Stottern bei Kindern und Jugendlichen

Stottern bei Kindern und Jugendlichen Bausteine einer mehrdimensionalen Therapie 1. Auflage Taschenbuch. Paperback ISBN 978 3 540 42868 8 Zu Inhalt...
15 downloads 1 Views 181KB Size
Stottern bei Kindern und Jugendlichen

Bausteine einer mehrdimensionalen Therapie

1. Auflage Taschenbuch. Paperback ISBN 978 3 540 42868 8

Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

5 Ausgewählte Therapiekonzepte 5.1

Direkte und indirekte Therapieansätze – Eckpunkte der Stotterbehandlung – 90

5.1.1

Indirekter Therapieansatz – 90

5.1.2

Direkter Therapieansatz

5.2

Indikationskriterien für die Auswahl des Therapieansatzes

5.3

Vorbeugendes oder therapiebegleitendes Elterntraining

5.3.1

Präventivkonzept nach Irwin

5.3.2

Berliner Gruppenelterntraining nach Motsch und Schmidt (1996)

5.4

Spieltherapeutisch geprägte Sprachtherapie (Katz-Bernstein) – 95

5.5

Fluency-Shaping-Programme

5.5.1

Beschreibung des Verfahrens

5.5.2

Wann ist die Entscheidung für ein Fluency Shaping sinnvoll?

5.5.3

Vor- und Nachteile von Fluency-Shaping-Programmen

5.5.4

Die Kombination von Fluency-Shaping-Programmen mit modifizierenden Verfahren

– 90

– 94

– 94 – 95

– 97

– 97 – 98

– 98

– 99

5.5.5

Beispiel für Fluency Shaping: das Lidcombe-Programm

5.6

Sprechtechniken – ein Überblick

5.6.1

Welche Technik passt zu welchem Kind?

5.7

Modifikationstherapie nach Dell und van Riper

5.7.1

Methoden

– 104

– 92

– 100

– 102 – 103

– 104

90

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

Die Vielfalt der Behandlungsansätze für das kindliche Stottern ist groß. Viele Programme und Konzepte ähneln sich jedoch oder überschneiden sich zumindest mit anderen Ansätzen. In Kapitel 5 werden verschiedene Konzepte in ihren Grundzügen dargestellt. Es gibt die sog. indirekten Ansätze und die direkten. Indirekt bedeutet, dass nicht am Sprechmuster, sondern an den beeinflussenden Faktoren gearbeitet wird. Im engeren Sinne wird »indirekt« im angloamerikanischen Raum für die Therapie ohne das Kind, also Elterntraining und -beratung verwendet. Direkte Ansätze lassen sich unterteilen in Modifikation des Stotterns, Fluency-Shaping-Programme und Sprechtechniken. Die hier behandelten Konzepte stehen beispielhaft für jeweils eine der oben genannten Richtungen. Manche davon gehen eher eindimensional vor, die meisten zeigen jedoch eine mehrdimensionale Herangehensweise. > Beachte Ziel ist es, sich nach Kenntnis der ausgewählten Ansätze von diesen zu lösen und zu einer methoden- und konzeptübergreifenden Bausteinsammlung zu kommen.

5.1

Direkte und indirekte Therapieansätze – Eckpunkte der Stotterbehandlung

15 16 17 18 19 20 21

Die Unterscheidung von direkter und indirekter Herangehensweise wird mit zunehmender Weiterentwicklung der einzelnen Therapieansätze zu einer eher künstlichen Trennung innerhalb der Palette möglicher Therapieelemente. Vertreter verschiedener Therapieansätze finden aus unterschiedlichsten Blickwinkeln zu ähnlichen Ergebnissen. In diesem Kapitel werden direkte und indirekte Therapieansätze vorgestellt, und es wird die Notwendigkeit einer Integration der gegensätzlichen Positionen dargelegt.

Indirekter Therapieansatz

Bei der indirekten Vorgehensweise wird, ganz im Sinne des Anforderungs- und KapazitätenModells (vgl.  Kap. 2.2.2, Abschnitt »Das Anforderungs- und Kapazitäten-Modell«), versucht, bestehende linguistische, psychische, motorische oder kognitive Defizite sowie familiäre Schwierigkeiten zu verbessern und somit indirekt auf den Redefluss einzuwirken. Oft wird beim indirekten Ansatz ausschließlich mit den Eltern zusammengearbeitet. Es findet keine Arbeit am Stottern selbst statt. Leider wurde der indirekte Therapieansatz öfter so interpretiert, dass mit dem Kind nicht über das Stottern gesprochen werden darf. Diese Beteiligung an der »Verschwörung des Schweigens« scheint aus heutiger Sicht fraglich und ist mit einer von positiver Wertschätzung und Echtheit geprägten therapeutischen Haltung nur schwer zu vereinbaren (vgl.  Kap. 4.2.2 »Der Umgang mit dem Tabu Stottern«). ⊡ Übersicht 5.1 beinhaltet eine Aufstellung möglicher indirekter Verfahren.

5.1.2

13 14

5.1.1

Direkter Therapieansatz

Das Kennzeichen der direkten Therapie des kindlichen Stotterns besteht in der Arbeit am Stottern selbst. Die Redeflussstörung wird je nach Alter des Kindes mit unterschiedlicher Intensität thematisiert. Daneben findet, abhängig vom therapeutischen Ansatz und vom Alter des Kindes, eine mehr oder weniger intensive Elternberatung und -anleitung statt. ⊡ Übersicht 5.2 zeigt mögliche direkte Therapiemethoden auf. Durch ein individualisiertes Therapieprogramm erübrigt sich die oben beschriebene Unterscheidung: Auf der Basis eines mehrdimensionalen Therapiekonzeptes werden jene Methoden eingesetzt, die dem Kind mit seinen Fähigkeiten und Defiziten am besten gerecht werden. Dabei können sowohl indirekte als auch

91 5.1 · Direkte und indirekte Therapieansätze – Eckpunkte der Stotterbehandlung

⊡ Übersicht 5.1

Methoden indirekter Therapie ▬ Elternberatung ▬ Elterntraining ▬ Stärkung des Selbstvertrauens und eines positiven kindlichen Selbstkonzeptes ▬ Förderung der Sprechfreude ▬ Abbau von Sprechängsten ▬ Förderung der Sprachentwicklung ▬ Reduktion der sprachlichen Komplexität und Abbau des Anspruchsniveaus und Leistungsdrucks ▬ Betonung nonverbaler Ausdrucksformen und sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten ▬ Entspannung, Tonusregulierung ▬ Spieltherapeutische Elemente (z. B. nach Axline 1990; Katz-Bernstein 1990)

direkte Therapieformen miteinander kombiniert werden. Die meisten direkten Verfahren integrieren mittlerweile bei frühem kindlichen Stottern typisch indirekte Vorgehensweisen in ihr Therapiekonzept. So fordert beispielsweise Dell für die Therapie des »borderline stutterer« (Dell 1996, S. 13, gemeint: beginnender Stotternder) ein zunächst sehr indirektes Vorgehen, primär in Form des sog. Modeling und modellhaften Umgangs mit eigenem Pseudostottern. Erst bei tragfähigem Kontakt wird schließlich vorsichtig damit begonnen, mit dem Kind über das Stottern zu sprechen (vgl.  Kap. 7.7.2 »Modeling – Modifikation für kleine Kinder«).

Zeitliche Abfolge Alle direkten Verfahren lassen sich hervorragend mit indirekten Therapieansätzen verbinden. Je nach Schwierigkeiten des Kindes kann

5

⊡ Übersicht 5.2 Methoden direkter Therapie ▬ Enttabuisierung des Stotterns ▬ Bewusstmachen der Symptomatik ▬ Kinästhetische Sensibilisierung ▬ Abbau von Sprechängsten ▬ Modifikation des Stotterns (Pull-out) ▬ Verstärkung flüssigen Sprechens (Fluency Shaping) ▬ Reduzierung unflüssigen Sprechens (verhaltenstherapeutische Methoden) ▬ Allgemeine Veränderung des Sprechmusters (Sprechtechniken)

z. B. zunächst mit eher indirekter Arbeitsweise begonnen und später zu direkten Verfahren gewechselt werden. Mitunter ist es auch sinnvoll, in die direkte Therapie Blöcke mit dem Schwerpunkt auf Methoden der indirekten Therapie einzufügen. > Beachte Unabhängig von der Wahl des Therapieansatzes sollte mit dem Kind so offen wie möglich und so vorsichtig wie nötig über das Thema Stottern gesprochen werden (vgl.  Kap. 4.2 »Arbeitsprinzipien«).

Gerade wegen der vielen Unterschiede der einzelnen Therapieansätze bringt eine sorgfältige Kombination direkter Verfahren eine Bereicherung für das therapeutische Vorgehen mit sich. So lässt sich z. B. das Fluency Shaping sehr gut mit Methoden zur Desensibilisierung, mit dem In-vivo-Training oder aber mit Gesprächen zur konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Stottern kombinieren. Verhaltenstherapeutische Elemente wie in Fluency-Shaping-Programmen sind ebenfalls gut mit stottermodifizierenden Verfahren zu ergänzen. Die intensive verhaltenstherapeu-

92

1 2

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

tisch orientierte Anleitung und Beratung der Eltern kann die Therapie mit dem Kind wesentlich unterstützen.

3

Fazit ▬ Direkte und indirekte Ansätze schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich in sinnvoller Weise. ▬ Auch bei indirekten Verfahren darf mit dem Kind über das Stottern gesprochen werden. ▬ Unterschiedliche direkte Verfahren können miteinander kombiniert werden.

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

5.2

Indikationskriterien für die Auswahl des Therapieansatzes

⊡ Übersicht 5.3 Entscheidungskriterien für die Wahl des Therapieansatzes ▬ Alter des Kindes ▬ Störungsbewusstsein und Leidensdruck ▬ Reaktionen auf den Einsatz von Pseudostottern und auf das Thematisieren des Stotterns ▬ Sensibilität, emotionale Überlastung oder Traumatisierung des Kindes ▬ Begleitende Faktoren, die vermutlich »das Fass zum Überlaufen bringen« (vgl.  Kap. 2.2.2) ▬ Schweregrad des Stotterns ▬ Interkulturelle Aspekte ▬ Zuverlässige Kooperation der Bezugspersonen

en für die Entscheidung zwischen direkten und indirekten Verfahren im Rahmen einer ganzheitlich orientierten Therapie. Das in den Kapiteln 7 und 8 entfaltete Bausteinprinzip geht dann auf die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten detailliert ein.

Reaktionen auf den Einsatz von Pseudostottern und auf das Thematisieren des Stotterns. Es kann durchaus 3-jährige Kinder geben, die auf Pseudostottern der Therapeutin immer mit Erstaunen, Aufmerksamkeit oder Belustigung reagieren. Diese Kinder profitieren in der Regel vom Thematisieren des »Hängenbleibens« oder dem Ansprechen, dass ein »Wort nicht herauskommt«. Sie zeigen sich erleichtert und haben Spaß am spielerischen Umgang mit dem Stottern, z. B. in Form von Erwisch-mich-Spielen etc. (vgl.  Kap. 7.5.4, Übung »Erwisch-mich«). Die eigentliche Stottermodifikation ist im Vorschulalter manchmal noch eine Überforderung. Hier geben – wie immer – das einzelne Kind und seine Möglichkeiten die Richtung und Geschwindigkeit der Therapieschritte an.

Alter des Kindes. Der ideale Zeitpunkt für den Einsatz direkter Methoden hängt nicht so sehr mit dem Alter des Kindes zusammen. Entscheidender sind die Reife und Bewusstheit, mit der das Kind sich bereits mit dem Stottern auseinander setzt.

! Cave Oberstes Gebot für die Therapeutin bleibt immer, Warnsignale des Kindes, wie z. B. Abwehr oder Versagensängste (»wie langweilig«, »Babykram«, Ablenken) oder Rückzugsverhalten, frühzeitig zu erkennen, bevor das

Es ist deutlich geworden, dass fast jede Therapie eine Kombination direkter mit indirekten Methoden erfordert. Im Folgenden geht es lediglich um eine grobe Orientierung, welcher generelle Ansatz bei der Auswahl der Bausteine im Einzelfall überwiegen sollte.

⊡ Übersicht 5.3 nennt entsprechende Kriteri-

93 5.2 · Indikationskriterien für die Auswahl des Therapieansatzes

Kind die Mitarbeit komplett verweigert. Sie sollte das Vorgehen so anpassen, dass ein guter Kontakt gewährleistet bleibt.

Emotionale Überlastung oder Traumatisierung. Kinder, die mit ihrer aktuellen Situation eher überfordert scheinen oder bereits stark traumatisiert sind, fühlen sich zunächst oft mit indirekten Therapiemethoden wohler. Hat zum Zeitpunkt des Therapiebeginns das Selbstvertrauen des Kindes schon stark gelitten, kann es daher – unabhängig vom Alter – günstig sein, erst eine Phase indirekter Methoden und spieltherapeutischer Elemente voranzustellen, um die Basis für weitere Schritte vorzubereiten. Kein krampfhaftes Vermeiden des Themas Stottern. Entscheidet man sich für den indirekten Weg, bedeutet dies nicht, dass Stottern nicht thematisiert werden darf (vgl.  Kap. 5.1.1 »Indirekter Therapieansatz«). Auch wenn die Wahrnehmung für das eigene Stottern nicht eigens geschult wird, ist Tabuisieren des Themas unangebracht. Der Unterschied zur direkten Vorgehensweise zeigt sich lediglich in der vorsichtigeren Art, wie solche Gesprächsangebote gemacht werden: Über Stottern wird dann gesprochen, wenn das vom Kind implizit in Handlungen oder verbal angeboten wird. Darüber hinaus ist die Therapeutin auch beim indirekten Ansatz jederzeit frei, aus der Situation heraus intuitiv zu reagieren und das Thema Stottern offen anzusprechen, wo ihr dies angebracht und entlastend scheint. Solange sie die Reaktionen des Kindes sorgfältig beobachtet und so geäußerte Grenzen nicht übergeht, ist alles möglich. Begleitende Faktoren. Ein frühes Einbeziehen der Bezugspersonen ist unbedingt empfehlenswert, z. B. Beratung zu allgemein sprachförderndem Verhalten und Faktoren, die flüssiges Sprechen unterstützen (vgl.  Kap. 8.4–8.7). Mit der Hinzunahme direkter Elemente kann be-

5

gonnen werden, sobald basale motorische oder linguistische Fähigkeiten etwas gefestigt sind. > Beachte Bestehen Defizite motorischer, mundmotorischer oder anderer linguistischer Fähigkeiten, sollten diese Bereiche im Vorschulalter vorrangig gefördert werden, bevor mit direkten Methoden am Sprechmuster angesetzt wird. Die entsprechenden Therapieinhalte lassen sich gut in Bausteine aus dem indirekten Ansatz einbauen. ! Cave Im Einzelfall kann es geboten sein, erst am Stottern zu arbeiten, bevor andere Kapazitäten gefördert werden. Dies trifft v. a. bei großem Leidensdruck und bei sehr starken Unflüssigkeiten zu.

Schweregrad des Stotterns. Generell gilt: Je gravierender und kommunikationshemmender die Symptomatik auftritt, desto eher ist der frühe Einsatz direkter Methoden angebracht. Im Einzelfall muss unter Umständen abgewogen werden, ob z. B. emotionale Faktoren dem allzu raschen direkten Vorgehen entgegenstehen. Interkulturelle Aspekte. In der Arbeit mit Familien aus Kulturen, in denen eine eher autoritäre Pädagogik vorherrscht, kann der Einsatz indirekter Methoden schwer vermittelbar sein und auf geringe Akzeptanz treffen. Spieltherapeutische Ansätze können für Mitglieder solcher Kulturen leicht unprofessionell und ineffektiv scheinen, da sie der unausgesprochenen Auffassung, nur gezieltes und regelmäßiges Üben führe zum Erfolg, entgegenlaufen. Das indirekte Vorgehen ist unter dieser Voraussetzung wenig Erfolg versprechend. > Beachte Für eine erfolgreiche Therapie müssen interkulturelle Aspekte unbedingt beachtet werden und die Therapieplanung wie auch das

94

Therapeutenverhalten entsprechend beeinflussen.

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

Kooperation der Bezugspersonen. Die direkten Methoden verlangen bei jüngeren Kindern ein erhebliches Maß an Unterstützung durch die Eltern oder andere enge Bezugspersonen. Ist diese Kooperation nicht zuverlässig gegeben, kann eine direkte Therapie im Vorschulalter nicht erfolgreich sein. (Mit Einschränkung gilt das jedoch auch für indirekte Methoden.) Es ist dann, wenn überhaupt möglich, auf eher indirekte Methoden und Beratung auszuweichen. Bei der Auswahl der therapeutischen Methode ist außerdem zu berücksichtigen, dass der Transfer in den Alltag beim indirekten Ansatz meist spontan und müheloser gelingt als die Transferaufgaben beim direkten Vorgehen. Darin besteht ein Plus der indirekten Methoden.

10 Fazit ▬ Die Entscheidung für indirekte oder direkte Verfahren hängt von verschiedenen individuellen und umgebenden Faktoren ab. ▬ Im Sinne der günstigsten Reihenfolge und Kombination des Vorgehens müssen diese bei jedem Kind gegeneinander abgewogen werden.

11 12 13 14

Es gibt viele Konzepte zu Elterntrainings. Beispielhaft werden das Präventivprogramm von Irwin (1990) und das Berliner Gruppentraining für Eltern stotternder Vorschulkinder von Motsch und Schmidt (1996) aus der Fülle der Angebote herausgegriffen.

5.3.1

Präventivkonzept nach Irwin

Engagement der Eltern. Dieses Selbsthilfeprogramm ist zur Prävention bei beginnendem Stottern konzipiert. Es handelt sich ausdrücklich nicht um ein Therapiekonzept, sondern um einen Ratgeber für Eltern. Ziel des Präventivprogramms ist es, indirekt über Verhaltensänderungen der Bezugspersonen Kommunikationssituationen für das betroffene Kind zu entschärfen und Sprechdruck zu mindern. Leider entsteht bei der Lektüre leicht der Eindruck, Stottern könne allein mit den beschriebenen Verhaltensänderungen und durch günstige Beeinflussung der Kommunikationsumgebung überwunden werden. Außerdem legt die Herangehensweise nahe, dass – hat die Umgebung solchen Einfluss – diese im Umkehrschluss auch für die Entstehung des Stotterns verantwortlich ist. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass Schuldgefühle der Eltern, sie seien für die Entstehung des Stotterns verantwortlich, noch verstärkt statt abgebaut werden.

15 16 17 18 19 20 21

5.3

Vorbeugendes oder therapiebegleitendes Elterntraining Den Einzel- und Gruppentrainings für Eltern ist gemeinsam, dass sie neben der Informationsvermittlung bzw. dem Informationsaustausch auf eine Veränderung der Haltung und des Verhaltens der Bezugspersonen des stotternden Kindes zielen. Entsprechend sind die Trainings dem indirekten Ansatz zuzuordnen.

Abschirmen negativer Reize. Irwin schlägt zum einen die sog. Schirm-Therapie vor, die darin besteht, auf das Stottern des Kindes nicht negativ zu reagieren. Zum anderen empfiehlt sie, Fragen so weit wie möglich einzuschränken. Diese totale Ablehnung von Fragen ist inzwischen als überholt zu betrachten. Anzumerken ist hierzu, dass bestimmte Arten zu fragen die Sprachentwicklung durchaus begünstigen können. Während z. B. bohrende, nach unangenehmen Ereignissen forschende, bedrängende Fragen Sprechdruck erzeugen, gibt es andere Fragen, die Aufmerksamkeit und Interesse ver-

95 5.4 · Spieltherapeutisch geprägte Sprachtherapie (Katz-Bernstein)

mitteln. Hier müsste genauer differenziert werden. Zielgruppe. Für die Behandlung manifest stotternder Kinder ist das Konzept ungeeignet. Zur Prävention sollte es nicht unkommentiert an Eltern weitergegeben werden. Es bietet zwar konkrete Hilfen, kann aber zur Verstärkung bestehender Schuldgefühle bei den Eltern beitragen, und beeinträchtigt die Kommunikation dann eher ungünstig. Eine sinnvolle Einsatzmöglichkeit kann z. B. die Lektüreempfehlung ausgewählter Kapitel, begleitend zur Elternberatung in der Therapie, darstellen.

5.3.2

dem Kind zu helfen. Durch die Gruppensituation und gemeinsame Übungen wird die Motivation der Teilnehmer, kommunikationsfördernde Umgangsformen umzusetzen, gestärkt. Anders als eine gelenkte Einzelberatung ermöglicht der Austausch Betroffener den Teilnehmern im Rahmen einer Gruppensitzung, ihre eigenen Bedürfnisse offener zu zeigen, sich gegenseitig zu unterstützen und so voneinander zu lernen. Zielgruppe. Engagierte Eltern von Kindern mit beginnendem oder manifestem Stottern finden in diesem Programm eine wertvolle Ergänzung zur Therapie des Kindes.

Berliner Gruppenelterntraining nach Motsch und Schmidt (1996)

Vorbeugende Intervention oder Therapieergänzung. Es handelt sich um ein Gruppenelterntraining, das je nach Bedarf prophylaktisch oder therapiebegleitend angewandt wird. Auch Wartezeiten bis zum Beginn der Therapie können mit dem Training sinnvoll überbrückt werden. In manchen Fällen kann die Arbeit mit den Eltern eine Therapie ersetzen. Als Nebeneffekt bieten die Gruppentrainings den Therapeuten Gelegenheit zum sorgfältigen Sammeln diagnostisch zu verwertender Informationen im Hinblick auf die Faktoren, die in der Therapie mit dem Kind bearbeitet werden sollten. Eltern als Experten für ihr Kind. Neben der differenzierten Diagnostik von möglicherweise beeinflussenden Faktoren in der Umgebung des Kindes stellt die Weitergabe von Informationen an die Eltern ein wesentliches Element dar, sodass diese selbst zu Experten des Themas Stottern werden. Ein wesentlicher Lerneffekt entsteht durch den Austausch der Eltern untereinander. Dieser Austausch erleichtert es den betroffenen Eltern, eigene Ängste und Schuldgefühle abzubauen, das Stottern des Kindes eher zu akzeptieren und damit letztlich

5

Fazit ▬ Elterntrainings können die Therapie sinnvoll unterstützen. ▬ Gruppentrainings sind wegen ihrer interaktiven Lernmöglichkeiten gegenüber Elternkursen per Ratgeberliteratur unbedingt zu bevorzugen.

5.4

Spieltherapeutisch geprägte Sprachtherapie (Katz-Bernstein) Beispielhaft wird das Konzept Nitza KatzBernsteins (1990) in Grundzügen skizziert. Der Fokus liegt dabei auf den neuen Impulsen die dieser Ansatz für die Therapie stotternder Kinder brachte.

Ansatz. Katz-Bernstein integriert spieltherapeutische und genuin sprachtherapeutische Elemente mit einer partnerschaftlichen Elternberatung. Sie legt besonderen Wert auf die therapeutische Grundhaltung und hat hier einen entscheidenden Grundstein für die Behandlung stotternder Kinder gelegt. Akzeptanz des Kindes und emotionales Erleben stehen im

96

1 2 3

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

Vordergrund, nicht Leistungsorientierung. Das Konzept ist u. a. beeinflusst vom Werk Axlines (1990) und durch die Individualpsychologie (z. B. Schoenaker u. Schoenaker 1980). Die Therapiephasen orientieren sich an den psychosozialen Entwicklungsphasen nach Erikson (1988).

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Prozess- und Erlebnisorientierung. Stottern wird vor dem Hintergrund der gesamten Persönlichkeit und Problematik des Kindes betrachtet. Im kreativen Experimentieren mit Ausdrucksmöglichkeiten macht das Kind in einem gemeinsamen Prozess mit der Therapeutin immer wieder die Erfahrung gelungener Kommunikation auf verschiedenen Ebenen und erweitert so seine expressiven Kompetenzen. Es geht nicht um eine Leistung, sondern um das Erleben. Dabei ist wesentlich, dass Fehler ausdrücklich erlaubt sind. Es können Sachen ausprobiert werden, die dann nicht gelingen. Elemente. Das Kind darf in der Therapie jederzeit stottern. Durch die therapeutische Haltung lernt das Kind, die Verantwortung für sein Stottern zu übernehmen. Dieser Reifungsprozess kann und soll dem Kind nicht abgenommen werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Entscheidung für einen Fortschritt beim Kind selbst und seinen Möglichkeiten liegt.

15

19

Grenzen. Das Kind darf und soll selbstständig explorieren. Die Therapeutin lässt es gewähren und stellt einen Rahmen gegenseitiger Achtung und Wertschätzung zur Verfügung. Sie setzt dem Kind Grenzen, wo es sie noch nicht selbst setzen kann (Schutz vor Gefahren und Überforderung). Grenzen sind auch da gegeben, wo sich die Therapeutin überfordert fühlt, die Konsequenzen zu tragen.

20

Ziel.

21

»Die Zielsetzung der Sprachtherapie bei redeflussgestörten Kindern ist nicht, vordergründig

16 17 18

psychische Prozesse in Gang zu bringen und zu verändern. Ihre Zielsetzung ist vielmehr: ▬ den Reichtum der Sprache neu erleben zu lassen, ▬ die Sprechfreudigkeit des Kindes zu fördern, ▬ die sprachliche Mitteilungsfähigkeit des Kindes zu schulen, inklusive die nicht-verbale Mitteilungsebene, ▬ das Kind dazu zu bringen, eigene Gefühle und Regungen zu spüren und zu verbalisieren, ▬ die sprachliche Eigeninitiative zu fördern, ▬ die Bewältigung von angstbringenden Situationen. Dabei stellt sich der Therapeut als Wegweiser, Impulsgeber, Grenzsetzer, und vor allem als Kommunikationspartner zur Verfügung.« (Katz-Bernstein 1990, S. 58 f.)

Therapeutische Grundhaltung. Die Therapeutin zeichnet sich durch Wahrung der äußeren Grenzen, durch Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Echtheit und Verschwiegenheit gegenüber Dritten aus. Dazu muss sie einerseits partnerschaftlich, andererseits überlegen agieren, eine angemessene Balance von Distanz und Nähe finden. Die Beziehung zu den Eltern des Kindes ist v. a. durch Akzeptanz geprägt. Die Therapeutin hat kein Interesse an einer Konkurrenz zu den Eltern, stellt vielmehr eine alternative Erwachsenenfigur dar. Dabei ist gegenüber dem Kind wie den Eltern selbstverständlich auf die Kultur und Umwelt des Kindes einzugehen. Kommunikative Prinzipien. Alle Übungen werden über das Spiel, in der Kommunikation, in der Bewegung und aus der Freude und Lust an der Aktivität heraus, also nicht als Übungszwang durchgeführt. Kommunikationsformen. Das Konzept unterscheidet verschiedene Elemente der Kommunikation, die – ähnlich wie das Lernen in der kindlichen Entwicklung – aufeinander auf-

97 5.5 · Fluency-Shaping-Programme

bauen und ineinander greifen: »Vormachen – Nachmachen«, »Frage – Antwort«, »Geführt werden – Führen«, »Abwechselndes Gestalten«, »Gemeinsames Gestalten« und »Geschehen lassen«. Sinn des Vorgehens nach diesen Kommunikationsformen ist es, die Komplexität von Kommunikationssituationen zu reduzieren und auf in der Entwicklung frühere Formen zurückzugehen, bis darin Sicherheit erreicht ist. Therapieebenen. Die Kommunikationsformen werden auf die verschiedenen Therapiebereiche der sprachtherapeutischen Intervention angewandt. Als Therapiebereiche unterscheidet das Konzept ▬ primäre (nonverbale) Kommunikation, ▬ Atem und Stimme, ▬ Artikulation und Intonation, ▬ Rede – Wort und Reihensatz, ▬ Sätze: gemeinsames Gestalten und schließlich ▬ Spontansprache.

Fluency-Shaping-Programme

5.5

Das Prinzip von Fluency-Shaping-Programmen mit ihrem streng hierarchischen Aufbau, ihrer Integration in ein umfassendes Therapiekonzept sowie ihre Kombinierbarkeit mit Stottern modifizierenden Verfahren wird im Folgenden dargestellt und diskutiert.

Mit Fluency-Shaping-Programmen (FSP) soll flüssiges Sprechen erreicht werden. Sie bilden damit den Gegenpol zu Stottern modifizierenden Verfahren, deren Ziel flüssiges Stottern ist. Wegen dieser Gegensätzlichkeit wurden einander ergänzende Eigenschaften der beiden Verfahren lange nicht beachtet. Selbst heute noch erscheint eine Integration der beiden Ansätze oftmals problematisch.

5.5.1

Modifikation für die Gruppentherapie. Inzwischen ist dieses Konzept weitergeführt und für die Arbeit mit Gruppen von Vorschul- und Schulkindern modifiziert worden (vgl. Katz-Bernstein u. Subellok 2002 und  Kap. 7.8 »Bedeutung der Gruppentherapie und des sozialen Lernens«). Hierbei kommen direkte Ansätze, v. a. Elemente aus der Therapie nach van Riper (1982, 1986), übertragen auf Schulkinder zum Tragen.

Fazit ▬ Katz-Bernstein hat einen grundlegenden und wertvollen Beitrag zur Integration von spieltherapeutischen Elementen, sprachtherapeutischen Methoden und klientenzentrierter Elternberatung geleistet. ▬ Zielgruppe sind Vorschulkinder und ihre Bezugspersonen.

5

Beschreibung des Verfahrens

Das Fluency Shaping wird nach einer kurzen Trainingsphase mit der Therapeutin größtenteils von den Eltern selbst durchgeführt. Dazu werden sie sorgfältig in die Eigenarbeit eingewiesen. Im weiteren Verlauf der Therapie hat die Therapeutin eine eher betreuende und beratende Funktion. > Beachte Durch gezieltes Einüben einer mit dem Stottern inkompatiblen Sprechweise1 soll die spontane Übernahme des neuen Sprechmusters in die freie Rede bewirkt werden. Wenn dies nicht erreicht werden kann, wird die Entwicklung einer kontrollierten Sprechflüssigkeit angestrebt.

1 Zum Beispiel Verwendung weicher Stimmeinsätze, spürendes Sprechen oder prolongiertes Sprechen (vgl. ⊡ Tabelle 5.2).

98

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

5.5.2 ⊡ Übersicht 5.4

Struktur von Fluency-ShapingProgrammen ▬ Umfassende Datenerhebung zu Beginn und im Verlauf der Therapie ▬ Anleitung der Eltern zur Durchführung der Therapie ▬ Wöchentliche Kontrollsitzungen mit der Therapeutin zur Verlaufskontrolle und weiteren Instruktion ▬ Eindeutige Kriterien, wann und auf welche Weise die Anforderungen erhöht werden dürfen ▬ Durchführung von »Sprechspielen« auf unterschiedlichen Anforderungsebenen ▬ Belohnung anhand eines Verstärkerplans ▬ Durchführung eines Nachsorgeprogramms

11 12 13 14 15 16 17 18

Basierend auf dem Prinzip der operanten Konditionierung2 wird die neue Sprechweise zunächst auf einer niedrigen Anforderungsebene (1-Wort-Äußerungen) eingeübt und mit Hilfe von Verstärkerplänen etabliert. Schließlich wird die Anwendung der Technik mit Hilfe einer streng hierarchischen Vorgehensweise bis zur Ebene der Spontansprache ausgebaut. Die unterschiedlichen FSP ähneln einander in Struktur und Technik (z. B. Shine 1980; das »Monterey Fluency Program« nach Ryan u. van Kirk Ryan 1999; Onslow u. Packman 1999a). In ⊡ Übersicht 5.4 findet sich eine zusammenfassende Darstellung der gemeinsamen Struktur der Fluency-Shaping-Programme.

19 20 21

2 Begriff der Lerntheorie: Bei der operanten Konditionierung wird das Verhalten durch die nachfolgende Konsequenz gesteuert.

Wann ist die Entscheidung für ein Fluency Shaping sinnvoll?

Nach Guitar und Peters (1999) sind durch ein FSP dann die größten Fortschritte zu erwarten, wenn die Symptomatik noch nicht sehr ausgeformt und die Sprechfreude weitgehend erhalten ist. Zeigt das Kind in seiner Spontansprache bereits Ansätze zu sinnvollen Copingstrategien, wie z. B. die spontane Anwendung einer Sprechtechnik, kann die erfolgreich verwendete Strategie über das FSP etabliert werden. Das Kind sollte weiterhin ein gutes Konzentrationsvermögen besitzen, da es täglich mindestens 15 Minuten gemeinsam mit den Eltern an der Ausformung des flüssigen Sprechens arbeiten muss. Da die Therapie ohne die Mitarbeit der Eltern nicht durchführbar ist, müssen die Eltern entsprechende Motivation und Einfühlungsvermögen mitbringen. Von der wertfreien Korrektur durch die Eltern hängt es wesentlich ab, wie das Kind die neue Sprechweise aufnimmt. ! Cave Ist die Eltern-Kind-Beziehung durch das Stottern bereits belastet, kann die Durchführung eines FSP problematisch werden: Bestehende Konflikte und ein möglicherweise latent vorhandenes Störungsbewusstsein können verstärkt werden.

5.5.3

Vor- und Nachteile von FluencyShaping-Programmen

Die Methode ist leicht erlernbar. Der Aufwand für die Gestaltung und Durchführung der Therapie hält sich in Grenzen. Andererseits ist durch den eng vorgegebenen Rahmen eine individuelle Anpassung der Therapie an die Bedürfnisse des Kindes nicht bzw. nur sehr bedingt möglich.

99 5.5 · Fluency-Shaping-Programme

> Beachte Erst durch die Einbettung des FSP in ein individuell abgestimmtes Therapieprogramm aus Elternberatung, Förderung kommunikativer Fähigkeiten, der sprachlichen und sozialen Entwicklung sowie ggf. Desensibilisierung gegen Ängste und kommunikativen Stress wird diese Methode den individuellen Gegebenheiten des Kindes und der Familie gerecht.

5

⊡ Tabelle 5.1 vergleicht systematisch die Ansätze des Fluency Shaping und der Modifikation.

5.5.4

Die Kombination von FluencyShaping-Programmen mit modifizierenden Verfahren

Oft ist die Entscheidung für oder gegen einen der genannten Therapieansätze nicht einfach. Zum Teil ergeben sich erst im Laufe der Thera-

⊡ Tabelle 5.1. Vergleich von modifizierenden Verfahren und Fluency-Shaping-Programmen. (In Anlehnung an Guitar u. Peters 1999, S. 12) Modifikationstherapie Vorteile

Fluency-Shaping-Therapie Nachteile

Vorteile

Nachteile

Konfrontation mit dem Stottern und Durchführung von Angst auslösenden Aufgaben.

Geringere Notwendigkeit zur Konfrontation mit dem Stottern und zur Durchführung Angst auslösender Aufgaben.

Erfordert möglicherweise ungewöhnliche Sprechmuster über einen gewissen Zeitraum.

Die Vorgehensweise ist unstrukturiert, es müssen mehr schwierige Entscheidungen zum weiteren Vorgehen getroffen werden.

Es stehen viele strukturierte Programme zur Verfügung. Somit ist weniger Vorbereitung notwendig.

Die Therapie kann langweilig sein.

Der Therapieerfolg ist aufgrund weniger Daten nur schwer quantitativ beurteilbar.

Es werden viele Daten erhoben, um den individuellen Therapieerfolg messbar zu machen.

Viele Daten müssen ausgewertet werden.

a) für den Patienten Erfordert kein Erlernen ungewöhnlicher Sprechmuster.

b) für die Therapeutin Die Therapie ist eher spontan und macht Spaß.

c) Bewertung des Übungsprogramms Das Programm ist anspruchsvoller/ schwieriger zu erlernen.

Leicht erlernbar. Es gibt weniger individuelle Unterschiede und klarer definierte Entscheidungen, die aufgrund von Verhaltensbeobachtungen getroffen werden.

100

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

pie Schwierigkeiten mit dem gewählten Therapieansatz, sodass eine Veränderung des Vorgehens angeraten ist. Wurde die Therapie mit FSP begonnen, ist ein Wechsel oder die Kombination mit modifizierenden Verfahren sinnvoll, wenn vorhandene Sprechängste falsch eingeschätzt wurden (z. B. das Kind zeigt trotz eines bereits hohen Grades an Sprechflüssigkeit in der Übungssituation so starke Ängste oder Vermeidung, dass der Transfer der erlernten Inhalte nicht möglich ist). Auch bei einer Verschlechterung der Eltern-Kind-Interaktion im Laufe des FSP sollte über einen Wechsel der therapeutischen Methoden nachgedacht werden. Lehnt das Kind das Stottern sehr stark ab und kann es infolgedessen das Therapieziel modifizierender Verfahren »flüssiges Stottern« auch nach längerer Behandlung nicht akzeptieren, ist mitunter der Wechsel zu einem FSP Erfolg versprechender. Parallel muss hier jedoch dringend eine umfassende Desensibilisierung gegen Sprechängste und stotterauslösende Reize stattfinden. Guitar und Peters (1999) sind sogar der Ansicht, dass die erfolgreichsten Elemente beider Therapieansätze von Anfang an kombiniert werden können, um ein optimales Ergebnis zu erzielen: »Unserer Erfahrung nach werden die meisten Klienten zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Behandlung von einer Kombination der Stottermodifikation mit Fluency-Shaping-Ansätzen profitieren. Wir denken, dass Fluency-Shaping-Therapie effizienter ist als Stottertherapie zur Veränderung der Sprechmuster. Wir denken aber auch, dass Stottermodifikationstherapie effektiver ist für das Reduzieren von Sprechängsten und die Verbesserung von Einstellungen gegenüber dem Sprechen, für solche Klienten, die das brauchen.« (Guitar u. Peters 1999, S. 23 f., Übersetzung durch die Autorinnen)

Fazit ▬ Die alleinige Durchführung eines Fluency Shapings ist in den meisten Fällen ungenügend. ▬ Das Vorgehen muss sich sowohl für das Kind als auch für seine Familie eignen. ▬ Eingebettet in ein individuell angepasstes Therapiekonzept ist das Fluency Shaping eine erfolgreiche Methode der Therapie des Stotterns.

5.5.5

Beispiel für Fluency Shaping: das Lidcombe-Programm

Hintergrund des Programms. Aus Australien kommt das Lidcombe-Programm, das über die letzten 10 Jahre hinweg v. a. an der Universität Sydney entwickelt wurde. Es ist ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Programm zur frühen Intervention bei Stottern im Vorschul- und Schulalter (vgl. z. B. Onslow u. Packman 1999a, 1999b; Lattermann 2003; Huber u. Onslow 2001). Das Vorgehen ist streng hierarchisch und wird unter regelmäßiger Anleitung und Kontrolle durch eine Therapeutin von einem Elternteil oder einer anderen Bezugsperson umgesetzt (vgl. Böhme 2003, S. 131). Das Kind wird in seiner alltäglichen Umgebung behandelt. Zeitlicher Rahmen und Organisation der Kooperation. Nach einer ausführlichen Diagnostik gliedert sich der Therapieplan in 2 Stufen. Die erste Stufe umfasst die Zeit, bis das Stottern des Kindes ein sehr niedriges Niveau erreicht hat. Bis dahin führt die Bezugsperson zu Hause Messungen und die Behandlung durch und besucht einmal wöchentlich mit dem Kind die Klinik. Die zweite Stufe besteht, sofern das niedrige Stotterniveau erhalten bleibt, in der Nachsorge: Über Monate oder Jahre hinweg fin-

101 5.5 · Fluency-Shaping-Programme

5

den immer seltener Klinikbesuche statt. In dieser Zeit messen die Eltern monatlich die Stotterrate pro Minute und behalten die kontingente Stimulation (vgl. ⊡ Übersicht 5.5) bei, indem sie die kindliche Sprechweise gelegentlich kommentieren.

aus. ⊡ Übersicht 5.5 zeigt, wie die Stimulation flüssiger Äußerungen durch die Bezugspersonen konkret aussehen kann (vgl. The Australian Stuttering Research Centre, The University of Sydney, The Stuttering Unit, Bankstown Community Health Centre (1998)).

Zwei Ebenen der Anleitung. Sie besteht aus 2 Elementen: Einmal lernt die Bezugsperson, wie man die Schwere des Stotterns misst. Einheitliche Beurteilungskriterien sind die Voraussetzung für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Klinik und Bezugspersonen. Die zweite Ebene ist das Erlernen der Art, wie in die Sprechweise des Kindes effektiv eingegriffen werden soll. Anfangs demonstriert eine Sprachtherapeutin das Vorgehen. Die Bezugsperson führt das Erlernte während der Woche

Messen des Stotterns durch die Therapeutin. Die Sprachtherapeutin misst bei den klinischen Kontrollen die Häufigkeit der gestotterten Silben in Prozent per Handzähler mit integriertem Timer. Ausgewertet werden 300 Silben oder 10 Minuten. > Exkurs Handzähler sind kleine Geräte, die durch Drücken eines kleinen Knopfes zählen. Sie sind im Elektrofachhandel erhältlich.

⊡ Übersicht 5.5

Stimulation durch kontingente Reaktionen ▬ Verbale Verstärkung durch Lob – »Das klang super, ich habe kein Stottern gehört!«, »Gut gemacht, keine holprigen/angestoßenen Wörter« – so schnell wie möglich nach der stotterfreien Rede, in positivem Ton, so, dass das Kind sie hören kann, 100% Verstärkung während der vereinbarten Übungszeiträume und -aktivitäten. ▬ Nonverbale Verstärkung durch z. B. Stickers etc. für stotterfreies Sprechen. ▬ Verbale Stimulation in Form von Lob für Selbstkorrekturen und Identifikation von Stottern wie »Ich habe ein holpriges Wort gesagt.« Die Stimulation wäre dann z. B.: »Prima, du hast bemerkt, dass da ein holpriges Wort war« oder »Gut gemacht, du hast ein holpriges Wort geflickt«.

▬ Verbale Stimulation in Form von Identifizieren von gestotterten Wörtern durch die Bezugsperson und Aufforderung zur Korrektur. »Sag noch mal Hund, ich glaube, ich hab ein Stottern gehört.« »Oh, das war ein holpriges Wort, versuch, es noch mal weich zu sagen« (in positivem Tonfall, nicht strafend). Anschließend: »Gut gemacht, das war schön und weich.« Prinzip. Lob und Korrektur sollten im Verhältnis 5:1 angewendet werden. Die Anwendung soll erst ohne genaue zeitliche Vorgaben täglich erfolgen. Später dann soll dieses Feedback in ausgewählten Sprechsituationen während des Tages 100% eingehalten werden.

102

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Kapitel 5 · Ausgewählte Therapiekonzepte

Beurteilung des Schweregrads durch die Eltern. Die Bezugspersonen messen zweimal täglich: Einmal beurteilen sie die Schwere des Stotterns anhand einer Skala von 1 bis 10. Die Beurteilung kann sich entweder auf den ganzen Tag beziehen oder auf eine spezielle Sprechsituation. In der Klinik werden die Bewertungen der Therapeutin mit denen der Eltern verglichen, bis ein auf das jeweilige Kind bezogener praktikabler Konsens gefunden ist. (Im Vordergrund steht ein gemeinsamer Bewertungsmaßstab als Arbeitsgrundlage. Es geht dabei nicht um eine objektive und für alle Patienten gleich anzuwendende Terminologie.) Stotterrate pro Minute. Zum anderen messen die Bezugspersonen das Stottern pro Minute in Situationen von 10 Minuten Dauer. Mittels von Kassettenaufnahmen, welche die Eltern zu Hause anfertigen, werden bei den Klinikbesuchen Konsensübungen durchgeführt, bis die Eltern schließlich in der Lage sind, die monatliche Erhebung der Stotterrate pro Minute alleine durchzuführen. Praktikabilität der Anwendung. Verfahren, die so direkt ansetzen wie das Lidcombe-Programm und die möglichen Ursachen des Stotterns nicht im Blick haben, stoßen in unserer Kultur häufig auf Widerstände. Widerstände können sowohl beim Kind auftreten, das vielleicht nicht ständig von den Eltern auf das Stottern und seine Sprechweise angesprochen werden möchte. Die Widerstände können genauso bei den Bezugspersonen auftreten. Sie führen z. B. dazu, dass die häuslichen Aufgaben nicht zuverlässig durchgeführt werden. Der Erfolg des Programms steht und fällt aber genau mit dieser Kooperation.

Fazit ▬ Das Lidcombe-Programm ist ein Beispiel für ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Fluency Shaping. ▼

▬ Das Kind wird im Wesentlichen von einer Bezugsperson behandelt. Die Therapeutin leitet die Bezugsperson dazu an, diese Aufgabe kompetent und erfolgreich übernehmen zu können. ▬ Die Akzeptanz und Effektivität verhaltenstherapeutischer Ansätze in der Stottertherapie ist in angelsächsischen Kulturen generell größer als in den meisten europäischen Ländern, weswegen ein rein pragmatisches Vorgehen in Deutschland eher ungünstig scheint. Hierfür dürften kulturelle Gründe verantwortlich sein. ▬ Je nach Herkunftsland bzw. -kultur der Betroffenen kann das Programm auch in Deutschland mit guter Akzeptanz und Erfolg rechnen.

5.6

Sprechtechniken – ein Überblick Sprechtechniken sind immer nur ein Element eines umfassenden Therapieprogramms. Sie können systematisch oder spielerisch und indirekt vermittelt werden. Hierbei erhofft man die spontane Übernahme einer als hilfreich erlebten Sprechweise in die freie Rede. Die gängigsten Vorgehensweisen werden in diesem Kapitel vorgestellt.

Das vorrangige Ziel aller Sprechtechniken ist die Herbeiführung einer flüssigen Sprechweise. Der Redefluss soll durch eine mit dem Stottern inkompatible Sprechweise oder aber durch die Ablenkung der Aufmerksamkeit vom eigenen Sprechen verbessert werden. Sekundär erhofft man sich durch die relativ schnelle Verbesserung der Sprechflüssigkeit eine psychische Entlastung des Kindes sowie eine möglicherweise daraus resultierende Stärkung des Selbstbewusstseins.