Sozialer Wandel im Mittelalter Wahmehmungsformen, Erklärungsmuster, . Regelungsmechanismen

Herausgegeben von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner

Jan Thorbecke

Verlag Sigmaringen 1994

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Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter VON

MICHAEL

WOLFF

Eine der schwierigsten und wohl auch dunkelsten Fragen, die es in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung gibt, ist die Frage nach dem Einfluß, den Änderungen im sozialen, ökonomischen, rechtlichen oder religiösen Kontext der Wissenschaftsentwicklung auf den begrifflichen Gehalt wissenschaftlicher Theorien haben. Diese Frage drängt sich aber immer wieder auf, und zwar besonders dann, wenn es um die Erklärung tiefgreifender Veränderungen innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin geht: um die Erklärung dessen, was man eine »wissenschaftliche Revolution- nennt. Solche Revolutionen lassen sich ja kennzeichnen (und sind gekennzeichnet worden) dadurch, daß sich der begriffliche Gehalt der betreffenden Theorien so grundlegend ändert, daß diese Änderung allem aus dem Streben zur Anpassung der Theorien an die Tatsachen nicht mehr erklärbar ist. Wenn bei dem Wort »erklären« und bei der Frage nach »Einflüssen« oft die Vorstellung von äußerer Verursachung oder sogar von Determination im Spiele ist, dann ist jedenfalls in dem hier vorliegenden Zusammenhang sicher nicht eine Art kausaler oder kausalgesetzlicher Abhängigkeit gemeint, wie wir sie vor uns haben, wenn wir physische Determinanten, zum Beispiel die Determinanten für den Richtungswechsel einer Billardkugel in Betracht ziehen. Für solche Determinanten ist charakteristisch, daß aus ihren Eigenschaften die Wirkungen, in denen sie sich zeigen, vorausberechnet werden können. Aber in der Änderung einer Theorie zeigen sich die Ursachen nicht als Determinanten, sondern eher als Auslöser. Man denke hier daran, daß das Auftreten und Virulentwerden eines neuartigen Problems in der Lage ist, alte Denkweisen zu Fall zu bringen, den Gebrauch eines herkömmlichen Begriffsapparats zu entwerten, neuartige Fragen zu provozieren oder eine Disposition zu erzeugen, in der die Bereitschaft da ist, nach einer neuartigen Antwort, nach einem neuen Begriff, nach einer Umgestaltung vorhandener Theorien zu suchen, die das Problem löst. Theorienänderung kann offenbar ausgelöst werden durch Fragen, auf die die neue Theorie die Antworten gibt. Dabei müssen die Fragen, die eine Wissenschaft in Bewegung bringen, nicht immer aus ihr selbst kommen. Und ebenso wie die Lehnsätze, von der eine Wissenschaft Gebrauch macht, nicht immer vollständig in ihr artikuliert werden, können auch die Fragen, auf die sie Antworten gibt, latent bleiben. Was heutzutage »Rekonstruktion theorieexterner Determinanten der Wissenschaftsenrwicklung« genannt wird, ist weitgehend nichts anderes als die Rekonstruktion einer bestimmten Art latenter Fragen, die sich in den Behauptungssätzen wissenschaftlicher Theorien manifestieren, ohne aus den zugehörigen Disziplinen selber zu kommen. Die Metapher des Kontexts paßt auf diese Art von »Determinanten« gerade deshalb so gut, weil das Verhältnis von Behauptung und Frage in dem hier gemeinten Zusammenhang dem Verhältnis eines tradierten Texts zu einem verlorengegangenen, fragmentarisch erhaltenen oder abgetrennt überlieferten Kontext entspricht.

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Thomas Kuhn charakterisiert in seinem Buch )The Structure of Scientific Revolutions-, Chicago 1962, zweite Auflage 1970, S. 120 das Aufkommen der Impetustheorie im späten Mittelalter als Paradigmenwechsel. Er sieht darin einen Fall dessen, was ich soeben die revolutionäre Änderung im begrifflichen Gehalt einer wissenschaftlichen Theorie genannt habe. Der Kontext dieses Paradigmenwechsels wird im folgenden mein Thema sein. Das Aufkommen der Impetustheorie im späten Mittelalter ist seit Pierre Duhem loft beschrieben worden. Der revolutionäre Charakter dieser Theorie kann vielleicht schon deshalb kaum in Frage gestellt werden, weil das Urbild aller wissenschaftlichen Revolutionen, die Kopernikanische Revolution, im begrifflichen Medium eben dieser Theorie stattgefunden hat.2 Was Duhem »Impetustheoriec genannt hat, ist ihrem Kern nach eine physikalische Theorie der Bewegungsursachen. Das Neue und Revolutionäre im begrifflichen Apparat dieser Theorie ist eine neue Auffassung von Kausalität: Die unmittelbaren Wirkursachen von Bewegung und Geschwindigkeit werden in dieser Theorie nicht mehr, wie es zuvor in der ganzen philosophischen und wissenschaftlichen Tradition üblich gewesen war, als körperliche Dinge aufgefaßt, die Bewegung und Geschwindigkeit auf andere Körper übertragen; vielmehr wird die Bewegungs- und Geschwindigkeitsübertragung von einem Körper auf den anderen durch die Vermittlung unkörperlicher Kräfte erklärt, die der bewegende Körper im bewegten Körper gleichsam einpflanzt. Die unmittelbaren Ursachen sind nach der Impetustheorie also nie äußere Körper, sondern immer innere, abgeleitete, quantifizierbare Kräfte. Das dynamische Kausalitätsparadigma, wie ich es nennen möchte, löst also das traditionelle dingliche Kausalitätsparadigma ab und scheint so das (noch spätere) Paradigma der klassischen Mechanik vorzubereiten, das ja ebenfalls auf dingliche Bewegungs- und Geschwindigkeitsursachen verzichtet, das allerdings von dynamischen Bewegungs- und Geschwindigkeitsursachen allenfalls noch im paradoxen Begriff der Trägheitskräfte Gebrauch macht. Die Frage nach dem externen Kontext, in dem das dynamische Kausalitätsparadigma auftritt, lag von jeher nahe. Denn aus dem internen Kontext physikalischer Erfahrung und Theoriebildung ließ sich die Entstehung des neuen Paradigma unmöglich erklären, da es keine signifikanten empirischen Vorteile zu besitzen scheint oder allenfalls marginale Vorteile, die durch gravierende Nachteile aufgewogen werden.! So hat man sich hier aus guten Gründen immer schon besonders für den externen Kontext interessiert, und jedenfalls war es der Sache nach ein Rückgang auf diesen Kontext, wenn Anneliese Maier ' nachwies, daß bei dem Franziskaner Franciscus de Marchia im frühen 14. Jahrhundert das neue Paradigma nicht nur physikalische Anwendung findet, sondern auch theologischen Zwecken dient; es dient dazu, das Sakrament der Eucharistie mit Hilfe einer physikalischen Analogie plausibel zu machen: Die Hostie wird zum Analogon eines Projektils. So wie im Wurfgeschoß eine bewegende Kraft vom Werfer gleichsam hinterlassen werde, sei in der Hostie eine virtus enthalten, die ihr 1 Pierre DUHEM,Etudes sur Leonard de Vinci,Paris 1903-1906. 2 SieheMichaelWOLFF,Impetus Mechanicsas a Physical Argument for Copernicanism: Copernicus, Benedetti,Galileo,in: Sciencein Context 1 (1987),S.215-256. 3 Dazu ausführlichMichaelWOLFF.Philoponus and the Rise of PreclassicalDynamics,in: Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science,hg. von Richard SORABJI, London und lthaca N.Y. 1987, S.84-120. 4 ArmelieseMAlER,Zwei Grundproblemeder scholastischenNaturphilosophie,Rom, 21951(- Studien zur Naturphilosophieder Spätscholastik,Bd.2, Rom 1968),S.161-200.

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nicht ursprünglich angehöre, sondern von Gott nachträglich mitgeteilt worden sei. Die Analogie hat hier offenbar die Funktion, das Wunder der Eucharistie als wenigstens konsistent erscheinen zu lassen mit dem, was sonst noch über die Welt gewußt wird. Wegen des Gebrauchs dieser Analogie hat zuletzt Amos Funkenstein 5 vermutet, bei Franciscus de Marchia seien mit Sicherheit eher theologische als physikalische Gesichtspunkte ausschlaggebend gewesen für die Annahme des neuen Paradigma. Die theologisch motivierte Frage nach der Vereinbarkeit der katholischen Sakramentenlehre mit den Prinzipien der Naturerklärung hat nach dieser Vermutung die entscheidende Rolle bei der Einführung des neuen Kausalitätskonzepts gespielt. Als bestimmenden Kontext bezeichnet Funkenstein das Milieu der katholischen Kirche als derjenigen Religion, die eigentümlicherweise das Wunder institutionalisiert und dementsprechend dem Theologen das Amt zugewiesen habe, die Möglichkeit des Wunders plausibel zu machen", Gegen diesen Ansatz der Kontextualisierung gibt es wenig einzuwenden. Mir scheinen aber die folgenden drei Hinweise angebracht zu sein: Erstens tritt der eucharistische Kontext in der Geschichte der Impetustheorie, soweit ich weiß, nur bei Franciscus de Marchia (sonst bei keinem anderen Autor) auf; zweitens ist die von ihm gebrauchte Analogie alles andere als streng, daher eigentlich noch weniger überzeugend, als es Analogien schon ohnehin sind; drittens taucht die Impetustheorie im späten lateinischen Mittelalter nicht zuerst bei Franciscus de Marchia auf, sondern, soweit man bis heute vermuten darf, im 13. Jahrhundert: Sie wird hier (unter anderem") von Franciscus' älterem Ordensbruder Petrus Johannis Olivi (ca. 1249-1298), und zwar ohne jeden Anklang an die Sakramentenlehre, vertreten", Nimmt man diese Hinweise ernst, so darf man den eucharistischen Kontext jedenfalls nicht überschätzen: Er macht weder die Anfänge der mittelalterlichen Impetustheorie bei Olivi noch die Überzeugungskraft verständlich, die diese Theorie faktisch durch mindestens vier Jahrhunderte hindurch behielt. Mir scheint es deshalb nötig zu sein, den religionsgeschichtlichen Kontext weiter, als es bisher geschehen ist, zu erhellen und, wenn möglich, andere, damit zusammenhängende Kontexte in die Untersuchung einzubeziehen. Dieser Weg führt unvermeidlich auf die privatrechtsethischen Traktate des Petrus Olivi", 5 Amos FUNKENSTEIN, Theology and the Scientific Imagination, Princeton 1986, 5.167-168. 6 Ebd., 5.168. 7 Daß in diesem Zusammenhang, außer Olivi, noch andere Autoren zu nennen sind, zeigt die Dissertation von Christoph FLÜELER,Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im 13. und 14. Jahrhundert. Studien, Texte, Quellen, Fribourg 1989 (Typoskript), Siehe unten Anm.23. 8 Hier und im folgenden vernachlässige ich die Frage, ob und in welchem Umfang Varianten der Impetustheorie, die bei den Arabern und in der Spätantike diskutiert worden sind, den Autoren des lateinischen Mittelalters bekannt gewesen sind. Während z, B. für Thomas von Aquino eine solche Bekanntschaft angenommen wird, der die Impetustheorie allerdings nicht akzeptiert hat, ist sie für Olivi und Franciscus de Marchia denkbar, aber nicht nachgewiesen. Siehe hierzu die Hinweise bei FUNKENSTEIN (wie Anm. 5),5.167. - Zur Frage der arabisch-lateinischen Überlieferungsgeschichte siehe außerdem Pritz ZIMMERMANN, Philoponus' Impetus Theory in the Arabic Tradition, in: Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science (wie Anm.3), 5.121-129, und Richard SORABJI,Matter, Space and Motion. Theories in Antiquity and their Sequel, London 1988,5.237-238. 9 Ich möchte hier einen vor mehr als zehn Jahren begonnenen Versuch (siehe meine -Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik., Frankfurt a. M. 1978) fortsetzen, die Rolle zu erkunden, die, vor Franciscus de Marchia, das neue Paradigma dynamischer Kausalität auch außerhalb der Theorie physikalischer Bewegungsursachen gespielt hat. Ergebnisse aus der

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Der Zusammenhang von Olivis privatrechtsethischen Ideen mit dem neuen Kausalitätsparadigma ist leicht zu beschreiben. Dieser Zusammenhang ergibt sich daraus, daß Olivi bestimmte Rechtsansprüche auf umstrittene Eigentumstitel (zum Beispiel auf Kapitalprofir, Zins und das sogenannte lucrum cessans) dadurch rechtfertigt, daß er die Entstehung dieser Eigentumstitel kausal erklärt mit Hilfe der Figur dynamischer Kausalität. Was dynamische Kausalität ist, erläutert Olivi freilich in einem ganz anderen Kontext, nämlich im zweiten Buch seines Sentenzenkommentars, in den Quaestionen 23-31 unter der Überschrift »Neun Fragen über allgemeine Eigenschaften von Agentien oder von Aktionen und von Bewegungen« 10. Der Text dieses Abschnitts, insbesondere der Text von Quaestio 31, war in den zwanziger Jahren die Grundlage für die Entdeckung Olivis als des ,.ältesten scholastischen Vertreters- der Impetustheorie!', In Quaestio 31 spricht Olivi die Vorstellung aus, daß bei gewissen (extenneueren Olivi-Literatur sollen hier berücksichtigt und verarbeitet werden. Ein scheinbar schwerer Einwand, den Jürgen SARNOWSKY gegen meinen Versuch in seinem Buch -Die Aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles-, Münster 1989, 5.388-389, vorgebracht hat, besteht in der Behauptung, Olivi sei eigentlich kein »Vertreter der Impetustheorie- (S.173) gewesen. Sarnowsky stützt sich hier auf eine Mutmaßung von Anneliese MAlER,die in Bd. 4 (1955), 5.355-362, und in Bd.5 (1958), 5.290-319, ihrer -Studien zur Naturphilosophie der Spärscholastik- den anonymen Autor eines (zeitlich nicht datierten) die Impetustheorie kritisierenden Textes mit Olivi identifiziert hat. Obwohl mich die Gründe für diese Mutmaßung, die auch für Anneliese Maier keine beweiskräftigen Argumente sind, nicht überzeugen, mag hier die Frage nach der wirklichen Identität offenbleiben. Denn: was hängt schon von ihr ab? (Es gibt Autoren, die ihre Ansichten im Laufe ihres Lebens ändern.) Worauf es dagegen ankommt, ist die Frage, wie die unter dem Namen Olivis ausdrücklich überlieferten Texte zu interpretieren sind. Zu dieser Interpretation leistet 5arnowsky keinen neuen Beitrag, aber er behauptet (5.388) über den Sentenzenkommentar Olivis, dort werde »ein der späteren Impetustheorie ähnlicher Standpunkte von Olivi ohne eigene Stellungnahme nur referiert. Ohne sich auf den Text selbst zu beziehen, stützt er sich auf die Autorität Anneliese Maiers und verweist auf zwei verschiedene Abschnitte in ihren Studien (Bd.2 [1968], 5.142-153, und Bd.5, 5.290-296), ohne zu bemerken, daß diese beiden Abschnitte einander widersprechen, und zwar gerade im Hinblick auf die von ihm in Anspruch genommene Behauptung. Eine nähere Beschreibung der Inkonsistenz in Maiers Argumentation gebe ich unten (Anm.11). Die von Maier in Bd.5, 5.298 (ebenso in Bd.4, 5.357) ausgesprochene Annahme, die Sentenzen-Quaestio 29 sei bloß ein Referat, ist bereits von Bernhard JANSENin seiner Pionierarbeit (,Olivi der älteste scholastische Vertreter des heutigen Bewegungsbegriffs-, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 33, 1920, 5.146) erwogen worden. Jansen hat sie mit überzeugenden Argumenten, vor allem durch den Hinweis auf die Beweisstruktur von Quaestio 29 und auf Stellen im Kontext der Quaestionen 23-31, verworfen. Maier hat, soweit ich sehe, nirgendwo den Versuch gemacht, Jansens Argumente zu entkräften. Samowsky gibt nicht einmal einen Hinweis auf Jansens Arbeit. 10 Petrus Johannis OLIVI,Quaestiones in secundum librum Sententiarum, quas primum ad fidem, Codd. Mss. hg. von B.JANSENS.J., Quaracchi 1922, Bd. I, S.422: Deinde de generalibus proprietatibus agentium seu actionum et motuum quaeruntur nouem. 11 Bemhard JANSEN,Olivi (wie Anm.9), S.144ff. Vergleiche auch seine Bemerkungen zur Stelle im Anhang seiner (in Anm. 10 genannten) Ausgabe des Sentenzenkommentars. Für eine ausführliche Paraphrase und Analyse der relevanten Abschnitte des Olivi- Textes, besonders der Quaestionen 24, 27, 29 und 31, verweise ich auf JANSEN(wie Anm.9), S.143-151. Eine Paraphrase und Analyse von Quaestio 29 findet man auch bei MAlER (wie Anm.9), Bd.2, S.148-150, und Bd.5, S.291-296. Jedoch ist ihre Interpretation dieser Quaestio nicht völlig konsistent. In Band 5 auf S. 298 behauptet sie, Quaestio 29 sei nur das Referat einer der Impetustheorie ähnlichen, von Maier als ,.Inclinatio-Theoriee bezeichneten Position. Auf 5.296 dagegen faßt sie die eigene Paraphrase von Quaestio 29 mit den Worten zusammen: ,.Die Gesamthaltung [Olivis] ist also die, daß Olivi der Inclinatio-Theorie wenn nicht ausdrücklich, so doch implicite eine gewisse Probabilität zubilligt, denn er bringt Beweise zu ihren Gunsten, ohne sie zu

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sional nicht genau umrissenen) Handlungs-, Bewegungs- oder Erzeugungsprozessen Kraftübertragung stattfinde: Ein formgebendes Vermögen (vis formativa) löse sich hier als virtus vom formgebenden Urheber oder Erzeuger, vom handelnden Subjekt (principalis agens), los und wirke dann, getrennt vom ursprünglichen agens, in den Objekten der Bewegung beziehungsweise Erzeugung fort. Als Beispiele von Bewegungs- und Erzeugungsprozessen dienen Olivi hier zunächst einerseits Projektilbewegungen, andererseits die Erzeugung von Lebewesen. Interessant ist Olivis Terminologie. Die vermittelnde Kraft nennt er virtus instrumentalis (ein auch von Franciscus de Marchia gebrauchter Terminus) oder ratio semi-

nalis. Eben dieser Begriff der ratio seminalis ist es, der an entscheidender Stelle auch in Olivis Ethik auftritt. Und es scheint, daß dieser Begriff für Olivi eine ganz wichtige Funktion für seine Rechtfertigung der erwähnten Klasse umstrittener Eigentumstitel hat. An einer inzwischen oft zitierten Stelle eines Textes, der unter dem Titel -Tractatus de emptionibus et venditionibus, de usuris, de restitutionibus- von G. Todeschini 1980 ediert worden ist, schreibt Olivi folgendes: ,.Wenn Geld oder Eigentum in einem sicheren Geschäft seines Eigentümers angelegt wird für einen gewissen wahrscheinlichen Gewinn (probabile lucrum), so hat das Geld oder die Sache nicht bloß die einfache Kraft (simplex ratio) von Geld oder einer Sache, sondern darüber hinaus eine gewisse seminalis ratio lucrosi (eine gewisse samenartige Kraft zur Profiterzeugung), eine Kraft, die wir gemeinhin capitale (Kapital) nennen; und daher (sc. wegen der seminalis ratio) muß dem Eigentümer nicht nur der einfache Wert der Sache (simplex valor) erstattet werden, sondern außerdem noch ein Mehrwert (valor superad-

junctus)«

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Dieser Satz wird heute allgemein als früheste Fundstelle gewertet, in der in der Geschichte der ökonomisch-ethischen Literatur so etwas wie eine vorsichtige definitorische Bestimmung des Begriffs des Kapitals (capitale) entwickelt wird. Der Kontext dieser Stelle zeigt, daß es Olivi hier primär darum geht, Kompensation für das lucrum cessans zu legitimieren, das heißt widerlegen, und er löst andererseits die Bedenken auf, die gegen sie sprechen.« In Band 2 behandelt sie den Inhalt von Quaestio 29 ohne jede Einschränkung schlicht als Olivis eigene Theorie. Bei näherem Hinsehen erweist sich daher Maiers Annahme, Quaestio 29 referiere nur, als ad hoc-Hypothese: Sie wird in den Bänden 4 und 5 benötigt, um den dort ausschließlich auf inhaltliche Gesichtspunkte gestützten Vorschlag widerspruchsfrei zu machen, Olivi sei mit dem anonymen Verfasser einer gegen die Impetustheorie gerichteten Abhandlung zu identifizieren (siehe oben Anm. 9). - Die Quaestionen 23-28 und 30-311äßt Maier in ihren Studien leider überall so gut wie außer Betracht. Von Quaestio 31 ist sie sogar bereit zu behaupten, sie sei für die Geschichte der Impetustheorie »ohne Interesse- (Bd.2, S. 143). Eine Inhaltsangabe wird dabei vermieden. 12 Giacomo TODESCHINI,Un trattato di economia politics francescana: il »De emptionibus et venditionibus, de usuris, de restirutionibus« di Pietro di Giovanni Olivi, Istituto storico italiano per il medio evo, studi storici, fase. 125-156, Rom 1980, S.85. Eine kritische Besprechung dieser Textausgabe findet man in Julius KIRSHNERund Kimberly Lo PRETE,Peter John Olivi's Treatises on Contracts of Sale, Usury and Restitution: Minerite Economics or Minor Works? in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico modemo 13 (1984), S.233-286. Hier ist besonders auch Todeschinis Behandlung der drei Traktate Olivis, (1) De emptionibus et venditionibus (von dem Amleto SPICCIANIeine textkritische Ausgabe mit italienischer Übersetzung bereits in den Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Rom 1977,5.253-287, vorgelegt hatte; vg!. die Rezensionen von J. KIRSHNER,in: Church History 49 [1980], S.325-326, und J. GILCHRIST,in: Speculum 53 [1978],5.853-856), (2) De usuris und (3) De restitutionibus als »einer« zusammenhängenden Abhandlung einer berechtigten Kritik unterzogen worden. Die angeführte Stelle gehört zu De usuris.

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den Titel auf einen (quantitativ nicht näher bestimmten) Zins bei Darlehensgeschäften zu rechtfertigen, sofern diese Geschäfte bestimmte Bedingungen in Sachen Gemeinnützigkeit erfüllen. Die Rechtfertigung folgt für Olivi aus der (freilich ebenfalls umstrittenen, von ihm aber verteidigten) Legitimität des Profits bei Handelsgeschäften: Da der Darlehensgeber mit demselben Geld, das er verliehen hat, ebensogut als Kaufmann hätte einen gerechten Handelsprofit erzielen können, müsse er für diesen entgangenen Profit entschädigt werden. Ganz analog argumentiert Olivi im Hinblick auf den folgenden Fall (und auch hier spielt der Gedanke der ratio semina/is die entscheidende Rolle): Wenn ein Jäger oder ein Bauer bei seiner Arbeit auf Gemeindeland von einer anderen Person daran gehindert werde, den vollen Ertrag seines Fleißes beziehungsweise den Ertrag des Gebrauchs rechtlich ihm zustehender Mittel einzubringen, habe er Anspruch auf entsprechende Entschädigung. Denn im Gebrauch der Dinge, die dem Bauern und Jäger rechtlich zustehen, sei der Lohn beziehungsweise der Ertrag ihrer Arbeit quasi semina/iter (gleichsam samenartig) angelegt!', Olivi betont hier übrigens merkwürdigerweise, daß Entschädigung nicht fällig sei bei Körperverletzung, denn die körperlichen Gliedmaße seien nur mögliche, nicht aktuale Ursachen für den Arbeitsertrag. Nur die sächlichen Arbeitsmittel, das Land und die Geräte, enthalten, wie sich hier zeigt, eine ratio seminalis, das heißt eine auf sie übertragene, gewinnbringende Kraft. Olivi behandelt nun ganz analog das Geld als ein sächliches Arbeitsmittel des Kaufmanns und des Bankiers. Er betont wiederholt, daß die ratio seminalis, die das einfache Geld vom Kapital unterscheide, dem Geld nicht eo ipso anhafte, sondern ihm aufgrund von Arbeit und Fleiß, das heißt aufgrund der Aktivität des Anwenders zufließe. Entsprechendes gilt auch für die anderen sächlichen Mittel des rechtmäßigen Erwerbs. Für Olivi ist die Aktivität des Anwenders sächlicher Mittel nie das direkte Objekt der Belohnung oder Bezahlung, vielmehr denkt er sich diese Aktivität als überall vermittelt durch seminale Kräfte, die vom Arbeitenden auf die sächlichen Mittel seines Tuns übertragen werden und dort als »aktuale Ursachen- eines Gewinns wirksam sind. Beim Geld entspricht dieser akrualen Ursache der »Mehrwert« (valor superadjunctus), der also kraftartig vorgestellt wird. ,.Kraft« und ,.Wert« (vis und valor) werden von Olivi hier konsequenterweise promiscue gebraucht, und sowohl die Kraft als auch der Wert werden von ihm als etwas vorgestellt, das die Sache ,.gleichsam in sich hate (quasi habe[baJt in se?\ das gleichwohl nicht aus der Sache ursprünglich stammt. Eben dieser Gedanke der Kraftübertragung entspricht, wenigstens seiner Struktur nach, genau dem Kern dessen, was ich das Paradigma dynamischer Kausalität genannt habe. Es ist offenbar derselbe Gedanke, der im Sentenzenkommentar Olivis seinen allgemeineren Ausdruck gefunden hat und dort diejenige Gestalt aufweist, die ihn als Grundgedanke der Impetustheorie erscheinen läßt. Nebenbei sei hier angemerkt, daß Olivis dynamische Deutung des Mehrwerts der Sache nach eine dynamische Deutung des ökonomischen Werts voraussetzen muß. Diese Voraussetzung scheint mir in seiner Analyse der Wertquellen zum Ausdruck zu kommen, die später, im 15. Jahrhundert, von San Bernardino und Sant' Antonino, rezipiert worden istl5• Nach dieser 13 P.J. OLlVI,De restitutionibus,bei TODESCHINI (wieAnm.12), S.90. Vergleichedie Bemerkungenzu dieserStellebei KIRSHNER und Lo PRETE(wie Anm.12), S.275. 14 P.J.OUVI, De usuris, bei TODESCHINI (wie Anm. 12),S.73. 15 VergleicheRaymond DEROOVER, San Bernardinoof Sienaand Sant'Antonino of Florence.The Two Great EconomicThinkers of the Middle Ages, Boston 1967,S.41.

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vielbeachteten Theorie gilt neben der Seltenheit (raritas) und Gefälligkeit der Ware (complacibilitas) als dritte Wertquelle die virtuositas (das heißt das Enthaltensein von virtus in der Ware). Virtuositas scheint mir hier nicht, wie in der Literatur zu Olivi, Bernardino und Antonino heute allgemein angenommen wird, einfach »objektive Nützlichkeits zu bedeuten, im Gegensatz zur »subjektiven Nützlichkeit«, als die man complacibilitas deuten mag. Denn abgesehen davon, daß diese Unterscheidung sachliche Schwierigkeiten macht und daher zum Beispiel von Odd Langholm 16 als wenig hilfreich beurteilt worden ist, scheint die Rede von der uirtuositas einer Sache auf dem Gedanken zu beruhen, daß eine Ware, sofern sie ökonomisch wertvoll ist, zugleich eine uirtus, das heißt ein Können, eine Fähigkeit, Könnerschaft, aufweise. Aufgrund dieser virtus mag die Ware »objektiv nützliche sein, aber »objektive Nützlichkeit- ist deshalb noch nicht identisch mit ihr, nicht identisch mit der virtuositas der Sache: In allen Geldgeschäften wird, so meint Olivi, virtuositas (Könnerschaft) bezahlt, »und zwar entsprechend derTatsache, daß eine Sache aufgrund ihrer realen Kräfte (ex suis realibus virtutibus) zu unseren Nutznießungen fähiger und wirksamer wird« 17. Die bisherigen Zitate machen vielleicht jetzt schon hinreichend deutlich, daß zwischen (a) dem Paradigma dynamischer Kausalität und (b) den Antworten Olivis auf bestimmte ethischökonomische Fragen ein funktionaler Zusammenhang besteht: (a) wird für (b) gebraucht. An dieser Stelle ist aber sicher noch nicht verständlich, warum (a) für (b) gebraucht wird. Was veranlaßt Olivi eigentlich, den Gedanken der ratio seminalis in seine Auffassung von Kapital aufzunehmen? Bevor ich diese Frage zu beantworten versuche, zunächst noch eine Bemerkung zum Sprachgebrauch. Der Ausdruck ratio seminalis verweist offensichtlich auf die Stoisch-Augustinische Lehre von den rationes seminales, eine Lehre, auf die Olivi im angeführten Kontext des Sentenzenkommentars tatsächlich mehr oder weniger direkt anspielt. Nach Augustin 18 hat Gott die Welt unmittelbar aus dem Nichts erschaffen. Aber er hat nicht alle Dinge unmittelbar (»auf sichtbare Weise und actualiter«) erschaffen. Insbesondere erschuf er die Lebewesen, die die Erde bevölkern, nur "potentiell oder ursächliche in der Form von rationes seminales. Aus diesen rationes wurden sie erst später zu einer durch Gottes Vorsehung festgesetzten Zeit in die sichtbare Gestalt gebracht, in der sie uns bekannt sind. Augustirr benutzt hier den ursprünglich stoischen Terminus der logoi spermatikoi, um die christliche Lehre von der creatio ex nihilo mit der Tatsache in Einklang zu bringen, daß bestimmte Einzeldinge, besonders individuelle Organismen, nicht aus nichts, sondern im Laufe der Zeit, und nicht unmittelbar vom Schöpfer, sondern von anderen Organismen hervorgebracht werden. Die Welt gleicht einem Baum, der im Laufe der Zeit alle die Dinge hervorbringt, die ursprünglich nur unsichtbar und zugleich im Samen des Baumes enthalten waren (so Augustin in -De genesi ad lirreram- V, 23). Die seminalen Kräfte, die Gott 16 Odd LANGHOLM,Price and Value in the Aristotelian Tradition. A Study in Scholastic Economic Sources, Oslo 1979, S.115-116 und 154. 17 [. ..} scilicet secundum quod res ex suis realibus virtutibus et proprietatibus est nostris utilitatibus virtuosior et effzeacior. OLM, -De emptionibus-, Codex U.V. fol. 295c, bei TOOESCHINI(wie Anm.12), S.52-53, bei SPICCIANI(wie Anm.12), S.255.51-2. 18 Vgl. zum folgenden W.A. CHRISTIAN,The Creation of the World, in: A Companion to the Study of St. Augustine, hg. von R. BATTENHOUSE, New York 31969, S. 329-331; N. J. McKEOUGH,The Meaning of the Rationes Seminales in St. Augustine, Washington 1926; E. C. MESSENGER,Evolution and Theology, New York 1932, und C.}. O'TOOLE, The Philosophy of Creation in the Writings of St. Augustine, Washington 1944, Kap.3.

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unmittelbar und zugleich mit der Welt erschaffen haben soll, sind nach Augustin allerdings nicht gewöhnliche materielle, körperliche Samen, keine Keimzellen. Sie sind vielmehr »verborgene« Potentiale oder Kräfte, aus denen unter bestimmten Umständen wirkliche, manifeste Gestalten hervorgehen. Die wirklichen Lebewesen sind ihrerseits nur die instrumentellen Mittel, derer sich Gott bedient, um die unmittelbar geschaffenen rationes seminales wirken zu lassen. Vergleicht man Olivis Gebrauch des Terminus ratio seminalis mit dem bei Augustin, fällt sogleich ein signifikanter Unterschied auf: Nach Olivi werden seminale Kräfte nicht bloß von Gott, sondern auch von Menschen hervorgebracht; sie sind, mit anderen Worten, Ursachen oder Potentiale nicht bloß für natürliche, sondern auch für künstliche Wirkungen. Hier wird das tertium comparationis zwischen der bewegenden Kraft des Projektils und dem, was Olivi »Kapital« nennt, deutlicher: In beiden Fällen handelt es sich um Potentiale, die künstliche, das heißt von Menschen geschaffene Wirkungen hervorbringen (künstliche Bewegung oder Mehrwert). Zieht man die Erläuterung, die Olivi im Sentenzenkommentar für den Begriff der ratio seminalis gibt, heran zum Verständnis dessen, was Olivi über den Mehrwert sagt, so ergibt sich folgende These: Kapital ist eine quaedam seminalis ratio lucrosi in dem Sinne, daß sie eine unsichtbare Kraft oder ein unsichtbares Potential ist, das unter gewissen Umständen im Gelde steckt, nämlich dann, wenn das Geld auf eine bestimmte zweckmäßige, von Olivi näher beschriebene Weise gebraucht wird; und es ist eben dieses Potential, das Mehrwert erzeugt. Die zunächst befremdlich erscheinende Analogie zwischen Geld und Projektil besteht also genau darin, daß in diesen unbelebten Gegenständen Wirkungspotentiale auftreten, wenn diese Gegenstände auf eine bestimmte geeignete Weise zu bestimmten Zwecken von Menschen gebraucht werden. Dieser Analogie liegt offensichtlich der Gedanke zugrunde, daß das Geld sich genauso zum Kaufmann beziehungsweise zum Bankier, zum Darlehensgeber verhält wie das Projektil zum Projektor, das Jagdzeug zum Jäger oder das Ackergerät zum Bauern: Geld ist, anders gesagt, gleichsam das eigentümliche Handwerkszeug des Kaufmanns und des Finanzgeschäftsmanns. Nachdem der Sprachgebrauch erklärt ist, dürfte jetzt verständlicher geworden sein, was es heißt, daß der Gebrauch des Geldes zu Handels- oder Darlehenszwecken dem Geld eine seminale Kraft verleihe und daß der Kapitalcharakter des Geldes auf eben dieser vermittelnden Kraft beruhe. An dieser Stelle ist aber jetzt die Frage wieder aufzugreifen, warum Olivi eigentlich der Idee einer vermittelnden Kraft bedarf, wenn er den möglichen Kapitalcharakter des Geldes und den Mehrwert zu erklären versucht, um dadurch den Handelsprofit sowie schließlich die Kompensation des lucrum cessans ethisch zu rechtfertigen. Warum schlägt Olivi nicht, wie zum Beispiel Thomas von Aquino, einfach vor, man möge den Profit des Kaufmanns in dem Maße gelten lassen, in dem der Profit ein Entgelt sei für die industria beziehungsweise für labor et expenses des Kaufmanns? Denn auch Thomas, wie übrigens die meisten zeitgenössischen Scholastiker (zum Beispiel Heinrich von Ghent oder Johannes Duns Scotus), rechtfertigen ja innerhalb gewisser Grenzen (sofern Handels-und Darlehensgeschäfte als gemeinnützig gelten können) den Profit und die Kompensation des lucrum cessans, und sie setzen dabei genauso wie Olivi den Fleiß und die Arbeit des Geldgeschäftsmannes dem Fleiß und der Arbeit des Bauern und des Handwerkers gleich: Das heißt, der ethisch legitimierbare Profit wird von den Theologen des 13. Jahrhunderts durchaus üblicherweise als Arbeitslohn

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gedeutet und gerechtfertigt. Die Grundprämissen dieser Deutung (die übrigens Olivi ohne weiteres zu akzeptieren scheint) sind die folgenden: Erstens hält man am Prinzip der -Nikornachischen Ethik, (Buch 5) des Aristoteles (das ähnlich auch im 1. Buch von dessen -Politik. vertreten wird) fest, wonach Geld steril und natür1icherweise unproduktiv sei; eine Sache, die mit ihrem Gebrauch konsumiert werde. Zweitens aber lehnt man die Schlußfolgerung des Aristoteles ab, wonach, wegen der natürlichen Sterilität des Geldes, dieses nur als Wertmaßstab beim Warentausch, nicht aber zu Zwecken des Zinsnehmens und des Kaufmannsgewinns gebraucht werden dürfe. Aristoteles hatte den Handelsverkehr letztlich abgelehnt, weil er die Autarkie, die Selbstgenügsamkeit der Polis, als natürliches Ziel des politischen Lebens ansah. Die Theologen des 13. Jahrhunderts dagegen scheinen sich mittlerweile mit dem Faktum abzufinden, daß Autarkie des politischen Gemeinwesens nirgendwo existiert, sondern ganz im Gegenteil der Handel (wenn auch in engeren Grenzen) rechtlich verankert ist. Die Ablehnung des uneingeschränkten Profits war zwar auch im Römischen und Kanonischen Recht vorgesehen, und das -Decretum Gratiani(D. 88 c. 11 Ejiciens) spricht die Verdammung des Handels explizit aus. Aber das Römische und das Kanonische Recht erlaubten unter bestimmten Bedingungen sowohl den Handelsgewinn als auch die Kompensation für bestimmte potentielle entgangene Profite. Julius Kirshner und Kimberly Lo Prete 19 haben darauf hingewiesen, daß im 13. Jahrhundert diese Bedingungen vor allem im Hinblick auf zwei spezifische Kontexte diskutiert worden sind: erstens im Hinblick auf den Fall, daß ein Kaufmann von einer bedürftigen Person aufgefordert wird, Geld zu leihen, statt dieses Geld in ein Handelsgeschäft zu investieren; der zweite Fall betrifft die öffentlichen Schulden, das heißt die Angelegenheiten der Regierung eines Gemeinwesens, die von ihren Bürgern Darlehen verlangt, um den eigenen Finanzbedarf zu decken. Auch Olivis Überlegungen sind offenkundig auf diese beiden Kontexte zu beziehen. Ähnlich wie andere Theologen des 13. Jahrhunderts versucht Olivi, die Frage zu beantworten, wie die Prinzipien der traditionellen Ethik des Aristoteles und des Pseudo-Chrysostomus widerspruchsfrei vereinbart werden können mit den Anforderungen des geltenden Rechts und der politischen Opportunität, Die gewöhnliche scholastische Deutung des Handelsprofits als Arbeitslohn hat hier offenbar die Funktion gehabt, das Aristotelische Prinzip der Geldsterilität kompatibel zu machen mit der ethischen Rechtfertigung von lucrum und interesse, Profit und Zins. Aber offenbar enthielt diese gewöhnliche Deutung auch eine grundlegende Schwierigkeit. Denn faktisch zeigt sich der Handelsprofit ja nicht in der Gestalt des Lohnes, sondern er zeigt sich in der Differenz zwischen Kaufpreis und Verkaufspreis einer Ware: er zeigt sich im Mehrwert. Eben diesem Faktum wollten offenbar auch die Theologen des 13. Jahrhunderts gerecht werden. Thomas von Aquino bestimmt in der -Summa Theologiae- (2a, 2ae q. 77, Art. 4) den Profit als die Differenz zwischen der Schätzung des Werts einer Ware zur Zeit ihres Kaufs und der Schätzung zur Zeit ihres Verkaufs. Moderne Kommentatoren weisen an dieser Stelle immer wieder auf einen Prinzipiendualismus bei Thomas von Aquino hin; denn Thomas scheint zwei potentiell inkompatible Systeme zu vertreten, das eine, nach dem der Preis der Ware auf ihren Produktionskosten beruht, das andere, nach dem ihr Marktwert auf Nutzen-

19 Peter John Olivi's Treatises(wie Anm. 12), S.270.

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schätzung basiert20• Mit diesem Prinzipiendualismus hängt, wie mir scheint, ein Widerspruch bei Thomas von Aquino zusammen, auf den Raymond de Roover wiederholt hingewiesen hat. Denn Thomas geht gelegentlich so weit, das Prinzip der Geldsterilität explizit zu bestreiten, indem er sogar bereit ist, das vom Kaufmann umgesetzte Geld mit der Saat zu vergleichen, die, in den Boden gesetzt, aufgeht und Früchte bringt?'. So sehr nun dieser Gedanke den eigenen aristotelischen Prinzipien widerspricht, so sehr wird man Thomas dennoch zugutehalten müssen, daß sein Vergleich des merkantilen Geldgebrauchs mit der Saat des Bauern dem Phänomen des Mehrwerts viel besser gerecht wird als die Analogie mit dem Arbeitslohn. Mir scheint nun, daß Olivis Neuerung in der Ethik gut verständlich wird, wenn sie als Auflösung der soeben beschriebenen Schwierigkeiten und Prinzipien-Widersprüche aufgefaßt wird. Das Paradigma der dynamischen Kausalität erlaubt es ja gerade, das Geld einerseits als steril und unproduktiv zu betrachten, andererseits gleichzeitig anzunehmen, daß Geld die Kraft besitze, neuen Gewinn hervorzubringen beziehungsweise Mehrwert, einen ualor superadjundus zu erzeugen. Olivis paradoxer Begriff der produktiven Kraft des sterilen Geldes enthält gerade keinen Widerspruch. Denn diese Kraft soll ja ihrem Ursprung nach nicht aus dem Geld selbst stammen, sondern ist nur sekundär auf das Geld übertragen worden. Olivis Neuerung erscheint, in diesem Kontext betrachtet, keineswegs als radikale Verneinung traditioneller ethischer Standpunkte. Im Gegenteil erscheint sie als der theoretische Versuch, einen traditionellen ethischen Standpunkt (das Prinzip der Sterilität des Geldes) mit Hilfe neuer begrifflicher Mittel zu retten, das heißt sie kompatibel zu machen mit bestimmten umstrittenen Rechtsstandpunkten. die man letztlich wohl als Folgen eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels beschreiben kann. Julius Kirshner hat Olivi bezeichnet als ,.one of the most outspoken defenders of Italian capitalisme P. Wenn diese Bezeichnung passend ist, dann übte Olivi diese Rolle auf eine sehr prinzipielle Weise, aber jedenfalls nicht so aus, daß er etwa traditionelle Prinzipien nur durch neue Prinzipien ersetzte. Vielmehr scheint er versucht zu haben, alte Prinzipien an neue Anforderungen anzupassen. Das Paradigma dynamischer Kausalität bot ihm hierzu offenbar die begrifflichen Mittel ", 20 Amleto SPICCIANI,La mercatura e la formazione del prezzo nella riflessione teologica medioevale, in: Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Rom 1977, S.IM. Vg!. die Rezension dieser Abhandlung von John GILCHRISTin Speculum 53 (1978), S.854-855. 21 Raymond de ROOVER,Scholastic Economics: Survival and Lasting Influence from the Sixteenth Century to Adam Smith, in: Quarterly Journal of Economics 69 (1955), S.165. Vg!. Julius KIRSHNER, Raymond de Roover on Scholastic Economic Thought, in: R. DE ROOVER,Business, Banking, and Economic Thought in Late Medieval and Early Modern Europe, hg. von J. KIRSHNER,Chicago 1974, S.28. 22 Julius KIRSHNER,From Usury to Public Finance: The Ecclesiastical Controversy over the Public Debts of Florence, Genoa and Venice (1300-1500), Ann Arbor 1972, S.81. 23 Die oben (Anm.7) angeführte Dissertation von Christoph Flüeler zeigt, daß zwei Kommentare aus dem späten 13. Jahrhundert zu Aristoteles' -Politik-, nämlich der in Paris (zwischen 1272 und 1295) entstandene Kommentar des Petrus von Auvergne (1240/50-1304) und der Kommentar eines zeitgenössischen Mailänder Anonymus, die Analogie zur Projektilbewegung explizit in Anspruch nehmen, um die Arbeit (opus/operatio) des unfreien Landarbeiters (serous) als Bewegung (motus) eines vom Herrn (dominus) gebrauchten organum animatum auszulegen, die nur aufgrund einer Kraftübertragung (impressio oirtutls) vom dominus auf den serous zustande komme (fyposkript, S. 37-73; die relevanten Passagen aus den lateinischen Quellen werden 5.189-256 wiedergegeben). Diese Auslegung unterstellt, genauso wie Olivis Deutung des Geldes als eines dem Finanzgeschäftsmann gehörenden Werkzeugs, daß jeder Werkzeuggebrauch nach dem Kausalitätsparadigma der Impetustheorie zu erklären ist. Flüeler vermutet,

MEHRWERTUND IMPETUSBEI PETRUSJOHANNISOLIVI

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Meine allgemeine Ausgangsfrage war, ob - und wenn, dann wie - gesellschaftliche Kontexte (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks) sich im begrifflichen Gehalt wissenschaftlicher Theorien manifestieren können. Der erste Teil der Frage scheint mir nicht verneint werden zu können, jedenfalls dann nicht, wenn man einigermaßen liberale Begriffe von ,.Wissenschaftc und ,.wissenschaftlicherTheoriec unterstellt, so daß auch solche Gebilde dazu gerechnet werden können, wie es die Impetustheorie war, deren Rolle, als physikalisch dynamische Theorie, für die Begriffsbildung der klassischen Physik im 16. und 17. 'Jahrhundert allerdings kaum überschätzt werden kann. Im Hinblick auf den Ursprung und die Geschichte der Mehrwerttheorien wird man ohnehin bereit sein anzunehmen, daß sie spezifische, sich wandelnde gesellschaftliche Kontexte voraussetzen. Was den anderen Teil der Frage betrifft, so scheint mir das Beispiel des Petrus Olivi, dessen Stellung in der Geschichte der Mehrwerttheorien 24 gleich große Beachtung verdient wie seine Rolle in der Geschichte der Impetustheorie, zu zeigen, daß verhältnismäßig tiefgreifende, umfassende und folgenreiche Umdeutungen der natürlichen und sozialen Wirklichkeit erforderlich werden können dadurch, daß herkömmliche Deutungen den Anforderungen des sozialen Wandels nicht mehr gerecht werden.

daß die Kommentatoren durch diese Auslegung eine von Aristoteles ausgehende, von ihm aber auch abweichende »neue Begründung der seroitus versuchten, die sich von der theologischen radikal unterschied und die Aristotelische Theorie wesentlich erweiterte und systernatisierte«, um ,.dadurch auch die allgemeine Natur von Herrschaft auf philosophischem Weg zu begründen« (S.73). Freilich scheinen mir die von Flüeler diskutierten Texte auch zu zeigen, daß die in ihnen versuchte Neubegründung von Herrschaft zugleich neuartige oder jedenfalls nicht-aristotelische Eigentumsprobleme zu lösen hat. Denn: conceditur, quod serous non est in potestate domini vel ooluntate, uerum est, quantum ad hoc, quod est quedam substancia naturalis et secundum illud, quod est absolute. Sed quantum ad usum suum et quantum ad ea, que acquirit ex industria sua et quantum ad bona fortune, bene est in potestate vel uoluntate domini. (Zit. aus dem Mailänder Anonymus q. 8 ad 3 nach FLÜELER,ebd., S. 71.) Ganz besonders interessant ist an den beiden Kommentaren, daß sie das neue Kausalitätsparadigma ausdrücklich, wenn auch nur beiläufig, für die Erklärung der Himmelsbewegungen mitbenutzen, da sie die irdischen Arbeits- und Herrschaftsverhältnisse mit himmlischen Hierarchien vergleichen (S.67). Flüeler weist damit für das lateinische Mittelalter erstmals nach, daß die Impetustheorie schon vor Buridan auf Himmelsbewegungen bezogen wurde. - Ich verdanke den Hinweis auf die noch ungedruckte Arbeit Flüelers dem Historiker Ulrich Meier. Flüelers Arbeit ist sehr wichtig, denn die vielen nicht-edierten Kommentare des 13. und 14. Jahrhunderts zur Politik und zur pseudo-aristotelischen Ökonomik sind bisher sonst kaum, für die hier behandelten Fragen überhaupt nicht erforscht. 24 Soweit ich weiß, haben Okonomiehistoriker diese Stellung Olivis bisher nicht bemerkt; Spezialuntersuchungen und Standardwerke zur Geschichte ökonomischer Theorien führen die Geschichte der Mehrwerttheorien nicht bis ins 13. Jahrhundert zurück.