Eine kleine Reise mit Zwischenfall Eine Vater-Tochter Geschichte

Neunzehnhundertsechsundvierzig. Meine Mutter und ich lebten noch als Evakuierte und Bombenflüchtlinge aus dem Rheinland in der kleinen Stadt Leonberg nördlich von Stuttgart. Mein Vater, der im Harz beim Einmarsch der Amerikaner gefangen genommen worden war, konnte aus dem Lager fliehen und fand uns zwar nicht in der Wohnung, aber doch im Ort vor. Als die Amerikaner – nach den Franzosen – 1945 als neue Besatzung kamen, mussten alle Häuser in unserer Straße geräumt werden. Wir kamen bei Bekannten unter, aber nur für kurze Zeit, ihr Haus wurde Offizierskasino. Nächste Adresse: eine Kantine für die Arbeiter mitten im Steinbruch in einem Gipswerk. Da verbrachten wir den Winter 1945/46. Turbulente Zeiten: Suche nach einer Unterkunft, Suche nach Nahrung, Suche nach Arbeit, aber auch Suche nach Verwandten. Es gab keinen Briefverkehr zwischen den Zonen. Unsere Verwandten waren im Norden Deutschlands verstreut, vermutlich alle in der britischen Zone. Da er auch keine Nachricht von seiner Mutter hatte, die im Ruhrgebiet lebte, beschloss mein Vater, eine Erkundungsreise zu unternehmen und die Tochter mitzunehmen. Das bedeutete, dass wir zunächst durch die amerikanische Zone bis zur Interzonengrenze reisen mussten. Außer Bayern gehörten Nordwürttemberg und Hessen zur amerikanischen Zone, etwa auf der Höhe von Kassel vermuteten wir die Zonengrenze. Es war also eine Reise ins Ungewisse – in fast jeder Beziehung. Die Vorbereitung bestand darin, dass man einige wenige Sachen in einen Rucksack packte, die Lebensmittelkarten einsteckte, die Ausweispapiere bzw. Genehmigungen. Ich versuchte auf dem Bürgermeisteramt einen Personalausweis zu bekommen, wurde aber „abschlägig beschieden“, den gab es erst ab 17, und die hatte ich noch nicht erreicht. Dann brauchte man noch eine Bescheinigung für die Notwendigkeit der Reise, man konnte nicht einfach einen Zug besteigen, etwa nach Frankfurt oder Köln. Nur Vorortzüge waren ausgenommen. Zum Glück hatten wir unsere Freunde, die ein

Gipswerk besaßen, und Gips war nun wirklich ein sehr begehrter Stoff für den Wiederaufbau, der langsam aber immerhin irgendwie begann. Es mussten für den An- und Verkauf Verhandlungen geführt werden, auch außerorts. Die Freunde überließen meinem Vater für die Zeit einer Mittagspause das Büro und wussten natürlich nichts davon, dass er einen Stapel Bescheinigungen anfertigte, richtig mit Stempel und schwungvoller Unterschrift. Mit diesen Zetteln beglückte mein Vater unterwegs so manchen Reisegenossen, der ohne einen solchen Dringlichkeitsbescheid hängen geblieben wäre. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir brauchten oder wie viele Züge wir benutzten, bis wir an die Zonengrenze kamen, das war irgendwo im Eichsfeld, unweit Kassel. Informationen erhielt man fast ausschließlich von anderen Reisenden. Es war an einem Nachmittag, dass wir, wie alle anderen, den Zug verlassen mussten: Grenzkontrolle. Ich hatte keinen Ausweis, auch die Erklärung, dass ich als Sechzehnjährige noch keinen bekommen hätte, half nicht. Ich wurde von meinem Vater getrennt und mit einer Anzahl anderer Ungesetzlicher recht unsanft mit einem Gewehrkolben in einen Armeelastwagen geschoben. Ich weiß nicht, was wir erwartet hatten, aber das sicher nicht. Andererseits wussten wir doch aus Erfahrung, dass die herrschenden Mächte nicht nur streng, sondern auch mit Willkür herrschten. Wohin uns der Lastwagen brachte, sahen wir nicht und wussten wir nicht. Dann ging’s ab nach Kassel. Wie sich herausstellte, war das Ziel offensichtlich das Polizeipräsidium, nicht eine Kaserne. Das Präsidium war ein kaum beschädigtes Gebäude in der auch bombengeschädigten Stadt Kassel – und voller Menschen .Zunächst drängte sich alles im Treppenhaus, dann wurden Frauen und Männer getrennt. Man scheuchte uns eine Treppe hinauf, aber nach dem ersten Treppenabsatz wurde hinter uns ein Gitter herabgelassen.

Mit wem war ich hier eingeschlossen? Da war eine Gruppe jüngerer Frauen, die sich offenbar kannten und sich laut kreischend unterhielten und keineswegs erschrocken waren über die Situation, in der sie sich befanden. Einige Frauen weinten, andere beschwerten sich über Ungerechtigkeiten. Keiner wusste, was man mit uns wohl vorhatte. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hinter dem Gitter auf den Stufen gesessen hatte, als auf einmal mein Vater auf dem Treppenabsatz stand. Er hatte sich natürlich nach meinem Aufenthaltsort erkundigt und war dann mit dem Zug in die Stadt gefahren und zum Polizeipräsidium gelaufen. Da stand er nun auf der anderen Seite des Gitters an dem kleinen Fenster und schmierte auf der breiten Fensterbank ein Butterbrot und reichte es mir durch das Gitter. Wie mag es ihm wohl zu Mute gewesen sein? Sicherlich hat er mir auch etwas Tröstliches gesagt. Immerhin fand er mich vor wie erwartet: schockiert schon, aber kein weinendes Häufchen Elend.

Dann wurden wir in unsere Zellen gebracht. Meine Zelle enthielt zwei Liegen. (Ich wusste noch nicht, dass sie Pritschen hießen.) Die andere Bewohnerin war zum Glück nicht eines der kreischenden Mädchen, sondern eine nette Frau, die auf der Suche nach ihren Kindern war und ebenfalls keine Papiere besaß. Wir schauten uns in unserer Behausung um: außer unseren „Betten“ gab es noch einen Tisch, keinen Stuhl, aber in einer Ecke einen Eimer. Und natürlich das vergitterte Fenster. Wir versicherten uns beide, dass man sich hier nicht wohlfühlen konnte, machten uns miteinander bekannt, erklärten die Umstände unserer Verhaftung und stellten Mutmaßungen an über mögliche Gefängnisstrafen. Keine Ahnung, wie lange ich schon in der Zelle war - Essen hat es jedenfalls nicht gegeben-, als plötzlich durch eine Lautsprecheranlage mein Name mit allen Vornamen genannt wurde mit dem Zusatz, ich sei entlassen. Die Zellentür wurde aufgeschlossen, ich ging die Treppe hinunter zu meinem Vater. Er hatte sich zu einem Jugendrichter durchgefragt und ihm unsere Situation geschildert. Der Mann glaubte ihm und

wies die Polizei an, mich zu entlassen. Ich habe natürlich ein Entlassungspapier bekommen, das habe ich heute noch. Inzwischen war es dunkel geworden. Wohin geht man, wenn man nicht weiß, wohin man gehen soll? Ziel und Treffpunkt aller Suchenden, Gestrandeten, Streunenden war der Bahnhof eines jeden größeren Ortes, da gab es Warteräume und Bänke und Information von anderen Reisenden. Züge fahren bekanntlich in beide Richtungen, das heißt, wir hätten nach dem Fiasko mit Militär und Polizei und Gefängniszelle vielleicht auch umkehren , irgendeinen Zug nach Süden nehmen können, wenn man nicht dem Glaubenssatz gefolgt wäre, einen einmal gefassten Entschluss unter allen Umständen auszuführen. Der Vater traute der Tochter einiges zu. Oder: Der Vater mutete der Tochter einiges zu. Wir bestiegen den gleichen Zug, der uns wiederum an die Zonengrenze brachte, wieder mussten alle aussteigen, Ausweiskontrolle. Doch jetzt war es wirklich dunkel, der Bahnsteig schlecht beleuchtet. Wir hatten uns schon eine Strategie ausgedacht. Meine vorher hochgesteckten Haare waren zu braven Zöpfen geflochten. Dann die Charade: Großes Geheul und Schluchzen, Papa, Kinderheim gewesen, will nach Hause. Anklammern an Papa.“ Mein armes Kind.“ Das Geheule kam von Herzen. Wenn auch nicht das Gejammer, so war doch die Erschöpfung echt. Nichts war zu der Zeit anstrengender als Zugfahren, so gut wie nie bekam man einen Sitzplatz, dicht gedrängt standen die Menschen in den Abteilen und Gängen, die seltsamsten Gepäckstücke engten noch mehr ein. Zudem hatte ich noch mit dem Gefängnisaufenthalt einige zusätzliche Aufregungen zu verkraften. Und zu essen hatten wir auch nichts. Aber immerhin – wir waren auf dem Weg ins Ruhrgebiet, der Plan war eingehalten. Und so suchten und besuchten wir die Verwandten. Es stellte sich heraus, dass durchweg alle, die wir antrafen oder von denen wir hörten, ihre Lebenstüchtigkeit und Überlebensfähigkeit bewiesen hatten. Einen Verlust hatte nur Else erlitten, die Tochter von Vaters

Schwester Amanda. Ihr Mann war gefallen, bevor noch der Sohn geboren war. Die Trauer um ihn hatte sich schon in Ärger verwandelt, da die Eltern des Soldaten die Vaterschaft ihres Sohnes anzweifelten und stichhaltige Beweise dafür hatten, dass einer, der nicht da ist, auch nichts gemacht haben kann. Da entfiel nun die Unterhaltshilfe. Aber Else hatte sich bald getröstet: Sie hatte einen Johnny und der hatte ein Jeep, und beide waren von großem Vorteil bei den Streifzügen auf dem Lande zur Beschaffung von Nahrungsmitteln, nicht nur beim „Hamstern“. Jedenfalls gab es hier keinen Anlass zur Sorge. Ethische Bedenken musste man zurückstellen. Wir fanden die Mutter meines Vaters bei Onkel Karl gut aufgehoben, das Ziel der Reise war erreicht. Am Schluss suchten wir noch Tante Emma auf, die Schwester meines Großvaters, die in ihrem festen Haus wie in einer Burg ohne irgendwelche Einbußen Krieg und Besatzung wohl überstanden hatte. Ihre Tochter Luise führte unten im Haus das Schuhgeschäft der Familie, und mit Geschäft und Handel konnte man zu der Zeit gut überleben. So war denn Tante Emma nicht so sehr mit den Sorgen des Tages beschäftigt, sondern zeigte Weitblick. Sie fragte meinen Vater: “Ludwig, hast du auch für euer Alter vorgesorgt?“ Der Vater legte seine Hand auf die Schulter der Tochter. „Das brauche ich nicht, ich habe ja eine Tochter.“ Der Vater traute der Tochter sehr viel zu. Wer zeigte hier Weitblick? (von E. Werner-Meier)