Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen Ursachen, Diagnostik und Therapie Bearbeitet von Friedrich Ebinger, Annelie Burk, Günther Dannecker, Thomas H...
Author: Lothar Michel
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Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Ursachen, Diagnostik und Therapie

Bearbeitet von Friedrich Ebinger, Annelie Burk, Günther Dannecker, Thomas Henne, Christiane Hermann

1. Auflage 2010. Buch. 320 S. Hardcover ISBN 978 3 13 147951 8 Format (B x L): 19,5 x 27 cm

Weitere Fachgebiete > Medizin > Klinische und Innere Medizin > Pädiatrie, Neonatologie

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Funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems

Henning Lohse-Busch

6.1

Einleitung

Die funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems bei schmerzgeplagten Kindern erfordert außer Maßband, Winkelmesser und Unterlegbrettchen zum Ausgleich einer Beinlängendifferenz vor allen Dingen den Einsatz der Sinne des Arztes. Dabei werden zwei Ziele verfolgt: Einerseits sollen Schmerzzustände ätiologisch oder doch wenigstens pathogenetisch erkannt und der Therapie zugeführt werden, andererseits ist der präventive Charakter der Diagnostik am wachsenden Körper besonders wichtig. Wie alle Sinnesqualitäten müssen auch die haptischen Fähigkeiten des Untersuchers geschult werden, bevor das Untersuchungsergebnis korrekt interpretiert werden kann. Ein erhöhter muskulärer Tonus muss bei der passiven Bewegung und der Palpation von der Hypotonie unterschieden werden können. Muskuläre Hypertonie kann einer schmerzhaften Verspannung, die Hypotonie einer Schmerzparese entsprechen. Die muskulären Agonisten und deren Antagonisten müssen bekannt sein. So ist die vordere Bauchmuskulatur aber auch der M. iliopsoas Antagonist des Rückenaufrichtesystems. Die vordere Halsmuskulatur aber auch die Kaumuskulatur sind Antagonisten der hinteren Nackenmuskeln. Die Tonizität der Muskulatur muss also nicht nur auf eine eventuelle Asymmetrie rechts/links, sondern auch auf die der Strecker zu den Beugern untersucht und beurteilt werden. In diesem Kapitel soll keine vollständige funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems, wie sie von Orthopäden [1] durchgeführt wird, beschrieben werden. Es erfolgt eine Beschränkung auf die Phänomene, die Quelle von Schmerzen sind.

6.2

Funktionelle Störung und strukturelle Veränderung

Die funktionelle Diagnostik sucht definitionsgemäß keine strukturellen Veränderungen, wie sie beispielsweise durch deletäre, entzündlich-rheumatische Erkrankungen, durch genetische Faktoren oder Verletzungen hervorgerufen werden. Sie müssen durch andere Untersuchungsmethoden differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden.

6.2.1 Definition „Funktionsstörung“ Funktionsstörung bedeutet, dass Anteile des Bewegungssystems nicht störungsfrei funktionieren, obwohl sie es – unter rein anatomischen Gesichtspunkten betrachtet – sollten. Die biomechanische Funktionsstörung ist keine Eigenleistung des anatomisch definierten Bewegungsapparates, sondern das Ergebnis von Steuerungsprozessen des zentralen Nervensystems auf das physiologisch arbeitende Bewegungssystem.

6.2.2 Symptome Von der biomechanischen Dysfunktion sind vor allen Dingen die Muskulatur und dann erst die Gelenke betroffen. Dabei wird sowohl der Grundtonus des Bewegungssystems als auch die durch Sherringtons altbekanntes Gesetz der reziproken Antagonisteninhibition vorgegebene Tonizität einzelner Muskeln gestört. Vorwiegend tonisch arbeitende Muskeln neigen dann zu Verkürzung und eher phasisch arbeitende Muskeln zur Abschwächung. Das Ergebnis ist eine muskuläre Dysbalance [2], die für sich genommen bereits schmerzauslösend wirken kann.

Merke Bestehen biomechanische Funktionsstörungen über längere Zeit, können sie zur Strukturveränderung führen. Auch hier gilt der fundamentale Satz: Die Form folgt der Funktion. Dies gilt besonders am wachsenden Skelett. Jede Skoliose, jede harte Kontraktur der Muskulatur und jede fixierte Fußdeformität beginnt theoretisch betrachtet als Funktionsstörung. Dies gilt selbst dann, wenn beispielsweise die Vermeidungshaltung bei einem Tumor Ursache einer Seitneige oder Skoliose ist.

6.2.3 Therapieansatz Nach der Definition ist eine biomechanische Funktionsstörung im Gegensatz zur Veränderung der Struktur grundsätzlich reversibel. Der durch eine Funktionsstörung hervorgerufene nozizeptive Schmerz ist deswegen auch reversibel. Im Chronifizierungsprozess aber entsteht eine Art Software, die mit der Zeit durch neuroplastische Vorgänge immer mehr verfestigt wird und damit zu einem strukturellen, hirnorganischen Problem mutiert. Die biomechanische Funktionsdiagnostik und der daraus folgende Therapieansatz befinden sich deswegen regelmäßig in einem Wettlauf mit der Zeit.

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aus: Ebinger, Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen (ISBN 9783131479518), © 2010 Georg Thieme Verlag KG

Kausale und koinzidente Symptome

6.3

Interaktionen im Bewegungssystem

sche Reaktionslage. Es gilt für Kinder und Erwachsene, dass Schmerzen nicht fröhlich machen.

Merke Merke Das gesamte Bewegungssystem mit seinen Gelenken, Muskeln und Faszien ist vom Untersucher stets als Funktionseinheit zu betrachten, das bei allen Haltungen und Bewegungen immer gemeinschaftlich mit allen seinen Anteilen, „von Kopf bis Fuß“ [3] gesteuert wird. Jede funktionelle Störung der Biomechanik eines Anteils des Gesamtsystems erfordert deswegen eine kompensatorische Reaktion der Steuerung aller anderen Bestandteile.

6.3.1 Nozizeption Biomechanische Funktionsstörungen können über Monate und Jahre, möglicherweise auch lebenslang fortbestehen. Je nach Kapazität des Steuerungssystems können sie aber auch nach kurzer Zeit oder im Rahmen späterer Entwicklungsprozesse spurlos verschwinden. Sind die Störgrößen überschwellig, müssen sie adaptiert werden. Die inhibitorische Adaptation biomechanischer Funktionen ist besonders bei Kindern sehr weitreichend. Ein Problem stellt das so genannte Gedächtnis des Gewebes dar. Kneift man z. B. ein Textilgewebe nur gründlich genug, ist es schwierig, die Falte wieder zum Verschwinden zu bringen. Analog dazu hinterlassen Traumata des Gewebes wie Distorsionen möglicherweise lebenslang Spuren im myofaszialen Gewebe. Sie können die Quelle von nozizeptiven Afferenzen sein, die dauerhaft adaptiert werden müssen. Besonders während des Wachstums können diese Spuren aber auch vollständig wieder verschwinden und mit ihnen die biomechanischen Funktionsstörungen. Die Adaptation verhindert aber die Nozizeption nicht. Sie inhibiert nur die Schmerzentstehung. Schmerzfreiheit bedeutet deswegen nicht Abwesenheit von Funktionsstörungen. Die lange andauernde Funktionsstörung wird programmatischer Bestandteil der Steuerung des gesamten Bewegungssystems. Vergleichsweise geringe Irritationen wie Zugluft, minimale Traumata oder auch nur ungewohnte Bewegungen stören die Adaptation und lösen einen Schmerz aus, der auf den ersten Blick nicht durch die relativ banale, frische Irritation entstanden sein kann. Hier hilft das Beispiel des letzten Tropfens, der ein fast volles Fass zum überlaufen bringt. Nach langjährigen Erfahrungen gehört ein Bewegungssystem, das frei von biomechanischen Funktionsstörungen ist, auch bei Kindern zu den absoluten Raritäten.

6.3.2 Psychosomatische Einflüsse Die selbstverständlich auch vorhandenen psychosomatischen Einflüsse verändern die Interaktionen im Bewegungssystem der Kinder ebenso wie bei den Erwachsenen. Genauso wichtig aber ist die Berücksichtigung somatopsychischer Einflüsse. Ursprünglich vorwiegend somatische Beschwerden haben erhebliche Einflüsse auf die psychi-

Die funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems erfordert vom Untersucher die schwierige Entscheidung, ob die Befunde tatsächlich mit dem aktuell geklagten Schmerz in einem relevanten Zusammenhang stehen. Da im Bewegungssystem alles mit allem interagiert, muss das für den Einzelfall Wichtige vom weniger Wichtigen unterschieden werden. Nur so können adäquate therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden.

6.3.3 Therapeutische Zugänge Einer optimalen Behandlung geht deswegen die Auswahl der synergetisch am schnellsten zum Erfolg führenden therapeutischen Fenster voraus. Nachdem das Kind schmerzfrei oder schmerzgelindert geworden ist, muss entschieden werden, ob möglicherweise aus Gründen der Sekundärprävention noch andere therapeutische Zugänge benutzt werden müssen. Die funktionelle Untersuchung des Bewegungssystems hat außerdem Befunde zu suchen, die zwar aktuell noch nicht wirksam sind, erfahrungsgemäß aber besonders am wachsenden Organismus krankmachende Folgen haben. Hier wären besonders die progredient verlaufenden Skelettdeformitäten der Füße, Hüften und der Wirbelsäule zu nennen. Leider wird die Funktion des größten Organs des Menschen, das Bewegungssystem, nur sehr unzureichend verstanden. Neben bekannten Gesetzmäßigkeiten spielen unbekannte Beziehungen der Systemanteile eine große Rolle. Sehr oft muss mangelndes Wissen durch Erfahrung ersetzt werden.

6.4

Kausale und koinzidente Symptome

Im Einzelfall mögen Schmerzen am Bewegungssystem beispielsweise durch Traumata am Schmerzort selbst entstanden sein. Die Möglichkeiten, sich bei Sport und Spiel zu überlasteten oder zu verletzen, sind bekanntermaßen vielfältig.

6.4.1 Risiken Tückisch aber ist es, wenn zeitlich weit zurückliegende Traumata oder chronisch einwirkende Überlastungsschäden Ursache aktueller Schmerzen sind. Das Steuerungssystem hat die dadurch entstandenen Funktionsstörungen möglicherweise über lange Zeit und erfolgreich adaptiert. Es gibt immer wieder Befunde, die nach der ärztlichen Erfahrung keine Aktualität für das vorliegende Schmerzbild haben. Es handelt sich dann um eine bloße Koinzidenz ohne unmittelbare klinische Wirkung. Solche koinzidenten Funktionsstörungen können im Rahmen der vergleichsweise schnell ablaufenden kindlichen Entwicklung der Haltung- und Bewegungsmuster jederzeit spontan und weitgehend spurlos verschwinden. Sie können aber auch kausale Wirkungen auf die Entstehung neuer

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6 Funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems Schmerzen haben. Es bedarf dann im Sinne der Summation von Noxen eines nur vergleichsweise geringen Reizes, der an einem ganz anderen Ort einwirkt, um zur schmerzhaften Dekompensation zu führen. Erst eine vertiefte Anamnese des erfahrenen Untersuchers stellt die Zusammenhänge dar.

6.4.2 Diagnostische Schwierigkeiten Wegen der umfassenden Interaktionen im Bewegungssystem mag sich auch bei Kindern eine Störung der Kiefergelenke als Nackenschmerz und oder sogar als Schmerz im Bereich der Lendenwirbelsäule manifestieren, ohne dass eine Störung des Kiefergelenkes bewusst geworden wäre. Die schmerzhafte Funktionsstörung im Bereich der Lendenwirbelsäule hat dann ihre Ursache in den Kiefergelenken. Eine Behandlung der Lendenwirbelsäule wäre demnach nur kurzfristig erfolgreich. Das Rezidiv ist im Wortsinn vorprogrammiert. Zielführend wäre die Behandlung der Kiefergelenke. Leider gilt auch das umgekehrte. Eine Störung der Statik auf der Beckenebene kann z. B. eine überlastende Fehlsteuerung der hinteren Muskulatur der Halswirbelsäule hervorrufen, deren Antagonisten die Muskeln der Kiefergelenke sind. Der Schmerz mag in diesem Beispiel in den Kiefergelenken apparent werden. Behandelt werden muss aber die Fehlstatik des Beckens. Bereits die Anamnese wird entsprechende Hinweise geben. Fortgeleitete Schmerzen sind nicht selten. Störungen der Hüften können beispielsweise als einziges Symptom Beschwerden im Bereich der Kniegelenke hervorrufen. Nicht nur Triggerpunkte haben Fernwirkungen. Deswegen muss sowohl bei der Anamnese als auch bei der Untersuchung auf das überall im Körper vorkommende Phänomen der projizierten Schmerzen Rücksicht genommen werden.

Merke Die Beispiele verdeutlichen Schwierigkeiten, auf die bei der Diagnostik geachtet werden muss. Es erfordert aber ein besonderes Gespür des Untersuchers, wenn das Bewegungssystem monosymptomatisches Erfolgsorgan innerer Erkrankungen ist. So äußern sich beispielsweise nicht selten Erkrankungen im Bereich der Nieren ausschließlich durch Schmerzen im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule.

6.5

Koinzidenz und Kausalität bei der Schmerzentstehung

Wer Schmerzen in einem Kniegelenk hat, denen eine Distorsion kausal zuzuordnen ist, wird hinken. Die gesetzmäßig auftretende begleitende Funktionsstörung der Muskulatur ist koinzident und universal. Sie äußert sich in einer Vermeidungshaltung, welche nicht nur die asymmetrisch gebrauchten oberen und unteren Gliedmaßen, sondern auch die gesamte Wirbelsäule betrifft, wie am Pendeln des Rumpfes zu erkennen ist. Ebenso weisen die meisten sog. idiopathischen Erkrankungen des Bewegungssystems einschließlich des Spannungskopfschmerzes und der Migräne typische koinzidente Funktionsstörungen der Musku-

latur im oberen Nacken auf. Es ist fraglich, ob die begleitenden Dysfunktionen der paravertebralen Muskulatur im oberen Nacken dazu berechtigen, von einem zervikogenen Kopfschmerz zu sprechen. Es ist aber für die Schmerztherapie unerheblich, ob die Muskulatur leidendes Erfolgsorgan eines Steuerungsprozesses aus dem zentralen Nervensystem oder Auslöser der Schmerzen ist. Es ist lohnenswert, die durch funktionelle Diagnostik gefundenen Muskelungleichgewichte als therapeutischen Zugang zur Schmerzbekämpfung zu nutzen. Gelingt es, durch entsprechende physiotherapeutische, physikalischmedizinische, psychotherapeutische, medikamentöse oder manualmedizinische Maßnahmen die Funktionsstörungen der Normalität näher zu bringen, kann im Einzelfall das gesamte System wieder zur Kompensation gebracht werden. Die weiterführende Literatur zur Physiologie und Therapie des Schmerzes ist unübersehbar. An dieser Stelle sei das Buch von Gralow et al. [4] genannt.

6.6

Palpationsqualitäten der Muskulatur

Die funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems bezieht ihre Informationen einerseits aus den willkürlichen und unwillkürlichen Widerständen bei den passiven und aktiven Bewegungen von Gelenken. Darüber hinaus wird die Struktur des Muskels selbst palpiert.

6.6.1 Intramuskuläre Kontraktur In der Schmerzdiagnostik verspricht die traditionelle Palpation quer zu den Muskelfasern einen besonderen Nutzen. Es werden dabei drei verschiedene Zustände der Muskulatur unterschieden [5]. Der homogene Muskel zeigt in allen Anteilen eine gleichmäßige, „normale“ Viskoelastizität, er ist nicht schmerzhaft. Findet man bei der tiefen Querpalpation spindelförmige oder rundliche, verhärtete Strukturen innerhalb eines sonst homogenen Muskels, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder waren diese verhärteten Strukturen bereits spontan schmerzhaft, oder es handelt sich für den Patienten um klinisch stumme, intramuskuläre Kontrakturen, die nur auf Palpationsdruck schmerzhaft sind. Im Erector-spinae-System können diese intramuskulären Kontrakturen mehr als 10cm lang und mehr als 1cm breit sein. Das Phänomen wurde bisher noch nicht ausreichend untersucht, obwohl es in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals systematisch beschrieben worden ist [5, 6]. Es ist den Ärzten aber sicher seit Jahrhunderten bekannt. Die Terminologie ist uneinheitlich. In früheren Zeiten wurde der Begriff Myogelose verwendet. So wurde aber auch anfänglich der davon ganz und gar verschiedene Triggerpunkt bezeichnet, der ebenso Faszien, Ligamente, Aponeurosen und Gelenkkapseln betrifft. Die intramuskulären Kontrakturen entsprechen einem stabilen Rigorkomplex. Dieser Rigorkomplex der Physiologen ist nicht mit dem Rigor der Neurologen zu verwech-

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Palpationsqualitäten der Muskulatur

Abb. 6.1 Mit tiefer Querpalpation zu findende intramuskuläre Kontrakturen im Erector-spinae-System.

seln; denn es handelt sich primär nicht um eine durch das motorische Steuerungssystem unterhaltene Dysfunktion. Eine erhebliche Mitwirkung an diesem Prozess hat das sympathische System, das im Rahmen dieser komplexen Funktionsstörung die lokale Durchblutung der betroffenen Muskelfasern nicht gewährleistet. Deswegen löst sich in den betroffenen Muskelfasern die Aktinomyosinbindung nicht mehr. Im EMG ist diese Veränderung stumm. Die Muskelfaserbündel verharren in der Verkürzung und sind nur auf passive Dehnung, beispielsweise bei der Querpalpation schmerzhaft (Abb. 6.1). Der pH-Wert sinkt, und es kommt zur Freisetzung von Schmerzmediatoren. Es ist erstaunlich, dass dieser einfach zu erhebende Befund in den gängigen Lehrbüchern nicht beschrieben wird. Anfänglich kommt es meist nur zu der palpablen intramuskulären Funktionsstörung, weil der Schmerz weitgehend inhibiert wird. Dehnt sich der betroffene Bezirk aus, wird er zusätzlich traumatisch irritiert, oder besteht der Mangelzustand längere Zeit, wird die Muskelfunktionsstörung schmerzhaft. In jedem Fall aber werden nozizeptive Afferenzen produziert, die im Steuerungssystem verarbeitet werden müssen und meist bereits im frühen Stadium zur Funktionsstörung der Antagonisten führen. Das Steuerungssystem hat darüber hinaus eine beschränkte Kapazität, so dass die Funktionsstörung für den Patienten bei allfälliger Zunahme nozizeptiver Afferenzen klinisch apparent, also schmerzhaft werden kann. Das Phänomen kann andererseits sehr flüchtig sein und durch Verbesserung der allgemeinen Durchblutung des Muskels wieder verschwinden. Die Aufwärmphase der Sportler und spezielle Methoden der Physiotherapie zielen darauf ab.

Abb. 6.2 Akute Steifigkeit der LWS und hüftführenden Muskulatur wegen eines Bandscheibenvorfalles L5/S1 bei einem 14-jährigen Jungen.

6.6.2 Muskulärer Hartspann Die intramuskuläre Kontraktur ist vom muskulären Hartspann zu unterscheiden. Es handelt sich beim Hartspann primär um eine Leistung des motorischen Systems, das den gesamten Muskel erfasst. Im Sinne einer Vermeidungshaltung wird das betroffene Gelenk ruhig gestellt. Die Reaktion des sympathischen Systems setzt sekundär ein. Vermieden werden soll ein unmittelbar drohender Strukturschaden. Der Hartspann tritt deshalb hauptsächlich bei strukturell wirksamen Traumata, akuten Entzündungen, Tumoren, Luxationen oder beispielsweise bei einem auch bei Kindern vorkommenden oder drohenden Bandscheibenvorfall auf (Abb. 6.2).

6.6.3 Triggerpunkte Unterschieden werden hier: • klinisch unspezifisch empfindlicher Triggerpunkt, zeigt (noch) keine histologischen Veränderungen • klinisch latenter Triggerpunkt mit feintropfiger Verfettung • klinisch aktiver Triggerpunkt mit weitergehenden dystrophen Veränderungen • sehr aktiver Triggerpunkt mit schweren dystrophen Veränderungen und Verlust der Querstreifung

Vorkommen Triggerpunkte finden sich in faszialen Strukturen, Ligamenten, Gelenkkapseln, Aponeurosen, dem Periost und in Muskeln. Der Durchmesser beträgt im Unterschied zu den weiter oben beschriebenen intramuskulären Kontrakturen meist nur wenige Millimeter. Auf Palpation kommt es zu einem scharfen lokalen Schmerz, vor allen Dingen aber zu fortgeleiteten Schmerzen. Häufig wird der fortgeleitete Schmerz in dem Gelenk empfunden,

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6 Funktionelle Diagnostik des Bewegungssystems

Abb. 6.3 Triggerpunkt im M. sartorius, der belastungsabhängige Knieschmerzen auslösen kann.

Abb. 6.4 Prüfung des örtlichen Sympathikotonus durch Abrollen der Kiblerfalten.

dass durch den Muskel bewegt wird (Abb. 6.3). Aber auch bei Kopfschmerzen finden sich häufig Triggerpunkte in der Nacken- oder Kaumuskulatur. Leider findet die Schmerzauslösung nicht selten in weit entfernten Körperteilen statt. Zur Vertiefung der Kenntnisse muss deshalb hier auf die Spezialliteratur verwiesen werden [7].

Hautfalte deutlich verdickt und verursacht für das Kind einen charakteristischen Kneifschmerz oder ein unangenehm kitzelndes Gefühl. Findet man beispielsweise bei Schmerzen im thorakolumbalen Übergangsbereich neben den intramuskulären Kontrakturen verdickte Kiblerfalten, muss in der Differenzialdiagnose an eine Pyelonephritis gedacht werden. Wenn es sich auch um ein sehr grobes Screening handelt, ergeben sich auch für andere innere Erkrankungen Hinweise, denen nachgegangen werden kann.

Therapie Dumpfe, tiefe und bohrende Schmerzen im Bewegungssystem sind immer verdächtig auf auslösende Triggerpunkte, die es bei der Diagnostik zu finden gilt. Sind solche myofaszialen Triggerpunkte einmal gefunden, können sie sehr gut therapiert werden. In der Schmerztherapie der Kinder bietet sich die Vereisung z. B. mit Chloräthan nach der Strain Counterstrain Methode, die Injektionen von einem Tropfen Lokalanästhesie oder das schlichte Trockennadeln an. Die beiden letztgenannten Behandlungstechniken können bei Kindern aber nur nach vorheriger Applikation eines anästhesierenden Hautpflasters durchgeführt werden.

6.7

Palpatorische Untersuchung des sympathischen Systems

Die sympathische Komponente bei der Schmerzentstehung lässt sich durch ein sehr einfaches Screening abschätzen. Man macht sich dabei die segmentale Gliederung der Haut und Unterhautstrukturen zu Nutze. Die faszialen Strukturen sind generell kontraktil und sympathisch innerviert [8] und verändern je nach Tonus im sympathischen System ihre Viskoelastizität. Durch das Abrollen der Kiblerfalten ergeben sich topographische Informationen zur Tonizität des vegetativen Systems (Abb. 6.4). Normalerweise ist dieser Vorgang für den Patienten schmerzlos. Haut und subkutanes Gewebe werden mit sanftem Druck und Zug von der Faszie des Erector spinae abgehoben und von kaudal nach kranial zwischen Daumen und Zeigefinger gerollt. Bei erhöhtem Tonus ist die abgehobene

6.8

Spezielle Funktionsuntersuchung

6.8.1 Anamnese Wegen der vielfältigen Interaktionen im Bewegungssystem kann sich die Anamnese nicht nur auf den Schmerzort und einen begrenzten Zeitraum beziehen. Gefragt wird nach dem ganzen Bewegungssystem sowie Traumata und Beschwerden, die während des ganzen Lebens eingewirkt haben.

Merke Ein nozizeptiver Schmerz ohne Auswirkungen auf die Funktion des Bewegungssystems ist nicht denkbar. Neben dem Schmerzort muss auch besonders subtil in Erfahrung gebracht werden, wann Schmerzen auftreten. Es muss gefragt werden, unter welchen Umständen sich der Schmerz verschlimmert, besser wird oder verschwindet. Auch muss eruiert werden, wie lange der Schmerz anhält. Ist der Schmerz abhängig von Belastungen, deutet dies mehr auf Störungen oder Erkrankungen der Gelenke als Ursache des Problems hin. Die Muskulatur ist weitgehend nur koinzident betroffen. Ist er abhängig von Bewegungen ohne größere Belastungen, stehen Störungen der Muskulatur mutmaßlich im Vordergrund. Wenn die Schmerzen auch nachts auftreten, ist an einen entzündlichen Prozess oder einen Tumor zu denken.

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