswohnanlagen errichten. Mustersiedlungen dieser Art sind im Freiburger Vauban und im französischen Viertel in Tübingen entstanden. Als Vorbild gilt auch die sogenannte Wiener Sargfabrik, eine der ersten großen Gemeinschaftswohnanlagen im urbanen Umfeld. Aber auch auf dem Land gibt es gemeinschaftliche Wohnprojekte, an deren Erfahrungen man heute auf der Suche nach integrativen Wohnarchitekturen anknüpfen kann. Atmo Küche Ansager: Wie wollen wir wohnen? Zweites Projekt: Cohousing-Siedlung „Der Lebensraum“, Gänserndorf. David: Wir stehen in der Gemeinschafts-Küche. Was heute gekocht wird, entscheidet der Koch, also heute ich, ich hab mich inspirieren lassen von einer Gärtnerei in der Gegend, hab gefragt, welches Gemüse ist da, weil schon die Erdäpfelernte kommt, gibt es Kartoffelvedgies. Sprecherin: Gänserndorf liegt zwanzig Kilometer östlich von Wien. In der Gemeinschaftsküche der Cohousing-Siedlung „Lebensraum“ bereitet David Brunmayr das Abendessen für 8

seine Nachbarn und Mitbewohner vor. 16 Uhr, in zwei Stunden wird gegessen. Von den 60 Bewohnern der Siedlung nimmt ungefähr die Hälfte regelmäßig an dem täglichen Gemeinschaftsessen teil. David: Die Erdäpfel sind geschnitten, jetzt kommen sie da rein in das Blech, dann habe ich schon eine Würzsoße vorbereitet, das ist Rosmarin püriert mit Butterschmalz. Paprika und Dill, das Ganze wird dann durchgemischt und kommt ins Rohr. Sprecherin: Die Cohousing-Siedlung „Lebensraum“, gegründet 2005 ist ein gemeinschaftliches Wohnprojekt nicht für Randgruppen, aber für Menschen mit alternativer Gesinnung, die das Leben in der Kleinfamilie, einem Single-Haushalt, im Einfamilienhaus oder einem abgeschlossenen Apartment in einem der üblichen Wohnblöcke nicht als alleinseligmachendes Lebensmodell empfinden. David: Wir sind über Freunde da herkomma, vor 3 Jahren haben wir das kennengelernt, es hat uns recht gut gefallen, von dem her, dass Privatsphäre verbunden wird mit Gemeinschaft, wo man sich das aussuchen kann, wie viel man da ausnutzt, Synergien nutzt mit andern Familien, die da sind, wo die Kinder untereinander spielen in unterschiedlichen Altersstufen. Sprecherin: David Brunmayr, Mitarbeiter in einem Verein für Obstberatung, Vater zweier Kinder. David: Man braucht natürlich eine gewisse Offenheit, wenn man da wohnt und in Austausch mit andern tritt. Im Prinzip ist es vergleichbar mit einer guten Nachbarschaft. Es ist wie man sich ein Dorf vorstellt, und dann gibt’s noch gemeinsame Strukturen, der Gemeinschaftsraum, wo immer wieder Feiern sind. Von der Architektur her gibt es die Möglichkeit, dass etwas entstehen kann. Es ist die Kochgruppe entstanden z.B.; dann gibts eine Yoga-Gruppe, die sich einmal die Woche trifft, es gibt eine Hühnergruppe, die Legehennen hat. Wie es heiß war im Sommer ist ein Pool angeschafft worden, Carsharing hat sich auch gegründet… wo fünf Familien gemeinsam ein Auto verwenden… Atmo Küche Zitator: Unser Leitbild. Individualität und Gemeinschaftsleben. Wir möchten: Tür an Tür leben mit Menschen, die wir kennen und denen wir vertrauen, und mit denen neue Freundschaften entstehen können; mit unseren Nachbarn gut auskommen, einander unterstützen und für eine lebenswerte und wachsende Gemeinschaft sorgen; einander in den praktischen Dingen des Alltags unterstützen; eine gesunde Balance zwischen gemeinschaftlichen Aktivitäten und individuellem und familiärem Leben zu halten; die Bedürfnisse nach Rückzug und Privatsphäre ebenso zu respektieren wie der Wunsch nach gemeinsamen Unternehmungen und Zusammenkünften; eine Atmosphäre der Kooperation und Hilfsbereitschaft schaffen, 9

vor allem in schwierigen Zeiten versuchen, uns ein offenes Herz und einen wachen Geist zu erwerben und beides zu bewahren Atmo Brunnen Sprecherin: Irmgard Kravogel war Gründungsmitglied des Vereins „Lebensraum“ und lebt seit zehn Jahren in der Cohousing-Siedlung. Kravogel: Hier kommen wir jetzt zum Haupteingang der Siedlung „Lebensraum“ mit einem kleinen Biotop im Vordergrund, am Dach sehen Sie diese Aufbauten, das sind Solaranlagen, das Warmwasser wird im Sommer mit Sonne hergestellt, der gesamte Gemeinschaftsraum ist mit Solarpanelen bestückt. Das ist der Eingang zum Gemeinschaftsraum. Das ist das Foyer mit dem Brunnen, das ist ein Gemeinschaftswerk der Bewohner, das ist ein gestalterisches Moment und das Wasser wird mit der Osmosenanlage gereinigt… und gleichzeitig ist das ein Kontaktpunkt wie in alten Zeiten der Dorfbrunnen.. Sprecherin: Gleich gegenüber einer Vorläufersiedlung, die der Architekt Helmut Deubner ins Leben gerufen hat, befindet sich die Cohousing-Siedlung „Lebensraum“. Die Vision der Gründer war es, aktive Nachbarschaft und generationsübergreifendes Miteinander in einer ökologischen Wohnanlage zu ermöglichen. Deubner: Ich glaube, dass dieser Trend zur Singlegesellschaft im Cohousing am Besten beantwortet wird, weil hier die Möglichkeit besteht, dass sich alleinstehende Menschen treffen und unterstützen können. Deshalb glaube ich, dass die Gemeinschaftswohnidee eine Antwort auf die dringenden Fragen unserer Zeit darstellt. Sprecherin: Die Grundlagen des Co-Housing entstanden in den 60er Jahren in Dänemark und wurden durch den amerikanischen Architekten Charles Durrett in die USA übertragen. In der Regel umfassen Co-Housing-Projekte 20 bis 40 Wohneinheiten, in denen ca. 150-200 Leute miteinander leben. Deubner: Der gesellschaftliche Hintergrund ist immer dann gegeben, wenn es einen Bedarf gibt, in dem Fall waren es gegenseitige Stützung von alleinerziehenden Frauen vor allem, aber später war es eine Stützung von Familien, und in Dänemark und Schweden ist es so, dass die Co-Housing-Projekte eine Art von Altenversorgung sind, da werden sie sehr stark im betreuten Wohnen eingesetzt, weil sich gezeigt hat, dass Leute in Gemeinschaft viel später dement werden und später sterben. dann ist die Chance, dass sie geistig rege bleiben viel größer. Und auf der anderen Seite ist es so, dass die Co-Housing-Projekte gemeinschaftliches Essen haben… und das fördert die Kommunikation. Und gibt ein Zusammenhaltsgefühl.

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Sprecherin: Die Atmosphäre hat etwas von einer Jugendherberge oder einem Tagungs- oder Gemeindezentrum; es gibt eine gemeinschaftliche Waschküche und einen Genossenschaftsladen. Die Wohnungen sind – ähnlich wie im Wiener VinziRast durch breite überdachte Laubengänge erschlossen, die auch als Begegnungsräume fungieren: Deubner: Es gibt den privaten Bereich mit den privaten Gärten und dann gibt es den halböffentlichen Bereich in der Siedlung, wo alle Zugang haben, mit Spielplätzen und dann gibt es den öffentlichen Bereich mit der Straße, wo die Autos parken. Wir haben z.B. im Lebensraum den Gemeinschaftsraum zentral in die Mitte gestellt, so dass man immer im Gemeinschaftsraum vorbeikommt, so dass man sieht, da ist was los, da spielt wer, man setzt sich einfach dazu, diese Kommunikation ist dann gegeben. Atmo Gemeinschaftsraum Sprecherin: Die Siedlung liegt in der weiten Ebene östlich von Wien, die von der S-Bahn erschlossen ist. Weitläufige Grünflächen umgeben die Häuser, insgesamt 8000 qm, es gibt Gemüse- und Obstgärten, Spielplätze, einen Schlittenhügel, ein Schwimmbecken, einen Feuerplatz und einen Beachvolleyballplatz sowie Ställe für Ziegen und Hühner. Die ökologische Gesinnung der Bewohner ist deutlich erkennbar, auch beim Essen legt man Wert auf biologische Lebensmittel. Atmo Küche David: Wir sind inzwischen bei den Zwiebeln für den Kopfsalateinheit, es gibt noch einen Kochsalat, das ist ein italienischer Salat, der zum Kochen verwendet wird, (schneidet) aber davor werden die Zwiebel angebraten… Atmo Gemeinschaftsraum… Stimmen… Kinder … Sprecherin: Im Gemeinschaftsraum versammeln sich inzwischen Eltern mit ihren Kindern, die an einer Naturgruppe teilgenommen haben und nun ihre Erlebnisse im Rahmen einer Diashow präsentieren. Leiter der Gruppe: Wir machen eine Vorführung, die Kinder zeigen ein paar Sachen, die sie eingeübt haben, singen, tanzen, und was sie so gemacht haben, zeigen sie und dann zeigen wir Fotos… Kinder, Gesang: „Erde mein Körper… Wasser mein Blut… Luft mein Atem… Feuer meine Seele“ Sprecherin: Für Kinder, die Geselligkeit immer lieben und kein ausgeprägtes Ruhebedürfnis haben, ist die gemeinschaftliche Wohnform der Cohousing-Siedlung ideal. Das 11

Leben als Spielwiese, als Tummel- und Abenteuerspielplatz. Erwachsenen kann der ständige Trubel auch manchmal zuviel werden. Familie Hödlmoser zieht deshalb nach 7 Jahren wieder weg. Zwar habe sie viel gelernt, sagt Karin Hödlmoser, gelernte Bildungswissenschaftlerin, - sie schätzt vor allem die zivile Form der Konfliktaustragung in der Gemeinschaft -, aber auf die Dauer sei ihr mit 2 Kindern die 90qm-Wohnung (Miete 1160 Euro monatlich) nicht groß und hell genug, außerdem ist der Schnitt nicht ideal. Es gibt nur ein Kinderzimmer. Jetzt möchte die Familie mehr Platz haben, außerdem konnten sich die Hödlmosers nie richtig mit der flachen Landschaft anfreunden, möchten lieber in den Bergen leben und sich mehr auf die Familie konzentrieren. Karin Hödlmoser: Wir haben sieben Jahre da gewohnt, jetzt habe ich das Gefühl, es braucht was Neues, mehr Familie, weniger das Organisieren in der Großgruppe. Ich bemerke, ich bin bereit für einen neuen Lebensabschnitt, wo ich wieder mehr Zeit haben will für die Familie Wenn man offen ist und nett ist mit allen, ergibt sich, dass immer mehr Leute kommen, irgendwann kann es auch zu viel werden, der Rekord war, dass in einer Minute 4 Leute geklopft haben, da habe ich gemerkt, dass mir das zu viel wird. Wir haben eh das System, das Schild rauszuhängen, dass man nicht gestört werden will. Sprecherin: Jeder Bewohner muss in der Cohousing-Siedlung die richtige Balance zwischen Privatheit und Gemeinschaftlichkeit für sich definieren; die Möglichkeiten dazu gibt es, weil jede Wohnung für sich autonom ist; man kann die Tür vor dem Nachbarn zumachen, jeder hat seinen eigenen Garten, seinen eigenen Balkon, kann sich eine eigene Waschmaschine aufstellen und muss nicht die gemeinsame Waschküche benutzen, wenn er nicht will. Individualismus und Kollektivismus sollen im „Lebensraum“ keine unversöhnlichen Gegensätze sein. - 18 Uhr. Inzwischen sind die Tische auf einem freien Platz vor der Küche gedeckt, und die Bewohner, die an der Kochgruppe beteiligt sind, versammeln sich zum Abendessen. O-Ton Essen: Ich hab mich heute beim Kochen () inspirieren lassen… das waren oide Erdäpfel.. und Salat… Mahlzeit! Sprecherin: Es herrscht eine entspannte, fröhlich-freundliche Atmosphäre in der Runde, überhaupt gibt es in der Gemeinschaft eine liberale Grundhaltung, die nichts von jenem verbissenen dogmatischen Milieu hat, das man einst in linken Kommunen antraf, als das sog. Private als politisch verstanden wurde und Gemeinschaft zum Zwang wurde. O-Töne, Tischgespräch - Mann: Zum Teil sind es Lebensphasen, es kann sein, dass man mehr Rückzug braucht, das soll auch sein – - Frau: Nach meiner Scheidung war es auch so, als ich eingezogen bin, da wollte ich Wunden lecken und nichts, also … ich war sicher ein Dreivierteljahr gar nicht präsent.. 12

- Du kannst die Leute ja nicht zwingen, dass sie sich einbringen… manche entwickeln sich so… - Das haben wir meistens gesehen, die sich nicht wohlfühlen, die ziehen weg… - Es ist schon mehr so gute gelebte Nachbarschaft mit ein paar sozialen Dingen. - Oft gibt es eine Führungsperson, die so was anzieht und ein Charisma hat, da kenne ich eine paar in Deutschland, und die haben eine ganz andere Energie, weil da Hierarchien vorhanden sind, und das haben wir nicht, weil es gibt keine Hierarchien, keine Dogmen, und Ideale, weder religiös, noch politisch, auch beruflich, wir sind sehr breit aufgestellt, es gibt keine spezielle Sorte von Mensch jetzt… es war unsere Vision, dass wir mit allen Menschen auskommen - Unser kleinster gemeinsamer Nenner - Eigentlich viel sagt das aus, man will offen sein für alle… dadurch ist sehr bunt und vielschichtig… Musik: Old Friends, Track 9 Atmo Küche Ansager: Wie wollen wir wohnen? Drittes Projekt: Grandhotel Cosmopolis, Augsburg. Küchenhilfe (Renate): Wir machen jetzt den Pizzateig, Hefeteig, der muss jetzt gehen, dann gibt’s heute Gemüsepizza und Kartoffelpizza, das ist eine Spezialität aus Italien. Küchenhilfe (Anna): Ich bin, seit die Idee geboren wurde von dem Grandhotel, bin ich auch hier. Es gibt zwei Tage, wo die Asylbewerber vollständig übernehmen und da helfen wir dann mit… Sprecherin: Vormittags im Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, Springergäßchen 5, Domviertel. Großküche im Keller. Küchenhilfe (Markus): Ich bin auch ein Freiwilliger, ich arbeite in der Küche, weil Kochen meine Leidenschaft ist, und in dem Projekt, weil ich es wichtig finde, das man mit den Asylbewerbern zusammen den Alltag gestaltet, der sich abhebt von dem normalen Flüchtlingsalltag, deshalb ist es für mich schwierig, wenn man den Unterschied macht von Asylbewerbern und Deutschen, letztendlich entstehen hier Freundschaften, jenseits von den klassischen Rollenverteilungen, die man den Gruppierungen zuordnet. Tina Bühner: Das ist die Hotellobby mit dem Café aus dieser Theke, die sehr viel Tradition hat, die kommt aus einem ehemaligen Fotogeschäft aus Augsburg aus den 60er Jahren wie viele andere Möbel, die abgecycelt wurden. Hier treffen sich die Leute zum Kaffeetrinken, die hier arbeiten, wohnen, aber auch aus der Nachbarschaft aus Augsburg kommen vorbei, trinken Kaffee, essen was. 13

Sprecherin: Tina Bühner ist im Grand Hotel Cosmopolis für die Pressearbeit zuständig. Bühner: Hier auf der anderen Seite ist der Check-in für die Hotelgäste, hier begegnen sich alle Leute, Hotelgäste, Gäste mit Asyl oder Tagesgäste, die zum Kaffeetrinken vorbeikommen. Das ist das Schöne hier, dass man nicht weiß, wer ist wer, hat er Asyl oder nicht, das ist die Idee, das Prinzip, dass der Unterschied nicht so groß ist, man begegnet sich auf Augenhöhe. Zitator: Willkommen im GHC. Eine soziale Plastik in Augsburgs Herzen. Das Grandhotel Cosmopolis ist ein gesellschaftliches Gesamtkunstwerk im Augsburger Domviertel und setzt Akzente für ein friedliches Zusammenleben in der modernen Stadtgesellschaft. Die dringliche Aufgabe der Unterbringung von Asylbewerbern wird hier verknüpft mit kultureller Vielfalt und vor allem mit einem Angebot zur Teilhabe für alle. Sprecherin: Dass die Initiatoren des Augsburger Wohnprojekts den Begriff der „sozialen Plastik“ bemühen, ist kein Zufall, denn die Augsburger Macher verstehen sich als Künstler. Und der Begriff stammt von dem Künstler Josef Beuys der damit Projekte bezeichnete, die die performative Struktur von Kunst und ihren gesellschaftsverändernden Impetus betonen,. Peter Fliege: Wie es dazu kam, ist eine längere Geschichte. Sprecherin: Peter Fliege, Gründungsmitglied Grandhotel Cosmopolis. Peter: Wir kennen uns schon länger, das Team… Wir haben vorher schon Kulturprojekte in Augsburg gemacht, in öffentlichen Raum und in Leerständen, und haben 2011 einen neuen Wirkungsraum gesucht, wussten, dass das Gebäude leer steht, wollten hier Kunst- und Kulturarbeit machen, haben bei der Diakonie angefragt, da hieß es, das geht nicht, das wird eine Flüchtlingsunterkunft. Daraufhin kam bei uns die Frage, das kann ja nicht sein, wieder so eine Unterkunft, mitten im Domviertel, dann haben wir uns ein anderes Konzept überlegt und haben das der Diakonie vorgestellt, und die hat sich darauf eingelassen, das war der Anfang. Sprecherin: Im 1. Stock des sog. Grandhotels, das einst ein Altenheim beherbergte, befinden sich Hostelzimmer und einige Werkstätten, Küche und Bad auf dem Flur. Im Erdgeschoss hängen Fotos von Menschen, die im Cosmopolis leben und arbeiten, Gäste mit oder ohne Asyl, Kinder, Mitarbeiter aus dem Team der Helfer… Ca 60. Gäste mit Asyl wohnen im Haus, Männer, Frauen, Familien mit Kindern. Gerade läuft ein tschetschenischer Junge von sechs Jahren aus der Lobby zu seiner Familienwohnung im 2. Stock. 14

Junge: Ich bin Rashid aus Tschetschenien, () Im Kindergarten lernen wir alle Deutsch sprechen, da hab ich schnell gelernt, schneller als euch, () ich bin 6 Jahre alt, ich hab mein Vorschulkindergarten, dann ist bald Grillfest und ich bekomm meine Schultüte, dann gehe ich zu meiner Schule und schaue in welche Klasse ich komme, ich muss in die erste Klasse und meine Schwester ist in der 5. Klasse. Sprecherin: Jedes der Hotelzimmer ist von einem anderen Künstler gestaltet. In einem Zimmer z.B. hängen Papiertüten von der Decke wie Wolken, der Raum ist sehr klar und einfach eingerichtet, ein Holzgestell trägt das Bett, das Waschbecken ist aus Stein gehauen, an der Wand steht der Spruch: Müssen wollen geht nicht, nur wollen müssen. Ein Zimmer im Stil der Arte Povera: wenig Komfort, Bad und WC befinden sich auf dem Flur. Doch das schreckt die Gäste offenbar nicht ab. Sie kommen aus aller Welt hierher, um das Projekt kennenzulernen. Gast: Ich bin hier als Erasmus-Praktikant, weil ich an der Uni Wien studiere, Psychologie, aber ich brauche es nicht für die Uni, bin mit dem Bachelor fertig geworden, wollte mich nicht gleich in den Master stürzen und habe dieses Projekt entdeckt, dass ich als Praktikant hier sein wollte. / Ich hab an der Bar gearbeitet, am Hotelservice, hab Geflüchtete betreut, habe einer Frau aus dem Irak geholfen, eine Wohnung zu finden. Sprecherin: Das Grandhotel liegt mitten in der Stadt. Wie das VinziRast in Wien geht es um die Begegnung zwischen unterschiedlichen Stadtbewohnern und die Vermeidung von sozialer Segregation. Ein Projekt, das im Wiener Magdas-Hotel einen Zwilling hat und damit dem entspricht, was Alexander Hagner als Vision für eine Architektur gelebter Diversität vorschwebt. Hagner: Also, bei Magdas ist es so, dass dort ein großes Gebäude zum Teil in Hotel und zum Teil in Wohnen für unbetreute minderjährige Flüchtlinge ausgebaut wurde. Es arbeiten Flüchtlinge - jetzt nicht Minderjährige, nicht unbetreute - in diesem Hotelprojekt, weil man gesehen hat, sowohl Flüchtlinge haben das Thema, dass sie fremd sind in einer Stadt, dass sie vielleicht gerne Kontakt hätten, aber auch Touristen sind Fremde in der Stadt. Und haben vielleicht auch Kontakt... Also, so eine Art... Ich liebe diese Ansätze, aus zwei Komponenten eine Schnittmenge zu analysieren und eine Win-win-Situation daraus zu entwickeln. Sprecherin: Eine Asylbewerberin aus Uganda, die seit ca. zwei Jahren in Deutschland lebt, ist im April 2014 im Grandhotel Cosmopolis eingezogen. Sie hat gerade ihren qualifizierenden Hauptschulabschluss gemacht und einen Ausbildungsplatz als Köchin gefunden. Nun wartet sie auf die Arbeitserlaubnis der Ausländerbehörde. Ugandische Asylbewerberin: Hier ist es perfekt, kann man sagen. Wo ich habe vorher gelebt war echt die Schlimmste. Ich habe in eine kleine Zimmer gewohnt und wir waren zu dritt im 15

Zimmer, das war die Schlimmste. Als Asylbewerber ist schwer, wenn man kein Deutsch spricht und nicht in die Schule geht, und hat diese Möglichkeit nicht, es dauert lange, Kontakt zu Menschen zu bekommen. Hier ist es super. Ich sag mal so, man trifft Leute, wenn es gibt Projekte, wenn ich Kaffee hole, ich kenne soviel Leute hier, man kennt sich hier, hier Kontakt zu haben, ist sehr einfach, weil hier kommt sehr nette Leute, die kann mit Asylbewerber umgehen, die hat keine Angst, die sagt, hallo, wie geht es dir, die hat keine Angst, neben mir zu sitzen, das finde ich cool, eine gute Sache. Sprecherin: Auf drei Stockwerken gibt es 56 Betten für „Hotelgäste mit Asyl“, wie die Betreiber des Grandhotel die von der Regierung von Schwaben zugewiesenen Asylbewerber bezeichnen. Sie wohnen in geschützten Bereichen, die für „Hotelgäste ohne Asyl“ nicht zugänglich sind. Dies entspricht den Bedürfnissen der Bewohner, die oft traumatische Erfahrungen hinter sich haben und in der Wohnanlage Ruhe und die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, finden sollen. Die Begegnung zwischen den Asylanten und normalen Hotelgästen kann aber in der Lobby stattfinden oder im sog. Rosengarten, einem grünen Innenhof, oder im Teegarten direkt am Eingang des Hauses. Musik, Gesang Zaide Sprecherin: Während im Grandhotel die Zimmer in Ordnung gebracht und das Mittagessen vorbereitet wird, Gäste ein- und auschecken und in der Lobby und im Teegarten Besucher und Gäste Kaffee trinken, probt Julia Hübner mit Asylbewerbern aus dem Cosmopolis und professionellen Musikern in einem Augsburger Gewerbegebiet für die öffentliche Aufführung von Mozarts Oper Zaide. Musik ff, darüber Julia Hübner: Zu der Arie, das ist die berühmteste, Ruhe sanft mein holdes Leben, in der Arie versucht sie, ihren Geliebten in den Schlaf zu singen. Bei uns haben wir das gelöst in einer Szene mit der nigerianischen Choreografin Esther Jacobs und der Sängerin Cornelia Lanz, die die Szene wie ein Duett choroegraphisch-musikalisch gestaltet, und Zaide sich unter den Geflohenen befindet und mit ihrem Alter Ego versucht, Schlaf zu finden und auch Menschen zu trösten, die in dem Moment keinen Schlaf zu finden. Cornelia Lanz: Die Opernproduktion der Oper Zaide ist eine Produktion des Vereins Zuflucht Kultur zusammen mit der Stadt Augsburg und dem Theater Augsburg, und viele unserer geflüchteten Künstler und auch wir selber leben im Grandhotel Cosmopolis. Und diese Arie, die Sie gerade gehört haben, verhandelt auch das Thema der Schlaflosigkeit, dem wir ständig begegnen in den Flüchtlingsheimen, in den aufgewühlten Seelen unserer geflohenen Künstlerfreunde, dieses Aufwachen morgens und völlig gerädert sein, und keine Ruhe finden, weil die Seele immer noch im Krieg verharrt ist. Gerade solche Motive wollen wir in der Oper verhandeln. 16

Sprecherin: Im Chor wirken 20 Migranten mit – aus Syrien, Afrika, Afghanistan, eine Nigerianerin tanzt und singt. Esther: I am playing Zaide, dancer, I have to play in form of body movement and dancing, bringing a lot of energy to the production. I was for a very long time a dancer, a choreographer in Nigeria. I was, when I came to the Grandhotel Cosmopolis, I was doing African dance lessons for a while and that is how she got to know about me. Atmo: Läuten zum Essen Sprecherin: Während die Zaide-Proben weitergehen, wird im Cosmopolis um ein Uhr zum Mittagessen geläutet. Im Teegarten sitzen feste Mitarbeiter, Gäste ohne Asyl und freiwillige Helfer zusammen an Tischen und unterhalten sich, während sie sich die Kartoffelpizza schmecken lassen. Zwar hat das Künstlerkollektiv Joseph Beuys´ Begriff der „sozialen Plastik“ benutzt, um ihre Engagement zu beschreiben, aber Peter Fliege möchte dabei nicht stehenblieben. Peter: Es geht darum, neue Formen künstlerischer Kreativität zu entwickeln, die aus unserer Sicht in den öffentlichen Raum getragen werden können, wo jeder teilnehmen kann, wo es nicht darum geht: das ist ein Flüchtling… ein Besucher oder Mitarbeiter, sondern es geht darum, da wird etwas gemeinschaftlich geschaffen, nicht Unterschiede zu machen, dass wir alle Menschen sind, dass wir gemeinsam etwas schaffen können, dass es nicht mehr wichtig ist, wo jemand herkommt, darum geht es. Musik: Old Friends, Track 1 Sprecherin: In einem humanen Geist bewusst gestalteter Gemeinschaftlichkeit stimmen alle solidarischen Wohnprojekte überein: Gemeinsam kochen, essen, arbeiten und leben und kreativ sein wird zur Einübung von Toleranz und Respekt bei Anerkennung aller bestehenden kulturellen und biographischen Unterschiede. Gerade unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Integration der Flüchtlinge in Deutschland bedeutet, können die kollektiven Wohnprojekte in Augsburg, Wien und Gänserndorf als Impulsgeber für Architekten und Stadtplaner dienen. Es gibt Erfahrungen für gelebte Diversität in der Stadt und integrative Wohnprojekte. Gegen die Tendenzen zu sozialer Trennung steht eine Architektur für Benachteiligte, die Lost Spaces, Leer-Räume in der Stadt nutzt und ihre Tradition als Ort kultureller Vielfalt fortschreibt. Hagner: Also, diese symbiotischen Effekte durch die Vermischung, Diversität, Heterogenität, das, was Stadt ja eigentlich ist, dass man das auch in der Belegung, in der Nutzer/innengruppe forciert, das, finden wir, ist ein sehr konstruktiver Ansatz für letztendlich Empathie in der Stadt. Und ich glaube, das ist auch überhaupt der einzige Klebstoff, den wir haben, wenn wir nicht auseinanderfallen wollen, wenn der soziale Friede 17

weitgehend gewährleistet bleiben soll. In dem Moment, wo wir beginnen mit Gated Communities, mit abgeschlossenen Gesellschaften und Orten, wo nur die ihresgleichen ihren Platz finden, ich denke, das ist mittel- und langfristig das Ende der Stadt und das Ende des sozialen Friedens. Musik Absage: Sie hörten: Wie wollen wir wohnen. Über solidarische Wohnprojekte. Ein Feature von Jochen Rack Es sprachen/Sprecher: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Carsten Fabian, Jerzy May Technik: Barbara Beyerlein, Anita Leitner, Stefan Ebertshäuser, Hildegard Mayr Regie: der Autor. Redaktion: Wolfram Wessels Produktion: Südwestrundfunk 2015

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