Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06

Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger

Wintersemester 2005 / 2006

Westfälische Wilhelms-Universität Münster

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Geschichtsschreibung im Mittelalter Vorlesung Prof. Dr. Martin Kintzinger

Vorlesung vom 26. Oktober 2005 Am Beginn der Vorlesung stand eine kurze Übersicht / Gliederung:



Einführung in den Gegenstand / Methodologie



Begriffe: Geschichtsschreibung Geschichtsbewusstsein Geschichtsdenken im Mittelalter



Chronologische Begriffe



Chronologische Entwicklung der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

Obwohl die „Geschichtsschreibung“ kein Thema ist, wie u.a. Berichte über Zeitepochen – ( z.B. Epoche der Staufer oder der Investiturstreit), ist sie doch immer wieder bei den Mediävisten gefragt. Den mittelalterlichen Geschichtsschreibern wurden keine Denkmäler gesetzt, als Beispiel wurde Gregor von Tours (573 – 94) erwähnt. Von ihm existiert zwar ein solches Denkmal, das stammt aber aus dem 19. Jahrhundert. Das Hauptwerk Gregor’s wird gewöhnlich als Geschichte der Franken bezeichnet. Angesichts der Werke mittelalterlicher Geschichtsschreiber müssen wir Menschen von heute uns fragen, ob wir noch Erlebtes bewusst wahrnehmen und aufschreiben. Prof. Kintzinger nannte als Beispiel die deutsche Wiedervereinigung – wer hat dieses epochale Ereignis selbst aufgeschrieben oder Geschriebenes verwahrt? Und er konstatiert, dass Geschichtsschreibung heute nicht mehr so üblich ist, wie in früheren Jahrhunderten. Die Geschichtsschreiber des Mittelalters konnten, im Gegensatz zu der breiten Masse der Menschen, lesen und schreiben. So bestimmten diese, was überliefert wurde; sie legten fest, was wichtig war. Im Extremfall ist es denkbar, dass die Menschen des Mittelalters vollkommen anders gelebt haben, als uns überliefert wurde. Ihr Leben war eigentlich uninteressant, berichtet wurde von Herrschern, Kaisern und Königen, Päpsten usw. Dabei war die Geschichtsschreibung immer eine öffentliche (Selbst-) Darstellung des Schreibers. Üblich war aber eine konsensual (übereinstimmend) legitimierte Darstellung der Geschichte.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Die überlieferte „Flachware“ dieser Zeit war in lateinischer Sprache verfasst. Es wird festgestellt: Geschichte ist wichtig, die Gegenwart ist nur „Kontingent“, ein Teil der Geschichte. Und: Geschichte ist ein Kriterium zur Bestimmung von Gegenwart! Mit der Fragestellung: „Wie geht der mittelalterliche Chronist an den Geschichtsstsoff heran“? wird die 1493 erschienene „Weltchronik“ des Hartmann Schedel (1440 – 1514) erwähnt. Hier wird Geschichte in einen Wissenshorizont eingefügt; als Beispiel dient die Darstellung der Stadt „Jerusalem“. Die, da niemand diese Stadt persönlich beschreiben konnte, fiktiv zu sehen ist. Bei Schedel ist die „Schöpfung“ der Beginn der Geschichte. Deren Verlauf ist von Gott sozusagen „vorgegeben“. Wir Menschen Jerusalem / Schedel’sche Weltchronik gestalten sie nicht, sondern erleben sie nur. Von der Schöpfung bis zur Apokalypse verläuft alles linear, ist alles vorgegeben. Dabei ist die Geschichtsschreibung ein öffentlicher Akt. Der Schreiber schreibt nicht für sich selbst, aber man merkt, dass er bei dem Geschehen dabei war

Vorlesung vom 2. November 2005 Geschichtsschreibung ist – so Kintzinger – „nachdenken über die Zeit, über die Gegenwart des Schreibers“. Und diese Geschichtsschreibung setzt beim Chronisten Wissen über seine Gegenwart, über das gegenwärtig geschehene voraus. Insofern ist klar, dass beim Schreiber Zeitzeugenschaft gegeben sein muss. Denn Zeitzeugenschaft passiert immer im Kontext ihrer Zeit. Gegenwart wird so geschichtlich definiert. Geschichtsschreibung drückt häufig auch nur eine allgemeine Sichtweise des (Zeit)Geschehens aus, indem bei der Widergabe des zu Berichtenden eine gewisse „Zeitmentalität“ mitspielt. Nicht zu vergessen ist auch, dass der Schreiber bei den Zeitzeugnissen häufig Unbewusstes berichtet. HRUSCHKA definiert Geschichtsschreiber wie folgt, sie sind • • •

Berichterstatter der Realität Implizieren (beziehen ein) Zeitverständnis sind Individuen mit individueller Äußerung

Befasst man sich mit Geschichtsschreibung so stellt man fest, dass dabei sowohl „Faktizität“ (Tatsächlichkeit) wie auch „Fiktion“ (Erdichtung, Erfindung) im Spiele sind. Ja – „Fiktion“ gehört zur Geschichtsschreibung dazu. Und diese Erdichtungen dürfen nicht als Lüge verstanden werden! Was bedeutet nun Geschichte für die Zeitgenossen? Für sie ist Geschichte Fiktion, ist nicht real, sie ist konstruiert. HISTORIA = Narratio rerum gestarum (res gestae / prima significatio) Es steht die „Vergangenheit“ gegen die „Geschichte“; Geschichte ist somit ein „Bild der Vergangenheit“! Geschichte ist das Erzählen von Vergangenheit. Und dieses Erzählen von vergangenem Geschehen schafft Verstehen von Geschichte – und umgekehrt. Denn der Geschichtsschreiber will uns immer etwas (Bestimmtes) sagen. Wir erfahren von Isidor von Sevilla. Isidor zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des Frühmittelalters, kann aber auch, wenn auch nur bedingt, als einer der letzten

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Autoren der Spätantike gelten, deren Wissen er sammelte und ordnete. Eines seiner Hauptwerke ist die „ETYMOLOGIAE“. Diese orientiert sich an den „Artes liberales“, den 7 freien Künsten, ergänzt diese jedoch um einen Abriss der damals bekannten Weltgeschichte. Für Isidor sind drei Kriterien für die Geschichtsschreibung wichtig: • • •

Personen ( Personae ) Orte ( Loci ) Zeiten ( Tempi )

Nun kann nach Isidor Geschriebenes oder gelesenes auf mehrere Arten interpretiert werden und zwar • • • •

Als allegorische (sinnbildliche) Deutung Isidor von Sevilla († 636) Im tropologischen (höher bewerteten) Sinn Im anagogischen (Heilstheologischen) Sinn Als historische Interpretation ( Eine Sache so nennen, wie sie ist/Schriftsinn)

So kann man z.B. ein Bild der Stadt Jerusalem interpretieren als eine Stadt auf der Landkarte, als himmlische Stadt oder als Stadt des Erlösers.

Hugo von St. Viktor († 1141 in Paris) wird dagegen als schon wissenschaftlicher Schreiber des Mittelalters des 12. Jahrhunderts genannt. Sein Hauptwerk ist das „DIDASCALION“, in dem eine Einführung in das Studium (der Theologie und der freien Kunst) gegeben wird. Seine Werke enthalten Aussagen über fast alle damaligen Wissensgebiete: Geometrie, Geschichte, Philosophie, Sprache, Schriftforschung, Dogmatik, Aszetik und Mystik. Die Philosophie beispielsweise gliedert er in die Bereiche Logik, Theorie, Praxis und Mechanik. Alle seine Werke sind ein Beweis für sein hohes Niveau als Wissenschaftler und Fundamentaltheologe. Hugo von St. Viktor Ebenfalls im 12. Jahrhundert lebte der Mönch Alanus ab Insulin (Allain de Lille 1120/8 - 1203). Nach ihm ist Geschichte allererster Bericht von der Realität (prima significatio). Sein wunderschönes Gedicht „OMNIS MUNDI CREATURA“ (Sequenz der Rose) steht in der Anlage 1. Kontingenzdenken (diffuses Denken) war dem mittelalterlichen Menschen fremd. Geschichte hat immer ein Ziel, das von Gott vorgegeben ist. Insofern folgt Geschichte einem Plan, sie ist das „Handeln Gottes mit den Menschen“! Also soll sich der Mensch im Verlaufe seines Lebens und damit seiner Geschichte „richtig“ verhalten. Ist doch die Geschichte die „MAGISTRA VITAE“, die Lehrmeisterin des Lebens. Die heutige wissenschaftliche Geschichtsschreibung differenziert zwischen „Originalität“ und dem Schreiben nach „eigenem Erleben“, wie es im MA üblich war. Der mittelalterliche Schreiber nimmt sich hinter dem Gegenstand der Geschichte zurück. Was keine Gewichtung in der Aussage bedeutet.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 JOHANNES von Salisbury, (engl. John of Salibury, engl. Humanist und Philosoph, ca. 1115/20 - 25. Oktober 1180). In der Zeit von 1156-59 verfasste er seine beiden bedeutendsten Werke, das „Metalogicon“ (1159) und den „Policraticus“ (1156-59). Ziel des „Metalogicon“, das einen Einblick in den Studien- und Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit gibt, ist es, die klassische Bildung methodisch zu strukturieren. Sein „Policraticus“ bietet eine moralisierende, zeitkritische Staats- und Gesellschaftslehre.

Zusammenfassung Der Mittelalterliche Chronist ist zugleich • • • •

Bewusst gestaltender Schreiber Mit Gegenwartsbezug – Zeitzeuge Mit Vergangenheitsreferenz: „Historiker“ aus Sicht eigener Gegenwart Unbewusster zeuge für Verhältnisse eigener zeit

Mögliche Widersprüche zwischen • • • •

Eigener persönliche Vernetzung Bedingungen von Stellungen und Abhängigkeiten Wirkungsabsichten Konflikt zwischen historiographischer Tradition und aktueller Funktion von Geschichtsschreibung

Vorlesung vom 9. November 2005 Nach einer Zusammenfassung der bisherigen Vorlesungsinhalte erinnert Kitzinger daran, dass „Geschichte als Fundament für die Wissenschaften“ zu bezeichnen ist. Ereignisse nehmen Gestalt an, Geschichten werden zu Geschichte. Und damit ist der Übergang zum ersten Geschichtsschreiber in Mittel- und Westeuropa gefunden – nämlich zu Gregor von Tours (um 540-594). Gregorius Turonensis, ursprünglich Georgius Florentius, besser bekannt als Gregor von Tours, stammte aus einer gallorömischen Senatorenfamilie. Von 573 an Bischof von Tours, war er aktiv in die komplizierten politischen Verhältnisse der Zeit involviert und stand auch mit dem merowingischen Hof in engem Kontakt. Er besaß eine hohe Bildung und literarische Erfahrung und ist sicher als ein Träger früher Kultur zu bezeichnen. Gregor schrieb, edierte und übersetzte eine Reihe von Büchern, darunter den Liber vitae patrum (Buch der Viten der Väter), die Aufzeichnung der Wunder des Hl. Martin von Tours, seines Amtsvorgängers auf dem Bischofsstuhl in Tours, sowie einen Kommentar zu den Psalmen. Gregor von Tours Sein bedeutendstes Werk ist die nach 573 abgefasste Historia Francorum, eine zehnbändige Geschichte der Franken von den Ursprüngen bis zum Jahr 591. Diese Bezeichnung ist aber irreführend (Kintzinger), da es sich richtig um die „Historiarum libri decem“ handelt; 10 Bücher, in denen er sich auf den Raum in dem und die christliche Situation in der er lebt, bezieht. Sie bildet noch heute die wichtigste historische Quelle

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 für die frühe Merowingerzeit. Er schildert auf Grund spätantiker Quellen sowie eigener Erfahrungen die geschichtlichen Vorgänge seiner Zeit. Bei diesen Berichten, wobei er ja auch über die Herrscher und über die Kirche berichtet – eine solche „Heilsgeschichte“ kann und darf den Herrscher nicht verschonen. Was die Sache für Gregor nicht einfacher macht.

Dazu Wikipädia Das Hauptwerk von Gregor von Tours wird gewöhnlich als Geschichte der Franken bezeichnet. Es hat in verschiedenen Manuskripten des Mittelalters überdauert, in verschiedenen Versionen die mehr oder weniger dem Original entsprechen. Tatsächlich handelt es sich um eine Kirchengeschichte, die ursprünglich als "Zehn Bücher der Geschichte" betitelt war. Ihre Absicht war es, die Geschichte der Gesamtkirche in einer eschatologischen christlichen Sicht darzustellen, von der Erschaffung der Welt bis zu den fränkischen Königen 572. Beigefügt ist eine Sammlung von Lebensgeschichten gallischer Heiliger unter dem Namen "Buch der Wunder", das nach 570 entstanden ist. Das Werk als ganzes hat einen erbaulichen Charakter. Fünf der zehn Bücher und das Buch der Wunder befassen sich mit dem merowingischen Gallien, das Gregor kannte. Das Buch der Wunder zeichnet ein eher düsteres Bild mit der Betonung auf den schrecklichen Konsequenzen der Handlungen gewisser Könige im Gegensatz zu ihren christlichen Ahnen, angefangen mit Chlodwig I.. Aufgrund seines zentralen Themas wurde das Werk umgetauft in Geschichte der Franken (Historia Francorum) oder Taten der Franken (Gesta Francorum) oder, noch einfacher Chroniken (Chronicae). Auf jeden Fall macht es aus Gregor den Vater einer "Nationalgeschichte" der Franken, den wichtigsten Historiker der Merowinger und die Hauptquelle über die Merowingerzeit. Sprachgeschichtlich interessant ist das Latein, in dem das Werk verfasst ist. In der Einleitung entschuldigt sich Gregor für seine "ungebildete Sprache". Tatsächlich finden sich, gemessen am klassischen Latein, überaus viele Fehler besonders im Bereich der Kasus-Lehre. Darin spiegelt sich der Übergang zwischen Latein und den romanischen Sprachen: Latein ist für Gregor noch keine zu erlernende Fremdsprache, andererseits doch schon nicht mehr identisch mit der Umgangssprache seiner Zeit. Dieses sein Hauptwerk - „Historiarum libri decem“ – ist insgesamt sehr romanhaft geschrieben, ist keine Aufzählung von reinen Fakten und Daten. Es ist vielmehr literarisch bewusst gestaltet, mit Bibeltexten und eigenen Beobachtungen. Ist „eine Erzählung und ein Geschichtstext“, hier wird eine „Volksgeschichte“ mit einer „Herrschergeschichte“ verknüpft. Dabei hatte Gregor wohl keinen „Auftraggeber“ für sein Werk. Nur – bei den eher rudimentären Schrift- und Sprachkenntnissen der allermeisten Menschen jener Zeit – einschließlich der Herrscher – musste einfach einer initiativ werden - so Kintzinger sinngemäß. Kurz erwähnt wird der Mönch Beda Venerabilis (der Ehrwürdige / † 735), ein guter Kenner des Merowingergeschlechtes, welches sich mit brutaler Gewalt gegen andere Familien in dieser Zeit durchsetzt. Dieser Beda hat übrigens die Zeitrechnung seit Christi Geburt nach Inkarnationsjahren eingeführt (d.h. es werden historische Ereignisse mit Jahren nach Christi Geburt verknüpft). Ebenso berechnete Beda aus biblischen Vorgaben das Datum der Erschaffung der Welt: er kam auf den 18. März 3952 v. Chr.! Die „comemoratio“ bzw. „memoria“ (Erinnerung) gilt als zentrale Basis für einen Erinnerungshorizont und eine Identität aller, die die beschriebene Geschichte und die Geschichten gemeinsam erlebt haben. Dabei sorgt die „notitia“ für Information über all das, „was man wissen sollte“. Von der Erschaffung der Welt bei Adam und Eva beginnend. Bis in die eigene Zeit und am liebsten noch darüber hinaus. Aber da steht der Tod dagegen.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Gallien wird übrigens erstmals in Kapitel 30 und das Geschlecht der Merowinger ab Buch 6 erwähnt. Sich selbst und die Geschichte der anderen Bischöfe von Tours nennt und beschreibt er erst im letzten Buch, dem Band 10. Die Merowinger – von diesem Geschlecht muss er einfach eine Erfolgsgeschichte schreiben, alles andere wäre undenkbar. Der Beginn dieser Geschichte liegt bei der Taufe Chlodwigs I. († 511) durch Bischof Remigius von Reims, die er auf Betreiben seiner Gemahlin Chrodechilde († 544) zuließ. Chrodechilde entstammte dem burgundischen Königsgeschlecht. Sie ist die jüngere von zwei Töchtern Chilperichs (Nichte des burgundischen Königs Gundobad) und wurde um 492 durch offizielle Brautwerbung Gattin Chlodwigs I. (Greg. Tur. Hist. Franc. II, 28). Der erste Sohn aus dieser Ehe, Ingomer, starb anlässlich der Taufe um 494; der zweite Sohn Chlodomer, wurde um 496/97 geboren (Greg. Tur. Hist. Taufe Chlodwigs I. Franc. II, 29), Chlothar I., der jüngste Sohn, dann 504/07. Als katholische Prinzessin setzte sich Chrodechilde bei der Taufe ihrer Söhne bei Chlodwig durch. Kommen wir zur Schlacht Chlodwigs gegen die Alemannen (496/97), bei der es um die Vorherrschaft in Gallien ging. Chlodwig soll – wie einst Constantin – unter dem Kreuzzeichen in diese Schlacht gehen, um dann als „Novus Constantinus“ zu glänzen. Überliefert ist sein Gebet an den „neuen Gott“ (aus Angenendt: „Das Frühmittelalter“, Seite 172): „ Jesus Christus, Chrodechilde verkündet, Du seiest der Sohn des lebendigen Gottes; Hilfe, so sagt man, gebest Du den Bedrängten, Sieg denen, die auf Dich hoffen – ich flehe Dich demütig an um Deinen mächtigen Beistand: Gewährst Du mir jetzt den Sieg über diese meine Feinde und erfahre ich so jene Macht, die das Volk, das Deinem Namen sich weiht, an Dir erprobt zu haben rühmt, so will ich an Dich glauben und mich taufen lassen auf Deinen Namen. Denn ich habe meine Götter angerufen, aber, wie ich erfahre, sind sie weit davon entfernt, mir zu helfen. Ich meine daher, ohnmächtig sind sie (nullis potestatis), dass sie denen nicht helfen, die ihnen dienen. Ich rufe Dich nun an, und ich verlange, an Dich zu glauben; nur entreiße mich aus der Hand der Widersacher.“ Chlodwig wird siegen in dieser Schlacht und nun ist nichts mehr, wie es früher war. Die „Rahmenbedingungen“ haben sich sozusagen geändert. Durch die Taufe und den Glauben an den neuen Gott muss der König sich und sein Verhalten ändern. Und wer weiß, vielleicht hat ja auch der sog. „Sieghelfer“ (Bild rechts) zum Sieg beigetragen. Der göttliche Sieghelfer (rechtes Bild): Der Reiter hat seinen Gegner überrannt und droht ihn mit seinem Pferd vollends niederzutrampeln. Der Niedergeworfene aber vermag noch mit der einen Hand in die Zügel des Pferdes zu greifen und mit der anderen Hand sein Schwert in dessen Brust zu stoßen. In diesem für den Sieger durchaus kritischen Moment springt von rückwärts ein göttlicher Sieghelfer bei und hilft beim Schleudern des Speeres. Im oberen Teil der Scheibe sind zwei brüllende Löwen dargestellt, die den Kampf gleichsam als ein immerwährendes Geschehen erscheinen lassen.)

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Vorlesung vom 16. November 2005 Ein kurzer Exkurs zu Beginn der heutigen Vorlesung bringt uns den Mönch Dionysius Exiguus näher, über den im BAUTZ-Kirchenlexikon zu lesen ist:

DIONYSIUS EXIGUUS (der "Kleine" oder "Geringe", wie er sich selbst nannte, Mönch, † etwa 545). Er war von Geburt Skythe und lebte seit etwa 500 als Mönch und Freund des Cassiodor in Rom. Er übersetzte wichtige griechische theologische Schriften ins Lateinische und ist bekannt durch seine Sammlung der Konzilienbeschlüsse und der päpstlichen Dekretalen und als Begründer unserer heutigen christlichen Zeitrechnung. D. führte die seit dem Konzil von Nicäa (325) im Orient gebräuchliche alexandrinische Osterberechnung in die abendländische Kirche ein. Er zählte die Jahre nicht mehr nach dem Regierungsantritt des Kaisers Diokletian (29.9. 284), sondern ab incarnatione Domini. Christi Geburt verlegte D. in das Jahr 754 ab urbe condita, und zwar auf den 25.12. des 1. Jahres seiner Ära. Zur Zeit Karls des Großen war die "dionysische" Berechnung in der ganzen Kirche im offiziellen Gebrauch.

Kintzinger erklärt in diesem Zusammenhang den Begriff Komputistik, lt. DUDEN ist das „Die Wissenschaft von der Kalenderberechnung“. Zur Zeit der Karolinger z.B. gab es noch unterschiedliche Datierungen für den Beginn eines Kalenderjahres, das für Karl den Großen am Tag nach „Heiligabend“, also am 25. Dezember begann. Diese Tatsache muss man bei Datums- oder sonstigen Zeitangaben bedenken. Zurück zur Vorlesung und zu Gregor von Tours. Gregors Schriften kann man noch nicht als „Stilbildend“ bezeichnen, vielmehr schildert er einzelne Geschehnisse. Er verkörpert noch keine prägende Kraft, ist gewissermaßen ein „Vorspieler“ und vertritt eine Frühform des Geschichtsschreibers in einer partikulären (kleinteiligen), gentilen, (d.h. feinen und wohlerzogenen) Gesellschaftsform. Einige weitere Geschichtsschreiber des frühen Mittelalters werden uns genannt: •

• • •

Cassiodor († um 583) war Minister und Berater des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen und setzte sich maßgeblich für die Aussöhnung von Römern und Ostgoten ein. Er verfasste eine Geschichte der Ostgoten, die noch stark in die antike-griechische Kultur eingebunden war. Aufgrund seiner Nähe zum Kaiser berichtet er aber aus hautnaher eigener Anschauung und eigenem Erleben der Zeitgeschichte Isidor von Sevilla († 636) schrieb eine Geschichte der Westgoten Beda Venerabilis († 735) berichtet über die Kirchengeschichte der Angelsachsen Paulus Diaconus († 799) hatte als Gelehrter am langobardischen Königshof in Pavia, an den Höfen der Duces von Cividale und Benevent und vorübergehend auch am Hof Karls des Großen reiche Erfahrungen gemacht. Die Langobardengeschichte schrieb er gegen Ende seines Lebens, spätestens 795/96, vermutlich in Montecassino. Sie behandelt in sechs Büchern die Zeit von den sagenhaften Ursprüngen der Langobarden bis zum Tod ihres Königs Liutprand (744), enthält aber auch zahlreiche Nachrichten von Byzantinern, Franken und anderen.

Wobei es sich hier nur um eine kleine Auswahl mittelalterlicher Geschichtsschreiber handeln kann, die außerdem sog. „Stammes(gens)geschichte“, also aus einer und über eine begrenzte Region geschrieben haben und noch keine „Volksgeschichte“.

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In einem anderen geschichtlichen Jahrhundert der Mönch •

Kontext

schrieb

im

10.

Widukind von Corvey († nach 973). Um 940 trat er in das Benediktinerkloster Corvey an der Weser ein. Hier schrieb er seine drei Bücher Res Gestae Saxonicae (Die Taten der Sachsen), die Geschichte der Sachsen von den Anfängen bis ins Jahr 967 (bzw. in der dritten Fassung bis 973), in deren Mittelpunkt Heinrich I. und Otto der Große stehen und in der sich der Stolz des Sachsen auf den Aufstieg seines Stammes zur Königs- bzw. Kaiserwürde manifestiert. Eine überarbeitete Fassung widmete Widukind 967/68 Mathilde, der Äbtissin von Quedlinburg. Bildnis Widukind’s

Fredegar ist der überlieferte, aber nicht gesicherte Name des Verfassers einer fränkischen Chronik, der Fredegar-Chronik, der wichtigsten historischen Quelle für das 7. Jahrhundert. Die Chronik wurde im Jahr 658 abgeschlossen, enthält Spuren von offenbar drei Bearbeitern, sowie teilweise übernommenes Material aus älteren Quellen, darunter Gregor von Tours († 594). Die karolingischen Hausmeier setzten im 8. Jahrhundert die Fredegar-Chronik als amtliche Chronik fort. Ausgehend von der Tatsache, das der Klerus und besonders die Bischöfe gelehrter waren, als die meisten anderen Menschen dieser Zeit, ihr also in einem gewissen Sinn voraus waren, wurden sie als Vorbild eines gottgefälligen Menschen dargestellt. Und der Herrscher z.B. wird jetzt diesem „Idealbild“ gegenüber gestellt. Man muss fragen, was für ein Geschichtsverständnis bei Fredegar geherrscht haben muss. Er wird so geschrieben haben, wie er glaubte, dass seine Leser es haben wollten. Immerhin hat er bei Gregor, aber auch bei Isidor „abgeschrieben“; d.h. er hat deren Arbeiten studiert, dort nach der Wahrheit gesucht und seine Werke enthalten Auszüge aus diesen verschiedenen Schriften. Er versteht seine Arbeit also in der Form, dass er die Berichte der Vorgänger fortsetzt. Er bleibt bei seinem Bericht über die Ereignisse der Zeit (Gesta temporum) ganz im Kontext der Zeitgeschichte. Die von den drei Bedingungen LESEN, HÖREN (Oralkultur) und AUGENSCHEIN (Ich kenne einen, der kannte einen…) lebt. Bezieht seine Legitimation also aus der Tradition, berichtet aus belegten Vorlagen. Die Veritas (Wahrheit Gottes) der Geschichte wird dabei vorausgesetzt.

Die Karolingerzeit Die Karolingerzeit ist Teil des frühen Mittelalters (auch: Frühmittelalter). Sie beginnt formal mit dem Staatsstreich Pippins im Jahr 751 und dauert bis zum Todesjahr Ludwig des Kindes 911. Jetzt bildet sich ein „Landesbewusstsein“, eine territoriale Identifikation aus. Die Berichte aus dieser Zeit werden rhetorischer, geschickter im Ausdruck, farbiger. Die Geschichtsschreibung wird konzeptioneller, geistiger, künstlerischer. Man kann die Zeit der Merowinger in dieser Hinsicht sozusagen als eine Zwischenstufe zwischen dem Römischen Reich und der Zentralität der Karolingerzeit sehen. Reste antiker Gelehrsamkeit gingen verloren. Angesagt war nur noch hohe Gelehrsamkeit und die unterschiedlichen Formen der Geschichtsschreibung in der Karolingerzeit sind nicht mehr amorph, nicht mehr form- und gestaltlos. Es geht um Personalität. Die „Res gestae“ steht im Mittelpunkt. Es geht um Chronologie (zeitliche Abfolge), Traditionalität (Überlieferung) und Sakralität (Heiligkeit) – das impliziert Prospektivität (Vorausschau).

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Berichtet wird jetzt durch – • • • • •

Viten – also Lebensbeschreibungen und Herrschafts-, Landschafts- und Volksgeschichten, sowie Weltgeschichte.

Traditionen werden zwar fortgeführt, aber neue Gattungen, eine andere Programmatik (Zielsetzung / Zielvorstellung) kommen bei der Geschichtsschreibung dazu. Z.B. die Gattung der „Annalen“, also eine Einteilung, eine Ordnung nach Jahren. Dabei wird die Geschichte auf das eigentliche Faktum reduziert. Jede Form der Erzählung wird unterlassen. Eine kalendermäßige Berichterstattung herrscht vor. So sind die „Karolingischen Reichsanalen“ auch nur eine Sammlung faktischer Ereignisse, zwar mit Deutungen, aber ohne literarischen Anspruch – eben nur Berichte. Sie sind - im Auftrag des Hofes - von Mönchen aufgeschrieben und enthalten, wie man sich denken kann, nur positive Berichte über den Herrscher.

Hagiographie Ein weiteres Kapitel mittelalterlicher Geschichtsschreibung unter der Bezeichnung Hagiographie ist zu besprechen. Lt. Duden „Das Erforschen und Beschreiben von Heiligenlegenden“. Dazu WIKIPÄDIA:

Die Hagiographie bzw. Hagiografie umfasst sowohl die Darstellung des Lebens von Heiligen (vgl. Vita), als auch die wissenschaftliche Erforschung solcher Darstellungen. Die Hagiographie will das Leben bedeutender Mitglieder der Kirche als Vorbild für die Nachwelt festhalten. Dabei treten historische Fakten oft hinter dem exemplarischen (gleichzeitig auch ideologischen) Charakter der Lebensbeschreibungen zurück. Die Geschichte der Hagiographie beginnt im 2. Jahrhundert mit Lebensbeschreibungen von Märtyrern, Asketen und Mönchen. Im Mittelalter, der Blütezeit der Hagiographie, gibt es Lebensbeschreibungen fast aller bedeutenden Heiligen der Kirche. Eine heute noch verbreitete Sammlung von Heiligenlegenden ist die von 1263-1273 entstandene Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Im übertragenen Sinne bezeichnet der Begriff Hagiographie oder die adjektivische Verwendung hagiographisch eine unkritische und euphemistische Biographie, die dem Beschriebenen quasi einen "säkularen Heiligenschein" verleihen soll.

Diese als selbständige literarische Gattung (Genus) zu bezeichnende Entwicklung setzt jetzt auch – wieder verstärkt ein. Ähnlich wie die „normale“ Geschichtsschreibung - die sie nicht ist bringen ihre Berichte aber andere Informationen über diese Zeit, über die Volksreligiosität und den Volksglauben. Es ist eine spezifische Berichterstattung, bei der man viel über das Alltagsleben der einfachen Menschen und die soziale Differenzierung zwischen Adel und Volk, meist Bauern, erfährt. Sie ist so auch als ein Zeugnis der Zeit zu werten – aber mit einem eigenen Anspruch. Erstmals auch mit dem Stilelement der wörtlichen Rede. Und hat so ihren Platz gleichberechtigt neben der klassischen Geschichtsschreibung. Ein bekannter Verfasser solcher Heiligenlegenden ist Jakob von Voragine († 1298 Erzbischof von Genua, Kirchenschriftsteller). Seine Legenda Aurea ist eine Sammlung verschiedener Heiligenlegenden.

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Dazu das BAUTZ Kirchenlexikon:

Vor 1265 verfasste Jakob neben mehreren erbaulichen und apologetischen (rechtfertigenden) Schriften eine Sammlung von Heiligenlegenden, die »Legenda aurea« (von ihm selbst als »Legenda Sanctorum« bezeichnet). Trotz, vielleicht auch besonders wegen ihres kritiklos-märchenhaften Charakters wurde das Werk zu einem äußerst beliebten Volksbuch. In abenteuerlicher, zuweilen auch geschmackloser Weise wurden hier die verschiedensten Legenden aneinandergereiht, miteinander verbunden allein durch den eher unbeholfenen Sprachstil und die jeder Legende vorangehende Etymologie des Heiligennamens, die in allen Fällen jeglicher Begründung entbehrt. Das Werk wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt, auch Ignatius von Loyola gehörte zu seinen Lesern. Die »Legenda aurea« hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die deutschen Legenden des ausgehenden Mittelalters, und ist eine hervorragende Quelle für das Verständnis des mittelalterlichen Aberglaubens.

Erwähnt wird der schottische Mönch Jonas von Bobbio, der eine Geschichte des Lebens des Missionars und Heiligen Columban verfasst hat. Dazu BAUTZ:

JONAS von Bobbio, Mönch und Hagiograph, ( †nach 659) trat 618 in das von Columbanus dem Jüngeren (ca. 530-615) 614 gegründete Kloster Bobbio (in Apennin, südlich von Piacenza) ein, wo er bald Sekretär der Nachfolger des irischen Gründers wurde, wohl aufgrund seiner für die damalige Zeit beachtlichen literarischen Fähigkeiten. Abt Bertulf beauftragte ihn, eine Vita des Heiligen Columbanus zu schreiben. Jonas verfasste neben der »Vita Columbani«, seinem Hauptwerk, weitere Viten von Äbten sowie Mönchsviten (Der »Vita Columbani« sind wohl nicht von J. verfasste Hymnen zu Ehren des Heiligen angefügt). Diese Vita und diejenigen der nachfolgenden Äbte, des Eustasius und die bobiensischen Mönchsviten sind die beiden Bücher seines Hauptwerkes »Vita Columbani et Discipulorum eius«, das in den meisten Handschriften verbreitet ist. In der »Vita Sancti Vedasti« benutzt er Gregor von Tours (Historia Francorum). Ent sprechend der allgemeinen Charakteristik des Schrifttums seiner Zeit, weisen seine Viten Mängel in Aufbau und Chronologie auf, jedoch zeichnet sich J. durch das Bemühen um Vollständigkeit des Berichtes aus, um Vergleich und Erweiterung seiner Quellen, zu welchem Zwecke er ausgiebige Reisen unternimmt. Ebenso ist er bemüht, die Fakten möglichst korrekt und genau zu präsentieren. - Wie in der gesamten Hagiographie seiner Zeit steht der Bereich des Wunderbaren im Vordergrund: die Vita sollte vor allem die Kraft des Heiligen beweisen, Wunder tun, um sein Ansehen und das seiner klösterlichen Gründungen zu heben. Doch verleiht der für Jonas typische Hang zu relativer faktischer Genauigkeit seinem Werk einen erstklassigen Rang als historischer Quelle, etwa über die Vorgänge im burgundisch-merowingischen Hochadel, über die er in der »Vita Columbani« berichtet. Weiterhin gelingt es Jonas, seine Protagonisten in ihrer charakterlichen Eigenheit zu zeichnen, den strengen, oft heftigen Columbanus, den mildtätigen Attala, den kontemplativen Eustasius, usw. Und letztlich präsentieren uns die anekdotischen Berichte über das Wirken der Heiligen (ähnlich oft zu den Fioretti des Heiligen Franz) auch mit dem alltäglichen Leben der Menschen in einer Zeit, von der wir sonst nicht viel wissen. - J. gilt als einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste italienische Schriftsteller des 7. Jahrhunderts, was angesichts der Armut dieses Jahrhunderts nicht viel heißen mag.

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Vorlesung vom 23. November 2005 Wir sind weiter bei der Geschichtsschreibung in der Karolingerzeit und lernen eine neue Gattungsform der Überlieferung kennen: die Annalen. Annalen (Jahrbücher) sind chronologisch geordnete Aufzeichnungen über denkwürdige Begebenheiten, nur Fakten also, welche in möglicher Parallele zu spätantiken Konsullisten seit dem 8. Jh. erscheinen. Innerhalb dieser „faktischen Berichte“, dieser „Ereigniserzählungen“ sind oft Deutungen von Wundern eingeflochten und hier muss der Leser aus der Art des Schreibens „die Moral von der Geschichte“ erkennen. Denn, eine allegorische (sinnbildliche) Deutung von berichteten Geschehnissen wird nicht gegeben. Das Ereignis und das „dazugehörende“ Wunder werden nur neben einander berichtet und es wird nicht weiter ausgeführt, dass Jemand etwas unternimmt, weil ein Wunder geschehen ist. Nur Fakten zählen. Bei den o.g. Konsullisten wird erst das Datum, dann das dazu gehörende Ereignis, über das oder ein Name, über den berichtet werden soll, genannt. Kintzinger erwähnt in diesem Zusammenhang noch einmal den (späteren) Mönch Cassiodor († um 583), Autor mehrerer theologischer und enzyklopädischer Werke, dem er eine „absichtsvolle Geschichtsschreibung“ unterstellt. Seine Urgeschichte der Goten idealisiert und ist mit teils fiktiven Elementen angereichert. Erhalten ist jedoch eine Sammlung von Aktenstücken und Urkunden (Variae), welche eine wichtige Quelle bezüglich der Verwaltung des ostgotischen Königreichs darstellen. Cassiodor gründete im Jahr 540 ein Kloster in Kalabrien, stattete es mit einer Bibliothek aus und machte das Abschreiben von Handschriften zur Aufgabe von Mönchen. Die Bedeutung Cassiodors, der an der Wende zwischen Spätantike und Frühmittelalter stand, liegt vor allem darin begründet, dass er dem Mittelalter klassisches Bildungsgut vermittelte. Eine andere Form von Jahresberichten, die entstanden ist aus vorchristlicher, keltischer Tradition, bringen schottische Mönche auf den Kontinent. Die dann von der Kirche übernommen wurde. Hierbei werden Daten und Ereignisse nach Regierungsjahren des Herrschers berechnet und berichtet. Ein Beispiel: Man muss dazu folgendes wissen: Die fränkische Kanzlei datiert nach Regierungsjahren, nicht nach Kalenderjahren. Da Karl seit dem 9. Okt. 768 fränkischer König war, beginnt mit dem 9. Okt. 779 sein 12. Regierungsjahr, der 24. Sept. 779 fällt also in sein 11. So sagt es auch die Urkunde. Mit der zweiten Datierung werden Karls Regierungsjahre als italienischer (langobardischer) König gezählt. Karl hatte Anfang Juni 774 die Hauptstadt der Langobarden, Pavia, erobert, den König Desiderius (seinen Ex-Schwiegervater) abgesetzt und sich selbst mit der Eisernen Krone zum König der Langobarden gekrönt. Seit Anfang Juni 774 datiert jetzt die Kanzlei des Königs auch nach seinen italienischen Regierungsjahren.

Ein neuer Begriff, die Glosse (sprich: Glohse) wird erwähnt. Das sind Ergänzungen in Urkunden zu bestehenden Texten, die nach und nach in diese eingegangen sind. Dabei kann es sich um sog. marginale (auf dem Rand stehende) oder interlineare (zwischen die Zeilen des Urtextes geschriebene) Ergänzungen handeln. Und noch eine Form, in der Annalen geschrieben wurden, wird erwähnt – die Ostertafeln. Diese werden benötigt zur Bestimmung des beweglichen Datums des Osterfestes. Die Geschehnisse des Osterfestes nehmen in der christlichen Heilslehre eine zentrale Stellung ein. Einzige Quelle hierzu ist die Bibel. Den Evangelisten ging es bei ihrer Darstellung allerdings mehr um die Verkündung einer Botschaft denn um die Schilderung historischer Ereignisse. Mehr oder weniger unumstritten ist lediglich der zeitliche Zusammenhang der Hinrichtung Jesu Christi mit dem jüdischen Passahfest. Der Bibel zufolge fand die Kreuzigung selbst an einem Freitag dem 14. Nisan statt. Am darauf folgenden Sonntag dem 16. Nisan fanden dann die Frauen das leere Grab vor. In

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 den verschiedenen christlichen Religionen gibt es sehr unterschiedliche Berechnungsmodi des Osterfesttermins. Auch eine Kalenderreform von 1582 konnte keine einheitliche Lösung bieten. Man hatte es im Gegenteil verstanden, den einfachen Tatbestand, dass man Ostern am 26. April nicht wünschte, so zu verschleiern, dass wohl kaum ein Laie, vielleicht aber auch einige Mitglieder der Reformkommission selbst, die ganzen Manipulationen nicht mehr durchschauten. Eine Meisterleistung der theologischen Mathematik! Immerhin konnten sich an den Angaben der Ostertafeln alle anderen beweglichen Feste des Kirchenjahres orientieren. Und sie bleiben bis ins 15. Jahrhundert in Gebrauch. Wobei nach wie vor wichtige Ereignisse eines Jahres wie z.B. Meteoriten, also Himmelszeichen oder andere wichtige Ereignisse dort hinein geschrieben wurden. Konnten diese doch Vorboten für weitere Vorkommnisse sein. Der Übergang zur Karolingerzeit ist gekennzeichnet von einem Analphabetismus nahezu beim gesamten Adel, einschließlich des Herrschers und natürlich beim Volk. Gelesen und geschrieben wurde nur in den Klöstern. Und die Mönche berichten, was ihnen von den Menschen zugetragen wird. Auch die Karolingischen Reichsannalen, ein konkreter Text aus dieser Zeit, wurden in Klöstern geschrieben. Und sind „ganz bewusst so, wie sie sind“ (Kintzinger), also als Annalen verfasst und systemisch gestaltet. Sie umfassen den Zeitraum von 741 bis 829. Das bekannteste, aber nicht das einzige, nur eben erste gefundene Zeugnis dieser Reichsanalen stammt aus dem Kloster Lorsch. Auch in anderen Klöstern wurden diese Reichsannalen geschrieben. Deren Bezeichnung auf Leopold von Ranke (1795-1886) zurückgeht. Wobei die Bezeichnung „offiziös“, nicht „offiziell“ ist. Wie entstanden diese Annalen? Mönche, die für die damalige Zeit als gebildet, weil des Schreibens kundig, galten, schrieben die Ereignisse, die ihnen zugetragen Kloster Lorsch / Königshalle wurden, auf. Wobei sie nur Fakten berichteten und/oder keine eigenen Gedanken und Empfindungen einfließen ließen. Und obwohl nie erwähnt wird, wer- was- wo geschrieben hat, kann man doch unterschiedliche Schreiber nachweisen. Wichtig war in erster Linie eine kontinuierliche Fortschreibung der Ereignisse, wobei spätere Informationen „interpoliert“ (nachträgliche Einschaltung in einen Text) wurden. Die historische oder konzeptionelle Originalität war nicht wirklich wichtig; worum es ging, war das bewusste Aufschreiben bestimmter Ereignisse im Auftrag des Hofes (Ranke). Dabei muss der Auftraggeber der Schreiber die Zusammenhänge gekannt und richtig interpretiert haben! Es gibt auch eine „Urkundensprache“, wonach diese nach festen Regeln zu verfassen sind. Dabei geht es um „memoria“ (Erinnerung), man hält fest, was man für wichtig hält. Dabei haben königliche oder wichtige kirchliche Handlungen (z.B.Synoden) einen starken Anteil an den Berichten. Und da Urkunden oft weiter gegeben werden mussten, wurden auch Kopien angefertigt. Oft war aber auch nur der Hinweis in den Annalen die einzige Quelle über ausgestellte Urkunden. Die Reichsannalen nun sind zwar Information, aber nur eine Auswahl der tatsächlichen Ereignisse. Das weiß man heute durch Parallelinformationen aus anderen Quellen. Kintzinger nennt hier als Beispiel die „Pyrenäenschlacht“ Karl des Großen, bei der Karl eine Niederlage erlitt, über die aber nirgendwo berichtet wird. Und so gab es auch Menschen, die Kritik an dem Geschriebenen übten, es sei eine parteiische Geschichtsschreibung. Nach dem Motto: Geschichte passiert immer, bevor sie geschrieben wird. So kann man alles so berichten, wie es einem angenehm ist. Im Jahr 749 geht die Macht von den Merowingern auf die Karolinger, den bisherigen „Hausmeiern“, über. Die Karolinger herrschten bereits ab 639 mit Unterbrechungen im Frankenreich, jedoch nicht als Könige (die noch für mehr als ein Jahrhundert Merowinger waren), sondern als Hausmeier. Bis zur Mitte des achten Jahrhunderts konnten sie ihre Macht so weit ausbauen, dass kein merowingischer

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Schattenkönig mehr ernannt werden musste und schließlich mit Billigung des Papstes auch der eigentliche Königstitel übernommen werden konnte. Der berühmteste Vertreter der Dynastie, Karl der Große, herrschte ab 800 sogar als Kaiser. Im November 751 wurde Pippin durch eine Versammlung der Franken zu Soissons nach Absetzung Childerichs III., der nebst seinem Sohn Theoderich in das Kloster Prüm verwiesen wurde, „nach Sitte der Franken gewählt und gesalbt“ zum König erhoben und er beendete damit die Reihe der Könige aus dem Geschlecht der Merowinger. Mit der Wahl Pippins zum König begann die Königsherrschaft der Karolinger im Frankenreich. Und jetzt gibt es zum ersten Mal eine theoretische Begründung für die Erhebung, die „gratia dei rex“ (Göttliche Erwählung), also eine christliche Legitimation für das Amt des Königs, die auch vom Papst legitimiert wird. Denn wenn Childerich abgesetzt wird, hat er keine Macht mehr und damit ist die göttliche Ordnung gestört. Also ist es der göttliche Wille, dass Pippin König wird. Kintzinger nennt das „Glättung der Realität“. Und insofern schreiben sich die Karolinger ihre eigene Erfolgsgeschichte. Childerich ins Kloster zu geben, bedeutete natürlich auch, dass man ihm eine Tonsur schnitt. Und in dieser Zeit galten lange Haare und Bärte als Zeichen von Kraft, ein Abschneiden von Haar also bedeutete, dass dieser Mann seine Kraft verloren hatte. Warum nun schreibt man diese Annalen, welchen Zweck verfolgt man damit? Man beginnt im Jahr 741 und zwar rückwirkend und interpolierend (she. Seite 12) zu berichten. Und auch nicht immer fortlaufend nach hintereinander liegenden Jahren. Und etwa um das Jahr 790 werden sie sogar ganz neu geschrieben. Wobei nicht bekannt ist, wer hier der evtl. Auftraggeber war. Man erfindet einen „Konzeptor“ (geistigen Urheber). Eventuell erfolgte eine „Neuauflage“ der Annalen wegen nicht berichteter Konflikte im Königshaus. Weshalb man eine Neuordnung der Ereignisse haben wollte. Der genaue Grund aber ist unbekannt. Fest steht nur, dass jetzt die Ereignisse linear und nach Jahren geordnet, berichtet werden. Verbirgt oder verbergen sich eine dem Hof nahe stehende Person oder Personen dahinter? Man ist hier auf Vermutungen angewiesen. Die Herrschaft der Karolinger jedenfalls wurde durch diese Maßnahme gefestigt. Die weitere Entwicklung solcher Annalen – die weiterhin und bis ins 11./12. Jahrhundert hinein verfasst werden - lässt die Schreiber mehr und mehr aus der Anonymität heraustreten. Es finden sich jetzt auch mehr „analytische (wertende) Chroniken“. Erwähnt wird der Mönch Lambert von Hersfeld, der sehr parteiisch und polemisch berichtet hat. Die weitere Entwicklung karolingischer Geschichtsschreibung ist wieder durch Anonymität und programmatische (gewollte) Deutung gekennzeichnet. Vom Tod Karl des Großen im Jahr 814 wird noch berichtet, dabei werden die Jahre und weitere Daten seiner Herrschaft genannt. Herrscher sein und Herrschaft weitergeben – zwei schwierige Fragen, deren Beantwortung nicht selbstverständlich ist. In diesem Fall waren Sukzession (Thronfolge) und der Wille der Franken für Karls Nachfolge ausschlaggebend. So der Bericht – lt. Kintzinger kann das alles aber „nicht so einfach gewesen sein“. Die Karolingischen Reichsanalen finden nach 829 keine direkte, nur eine partielle Fortsetzung; aber sie wirken stilbildend. Es erfolgt bekanntlich eine Teilung des Reiches auf Karls Söhne und diese Teilreiche werden nun beschrieben. Die wichtigsten Werke sind die „Annales regni Francorum“ (Reichsannalen, bis 829), Annales Fuldenses für das ostfränkische Reich bis 902 und die Annales Bertiniani für das westfränkische Reich bis 882. Dabei ist immer noch der Anspruch auf Neutralität gegeben; d.h. es wird nur berichtet, was auch wirklich passiert ist. Diese Analistik ist damit ein Zeugnis für den Zerfall des Karolingerreiches. Es erfolgt eine Abgrenzung bei den Berichten, nur noch lokale und standortbezogene, regionale Ereignisse werden berichtet. Dadurch erfolgt eine gewisse Wertung. Und die Klöster als „Standorte von Wissen“ sind funktional für die Herrschaft. Die Kirche schreibt, was der König will – so bleibt es bei einer engen „Symbiose“ (Duden: Zusammenleben verschiedener Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen) zwischen Herrscher und Kirche.

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Vorlesung vom 30. November 2005 Es ist zu fragen, ob die Karolingischen Reichsannalen eine objektive Bericht erstattung sind? Lt. Kintzinger waren die Informationen, die uns dort gegeben werden, “gelenkt“; es stand ein politischer Wille dahinter. Was man verstehen kann, konnte der Chronist doch nicht schlecht über seinen Herrscher berichten. Dabei ist die Karolingische Reichsreform als Hintergrund der geschilderten Ereignisse zu sehen. Diese Reichsreform wurde in früheren Jahren von der Mediävistik als „Karolingische Renaissance“ bezeichnet, ein Begriff, der aber heute als falsch eingestuft wird. Einfach, weil nichts da war, auf das man „zurückkommen“, sich „zurückbesinnen“ konnte. Bei dem Wort Reform muss man sich die ursprüngliche Bedeutung klarmachen, nämlich im Sinn von Umgestaltung, Neuordnung, Verbesserung des Bestehenden (Duden). Die Karolingische Reichsreform ist als Bildungsreform zu verstehen, sie ist kein „eigenständiger Begriff“. Als Grund wird der Wunsch nach Legitimation (Beglaubigung) und Memoria (Erinnerung) genannt. Ein so großes Reich, wie das Frankenreich z.Zt. Karls des Großen kann nur funktionieren, wenn es Vereinheitlichungen gibt. Dieser Ansatz ist stringent (zwingend, bündig) und so werden z.B. die Kanzleisprache und die Sprache der Liturgie vereinheitlicht (norma rectidudinis). Diese Vereinheitlichungen werden durch Gesetze geregelt, die wiederum durch sog. „missi dominici“, Gesandte des Herrschers, im Reich bekannt gemacht werden. Indem diese Gesandten zu Pferde von Ort zu Ort reisen. Innerhalb der Liturgiereform gilt z.B. die Weisung, dass Gebete oder gelesene Messen nur dann auch wirksam sind, wenn sie „in korrekter Form“ und überall in „gleicher Form“ erfolgen. Unwirksam ist eine Messe dann, wenn ein Geistlicher, der des Lesens nicht so recht kundig war, eine liturgische Formel falsch abgelesen hat. Damit Menschen lesen und schreiben lernen können, sind Schulen notwendig. An diesen Schulen werden auch die zukünftigen Bischöfe ausgebildet. Deren Ausbildung ist immer mit einer Nähe zum Hof und damit zum Herrscher verbunden. Dadurch werden persönliche Vertrauensverhältnisse geschaffen. Solche „personellen Vernetzungen“ (Kintzinger) haben mindesten im Ansatz funktioniert. In diesem Kontext der Herrschernähe ist die damalige „Schriftproduktion“ zu sehen. Der Kaiser / König kann zwar in der Regel nicht lesen, aber er nimmt durchaus Einfluss auf die zu erstellenden Urkunden. Genauso, wie seine gelehrten Berater. Als Beispiel wird der Aachener Dom genannt, bei dem anzunehmen ist, dass seine für die damalige Bauweise ungewöhnliche Form von Karl bestimmt wurde. Wir kommen zu einigen Biographen der Zeit und zunächst zu Einhard (um 770 bis 840), ein fränkischer Geschichtsschreiber und Biograph Karls des Großen. Einhard entstammte einer Adelsfamilie aus Mainfranken und erhielt seine Ausbildung im Kloster Fulda. Etwa 794 kam er an die Hofschule Karls des Großen, wo er Schüler und Freund des angelsächsischen Gelehrten und Leiters der Hofschule, Alkuin, wurde. Dank seiner Fähigkeiten erwarb sich Einhard die Gunst Karls und wurde einer von dessen engsten Vertrauten. Nach Karls Tod fungierte er als Berater von dessen Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen, der ihm als Laienabt die Leitung mehrerer Klöster anvertraute und ihn reich mit Grundbesitz ausstattete. 830 zog er sich aus dem politischen Leben zurück und stand dann bis zu seinem Tod 840 als Laienabt dem Kloster Seligenstadt vor. Einhards bedeutendstes literarisches Werk ist seine Biographie Karls des Großen, die Vita Caroli Magni (entstanden wahrscheinlich um 825/26); als Vorbild für Aufbau und Stil dienten Einhard die Kaiserbiographien Suetons, und die Vita Caroli Magni wirkte selbst wieder jahrhundertelang auf die Geschichtsschreibung. Im Mittelalter war die Vita eines der meistgelesenen Geschichtswerke; sie ist die beste Quelle aus erster Hand zu Karl dem Großen und die erste mittelalterliche Herrscherbiographie überhaupt. Einhards Briefesammlung ist ebenfalls eine erstklassige Quelle zur karolingischen Zeit.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Natürlich ist die „Vita Caroli Magni eine Lobschrift auf den Kaiser – alles andere wäre undenkbar gewesen - es ist aber auch nicht ausschließlich eine Hagiographie (Beschreibung des Lebens eines Heiligen). Obwohl – etwas Heilsgeschichte ist schon dabei. Und in späterer Zeit wurde Karl der Große dann auch zum Idealbild eines Herrschers. Dem sogar ein Kreuzzug angedichtet wurde, den er nie unternommen hat. Aber – er hätte ja können und so könnte ja sein, dass… (Kintzinger), eine Fiktion also. Karl wurde bereits 865 heilig gesprochen. Ende des 9. Jahrhunderts beginnt die Verarbeitung des von Einhard geschriebenen Textes, der Tatenbericht Gesta Caroli entsteht. Und im 12. Jahrhundert entsteht mit dem Rolandslied (Chanson de Roland) dann der Mythos eines Helden (ein Neffe Karls), der verklärt dargestellt und hochstilisiert wird. Angeblich sei er im Kampf gegen die Mauren in einen Hinterhalt geraten und – natürlich für seinen Kaiser - getötet worden. Gesta (Kurzform zu lateinisch res gestae: Taten) Die Bezeichnung einer besonderen Form der mittelalterlichen Geschichtsschreibung in lateinischer Sprache, sowie Titel für anekdotisch-moralisierende Erzählungen des Mittelalters. Im Unterschied zu Annalen und Chroniken richtet sich das Interesse der Gesta weniger auf die streng zeitliche Reihenfolge sachlich beschriebener Ereignisse. Vielmehr geht es um die anekdotisch zugespitzte und moralisierende Darstellung von Leben und Taten einzelner Persönlichkeiten, Gruppen oder Völker (Res gestae Saxonum von Widukind von Corvey). Zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert wurden zumeist Gestatexte über das Lebenswerk von Geistlichen und hohen Würdenträgern verfasst, darunter Äbte (Gesta abbatum), Bischöfe (Gesta episcoporum) und Könige (Gesta rerum). Später traten die historischen Bezüge zugunsten eines freien Fabulierens immer stärker in den Hintergrund; deutlich wird dies u. a. im altfranzösischen Chanson de Geste. Das auf diese Gattung zugreifende Rolandslied des Pfaffen Konrad wiederum stützt sich u. a. auf die Gesta Caroli magni über das Leben Karls des Großen. Das Rolandslied hat Karls misslungenen Feldzug nach Spanien im Jahr 778 als mythischen Hintergrund.

Die Sage von Roland und Hildegunde Der Ritter Roland war nicht nur der Neffe Karls des Großen, sondern auch sein Paladin, sein treuer Gefolgsmann. Er zog mit dem fränkischen Heer gegen die Mauren nach Spanien. Am Rhein zurück ließ er die ihm versprochene geliebte Hildegunde, die Tochter des Burgherrn vom Drachenfels. Als sie die Nachricht erhielt, ihr Ritter sei in der Schlacht gefallen, schloss sie mit der Welt ab und wurde Nonne im Kloster auf Nonnenwerth. Roland jedoch war mitnichten tot, die Nachricht ein Irrtum. Er kehrte zurück und musste feststellen, dass seine Braut den Schleier genommen hatte. Um ihr dennoch nahe zu sein, Der getötet Roland ließ er auf einem Felsen über der Insel die Burg Rolandseck erbauen, als deren letzter Rest der Rolandsbogen erhalten blieb. Die sentimental-melancholische Liebesgeschichte von Roland und Hildegunde stellt den Kern der Rolandsage dar.

Noch mal zurück zur Vita Caroli Magni , für die Einhard die Legitimation dadurch hat, dass er authentisch erlebt, was und worüber er schreibt. Durch die besondere Nähe zu Karl. Was wohl auch der Grund dafür sein dürfte, dass er überhaupt geschrieben hat; nach dem Motto: “Wenn keiner schreiben will, dann mache ich das“. Welches

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Selbstbewusstsein wird da deutlich! Und Einhard ist um Sachlichkeit bemüht, sein Bericht ist realistisch. Karl ist ja auch das Abbild eines tugendsamen Herrschers: stark, entschlossen, beständig und gerecht, eben ein „Rex Justus“. Geschichtsschreibung hat also einen appellativen Charakter und ermöglicht „memoria“, Erinnerung. Dabei wird Karls Leben anekdotisch - literarisch dargestellt. Zu Notker von St. Gallen ( balbulus – der Stammler / † 912). Er war schon als Kind wegen seiner Behinderung ins Kloster St. Gallen gegeben worden. War also ein sog. „ablati“. Dort wurde er Urkundenschreiber, verfasste literarische und pragmatische Schriften sowie Erziehungsvorschriften für Kleriker. Im Auftrag Karls III. (876-87) bekam er bei einem Besuch des Kaisers (883) im Kloster St. Gallen den Auftrag, die Gesta Caroli Magni zu schreiben. Diese bestand aus drei Teilen, von denen aber nur der erste erhalten ist. Die drei Teile heißen: 1. Karl der Große und die Kirche 2. Kriegsdaten Karls 3. Das persönliche Leben Karls des Großen Notker als nachdenklicher Autor St. Gallen / um 1070

Hier wird die Geschichte von der Zeit Karls bis in die Zeit Notkers beschrieben, es ist also insofern auch eine „Reichsgeschichte . Bei der wieder mündliche Überlieferungen und Anekdoten die Grundlage bilden. Ihr Ziel ist, nicht nur belehrend, sondern auch und schon unterhaltend zu sein und das Wirken des großen Karls im heilsgeschichtlichen Kontext zu deuten. Eine strenge Sachlichkeit, wie bei den Annalen oder bei Einhard ist hier nicht zu finden. Notker führt also Einhards Stil nicht fort, sondern schafft etwas Neues. Womit er eher an Gregor von Tours anknüpft. Die Veritas Dei, die Wahrheit Gottes, der Wahrheitsanspruch ist als göttlicher Wille dabei vorgegeben. Notker stellt die Karolinger in die alttestamentarische 4 - Reiche Lehre (Daniel). Danach gibt es vor der Apokalypse auf dieser Erde vier Reiche. Nach den Persern, den Babyloniern und den Griechen die Römer. Dieses Reich endet mit der Apokalypse – so sie denn eintritt. Da das bis dato nicht geschehen ist, besteht das Römische Reich in Gestalt des Frankenreiches weiter. Und das sehen später die Ottonen usw. genauso. Diese Geschichte ist lt. Kintzinger „als welthistorisches Phänomen definiert“. EKKEHARD IV. von St. Gallen († um 1060) ist auch ein Chronist. Er kam frühzeitig ins Kloster St. Gallen, war Schüler von Notker Labeo und wurde nach 1022 sein Nachfolger als Vorsteher der Domschule in Mainz. Spätestens 1034 kehrte Ekkehard nach St. Gallen zurück, wo er viele Jahre Vorsteher der Klosterschule war. Bekannt ist Ekkehard durch seine Fortsetzung der von Ratpert begonnenen Klosterchronik Casus S. Galli (von 883-973). Ekkehard hat hier eine sehr lebendige Klostergeschichte geschrieben, die auch wieder auf mündlichen Überlieferungen aufbaut und ohne zeitliche Reihenfolge einzelne Episoden beschreibt. „Gefällig geschrieben, Schmunzeln beim Leser beabsichtigt“ (Kintzinger). Begriffe wie „Glück“ oder „Unglück“ als Erfahrungsspektrum tauchen z.B. 3x im Vorwort auf; nicht wird dagegen über „Gut und Böse“ berichtet. Die einzelnen, in sich abgeschlossenen Geschichten – ohne Deutungshorizont – beschreiben Wechselfälle des Lebens in göttlicher Fügung. Leider endet dieser Bericht abrupt, wohl mit dem Tod Ekkehards. Nach der Reichsteilung durch den Vertrag von Verdun 843 wandern im ostfränkischen Reich die Bildungszentren weiter nach Osten. Die Historiographie bleibt in der bisherigen Form trotz der Veränderung der Örtlichkeiten bestehen, weil sie für den Herrscherhof nach wie vor wichtig ist. Und noch eine Änderung entwickelt sich im Osten. Statt der Klöster werden jetzt Dom- und Kathedralstifte zu Zentren der königlichen Schriftlichkeit. Sie sind offener für weltliche Kräfte, als Klöster.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Hier ein kurzer Exkurs zu den Begriffen Kloster und Stift: • •

Ein Kloster ist eine Einrichtung, in der eine monastische Brüdergemeinschaft nach der Benediktregel in einer geschlossenen Gemeinschaft lebt. Dagegen ist ein Stift zwar auch eine geschlossene Gemeinschaft, aber eine von Kanonikern (Chorherren), die in der Seelsorge tätig sind und eine andere Verfassung als die Klöster haben. Es gibt Dom- und Kathedralstifte.

Die Geschichtsschreibung wandelt sich. Im westfränkischen Reich wird sie im Wesentlichen weiterhin als Annalen fortgesetzt. Hier sind Flodoard von Reims und Richer von Reims zu nennen. Im ostfränkischen Reich gibt es dagegen keine annalistische Geschichtsschreibung für das Gesamtreich mehr, hier wird sie ganz auf die Herrscherfamilie ausgelegt. Sie beschreibt die Familie, das Land in dem man lebt; eben eine Ländergeschichte, die auf die regionale Herrscherstruktur ausgerichtet ist. So schreibt Widukind von Corvey die Geschichte der Sachsen .

Widukind von Corvey († 973), Mönch und Chronist. Widukind war vermutlich ein Verwandter der Königin Mathilde, der Gemahlin Heinrichs I., und deren Tochter Mathilde, der Äbtissin des Damenstifts von Quedlinburg. Um 940 trat Widukind in das Benediktinerkloster Corvey an der Weser ein. Hier schrieb er seine drei Bücher Res Gestae Saxonicae (Die Taten der Sachsen), die Geschichte der Sachsen von den Anfängen bis ins Jahr 967 (bzw. in der dritten Fassung bis 973), in deren Mittelpunkt Heinrich I. und Otto der Große stehen und in der sich der Stolz des Sachsen auf den Aufstieg seines Stammes zur Königs- bzw. Kaiserwürde manifestiert. Eine überarbeitete Fassung widmete Widukind 967/68 Mathilde, der Äbtissin von Quedlinburg.

Die Erstellung von sog. Handschriften erfolgt nach wie vor in den Klöstern. So in Trier, Lorsch, Corvey, Eichstätt oder Regensburg, als Beispiele. Das Abschreiben alter Werke wird vom Herrscher gefordert und ist z.B. von Otto d.G. in Auftrag gegeben worden. Dabei wird das Erzbistum Magdeburg in zweifacher Hinsicht zum Zentrum: • •

Einmal für die Christianisierung des Ostens und zum andern für die eben genannte herrscherliche Schreibtätigkeit.

So haben die Schreiber auch wieder Hofnähe. Die Hofkapelle, diese Gemeinschaft der Geistlichen am Herrscherhof, hat somit unmittelbaren Einfluss auf die Geschichtsschreibung. Und diese Geistlichen gehen dann später als Bischöfe in ihre Diözesen, wo sie sowohl als Seelsorger wie auch als Vorsteher der Verwaltung tätig sind – also viel Einfluss haben. So entsteht ein Netzwerk einflussreicher kirchlicher Amtsträger mit Nähe zum Kaiser. Erstmals in der Geschichte des Mittelalters treten jetzt auch Frauen als Auftraggeber von Handschriften und Historiographien auf, z.B. Äbtissinnen von Reichsklöstern. Auch werden in dieser Zeit sog. Bischofsviten (Gesta episcoporum) geschrieben, in denen vorbildliche Bischöfe und Taten des Episkopats beschrieben werden. Das ist schon eine Vorstufe der Kanonisierung! Ein Beispiel ist Adam von Bremen († 1081/1085). Um 1075 verfasste er unter ausgiebiger und sorgfältiger Benutzung älterer Chroniken und Urkunden sowie unter Verwendung der aus Dänemark mitgebrachten Berichte sein bekanntestes Geschichtswerk die Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, vier Bücher über die Geschichte des Erzbistums Hamburg und die Inseln des Nordens. Berühmt ist das Werk auch dadurch, dass es das erste schriftliche Zeugnis über die Entdeckung Amerikas (Vinlands) durch die Wikinger darstellt. Es umfasst einen Zeitrahmen vom 8. bis zum 11. Jahrhundert.

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Klaus Donndorf, Ostfeld 5, 59174 Kamen Geschichtsschreibung im Mittelalter Prof. Dr. Martin Kintzinger / WS 2005 / 06 Erwähnt wird auch noch die Vita Brunonis aus dem 13. Jahrhundert, die das Leben des Ebf. Bruno von Köln, 3. Sohn König HEINRICHS I. und der Königin Mathilde beschreibt. Auch diese „Vita“ ist, wie zu erkennen, rückschauend geschrieben und auch hier sind Elemente von Kaiser- und Bischofsviten vermischt. Solche Personengebundenen Viten bedeuten eine regionale Verkleinerung des Berichtsgebietes. Sie sind Ausdruck einer Heilsgeschichte “vor Ort“. Sie ist den Menschen um das Jahr 1000 somit näher, weil über ihnen bekannte Bischöfe der eigenen Umgebung berichtet wird. Auch in dieser Zeit können nur die Geistlichen lesen und schreiben, der Herrscher und seine Umgebung können es nicht. Die Geistlichen sind und bleiben also alleinige Schreiber. Es entwickeln sich weitere Formen des Schreibens, eine Ausweitung auf umliegende Regionen erfolgt und es wird sogar über die eigenen Reichsgrenzen hinausgehend berichtet.

Weiter mit Teil 2

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