Natur im Mittelalter Konzeptionen - Erfahrungen - Wirkungen Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.-17. März 2001

Herausgegeben von Peter Dilg

Akademie Verlag

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CONSTANZE RENDTEL

Krankheit und Heilung im Spiegel der mittelalterlichen Wunderkonzeption

Eine Geschichte des Wunderglaubens im Mittelalter wurde bislang nicht geschrieben. Wohl zu Recht hat man die Komplexität des Begriffs miraculum für diese Forschungslücke verantwortlich gemacht.' Das 'Wunder' ist ein religionsgeschichtlicher Begriff und wird verstanden als direktes Eingreifen der Transzendenz in die Lebensrealität des Menschen.' Während die heute in der katholischen Kirche geltende Definition vom Wunder als Durchbrechung der Naturgesetze ausgeht, war das Wunderverständnis der Antike, insbesondere in der alttestamentlich-jüdischen und frühchristlichen Tradition, viel weiter gefaßt und bedeutend unschärfer. Das Wunder wurde verstanden als Zeichen göttlicher Kraft, die allgegenwärtig ist und sich jederzeit manifestieren kann. Schon Augustinus distanzierte sich von der kritiklosen Wundergläubigkeit seiner Zeitgenossen und betonte, daß viele der angefiihrten Phänomene durchaus nicht mirakulös seien, sondern nur unsere Kenntnis natürlicher Abläufe überstiegen: [...] quae quidem contra naturam plerumque appellantur, non quod naturae adversentur, sed quod naturae modum, qui nobis est usitatus, excedant? Die ganze Schöpfung sei voller Wunder, was jedoch von den Menschen in ihrer Abgestumpftheit kaum wahrgenommen werde: [...] miracula eius quibus totum mundum regit universamque creaturam administrat, assiduitate viluerunt, ita ut pene nemo dignetur adtendere opera Dei mira et stupenda in quolibet seminis grano; secundum ipsam suam misericordiam servavit sibi quaedam, quae faceret opportuno tempore praeter usitatem cursum ordinemque naturae, ut non maiora, sed insolita videndo stuperent, quibus quotidiana viluerant:" Freilich ist auch für Augustinus Gott als Schöpfer beständig in seiner Schöpfung tätig und

I VgI. Fritz Wagner: Miracula, Mirakel. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6 (1993). Sp. 656-659. 2 Vgl, die religionswissenschaftlichen Erörterungen von Johann Figl u. a.: Wunder. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10 (2001). Sp. 1311-1319. 3 Aurelius Augustinus: Contra Faustum libri triginta tres. Lib. 29, cap. 2. Hrsg. von Joseph Zycha. Prag, Wien, Leipzig 1891 (Corpus Scriptorum Ecc1esiasticorum Latinorum 25, VI, I). S. 745. 4 Aurelius Augustinus: In Iohannis evangelium tractatus CXXIV. Tract. 24, cap. I. Hrsg. von Radbod Willems. Turnhout 1954 (Corpus Christianorum, Series Latina 36, VIII). S. 244.

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greift sogar zuweilen, wenn auch selten, direkt in das Leben der Menschen ein. So sammelte er selbst Berichte von zeitgenössischen Wunderheilungen in seiner näheren und weiteren Umgebung und publizierte sie in seinem Werk 'De civitate Dei'.' Diese Wunder Gottes sollten aufrütteln und die Menschen zum christlichen Glauben hinfuhren. Umgekehrt versuchten nach Augustinus' Auffassung Dämonen und die mit ihnen im Bunde stehenden Zauberer die Menschen mit allerlei Mirakeln zu täuschen und damit unter ihren Einfluß zu bringen," Die mittelalterliche Welt übernahm diese Vorstellungen ungeprüft. Erst im 12./13. Jahrhundert begannen die Theologen im Rahmen der Aristoteles-Rezeption, sich mit dem patristischen Erbe auseinanderzusetzen, und rangen um eine schlüssige Wunderdefinition. So erörterte Thomas von Aquin in seiner 'Summa theologica' das Wesen Gottes und fragte, ob Gott sich über die Naturordnung hinwegsetzen könne: Utrum Deus possit facere aliquid praeter ordinem rebus inditum ?7. Für ihn, der Gott in Anlehnung an die aristotelische Naturphilosophie als das erste Bewegende (primum movens) bzw. als die erste Entstehungsursache (causa efficiens prima) der Schöpfung versteht", . haben die erschaffenen natürlichen Dinge eine Ordnung, die für sich selbst besteht und in die Gott nicht eingreift: Si ergo ordo rerum consideretur prout dependet a prima causa, sie contra rerum ordinem Deus facere non potest? Nach weiteren Überlegungen kommt Thomas aber zu dem Schluß, daß Gott als Schöpfer dieser Ordnung nicht an die Zweitursachen gebunden sei, d. h. den Lauf der existierenden Welt; er hätte nämlich ebensogut eine andere Ordnung einrichten können. Gemäß dem hierarchischen Prinzip stehe es Gott offen, nach seinem Belieben an der von ihm gesetzten Ordnung der Welt vorbei zu handeln und Wunder zu tun: Si vero consideretur rerum ordo prout dependet a qualibet secundarum causarum, sic Deus potest facere praeter ordinem rerum; quia ordini secundarum causarum ipse non est subiectus: sed talis ordo ei subiicitur, quasi ab eo procedens, non per necessitatem naturae, sed per arbitrium voluntatis. Potuisset enim et alium ordinem rerum instituere. Unde et potest praeter hunc ordinem institutum agere, cum voluerit." Mit dieser Argumentation harmonisierte Thomas die christlichjüdische Vorstellung vom allmächtigen Schöpfergott mit der aristotelischen Naturphilosophie. Das Wunder stellt nach dieser Auffassung die Naturgesetze nicht generell in Frage, sondern setzt sie nur für einen kurzen Moment außer Kraft.

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Aurelius Augustinus: De civitate Dei Iibri XI-XXII. Lib. 22, cap. 8. Hrsg. von Bemard Dombart u, Alphons Kalb. Tumhout 1955 (Corpus Christianorum, Series Latina 48, XIV, 2). S. 815-827. Aurelius Augustinus: De trinitate Iibri XV. Lib. 3, cap. 7/8 u. lib. 4, cap. 11. Hrsg. von W. J. Mountain u. Fr. Glorie. Tumhout 1968 (Corpus Christianorum, Series Latina 50, XVI, I). S. 138-143 u. 179. Thomas von Aquin: Summa theologica. Lib. 1, q. 105, art. 6. Hrsg. vom Katholischen Akademikerverband. Bd. 8. Salzburg, Leipzig 1934. S. 62. Thomas von Aquin [Anm. 7], lib. 1, q. 2, art. 3. Bd. 1, S. 45f. Thomas von Aquin [Anm. 7], lib. 1, q. 105, art. 6. Bd. 8, S. 64. Thomas von Aquin [Anm. 7],lib. I, q. lOS, art. 6. Bd. 8, S. 64.

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Durch die Schaffung eines juristisch verbindlichen Verfahrens für Heiligsprechungen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfuhr der Wunderbegriff auch an der päpstlichen Kurie eine Präzisierung." Der in Bologna dozierende Kanonist Johannes Andreae (gest. 1348Y2 gab gegen Ende des 13. Jahrhunderts in seinem Kommentar zum päpstlichen Kanonisationsrecht" eine Definition dessen, was als Wunder in einem solchen Verfahren anerkannt werden sollte. Die von ihm formulierten Bestimmungen blieben nicht bloße Theorie, sondern wurden in spätmittelalterlichen Kanonisationsprozessen wie dem der hI. Birgitta von Schweden nachweislich benützt: I)

Da auch böse Mächte (Teufel, Zauberer und Häretiker") scheinbar Wunder wirkten, mußte deren Eingreifen ausgeschlossen sein. 2) Das fragliche Geschehen mußte sich gegen den erwartbaren Lauf der Natur ereignet haben, so wie der Stab des Propheten Moses zur Schlange wurde (Ex. 3,1-3) oder der Esel des Bileam (Num. 22, 28-35) plötzlich zu sprechen begann. 3) Das Wunder mußte von Gott einzig wegen der Verdienste des Kanonisationskandidaten gewährt worden sein und nicht etwa kraft priesterlicher Worte, wie z. B. bei der Wandlung der Hostie in der Messe. 4) Schließlich mußte das Wunder erkennbar sein als ein Akt, durch den Gott den Glauben der Menschen stärken wollte."

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Vgl. hierzu Stephan Kuttner: La reserve papale du droit de canonization. In: Revue historique de droit francais et etranger 17 (1938). S. 172-228; Andre Vauchez: La Saintete en occident aux demiers siecles du Moyen Age d'apres les proces de canonisation et les documents hagiographi-

ques. Rom 1981. Vgl. Hartmut Zapp: Johannes Andreae. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5 (1991). Sp. 555. Johannes Andreae: In tertium decretalium librum novella contentaria. Tit. 45, cap. l. Venedig 1581. [Neudruck Turin 1963]. S. 230f. Vor ihm hatten bereits andere Kanonisten die päpstlichen Rechtsbestimmungen zur Heiligsprechung kommentiert; vgl. hierzu Francesco Antonelli: De inquisitione medico-Iegali supra miraculis in causis beatificationis et canonisationis. Rom 1962 (Studia Antoniana 18). S. 8f. 14 Katharer und Waldenser glaubten nicht an von katholischen Heiligen gewirkte Wunder, die sie für Werke des Teufels hielten. Gleichwohl waren sie überzeugt, daß ihre eigenen Märtyrer und Perfecti Wunder wirken konnten; vgl. Mariano D'Alatri: Culto dei santi ed eretici in Italia nei secoli XII e XIII. In: Collectanea Franciscana 45 (1975). S. 85-104, hier S. 89f. 15 Vgl. Acta et processus canonizacionis beate Birgitte. Hrsg. von Isak Collijn. Uppsala 1924-1931 (Samlingar utgivna av svenska fomskrift-sällskapet, ser, 2. Latinska skrifter I). S. 605: Et quantum

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ad hoc, quod sit miraculum, .iiij.or requiruntur: Primum quod ex Deo, non ex arte contingat nee ex dyabolo, nam miracula fiunt quandoque per malos .i., quest.. i., Teneamus et cap. Prophetavit, necesse est enim martires a Deo impetrasse, que mandant .1. distinccione [Si quis] prepostera. Secundum est, quod sit contra naturam sicut de virga Moysi mutata in colubrum et de asina 10quente ad Balam, De hereticis, Cum ex iniuncto. Tercio quod non ex vi verborum sed hominis merito id contingat, nam panis et vinum potestate et virtute verborum transsubstanciantur in corpus et sanguinem Christi, supra, De celebracione missarum, Cum Marthe .§. Quesivisti. Quarto quod sit ad corroboracionem fide} herba cum ministerio hominis transit in vitrum, sed hoc nil ad corroboracionem fide}, et ideo ad canonizacionem, nisi hec .iiij.or concurrant, mi-

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Johannes Andreae wies zudem darauf hin, daß man ein Wunder nur indirekt beweisen könne, und zwar durch Ausschluß aller natürlichen Ursachen: Sed in tali casu nulla

causa naturalis potest assignari nee potest sensu percipi. Et ideo directe non potest probari sed probatur indirecte, nam cognito quod hoc non fit secundum naturam, cognoscitur, quod fit ultra, preter, et supra naturam.16 Offensichtlich war man im Spätmittelalter bestrebt, dem Wunder mit scholastisch geschärftem Verstand näherzukommen und dieses soweit wie möglich überprüfbar zu machen. Dies zeigt sich auch daran, daß die Kurie eine minutiöse und juristisch saubere Anhörung der Zeugen verlangte." Auch grenzte das Papsttum die Mirakel immer mehr auf Wunderheilungen und Totenerweckungen ein, weil sich diese für einen Vergleich 'vorher - nachher' besonders eigneten. Wetterwunder, Rettung aus Gefangenschaft, das Wiederauffinden von verlorenen Gegenständen und glimpflich ausgegangene Unfälle wurden zwar vereinzelt noch in den Prozeßdossiers aufgeführt, fanden aber keine offizielle Anerkennung." Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine inzwischen abgeschlossene Untersuchung von rund 500 Mirakelepisoden." Die Texte stammen aus sieben Kanonisationsprozessen und umfassen die Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Die mittelalterliche Kirche unterschied zwischen den zu Lebzeiten eines Heiligen gewirkten Wundern (miracula in vita) und denjenigen, die sich nach dessen Tod ereignet hatten (miracula post mortemi." Das untersuchte Textmaterial gehört zur zweiten Kategorie und beinhaltet fast ausschließlich Krankenheilungen und sogenannte Totenerweckungen." Im Rahmen einer angestrengten Heiligsprechung wurden diese Mirakelberichte, die zunächst am Grab des Heiligkeitskandidaten summarisch aufgezeichnet worden waren, zur Grundlage einer eingehenden Zeugenanhörung durch eine von Rom einberufene geistliche Kommission. Da' zu jedem Mirakel nicht nur der Geheilte, sondern noch

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racula non prodessent secundum summistas, quj hoc notant supra, eodem titulo. 2. cap., et modernj supra, De testibus, Venerabili. Johannes Andreae, zit. nach: Acta et processus canonizacionis beate Birgitte [Anm. 15], S. 606. Vg!. Vauchez [Anm. 11], S. 39-67. Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 544-547. Die Ergebnisse dieses in Zusammenarbeit mit Maria Wittmer-Butsch durchgeführten Projekts werden im Sommer 2003 als Monographie publiziert. Zu den miracula post mortem vgl. Martin Heinzelmann: Une source de base de la litterature hagiographique latine: le recueil de miracles. In: Hagiographie, cultures et societes (IVe-XIIe siecles). Actes du Colloque organise ä Nanterre et ä Paris (2-5 mai 1979). Paris 1981 (Centre de recherches sur l'Antiquite et le haut Moyen Age, Universite de Paris 10). S. 235-257. - Einen Überblick über die gattungsspezifischen Probleme der Mirakelberichte bietet Alain Dierkens: Reflexions sur le miracle au haut Moyen Age. In: Miracles, prodiges et merveilles au Moyen Age. XXVe Congres de la S.H.M.E.S. (Orleans, juin 1994). Paris 1995 (Serie Histoire ancienne et mediävale 34). S. 10-30. Vgl, hierzu die auf breitem Quellenmaterial basierende sozio-medizinische Analyse hochmittelalterIicher Heilungswunder von Pierre-Andre Sigal: L'Hornme et le miracle dans la France medievale (XIe-XIIe siecle), Paris 1985.

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weitere Personen als Zeugen vernommen wurden, entstanden zuweilen interessante Parallelaussagen. Gemäß den Bestimmungen der römischen Zentrale sollten die Schilderungen der Zeugen wortgetreu aufgezeichnet werden: [...] verba testium prout seriose ac diffuse prolata fuerint, fideliter redigantur in scriptis." Tatsächlich erweisen sich die überlieferten Texte als durchaus individuelle sprachliche Fixierungen des zur Diskussion stehenden Geschehens. Obwohl es bei den Aussagen der Zeugen um die Schilderung von Vorgängen ging, die als mirakulös, also übernatürlich angesehen wurden, ist in dieser Quellengruppe nie explizit von Natur die Rede. Es scheint, daß wir uns hier in einem weitgehend theoriefreien Bereich befinden. Dasselbe gilt auch für moralische Kategorien, denn nur äußerst selten deuten die Betroffenen in Mirakelberichten Krankheit als Sündenstrafe. Der Beginn des Leidens wird in etwa zeitlich festgemacht und die Ursache, soweit sie überhaupt zur Sprache kommt, in äußeren Einwirkungen, wie z. B. in einer Verkühlung oder einem Sturz, gesucht. Erstaunlich oft (18 Prozent der Fälle) berichten die Betroffenen von der Konsultation eines oder mehrerer Ärzte (auch Chirurgen und Bader), von denen es im 13. und 14. Jahrhundert in den Städten Italiens und Frankreichs bereits viele gab. Sie wurden gemäß unseren Quellen im Krankheitsfall stets als erste Instanz konsultiert." Daß die Mediziner fast immer eine ungünstige Prognose gestellt hatten, geht wohl auf die Textgattung als solche zurück, die damit die nachfolgende Heilung als besonders eindrücklich herausstreicht. In diesem Sinne wird mitunter auch auf Operationen hingewiesen (Amputationen und die Entfernung von Blasensteinen): Eingriffe, die jedoch vom Patienten und seinen Angehörigen als zu gefährlich abgelehnt worden waren. Zweifellos verfügten auch medizinische Laien damals über ein Erfahrungswissen hinsichtlich des Verlaufs häufiger Krankheiten, so bescheiden es auch sein mochte. Nachweislich suchten sie die Wallfahrtsorte nicht für offensichtliche Bagatellbeschwerden wie Schnupfen oder Zahnschmerzen auf; erst bei schwereren Erkrankungen oder chronischen Leiden sowie bei massiven Behinderungen wie Blindheit oder Lähmung erbat man sich die Hilfe der Heiligen. Trotz der relativ häufigen Erwähnung von medizinischem Fachpersonal referierten die Betroffenen nur ausnahmsweise ärztliche Diagnosen. Genannt werden beispielsweise Diphtherie (squilantia), Malaria (quartana, seltener tertiana), Skrofeln und Epilepsie (morbus caducus). Die Viersäftelehre, die das Denken der mittelalterlichen Ärzte prägte, fand kaum Niederschlag in den Mirakelbe-

22 So lautet der Passus in der forma interrogatorii, die seit Anfang des 13. Jahrhunderts für die Kommissäre verbindlich war. Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 59, Anm. 70. 23 Im Heiligsprechungsprozeß des Thomas von Aquin werden in der Zeugenbefragung von 1321 in Fossanova acht Ärzte namentlich genannt. Von diesen praktizierten sechs in Piperno, einer Kleinstadt in der Nähe des Klosters Fossanova. Von den 50 Geheilten, die in diesem Dossier erwähnt werden, hatten 13 Personen zuvor einen Mediziner konsultiert (26 Prozent). Vgl. Johannes Rius Serra: Processus canonizationis beati Thomae peractus Fossanovae. In: Analeeta sacri ordinis Fratrum Praedicatorum 44:4 (1936). S. 576-631.

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richten. Die Schilderung des Gebrechens ging in der Regel nicht über eine lose Beschreibung von Einzelsymptomen hinaus. Auch über volksmedizinische Maßnahmen, etwa die Anwendung von Kräutern oder anderer Substanzen, erfahren wir nichts. Ebensowenig kommen magische Rituale und Beschwörungen zur Sprache, obwohl in den Zeugenanhörungen ausdrücklich danach gefragt wurde. Bei Erwähnung solcher 'Begleitumstände' wäre eine derartige Heilung freilich als Wunder abgelehnt worden." Das läßt daran zweifeln, daß dieser Negativbefund der Texte der Realität entspricht. Einzig der Gedanke der Schonung im Sinne von Bettruhe kommt immer wieder zum Ausdruck, was sich freilich bei Bewegungsbehinderungen und Lähmungen ungünstig auswirken mußte. Die Schlichtheit der Schilderungen, das Fehlen gelehrter medizinischer Theorien und theologischer Argumentationen sind ein zunächst unerwarteter Befund. Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch diesen Texten implizite Konzepte und Wahrnehmungsmuster zugrunde liegen. So hatte die Vorstellung vom Wunder als Eingriff Gottes in den erwartbaren, natürlichen Krankheitsverlauf Konsequenzen für das subjektive Erleben des Betroffenen. Denn das Wort 'Eingriff ruft semantisch die Vorstellung von Überraschung bzw. von Schnelligkeit des Vorgangs auf. Tatsächlich tritt bei der großen Mehrheit der von uns untersuchten Mirakel die Heilung geradezu schlagartig ein; dazu das folgende Beispiel aus dem Dossier König Ludwigs des Heiligen (gest. 1270) vom Anfang des 14. Jahrhunderts: Es handelt von der 42jährigen Wäscherin Nicolaa de Riberci aus Paris, die über Nacht eine vollständige Lähmung ihres Körpers erlitten hatte. Ihre Beine waren derart ineinander verkrampft, daß man sie kaum zu trennen vermochte. Die Frau hatte nur noch in Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand Empfmdungen, sie konnte weder sprechen noch essen und bewegte den Mund wie ein Hase (in modum leporis). Nach einigen Tagen besserte sich ihr Zustand ein wenig, und sie vermochte breiartige Speisen zu schlucken. Auch brachte sie langsam wieder einige Worte hervor. Alle diese Symptome weisen deutlich auf einen Schlaganfall oder eine andere Hirnläsion hin. Acht Wochen später wurde die immer noch völlig auf fremde Hilfe angewiesene Kranke nach Saint-Denis an das Grab des hl, Ludwig gebracht. Während der Messe, bei Lesung des Evangeliums, wurde sie plötzlich von heftigen Schmerzen ergriffen. Sie hatte das Gefühl, ihre Knochen würden gegeneinander verschoben, und sie vernahm ein Krachen, das so laut gewesen war, als breche das Kirchenschiff ein. Mit einem Mal stand Nicolaa auf ihren Füßen, ohne zu wissen wie. Im

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Im Kanonisationsprozeß des Thomas de Cantilupe, zu dem 1307 in London und Hereford eine Zeugenanhörung stattfand, wurden die geistlichen Kommissäre angewiesen, wie folgt zu fragen: Item quinto, si in operatione dietorum miraeulorum fuerunt appositae herbae vel lap ides, vel aliquae aliae res naturales et medicinales, et si ineantationes vel superstitiones, vel fraudes aliquae intervenerunt in operatione dietorum miraeulorum. Miracula s. Thomae de Cantilupe episeopi ex prozessu canonizationis. Acta Sanctorum Octobris I (1765). S. 590.

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selben Moment rückte auch ihr nach rechts verdrehter Kopf in die richtige Position zurück. 2S Aus eigener Kraft kehrte sie bald darauf nach Paris zurück. Bekanntlich können kleinere Hirnläsionen dank der Plastizität dieses Organs weitgehend überwunden werden, so daß der Patient mit etwas Glück seine alten Fähigkeiten wiedererlangt. Vermutlich läßt sich der Fall der Nicolaa de Riberci auf diese Weise erklären, denn es wird ausdrücklich beschrieben, wie sie in einer ersten Phase der Rekonvaleszenz wieder zu sprechen begann. Nicolaa und ihre Begleiter übersahen jedoch zwangsläufig, was hirnphysiologisch nach den acht Wochen seit der ersten Besserung bereits wieder möglich war; physiotherapeutische Maßnahmen zur Aktivierung des Bewegungsapparats waren damals nämlich unbekannt. Der Gottesdienst in der Grabkirche des Heiligen stellte den Höhepunkt von Nicolaas Wallfahrt dar, alle seelischen Kräfte bündelten sich in diesem Moment. Der Glaube, hier Heilung zu finden, könnte die Frau veranlaßt haben, ihre Beine auszustrecken und aufzustehen. Dies war nach Wochen der Immobilität sehr schmerzhaft, aber offenbar wieder möglich. In rund einem Fünftel der untersuchten Fallgeschichten wird die Wunderheilung dagegen als ein langwieriger Prozeß geschildert, der sich über Wochen, ja Monate erstreckte. Ein Beispiel aus den Mirakeln der hi. Elisabeth von Marburg (gest. 1231) möge dies veranschaulichen: Es handelt von einem 12jährigen Jungen aus Gelnhausen, der bucklig verunstaltet und über fünf Jahre bettlägerig war. Seine Unterschenkel schienen wie mit dem Gesäß verwachsen, die Knie klebten buchstäblich am Bauch, ein Auge war übermäßig aufgesperrt, das andere nach unten verzogen. An den Beinen hatte er 34 eitrige Fisteln." Vermutlich litt er an Knochentuberkulose." Die Mutter des Jun-

25 De miraculis sancti Ludovici cap. IS, nr. 295-301, ex Vita 11,pars 2, auctore anonymo reginae Margaritae confessario. Acta Sanctorum Augusti V (1741). S. 616-672, hier S. 650: [...] ubi evigilavit, ita se perditam reperit in omnibus corporis sui partibus, ut in iis nihil sentiret, nisi in duobus dumtaxat digitis manus dexterae [...]. Die sequenti dicta Nicolaa caput tenebat versus partem dexteram, collumque ita retortum, ut mentum esset supra humerum dexterum, neque illud ad aliam partem passet convertere [...].Ad haec pedes, crura,femora erant sicut duo ligna uni truneo imposita [...] movebat labia in modum leporis [...]. Deinde Sacro in memorata ecclesia, ubi inchoatum fuit Evangelium, eadem hora sensit dicta Nicolaa disrumpi ossa sua, sibique invicem collidi, et tunc primum sensit dolorem in came, omnibusque membris suis, qui duravit in ea usque ad finem Evangelii. Finito Evangelio, videbantur dictae Nicolaae ossa sua mutuo collidi tanto cum strepitu, acsi fornix ecclesiae rumperetur. Ubi illud audivit, ut ei videbatur, loco infra arcam per se egressa est, nesciens quo modo, stetitque recta pedibus suis, caputque in locum, ubi esse debebat, derepente erat repositum. [...]. Tunc reversa est cum dictis feminis, quae eam fuerant comi/atae, per se, recto super pedes corpore, sine baculo, sine alio humano subsidio, atque incedebat valide, expedite, celeriter, sana, valida, ac laeta [...]. 26 Miracula sancte Elyzabet. Lib. I, nr. 82. Hrsg. von Albert Huyskens: Quellenstudien zur Geschichte der h!. Elisabeth Landgräfin von Thüringen. Marburg 1908. S. 222: [...] dorso quasi fracto, gipposus et collo mlrabiliter contra gippum retorto [...] Pedes habuit distortos, intantum, quod verse erant pedice versus plantam. Manus similiter contraetas habuit. 27 Vg!. die Diagnose in der medizinhistorischen Studie von Barbara R. Wendel-Widmen Die Wunderheilungen am Grabe der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Zürich 1987 (Zürcher medi-

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gen unternahm mehrere Wallfahrten zur hl. Elisabeth nach Marburg. Als sie im August 1232 von der ersten Reise zurückkehrte, fand sie den Sohn in gebessertem Zustand vor: Er konnte die Beine wieder ausstrecken und begann auf einen Stock gestützt im Hause umherzugehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er laut Zeugenaussagen jedoch immer noch einen Buckel. Im Anschluß an eine zweite Wallfahrt der Mutter Mitte November desselben Jahres konnte der Sohn dann ohne Stock laufen. Als der Junge drei Monate später (Anfang 1233) vor der Heiligsprechungskommission zur Begutachtung erschien, waren alle Fisteln geschlossen und begannen zu vernarben, der Buckel hatte sich bereits vollständig zurückgebildet. 28 Nach heutigem medizinischen Kenntnisstand macht diese Beschreibung durchaus Sinn, und zwar als natürlicher Heilungsprozeß nach Umstimmung des Immunsystems. Selbst schwere chronische Infektionskrankheiten können nämlich spontan wieder abklingen, wenn dies auch sehr selten geschieht. Neben anderen Einflüssen wirken sich bekanntlich psychische Faktoren auf die Leistungsfähigkeit des Immunsystems aus. Das Gebet am Wallfahrtsort intensivierte die Hoffnung auf Heilung und könnte in vielen Fällen eine derartige psychische Umstimmung eingeleitet haben, die schließlich zur Gesundung fiihrte. In unserem Beispiel hatte die zweifache Wallfahrt der Mutter den Jungen offenbar so beeindruckt und mit neuer Zuversicht erfiillt, daß seine Immunkräfte aktiviert wurden. Es mag erstaunen, daß sogar sein Buckel schließlich verschwand. Doch muß diese Rückenverformung nicht unbedingt auf eine Knochendeformation zurückgehen, sie läßt sich ebensogut als großer Abszeß deuten. Ein Abszeß jedoch kann sich durchaus innerhalb von drei Monaten zurückbilden oder sich nach außen entleeren. - Wie bereits erwähnt, stellt nach mittelalterlichem Verständnis ein langer Heilungsprozeß den Wundercharakter der Genesung in Frage. Wohl aus diesem Grunde betonten die Betroffenen häufig, daß sich ihre Gesundung zwar insgesamt über eine längere Zeitspanne erstreckte, jedoch schlagartig nach der Anrufung des Heiligen eingesetzt habe. Dieser enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Bitte um himmlische Hilfe und dem Einsetzen des Genesungsprozesses rettete in den Augen der damaligen Menschen manches Wunder. Werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf die römische Kurie, wo die Maßstäbe etwas strenger waren. Vor jeder Heiligsprechung kam es zu einer Aussprache der Kardinäle über strittige Mirakel. Die Überlieferung ist hier leider nur sclunal, doch wird in etwa erkennbar, wie man den abstrakten Wunderbegriffkonkretisierte. Die Schlagartigkeit der berichteten Heilungen bildete für das Papsttum ein besonders wichtiges

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zingeschichtliche Abhandlungen 194). S. 49: Chronische Osteomyelitis oder eitrige Sehnenscheidenentzündung evtl. tuberkulöser Genese. Miracula sancte Elyzabet [Anm. 26]. Lib. I, nr. 82. S. 222: [...] Fistulae quae eruperant omnibus

dictis partibus, nos auditores signa vidimus, ubi etiam crura natibus et genua ventri adheserant et ubi pes distortus fuit et inversus in modum cicatricis, signa evidentissime apparent usque mod~ puero tamen sano [...].

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Kriterium. Ein anonymer Begleittext" zum Heiligsprechungsprozeß des Thomas de Cantilupe (gest. 1282) vom Anfang des 14. Jahrhunderts diskutiert mehrere Heilungen, die in dieser Hinsicht problematisch waren: Ein funfjähriges Mädchen, das man eines Abends ohne Lebenszeichen aus dem Wasser gezogen hatte, kam nach Anrufung des Heiligen durch die Eltern am Morgen des folgenden Tages wieder zu sich. Kurz bevor sie aus dem Koma erwachte, hatte die Kleine leicht einen Fuß bewegt und dann am ganzen Körper zu zittern begonnen." Der Verfasser des Textes, vermutlich ein Kurienkardinal angelsächsischer Herkunft, stellte sich die Frage, weshalb Gott das Kind nicht sogleich, sondern erst nach vielen Stunden wiedererweckt und wie man das Zittern zu verstehen habe; schließlich sei die Schwiegermutter des Petrus von Jesus so rasch vom Fieber geheilt worden, daß sie umgehend ihre Gäste bewirten konnte (Matth. 8, 14-15; Mark. 1, 29-31; Luk. 4, 38-39). Seine weitere Argumentation, die vermutlich der Verteidigung dieses Wunders bei der Aussprache der Kardinäle dienen sollte, orientierte sich ausschließlich an biblischen und hagiographischen Wundererzählungen. Nachdem der Kurialist zunächst die Totenerweckungen des Elias und Elisa (1. Kge 17, 17-24; 2. Kge 4, 32-35) diskutiert hatte, fand er in einem Wunder des hl. Benedikt aus den 'Dialogi' Gregors des Großen die überzeugendste Parallele zum Fall des ertrunkenen Mädchens. Dort wird beschrieben, wie ein totes Kind auf Benedikts Intervention am ganzen Körper zu zittern begann, bevor es wiederauflebte." Der Kurialist räumte ein, daß Wunderheilungen zwar immer schlagartig seien, doch werde der göttliche Gnadenakt mitunter von besonderen Zeichen icertis indiciis precedentibus) angekündigt, wie eben dem Zittern; deshalb schien ihm der Fall als Wunder haltbar zu sein. Vor diesem gedanklichen Hintergrund waren Heilungen, die sich nicht nur rasch, sondern geradezu in Form einer schmerzhaften Attacke vollzogen hatten, auch fur die Kurie besonders glaubwürdig. Als untrügliche Merkmale eines Wunders galten das laute Knacken von bis dahin funktionsgestörten Gelenken, das Schreien der plötzlich von heftigen Schmerzen überwältigten Kranken, das Zu-Boden-Stürzen oder auch plötzliches Bluten aus Nase, Augen und Ohren. In derart dramatischen Szenen ließ sich der Eingriff Gottes gleichsam von außen beobachten und stärkte damit den Glauben. Als Papst Bonifaz VIII. den Kardinal Pietro Colonna zur Beurteilung eines Mirakels aus dem Dossier des hl. Ludwig aufforderte, argumentierte der Kardinal in diesem Sinne und äußerte sich folgendermaßen: Er schenke dem Bericht über die gelähmte Amelot de Chaumont deshalb Glauben, weil man bei deren Heilung ein lautes Knacken

29 Zu diesem Text, der kurz vor der Kanonisation des Thomas de Cantilupe im April 1320 niedergeschrieben wurde, vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 569f. 30 Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 635-637. Das hier angesprochene Mirakel samt den dazugehörigen Zeugenaussagen findet sich im Dossier des Thomas de Cantilupe Acta Sanctorum Octobris I (1765) S. 610-696, hier S. 610-612. nr. 1-13. 31 Gregor der Große: Dialogi. Lib. 2, cap. 32. Hrsg. von Adalbert de Vogüe u. Paul Antin. Paris 1979 (Sources chretiennes 260, 11).S. 226-230.

Krankheit und Heilung im Spiegel der mittelalterlichen Wunderkonzeption

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der Knochen vernommen habe (sonus et fragor ossium32). - Ein weiterer Gesichtspunkt für die Anerkennung eines Wunders durch die Kurie war die Vollständigkeit der Genesung. Dahinter stand die Vorstellung, Gott erweise sich stets als omnipotent, halbe Sachen trügen nicht seine Handschrift. Auch dieses Problem diskutierte der angelsächsische Geistliche anband eines Fallbeispiels: Alisia litt an einem offenen Knochenbruch im Fußgelenk, der nicht heilen wollte. Am Grab des Thomas de Cantilupe in Hereford hatte sie einen Traum, in dem der Heilige sie liebevoll am Fuß berührte. Nach dem Erwachen spürte Alisia eine deutliche Erleichterung. Den Aussagen der Zeugen ist zu entnehmen, daß die Frau nun zwar besser gehen konnte als vorher, ihre Behinderung jedoch nicht völlig behoben war. Auch hatte sich die Wunde am Fuß während der Zeit, die sie am Kultort verbrachte, nicht geschlossen. Alisia war offenbar nicht bereit, länger auf ihre vollständige Wiederherstellung zu warten, und ging nach Hause. Der Kurialist in Rom stellte bedauernd fest, daß man ihren Fall deshalb nicht als Wunder anerkennen könne: Que postmodum apparente sibi in visu beato Thoma in parte est eurata. Probatur per testes sed quia eurata non invenitur in pede plene nee vulnera in lot clausa nee voluit morari usque ad plenam curationem, illi non est insistendum. Potius enim videtur quedam aleniatio quam curatio:" Gemäß dem damaligen Wunderverständnis hätte eigentlich in jedem Fall der Nachweis erbracht werden müssen, daß die Krankheit unheilbar gewesen, die Heilung also praeter naturam geschehen sei. In den Texten wird diese Problematik jedoch nicht erörtert. Erstaunlicherweise kamen bei der abschließenden Beurteilung des Heilungsverlaufs an der päpstlichen Kurie Mediziner als Fachleute nicht zu Wort - im Gegensatz zum modernen Heiligsprechungsverfahren." Als behandelnde Ärzte später geheilter Personen sagten sie zwar mitunter vor der Kanonisationskommission aus und bezeugten die Schwere der Krankheit. Die Entscheidung, ob eine Heilung praeter naturam war, blieb hingegen völlig der Lebenserfahrung der medizinisch nicht geschulten Kardinäle in Rom überlassen. Die Diskussion der strittigen Fälle an der Kurie wurde jeweils durch Abstimmung unter den anwesenden Kardinälen zum Abschluß gebracht. Angesichts der Menge der für jeden Heiligkeitskandidaten eingereichten Mirakelberichte blieben immer etliche Fälle übrig, die den Kriterien Schlagartigkeit, Vollkommenheit und Unerwartbarkeit zu genügen schienen und deshalb als Beweis für den göttlichen Eingriff gelten durften. Aufgrund dieser anerkannten Wunder erfolgte schließlich die Kanonisation durch den Papst, wobei das Oberhaupt der Kirche die Heiligsprechung allerdings aus Gründen der politischen Inopportunität verweigern und damit für längere Zeit blockieren konnte. 32 Louis Carolus-Barre:Consultationdu Pietro Colonna sur le ne miracle de Saint-Louis.In: Bibliothequede I'Ecole des Chartes 117 (1959). S. 57-72, hier S. 72. Im Dossier des hI. Ludwig cap. 1, nr. 174-179 [Anm.25], S. 617-619. 33 Vauchez[Anm. 11], Anhang 1, S. 645. 34 Vgl. hierzu Fabijan Veraja: Heiligsprechung.Kommentarzur Gesetzgebungund Anleitung für die Praxis.Innsbruck 1998.

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Constanze Rendtel

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Natur des menschlichen Körpers in den Mirakelberichten als ein Kontinuum verstanden wurde, das nur prozeßhafte, aber keine sprunghaften Veränderungen kennt. Alles, was diesem quasi vegetativen Prinzip zu widersprechen schien, wurde als Wunder aufgefaßt. Langsame Genesungsvorgänge galten auch im Volk nur dann als Mirakel, wenn sich ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Gebet bzw. Anwesenheit am Wallfahrtsort und einer zumindest subjektiven Verbesserung der Befindlichkeit des Kranken ergab.