Aggression und Gewalt begegnen. Zivilcourage entwickeln

Jana Tuschner Aggression und Gewalt begegnen – Zivilcourage entwickeln Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundarstufe I Erstgutacht...
Author: Nelly Wagner
3 downloads 2 Views 5MB Size
Jana Tuschner

Aggression und Gewalt begegnen – Zivilcourage entwickeln Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundarstufe I

Erstgutachter: Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Gerd-Bodo von Carlsburg Zweitgutachterin:

Sylvia Selke

Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort.................................................................................................................. 3   2. Die Definition und Entstehung von Aggression und Gewalt ........................... 6   2.1. Definitionen des Gewalt- und Aggressionsbegriffs.......................................... 6   2.2. Einblick in historische Veränderungen von Gewalt ......................................... 7   2.3. Die wichtigsten Theorien zur Entstehung von Aggression .............................. 9   2.3.1. Psychologische Theorien .......................................................................... 9   2.3.2. Soziologische Theorien........................................................................... 12   3. Gewalt in der Schule .......................................................................................... 16   3.1. Formen von Gewalt in der Schule ................................................................. 16   3.1.1. Ausprägungen von persönlicher/direkter Gewalt .................................... 16   3.1.2. Ausprägungen von institutioneller Gewalt............................................... 17   3.1.3. Neue Ausprägungen von Gewalt ............................................................ 18   3.2. Die Rolle von ... ............................................................................................. 19   3.2.1.Famillie..................................................................................................... 19   3.2.2. Gleichaltrigen .......................................................................................... 22   3.2.3. Medien .................................................................................................... 24   3.3. Die Schule als Ort für die Gewaltausübung................................................... 26   3.3.1. Geschlechtsspezifisches Gewaltverhalten.............................................. 26   3.3.2. Gewalt von Schülerinnen und Schülern gegenüber Lehrern .................. 27   3.3.3. Gewalt in verschiedenen Schularten ...................................................... 28   3.3.4. Hat die Gewalt an Schulen zugenommen?............................................. 29   3.4. Die Schule als Ursache von Gewalt .............................................................. 30   4. Zivilcourage entwickeln..................................................................................... 34   4.1. Zur Geschichte des Begriffs „Zivilcourage“ ................................................... 34   4.1. Zivilcourage – Eine Definition ........................................................................ 34   4.2. Prävention und Förderung von Zivilcourage.................................................. 36   4.2.1. Das Modellprojekt „Team Z" ................................................................... 36   5. Handlungsstrategien und Trainingsprogramme ............................................. 40   5.1. Interventionsprogramm nach Olweus: Das Kernprogramm .......................... 42   5.1.1.Allgemeines ............................................................................................. 42   5.1.2. Maßnahmen auf der Schulebene:........................................................... 43   5.1.3. Maßnahmen auf der Klassenebene........................................................ 46   5.1.4. Maßnahmen auf der persönlichen Ebene............................................... 48   5.2. Die Farsta-Methode ....................................................................................... 50   5.3. No Blame Approach ...................................................................................... 52  

5.4. Schülermediatoren.........................................................................................52   5.4.1. Zur Begriffserklärung ...............................................................................52   5.4.2. Allgemeines zur Konfliktbehandlung und Mediation................................53   5.4.3. Ablauf des Vorgehens des Mediators .....................................................55   5.4.4. Vorzüge des Programms........................................................................57   5.5. Die Trainingsraummethode............................................................................57   5.5.1. Allgemeines.............................................................................................57   5.5.2. Ablauf des Aufenthalts im Trainingsraum................................................58   5.5.3. Gesprächsführung im Trainingsraum ......................................................59   5.5.4. Was tun bei Trainingsraumverweigerern?...............................................62   6. Meine empirische Forschung ............................................................................62   6.1. Qualitative Datenerhebung: Die Befragung ...................................................63   6.2. Auswahl der Methodik und theoretischer Hintergrund ...................................65   6.3. Vorgehensweise in der Arbeit ........................................................................66   6.4. Themenbereiche und Interviewleitfaden ........................................................70   6.5. Auswertung der Interviews.............................................................................72   6.5.1. Auswertungsmethode (nach Mayring).....................................................72   6.5.2. Auswertung der Interviews ......................................................................79   7. Mein Fazit ............................................................................................................96   8. Literaturverzeichnis .........................................................................................100   9. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ............................................................104   10. Anhang ............................................................................................................105   10.1. Leitfragen zu den Interviews ......................................................................105   10.2. Transkribierte Interviews Rohfassung........................................................106   10.2.1. Interview mit einem Beratungs- und Präventionslehrer ( Fall A) .........106   10.2.2. Interview mit einer Jugendreferentin der Kirche (Fall B) .....................124   10.3. Arbeitsmaterial zum Interpretieren der Interviews .....................................136   10.3.1. Ausgewählte Textestellen Fall A .........................................................136   10.3.2. Tabelle zur Analyse des Materials Fall A ............................................155   10.3.3. Ausgewählte Textstellen Fall B ...........................................................162   10.3.4. Tabelle zur Analyse des Materials Fall B ............................................175   11. Erklärung .........................................................................................................181  

1. Vorwort

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/muslimin-in-new-yorkangezuendet-14433700.html, zugegriffen am 14.09.2016

Quelle: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schulleiter-muss-wegenkoerperverletzung-geldbusse-zahlen-a-1090341.html, zugegriffen am 12.09.2016

Quelle: http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.kabul-mindestens-61-tote-nachselbstmordanschlag-des-is.38c446df-ea7d-4326-9146-91476c29851d.html, zugegriffen am 12.09.2016

Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-03/sexuelle-gewalt-vergewaltigung-reformsexualstrafrecht-un-women, zugegriffen am 14.09.2016

3

Gibt es einen Tag ohne Gewalttaten? Ist Gewalt doch näher, als wir meistens glauben? Gewalthandlungen, von denen in den Nachrichten berichtet werden, wirken uns fern. Doch wissen wir, was hinter den Türen unserer Nachbarn abläuft? Wissen wir, was unser Kind in der Schule erlebt? Wir glauben, unsere Kinder sind dort gut aufgehoben, doch viele Schüler und Schülerinnen empfanden Schule alles andere als eine Institution des Wohlbefindens. Die oben aufgelisteten Zeitungsartikel sollen einen Einblick darüber geben, dass kein Tag vergeht, ohne dass wieder über eine neue Gewalthandlung berichtet wird. Sexualdelikte, Fremdenhass, Amokläufe, Terroranschläge etc. stehen an der Tagesordnung. Dies sind Schlagzeilen, mit denen Kinder und Jugendliche tagtäglich konfrontiert werden, ob in Zeitungen, Medien oder in ihrem eigenen Alltag. Gewalt ist vielen Kindern und Jugendlichen näher, als man auf den ersten Blick denkt. Denn viele von ihnen werden in ihrem eigenen Umfeld schon von klein auf mit direkten oder indirekten Gewalterlebnissen konfrontiert (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S. 5). Das Zitat „Nicht für alle (junge) Menschen stellt Familie einen Ort der Geborgenheit und des friedvollen Miteinanders oder Schule eine Stätte des geistig-seelischen Wachstums dar“ (Wehr und Carlsburg 2005, S.5) hat mich zum Nachdenken gebracht. Gewalthandlungen in der Familie und in der Schule werden oftmals totgeschwiegen, um den friedvollen Schein nach außen hin zu bewahren. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, meine Zulassungsarbeit über das Thema „Aggression und Gewalt begegnen – Zivilcourage entwickeln – Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundarstufe 1“ zu schreiben, um mich als angehende Lehrkraft für Gewalthandlungen in Schulen zu sensibilisieren und frühzeitig eingreifen zu können. Dies war für mich der Grund, meine Forschungsfrage folgendermaßen zu formulieren: „Inwiefern findet Gewalt in der Schule statt und wie kann die Institution Schule diese vorbeugen oder gar verhindern?“ Folgende Hypothesen bilden die Ausgangsbasis meiner wissenschaftlichen Arbeit: 1. Schule ist ein Ort, der selbst Aggressionen und Gewalt erzeugt und nicht nur konfrontiert ist mit Gewalt von außerhalb. 2. Gewaltprävention muss immer eingebunden sein in ein umfassendes Präventionskonzept, in dem alle am Schulleben Beteiligten involviert sind. 3. Schule muss sich ändern. Hin zur beratenden Instanz. Und sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotentials von Schülerinnen und Schülern, um Prävention leisten zu können. 4

4. Schule ist ein Ort, an dem überhaupt erst wirksam Prävention geleistet werden kann Die erste Hypothese kam mir in den Sinn, als ich an meine Schulzeit dachte. Ich kann mich daran erinnern, dass es auch Lehrer gab, die in mir Aggressionen geweckt haben. Oftmals kam ich von der Schule geladen nach Hause, weil ich mich ungerecht behandelt gefühlt hatte oder ich aufgrund von Noten frustriert war. Auch meine Praktika als angehende Lehrkraft waren nicht immer „aggressionsfrei“. Auch hier gab es Lehrer, denen ich lieber aus dem Weg gegangen wäre, was aber aufgrund der Zusammenarbeit nicht möglich gewesen war. Deshalb stellte ich mir die Frage, ob Schule selbst Gewalt und Aggressionen erzeugt. Beim Entwerfen meiner zweiten Hypothese habe ich mir die Frage gestellt, ob Prävention auch funktionieren kann, wenn nicht alle Lehrkräfte und die Schulleitung hinter dem Konzept stehen. Die dritte Hypothese entstand während meines Schreibprozesses, da ich der Meinung war, dass das System Schule neu gedacht werden muss, dass es sich ändern muss, um wirklich Prävention leisten zu können. Des Weiteren fiel mir ein, dass man Schülerinnen und Schüler das eigene Gewaltpotential und das der anderen bewusst man sollte, damit man Prävention leisten kann. Zu dieser Hypothese kam ich, als ich mir die Frage stellte, ob den Schülerinnen und Schülern eigentlich klar ist, dass jeder Mensch ein Gewaltpotential mit sich trägt. Bei der vierten Hypothese fragte ich mich zu Beginn meiner Arbeit, an welchen Orten überhaupt Prävention geleistet werden kann. Vor dem Schreiben meiner Arbeit fiel mir hier nur als sinnvoller Ort die Schule ein, da man hier ohne großen Aufwand alle Kinder vor Ort hat. In meiner Wissenschaftlichen Arbeit werde ich versuchen, meine Forschungsfrage zu beantworten mithilfe einer genauen Literaturrecherche und einer eigenen Forschung. Auch werde ich versuchen, meine Hypothesen zu belegen oder zu widerlegen.

5

2. Die Definition und Entstehung von Aggression und Gewalt 2.1. Definitionen des Gewalt- und Aggressionsbegriffs Um meine Forschungsfrage für alle Leserinnen und Leser verständlich zu machen, benötigt es zunächst einmal einer Definition von „Gewalt“. Laut Martina Möller „versteht man unter Gewalt bzw. Aggression allgemein die intendierte Ausübung von negativen/ schädigenden Reizen eines Organismus gegenüber einen anderen Organismus (oder jeweils eines Organismussurrogats).“ (vgl. Selg 1974, nach Nolting 1992, S.22 in Wehr und Carlsburg 2005, S. 89) Olweus Definition Gewalt berücksichtigt noch einen für mich wichtigen Aspekt, der in der allgemeinen Definition von Gewalt meistens nicht berücksichtigt wird. Er betont, dass ein Schüler oder eine Schülerin Gewalt ausgesetzt ist, wenn er oder sie „wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist.“ (Olweus 2011, S.22) Negative Handlungen sind absichtlich und können verbal (verspotten, hänseln etc.), körperlich (treten, schlagen etc.) oder durch Mimiken stattfinden (vgl. Olweus 2011, S. 22). Den Begriffen Aggression und Gewalt werden oft dieselben Bedeutungen zugewiesen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S. 89). Die Basis für Definitionen von Gewalt findet man im allgemeinen Lexikon. Dennoch gibt es einen breiten Beurteilungsspielraum, ob eine Tat als Gewalt bezeichnet wird oder nicht (vgl. Hacker 2010, S.6). Hurrelmann und Bründel beschreiben den Gewaltbegriff als „doppelbödig“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.12). Auf der einen Seite gibt es die Komponente der direkten persönlichen Gewalt und auf der anderen Seite die Komponente der legitimen institutionellen Gewalt (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.12). „Im Deutschen aber bleibt die Doppelbedeutung ein und desselben Begriffs bestehen, einmal Gewalt als Bezeichnung für einen einmaligen physischen Akt, bei dem ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke oder psychisch – verbaler Abwertung zufügt, zum anderen Gewalt als Bezeichnung für öffentliche Macht, mittels derer bestimmte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt werden.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.12) Auch betonen Hurrelmann und Bründel, dass die dauerhafte Festlegung des Gewaltbegriffs unmöglich ist, da dieser stets in Abhängigkeit von den jeweiligen Zeitumständen gebildet wird. Auch verändern sich die Ausprägungen von Gewalt, die akzeptiert oder als produktiv empfunden werden oder welche als illegitim oder zerstörerisch gelten (vgl. Hurrelmann und Bründel 6

2007, S.12). Hier überschneiden sich die Ansichten von Hurrelmann, Bründel und Hacker, der schon wie oben erwähnt dem Begriff der Gewalt einen großen Beurteilungsspielraum zuweist. In der Tat liegt es im Ermessen der jeweiligen Perspektive, welche Taten als Gewalthandlungen gesehen werden und welche nicht. Sicherlich unterscheiden sich auch die Ansichten von Gewalt in den unterschiedlichen Generationen, da die Festlegungen von Grenzbeziehungen sich durch die Veränderung moralischer, rechtlicher, politischer, erzieherischer und sexueller Normen und Werte verändern. Auch können die Grenzen der Gewalt sich durch eine höhere Sensibilisierung für das Thema verändert haben oder auch durch ein verändertes Wahrnehmungsmuster (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.12 f). Gewalt und Aggression sind Begriffe, die von den meisten Menschen negativ konnotiert werden. Jedoch ist es mir hier auch wichtig zu erwähnen, dass Aggression auch positiv zu bewerten ist. Es gibt auch eine „gutartige Aggression“, die lebenserhaltend wirkt (Wehr und Carlsburg 2005, S.89). Sie dient dazu, dass ein Mensch trotz negativer Umwelteinflüsse seine eigenen Interessen realisiert. Somit kann Aggression auch für das Individuum wichtig sein, um sich situativ sinnvoll zu verhalten (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.89). Für den weiteren Verlauf meiner Zulassungsarbeit ist es von Notwendigkeit, mir bewusst zu machen, was der Gewaltbegriff für mich bedeutet und mit welchem Sinngehalt ich ihn in meiner Arbeit verwenden werde. Da ich den Gewaltbegriff im Kontext Schule verwenden werde, gilt für meine Zulassungsarbeit folgende Definition: Gewalt- und Aggressionshandlungen sind beabsichtigte schädigende Handlungen einer Schülerin, eines Schülers, einer Lehrkraft, einer Schülergruppe gegenüber sich selbst, einer anderen Personen und Sachen. Dies kann in Form von physischer und psychischer (inklusive verbaler) Gewaltausübung stattfinden. Die Begriffe Gewalt und Aggression werden in meiner Arbeit als Synonyme verwendet.

2.2. Einblick in historische Veränderungen von Gewalt Auch ist eine historische Veränderung von Gewaltprofilen erkennbar (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.13). Hurrelmann und Bründel verweisen „auf ein insgesamt sehr hohes Ausmaß von individueller, kollektiver und staatlicher Gewalt im 20. Jahrhundert“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.13). Gewaltmonopole sind dafür da, gewalthaltige Spannungen in modernen Gesellschaften zu bewältigen. Dennoch wird diese Macht oft ausgenutzt, um unerwünschte Bevölkerungsgruppen zu unterdrücken (z.B. rassistische Gewalt). Obwohl alle Menschen das Bedürfnis nach einer gewaltfreien Welt haben, in der Gerechtigkeit und Sicherheit im Mittelpunkt stehen 7

soll, gibt es trotzdem Gewalt unter den Menschen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.13). „Die Hoffnung einer ganzen Reihe von Kultur- und Zivilisationstheoretikern, dass sich die Menschheit in einem permanenten Zivilisationsprozess befindet, an dessen vorläufigem Ende eine gewaltfreie Moderne steht, hat sich als ein Traum herausgestellt. Die Vorstellung, Gewalt sei in vormodernen Gesellschaften stärker verbreitet gewesen, in fremden Gesellschaften viel häufiger anzutreffen, nur in modernen Gesellschaften lediglich noch eine Ausnahmeerscheinung, scheint ein Mythos mit beträchtlichen Fehlwahrnehmungen zu sein.“ (Heitmeyer und Hagan 2002, S. 20 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.14) Man kann also nicht sagen, dass der Mensch in den höher entwickelten Ländern besser, moralischer und überlegener ist. Ebenso ist es zweifelhaft, ob in heutigen Schulen weniger Gewalt herrscht als im deutschen Kaiserreich, wo körperliche Züchtigung von Schülerinnen und Schülern gesetzlich erlaubt war. Des Weiteren herrschen ungleiche Machtverhältnisse in den heutigen Schulen. Den Lehrern wird eine hohe Macht zugesprochen. Sie entscheiden über den erreichten Leistungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler und bestimmen somit auch mit über deren gesamten beruflichen Werdegang. Man kann sagen, dass dies eine neue Entwicklung des Züchtigungsrechtes ist. Zwar wird in diesem Fall keine körperliche Gewalt angewendet, dennoch können auch auf diese Art und Weise starke Schädigungen und Verletzungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zurückbleiben. Die möglichen Folgen davon sind gewalttätige Handlungen gegen Lehrkräfte oder Gewaltexzesse in Form von Amokläufen. Auch im 21.Jahrhundert ist körperliche und verbale Gewalt stark verbreitet. Dennoch gibt es neuartige Ausprägungen physischer Gewalt (z.B. Mobbing, Bullying, Stalking), die bei den Opfern möglicherweise stärkere Verletzungen zufügen. Gewalt befindet sich in der Struktur des sozialen Zusammenlebens und somit auch im Schulwesen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.14 f). Gewalt kann als „chronische Sozialkrankheit“ einer jeden Gesellschaft beschrieben werden (Hurrelmann und Bründel 2007, S.16). Gewalt hat immer einen Grund, dieser muss analysiert und verstanden werden, um dagegen vorgehen zu können (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.16). Die Zivilisationstheorie nach Elias 1976 besagt, dass es einen Rückgang der individuellen Gewalt in der europäischen Geschichte über die letzten Jahrhunderte gibt. Die Ursache dafür soll der Mentalitätswandel sein: Der Mensch wird als Individuum gesehen und geachtet. Auch sei die Identifikation mit anderen Gesellschaftsmitgliedern gestiegen. Die Bürgerrinnen und Bürger entwickelten die Eigenschaft, mit anderen mitzufühlen. Diese Theorie ist gestützt auf empirische Studien, die einen Rückgang von Folterung, öffentlicher Hinrichtung, Körperstrafe etc. belegen. Dass diese Formen von Bestrafung an Bedeutung verloren haben, hängt 8

dieser Theorie zufolge mit unserer systematisierten Sozialkontrolle durch demokratische Staaten zusammen. Nur die Polizei und das Militär besitzen das Gewaltmonopol. Insgesamt kann man jedoch sagen, dass es nicht zu einer Abnahme von Gewalttätigkeiten geführt hat, trotz dieser positiven Auswirkungen. Das menschliche Aggressionspotential sucht sich in jedem historischen Zeitalter neue Formen des Ausdrucks (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.30 f). Jedoch kann man sagen, dass schwere Formen von körperlicher Aggression in den letzten drei Generationen zurückgegangen sind, dafür allerdings gibt es mehr psychische Gewalt oder sehr häufig die Kombination von physischer und psychischer Gewalt (vgl. Eisner 2002, S.62 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.31)

2.3. Die wichtigsten Theorien zur Entstehung von Aggression 2.3.1. Psychologische Theorien Die psychologisch akzentuierten Theorien beginnen bei der psychogenen Disposition jedes einzelnen Menschen. Sie legen ihren Fokus auf die in der jeweiligen Persönlichkeit liegenden Faktoren, auf die Wechselwirkung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltfaktoren und auf die Entwicklungsimpulse einer Persönlichkeit im gesamten Lebenslauf. Zu den Theorien mit psychologischem Hintergrund gehören die Trieb- und Instinkttheorie, Emotionstheorie und die Lerntheorie. Im Folgenden werde ich auf diese Theorien näher eingehen. Da ich den Bezug zur Schule nicht außer Acht lassen möchte, werde ich versuchen jede Theorie auf den schulischen Bereich zu übertragen. Trieb-und Instinkttheorie: Die Trieb- und Instinkttheorie besagt, dass jeder Mensch ein angeborenes Aggressivitätspotential besitzt. Menschen und Tiere verfügen über diesen angeborenen Aggressionsinstinkts zur Verteidigung des Lebens, zur Selbsterhaltung und zur Ausbildung des Beutetriebes (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.34 f). Siegmund Freud sagte, dass das Konzept des „Todestriebes“ (Destructio) genauso von Bedeutung ist wie der „Sexualtrieb“ (Libido) (Hurrelmann und Bründel 2007, S.34). Der Aggressionstrieb kann sich gemäß der Weiterentwicklung dieses Konzepts auch durch andere Anlässe entladen, wie zum Beispiel Zurücksetzung und Provokation. Man kann sich das so vorstellen: Das Aggressionspotential befindet sich in einem Dampfkessel und nach einer gewissen Zeit muss Druck abgeben werden, damit er nicht explodiert. 9

Übertragen auf den Schulalltag bedeutet dies: Aggressives Verhalten von Schülerinnen und Schülern ist unvermeidbar und gehört zum Schulalltag. Nicht hinter jeder Aggressionshandlung steckt eine böse Absicht. Es bedarf der Möglichkeiten für die Schüler Druck abzubauen. Ein Beispiel dafür sind nach gewissen Regeln ablaufende spielerische Raufereien. Wenn es dabei bleibt, erfüllt diese Gewalthandlung ihren Zweck und die Schülerinnen und Schüler können „Dampf“ ablassen. Nicht die Existenz von Aggressivität ist problematisch, sondern der Umgang mit ihr. Daraus könnte man als Kritik an unseren Schulen folgern: Es gibt zu wenige Spielräume, in denen es legitim ist, seine aggressiven Verhaltensweisen spielerisch, in festen Regeln und Grenzen auszuüben (z.B. Toberaum, Boxsack). Ein Problem allerdings ist, dass viele Schülerinnen und Schüler kein sicheres Empfinden dafür haben, was spielerisch ist und was nicht und welche Grenzen gelten, um eine Auseinandersetzung zu beenden. Oftmals beginnen Auseinandersetzungen spielerisch und enden dann in einer ernsthaften Auseinandersetzung. Es fehlt oft eine Instanz, die auf Spielregeln verweist. Die Trieb-und Instinkttheorie weist darauf hin, dass man den Blick für natürliche Aggressionsimpulse schärfen sollte. Die Lehrkraft hat die Aufgabe, diese Impulse wahrzunehmen und zu beobachten. Es notwendig klare und transparente Regeln festzulegen. Bei Nichteinhalten dieser Regeln müssen Sanktionen folgen. Es ist jedoch notwendig Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben sich auszuagieren. Emotionstheorien: Die Emotionstheorien nehmen an, dass Aggression und Gewalt auf eine bestimmte subjektive Befindlichkeit zurückzuführen sind. Die bekannteste Emotionstheorie ist die Frustrations- Aggressionstheorie von Dollard, Doop, Miller, Mowrer und Sears 1971 (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.35 f). „Frustration wird von ihnen definiert als ein Ereignis oder Erlebnis, dass dem Erreichen eines bestimmten Ziels im Wege steht, das von einem Menschen als außerordentlich bedeutsam und wichtig angesehen wird.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.37) Je größer die Motivation war, ein Ziel zu erreichen, desto größer ist danach die Enttäuschung bzw. Frustration, wenn das Ziel durch ein Hindernis nicht erreicht werden konnte. Je größer diese Blockade ist, die man überwinden muss, desto größer ist die Aggression danach. Tritt die Blockade häufiger auf, steigert sich die Aggression (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.38). Frust kann auch auftreten, wenn individuelle Handlungskompetenzen und gesellschaftliche Anforderungen nicht übereinstimmen. Es kann zu einer Überforderung der Belastungsbewältigungsfähigkeit kommen (vgl. Wawretschek-Wedemann 2013, S.126). 10

Wenn man die Theorie auf den schulischen Bereich überträgt, umfasst sie alle Vorkommnisse von physischer und psychischer Gewalt von Schülerinnen und Schülern. Die Schülerinnen und Schüler werden in ihrem Streben nach Leistung und Anerkennung durch andere Schüler/Schülerinnen, durch Lehrer oder durch die Ansprüche des Systems oder der Eltern behindert. Zu Frustration gehören alle Formen von negativen Emotionen, unerfreulichen Gefühlen, ausgelöst durch aversive Ereignisse im Schulleben. Ein Aggressionsenergieschub kann ausgelöst werden durch geringe Beachtung der Lehrkraft, schamauslösende Demütigungen durch die Mitschüler, wenn Stolz und Selbstachtung des Einzelnen beeinträchtigt werden. Menschen brauchen Aufmerksamkeit und Anerkennung, wird dies nicht erfüllt, kann es zu Aggression führen, weil somit in vielen Fällen eine größere Aufmerksamkeit erreicht werden kann. Auch im Klassenverbund ziehen aggressive Verhaltensformen Aufmerksamkeit auf sich. Instrumentell wurde ein wichtiges Ziel erreicht. Es kann passieren, dass die Mitschüler den Gewaltakt als Provokation empfinden, dies könnte sie dazu bewegen selbst aggressiv zu werden. Somit könnte sich eine Gewaltspirale entwickeln. Insgesamt kann man sagen, dass das Augenmerk der Emotionstheorien auf den auslösenden Faktoren von Aggression und die sich daraus ergebenen Kettenreaktionen liegen. Lerntheorien: Die Lerntheorien gehen davon aus, dass Aggression und Gewalt angeeignete, tief verankerte Reaktionen auf erregende Ereignisse sind. Man geht davon aus, dass Aggressivität auf angeborene biologische und genetische Faktoren zurückzuführen ist (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.37 ff). „ […] die sichtbare Aggressionshandlung wird vor allem in den frühkindlichen Entwicklungsphasen in der Familie und in der sozialen Interaktion eingeübt und erlernt.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.40) Die Kinder erlernen diese Handlungen in erster Linie durch Beobachten der Mutter, des Vaters und der Geschwister. Nach dieser Theorie ist aggressives Verhalten der Kinder meistens eine Folge der Nachahmung eines sozialen Modells. Wenn die Eltern sehr oft aggressiv handeln und das Kind sogar Opfer dieser Aggression ist, verspürt das Kind trotzdem den Druck, dieses Verhalten zu übernehmen. Vor allem wird aggressives Verhalten nachgeahmt, wenn es erfolgreich ist. Diese lerntheoretische Richtung wurde von Bandura 1968 differenziert dargestellt. In der Schule gibt es tausende Wechselbeziehungen, die eine Modellwirkung auf andere haben. Ein Beispiel dafür ist, dass Schülerinnen und Schüler, die stören, mehr Aufmerksamkeit von der Lehrkraft bekommen. Wenn man dieses Verhalten nun nachahmt und es zum Erfolg führt, wird dieses Verhalten wiederholt und verfe11

stigt sich. Wenn zudem Lehrerinnen und Lehrer aggressiv gegenreagieren, könnte dies das ganze Aggressionspotenzial der Klasse steigern. Denn auch das Verhalten der Lehrkräfte ist ein Modellverhalten. Sie zeigen hiermit, wie sie sich in Konfliktsituationen verhalten. Es ist sinnvoll, Schülerinnen und Schülern angemessene Sanktionen zu geben. Wenn dies nicht gelingt, bekräftigt die Lehrkraft das unerwünschte Verhalten (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.40 f).

2.3.2. Soziologische Theorien „Der sozialisationstheoretische Ansatz zur Erklärung von Jugendgewalt fokussiert auf das Wechselverhältnis von Person und Umwelt und geht von der Grundannahme einer produktiven Realitätsverarbeitung durch das Individuum aus.“ (Schubath 2008, S.51 in Wawretschek-Wedemann 2013, S.125) Der Mensch entwickelt sich weiter in einem sozialen und ökologischen Kontext. Dieser wirkt auf das Individuum ein. In diesem Kontext gestaltet und verändert sich das Individuum (vgl. Wawretschek-Wedemann 2013, S.125). „Durch die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt werden individuelle Handlungskompetenzen und „Bewältigungsstile ausgebildet […], die an die Anforderungen der individuellen Lebensbedingungen angepasst sind.“ (Bauer 2005, S.32 in Wawretschek-Wedemann 2013, S.125) Zusammengefasst kann man sagen, dass die Theorien, die aus soziologischer Tradition stammen, stärker Umwelteinflüsse und andere Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, soziale Strukturen und wirtschaftliche und politische Makrostrukturen thematisieren (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.34). Auch der heutige Forschungsstand ist so weit, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass bei der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bestimmte Umweltbedingungen eine große Rolle spielen (vgl. Lenzen und Rost 2004, S.101). Im Folgenden werde ich näher auf die Konflikt- und Spannungstheorien, die Etikettierungs- und Definitionstheorien und die sozialen Kontrolltheorien eingehen. Konflikt- und Spannungstheorie: Die Theorie stützt sich auf die Konflikte und Spannungen in der Gesellschaft (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.42). „Die Anomietheorie (Merton 1968) beschreibt abweichendes Verhalten als Folge einer Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen vorgegebenen Zielen und vorhandenen legitimen Mittel zur Zielerreichung.“ (Wawretschek-Wedemann 2013, S. 117) Kinder und Jugendliche werden aggressiv, weil sie die Ziele in unserer Leistungsgesellschaft in ihrem schulischen oder beruflichen Streben nicht erreichen können, obwohl sie die Ziele intensiv anstreben. Kinder und Jugendliche lernen sehr früh, wie wichtig der schulische Erfolg in unserer 12

Gesellschaft ist. Das Problem ist, dass ihnen die geeigneten Mittel und Kompetenzen fehlen, um diesen Erfolg zu erreichen. Der Misserfolg in der Schule gibt ihnen das Gefühl der Randständigkeit und Minderwertigkeit. Daraufhin wird mit aggressiven Verhalten reagiert, um zu versuchen die Anerkennung und den Erfolg auf diesem Wege zu erreichen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.43). „Die AnomieTheorie stellt auf ein strukturelles Handlungsdilemma ab, in dem sich Menschen in solchen Situationen befinden, in denen Regeln und Normen für den Umgang miteinander und die Störung des eigenen Verhaltens diffus werden“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.43). Anomie bedeutet Regellosigkeit. Es beschreibt Situationen mit unklaren sozialen Normen. Wenn man diese Theorie auf die Schule überträgt, bedeutet es, dass es wichtig ist, klare, eindeutige, transparente Regeln für das Verhalten zu vereinbaren und konsequent umzusetzen. Wichtig ist, dass man regelfreie soziale Räume in der Schule beseitigt, denn regelfreie Räume animieren zum Austesten von Stärke und Macht. Die Strain-Theorie bezieht sich nicht nur auf die Blockade der Zielerreichung wie die Anomie-Theorie, sondern auch auf den Aspekt, dass es unmöglich ist, frustrierenden Erlebnissen auszuweichen. Zum Beispiel sind hierunter körperliche und seelische Verletzungen durch andere Schüler oder durch Lehrkräfte zu verstehen. Solch andauernde Verletzungen können bewirken, dass sich der Schüler/die Schülerin zurückzieht oder mit aggressivem Verhalten agiert, um die aussichtslose Situation zu bewältigen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.43 f). Etikettierungs- und Definitionstheorien ( Erwartungseffekte): Den Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Theorien bildet die Veröffentlichung eines Buches zweier amerikanischer Schulforscher (R. Rosenthal und L. Jacobson) unter dem Titel „Pygmalion im Klassenzimmer“ im Jahr 1968. In diesem Buch berichten die beiden Autoren über ein Experiment, das an einer Brennpunktgrundschule durchgeführt wurde. Am Anfang des Schuljahres musste jede Schülerin und jeder Schüler einen Test zur Erfassung allgemeiner intellektueller Fähigkeiten absolvieren. Zu den Lehrern jedoch sagte man, es sei ein spezieller Test, dessen Ergebnis besagt, welche Schüler intellektuelle Spätentwickler sind und bei denen man im nächsten Schuljahr einen hohen Leistungszuwachs erwarten könnte. Dieses Ergebnis wurde erst nach dem Test den Lehrkräften mitgeteilt. Die Ergebnisse waren allerdings willkürlich ausgewählt. Am Ende des Schuljahres wurde derselbe Test wiederholt. Die ausgewählten Versuchsschüler hatten tatsächlich bessere Ergebnisse erzielt. Da man es nicht darauf zurückführen kann, dass die auserwählten Schülerinnen und Schüler Spätentwickler waren, muss dies dadurch erklärt werden, dass 13

die Lehrer aufgrund der Ergebnisse vom ersten Test bei einigen Schülern bessere Leistungen erwarteten bzw. sie anders behandelten, sodass sie sich im Gegensatz zu ihren normalen Klassenkameraden besser und schneller weiterentwickelten (vgl. Lenzen und Rost 2004, S.120 f). Im Vordergrund dieser Theorie steht die Frage: Was bedeutet eine bestimmte Handlung eines Menschen kulturell und psychisch und welche Bewertung und Definition erfährt sie? Eine Gewalthandlung ist nach dieser Theorie eine Zuschreibung von bestimmten Merkmalen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.45). „Handlungen, die als störend und irritierend empfunden werden, erhalten aus diesem Grunde das Etikett „Gewalthandlung“ und derart Handelnde werden entsprechend aufgrund dieser Definition als „gewalttätig“ diskriminiert (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S. 45).“ Die Rolle als Aggressor verselbstständigt sich schnell in einer sozialen Gruppe. Dem Aggressor wird in diesem Fall ein soziales Etikett von Mitschülern und Lehrern aufgeklebt. Ohne nach der Ursache dieses Verhaltens zu fragen, können leicht Vorurteile entstehen und es gibt keine Chance mehr für den Schüler, sich aus dieser Rolle zu befreien. Die Rolle des Aggressors wird dadurch gefestigt und er/ sie wird diese weiter fortführen. Die Abstempelungs-und Stigmatisierungsprozesse drängen die Schülerin oder den Schüler in eine abweichende Rolle (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.46). Sie werden ihr Selbstbild und ihr Selbstkonzept darauf ausrichten. Die als Aggressor abgestempelte Person entwickelte mit der Zeit eine abweichende Identität (vgl. Lenzen und Rost 2004, S.123 f). „Dieser Prozess der Selbstzuschreibung aufgrund einer stereotypen Fremdzuschreibung gilt sowohl für Täter als auch für Opfer.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.46) Angewandt auf die Schule könnte dies z.B. den Umgang mit Mobbing betreffen. Im Verfahren des No Blame Approach verzichtet man auf derartige Täter-OpferZuschreibungen zugunsten einer positiven Dynamik der Gesamtgruppe (s. Kapitel 5.3). Soziale Kontrolltheorien: „Diese Theorien fragen nach, wie die geschilderten Prozesse der Stigmatisierung mit der Verfestigung von Verhaltensweisen durch spezielle Gegenstrategien unterbrochen oder aufgelöst werden können.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.47) Kinder und Jugendliche, die wie oben geschildert, in die Rolle eines Aggressors hinein gedrängt werden, erfahren nach einiger Zeit heftige Reaktionen der sozialen Bestrafung. In diesem Fall tritt die soziale Kontrolle ein, die das aggressive Verhalten zurückdrängen möchte (vgl. Bründel und Hurrelmann 1997, S. 334). Die Theorie je14

doch geht von folgender Annahme aus: Je stärker die soziale psychische Bindung an eine Person ist, desto geringer ist die Neigung zu problematischem Verhalten. Darauf ist zurückzuführen, dass Schülerinnen und Schüler, die sich mit ihren Lehrkräften identifizieren, weniger zu Gewalthandlungen neigen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.47). Allgemein kann gesagt werden: „Je stärker die sozialen Bindungen innerhalb eines sozialen Systems und die Identifizierung mit der Organisation und ihren Zielen, desto geringer ist das Ausmaß von Angriffen gegen die Ordnung dieses sozialen Systems, also auch das Ausmaß von Aggression und Gewalt gegenüber Mitschülern, Lehrern und Einrichtung.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.47) Bezogen auf die Schule ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler ein Mitsprache-und Mitbestimmungsrecht in der Organisation Schule haben. Somit bauen sie eine größere soziale Bindung zu dem System auf (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.84) Als Fazit des Kapitels „Die wichtigsten Theorien“ kann gesagt werden, dass die einzelnen theoretischen Ansätze auf unterschiedlichen Ausgangspunkten als Ursachen für Aggression und Gewalt beruhen. Die Vielfalt der Ansätze spiegelt sich auch im Erfahrungsraum Schule wider und unterstreicht somit die Wichtigkeit einer mehrdimensionalen Konzeption von Prävention. Aggression und Gewalt sind Phänomene, die sich einer eindimensionalen Betrachtungsweise entziehen und ein komplexes Ineinandergreifen verschiedenster Maßnahmen erforderlich machen. Somit erweist sich meine erste Hypothese als richtungsweisend, Gewaltprävention immer auch einzubinden in ein umfassendes und vielschichtiges Präventionskonzept. Auch in Bezug auf meine zweite Hypothese weisen alle Theorien auf Schule als möglichen Ort der Aggressionserzeugung hin. Es wird auf bestimmte Konstellationen von Persönlichkeitsmerkmalen, Umweltgegebenheiten und spezifische Anlässe eingegangen. Kinder und Jugendliche werden nicht aggressiv geboren. Dies geschieht durch Einflüsse ihrer sozialen Umwelt. Sie lernen durch Vorbilder der Familie, im Kindergarten, in der Jugendgruppe, in der Freizeit, durch die Medien und in der Nachbarschaft. Kinder und Jugendliche geben nur das Verhalten weiter, das sie selbst erlernt haben (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, 49 f).

15

3. Gewalt in der Schule 3.1. Formen von Gewalt in der Schule 3.1.1. Ausprägungen von persönlicher/direkter Gewalt Die persönliche/direkte Gewalt geht von einzelnen Tätern aus und richtet sich gegen einzelne oder mehrere Personen oder Sachen. Direkte Gewalt findet man oft in der Familie, Verwandtschaft und im Freundeskreis. All die folgenden Arten der individuellen Gewalt können auch in der Schule vorkommen. Die physische und die psychische Gewalt sind die zentralen Erscheinungsformen. Sie treten auch oft in Kombination auf. Die fremdenfeindliche, geschlechterfeindliche und die sexuelle Gewalt sind spezifische Ausprägungen von psychischer und physischer Gewalt (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.17 f). Psychische Gewalt: Unter psychischer Gewalt versteht man die Ablehnung, Abwertung, den Entzug von Vertrauen, die Entmutigung oder gar die Erpressung einzelner oder mehrerer Menschen durch verbale und non-verbale Äußerungen wie z.B. Beleidigungen, Bloßstellungen, Erpressungen, Drohungen etc. (auch durch Mimik und Gestik) (vgl. Schwind 1997, S.5). Dies kann in den Opfern Gefühle der Angst und der Folter hervorrufen. Physische Gewalt ist für Außenstehende schwerer erkennbar und lauert im Verborgenen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S. 18). Physische Gewalt: Unter physischer Gewalt versteht man die Schädigung oder die Verletzung eines oder mehrerer Menschen oder Beschädigung von Sachen durch körperliche Kraft. Die Gewalt bezieht sich hier auf bewusst gewollte Handlungen (vgl. Schwind 1997, S.4). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Form von Gewalt eine ausgeübte physische Aggression ist, bei der dem auserwählten Objekt etwas gegen dessen Bedürfnisse, dessen Willen zugefügt wird. Oft richtet sich diese Aggression gegen Personen. Dennoch kann sie sich auch gegen Gegenstände (Vandalismus) richten (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.13). Unter Vandalismus in der Schule versteht man Verhaltensweisen , „die sich in intentionaler, schädigender und normverletzender Weise gegen Schulinventar und/oder Eigentum von Lehrern und/ oder Mitschülern richten.“ (Schwind 1997, S.4)

16

Sexuelle Gewalt: Die sexuelle Gewalt ist eine Kombination aus physischer und psychischer Gewalt. Betroffen sind eins oder mehrere Opfer, die zu intimen Körperkontakten gezwungen werden, die dem Täter eine Befriedigung ermöglichen (vgl. Gatzemann 2000, S.60). Geschlechterfeindliche Gewalt: Diese Form von Gewalt ist eine Kombination von physischer, psychischer und sexueller Gewalt gegen Männer oder Frauen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.19). Diese Gewaltform hat eine erniedrigende und diskriminierende Absicht, um „die körperliche und seelische Integrität als Angehöriger eines Geschlechtes und die sexuelle Selbstbestimmung zu schädigen und zu verletzen.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.19) Fremdenfeindliche Gewalt: Unter der fremdenfeindlichen Gewalt wird auch die rassistische Gewalt verstanden. Hier richtet sich die Aggression gegen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Herkunft oder Ethnie (vgl. Bründel und Hurrelmann 1997, S.28).

3.1.2. Ausprägungen von institutioneller Gewalt Demokratisch legitimierte Gewalt: In der Organisation Schule können von den höheren Positionen (Lehrkräfte und Direktoren) Zwangseingriffe durchgeführt oder angedroht werden. Die Schülerinnen und Schüler befinden sich in einem Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnis. Die übergeordneten Positionen haben eine Verfügungsmacht und können bestimmtes Verhalten bei den Untergebenen erzwingen. In der Schule geschieht dies durch Sanktionen. Dies ist die demokratisch legitimierte Gewalt. Die Formen von Gewalt werden als legitim empfunden, da sie Voraussetzung für ein geregeltes Miteinander in Bildungseinrichtungen sind. Das Ziel dieser Gewalt ist die Durchführung von Unterricht und Bildung. Jeder Schüler soll optimal gefördert werden. Für dieses Ziel muss die Schulordnung aufrechterhalten bleiben und dazu werden anerkannte Formen der institutionellen Gewalt eingesetzt. Somit entsteht ein Ungleichgewicht der Machverhältnisse zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.20 f).

17

Illegitime strukturelle Gewalt: Wenn die Unterdrückung das Ziel der institutionellen Gewalt ist und nicht mehr die Förderung der Institutionsmitglieder, wird die Gewalt zu einer illegitimen strukturellen Gewalt (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.21). Die strukturelle Gewalt besagt, dass Menschen, die aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen stammen, „elementare Voraussetzungen zur Lebenssicherung und Entfaltung ihrer Existenz vorenthalten werden“ durch verschiedene Herrschaftsformen, Abhängigkeit und Ausbeutung (Meyenberg und Scholz 1995, S.13). Auch diese Art von Gewalt verletzt Menschen physisch und psychisch. Jedoch ist der Gewaltakt in dieser Form nicht direkt sichtbar (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.13). „Für Galtung ist bereits jede Form der Verhinderung von freien menschlichen Verhaltensmöglichkeiten Gewalt: z.B. etwa die Bedingungen einer Baugenehmigung, der Notendruck der Schule, zu große Klassen, die Unterversorgung der Schule mit Lehrern oder die Schulpflicht.“ (Schwind 1997, S.5) Der Begriff der strukturellen Gewalt hat einen wertenden Charakter und unterstellt der Institution, dass die Selbstentfaltung und die Selbstbestimmung der Mitglieder beeinträchtigt werden (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.21 f.). Kollektive politische Gewalt: Die ausgeübte kollektive politische Gewalt ist eine Mischung aus individueller und institutioneller Gewalt. In der Regel ist sie die Reaktion auf die strukturelle Gewalt. Werden Gewaltformen als ungerecht empfunden, können die Opfer mit kollektiver politischer Gewalt reagieren. Sie können physische Gewalt anwenden um Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Bezogen auf die Schule könnten die Schülerinnen und Schüler gegen die Leistungskriterien protestieren mit dem Ziel, die Veränderung von Bewertungspraktiken zu erzwingen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.22).

3.1.3. Neue Ausprägungen von Gewalt Die Ausprägungen von Gewalt verändern sich mit der Zeit. Im Folgenden werde ich zwei neue Formen von Gewalt beschreiben: Seit wenigen Jahren gibt es das „Happy Slapping“. Der Begriff stammt aus dem Englischen, da diese Ausprägung in Großbritannien bekannt wurde. Er beschreibt das Filmen von brutalen Prügeleien, Quälereien und sexuellen Übergriffen mit Kamera oder Smartphone. Die neu entstandenen Aufnahmen werden dann Freunden gezeigt oder im Internet hochgeladen. Bei dieser Form von Gewalt erleidet das Opfer nicht nur physische Verletzungen, sondern auch öffentliche Erniedrigung. Die Folter kann sich über Wochen hinweg ziehen und all dies geschieht unter den Au18

gen der Kamera. Die Verletzung und Demütigung der Opfer kann bis hin zur Traumatisierung führen. Der Name „Happy Slapping“ bedeutet übersetzt „glückliches Zuschlagen“. Er wurde aus der Perspektive der Täter gewählt. Die zweite relative neue Gewaltausprägung sind Morddrohungen und Amokläufe. Der erste Bericht über einen Amoklauf kam im Jahre 1990 aus den USA. Zwei Schüler drangen mit halbautomatisierten Waffen und mehreren Bomben in das Gebäude der Columbine High School in Littleton. Zwölf Schülerinnen und Schüler und eine Lehrkraft sind gestorben, 23 Menschen wurden verletzt. Danach haben die Täter sich selbst das Leben genommen. In den letzten Jahren kamen Amokläufe auch hier Deutschland vor. Was auffällig ist, dass die Täter immer männlich waren und höhere Bildungswege anstrebten. Aufgefallen sind sie durch Leistungsversagen und erzwungene Abgänge. Die Täter waren sozial isoliert und spielten in ihrer Freizeit oft Killerspiele am Computer. Sie haben sich Zugang zu Waffen verschafft und haben diese Tat äußerst genau vorbereitet. In der Regel wird die Tat auch vorher angekündigt (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.69 f). „Amok ist ähnlich wie der Suizid in diesem Sinne auch nicht als ein Kontrollverlust (‚Ausrasten‘) zu verstehen, sondern als eine Tat mit einem in der Regel klaren Entschluss.“ (Füllgrabe 2000; Adler 2000 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.71) Man kann sich den Amoklauf als ein Tötungsdelikt vorstellen, in dem Mord- und Selbstmordphantasien ineinander übergehen. Als Ursachen könnten starke persönliche Kränkungen, Leistungsversagen und Zurücksetzungen in der Schule eine Rolle spielen, meist aber auch familiäre Konflikte und psychische Störungen. Amokläufe sind Beziehungstaten. Sie richten sich gegen Menschen, mit denen der Täter unmittelbaren Kontakt hat. In der Schule sind es die Lehrer und die Schülerinnen und Schüler (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.71 f).

3.2. Die Rolle von ... 3.2.1.Famillie Nach der allgemeinen Definition von Brockhaus bezeichnet Familie „jene soziale Gruppe bzw. jene spezif. Lebensgemeinschaft, deren Leistungen und Verhaltensregeln ausgerichtet sind auf die Sicherung der Handlungs-und Überlebensfähigkeit ihrer Mitglieder, insbes. der Kinder und der für sie verantwortl. Erwachsenen, in historisch jeweils unterschiedl. Lebensräumen und Lebenssituationen.“(Brockhaus 2006, S.744) Heute versteht man unter dem Familienbegriff einfach gesagt die Lebensgemeinschaft der Eltern mit ihren noch unselbstständigen Kindern. Gewalt in 19

der Familie hat also immer etwas mit Familienmitgliedern oder mit Personenkonstellationen innerhalb des familiären Beziehungssystems zu tun (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S. 88 f). Nach Martina Möller gibt es demnach vier mögliche Zielgruppen von familiärer Gewalt: 1. „Gewalt der Eltern/eines Elternteils gegen Kind/er 2. Gewalt zwischen den Partnern ( gegenüber Frau; von beiden Seiten; gegenüber Mann) 3. Gewalt des Kindes/der Kinder gegenüber Eltern/teil 4. Gewalt zwischen Geschwistern“ (Wehr und Carlsburg 2005, S.91) Für Kinder ist Familie die wichtigste und erste Sozialisationsinstanz (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.10). Auch werden erste Formen für allgemeines Handeln und die ersten Normen und Wertvorstellungen in der Familie erlernt. Dadurch dass den Kindern jahrelang das Verhalten der Eltern, deren Handlungsstrategien und deren Grundeinstellungen zur Bewältigung von Problemsituationen vermittelt wurden, bilden diese die Muster für das Verhalten in solchen Situationen (vgl. Fuchs et al. 2009, S.36). „Darüber können Eltern für das Handeln ihrer Kinder durchaus Standards setzen, wenn gleich die konkreten Bedingungen der Umwelt, in der gehandelt wird, ebenfalls mit über das Handeln entscheiden.“ (Fuchs et al. 2009, S.36) Sind Eltern Gewaltbefürworter oder greifen zu Gewalt in problematischen Situationen, wird man diese Verhaltensweisen und Einstellungen in gewissem Maße bei den Kindern wieder finden (vgl. Fuchs et al. 2009, S.36). Wenn Kinder zum Beispiel von ihren Eltern körperlich gezüchtigt werden, lernen sie dadurch, dass Aggression zu einer selbstverständlichen Erscheinungsform im Zusammenleben gehört. Bis vor wenigen Jahren war es Eltern nach dem Gesetzbuch gestattet, ihre Kinder nach ihrem eigenen Interesse zu züchtigen. Erst im Jahr 2000 wurde das Gesetz geändert: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.51). Dennoch gehört bis heute physische Gewalt bei vielen Eltern zum Erziehungsverhalten. Gewalt in der Familie ist schwer zu erkennen, da sie von der sozialen Umwelt oft nicht bemerkt wird. Vielleicht bleibt sie unbemerkt aus Gründen der Ignoranz (weil lieber weggesehen wird) oder deshalb, weil sie von Teilen der Bevölkerung immer noch gebilligt wird. Misshandelte Kinder und Jugendliche suchen sich nur selten Hilfe bei Hilfeeinrichtungen. Ein Grund dafür könnte sein, dass ihnen die Gesetzeslage nicht bekannt ist (vgl. Fuchs et al. 2009, S.37). Auch dokumentieren die Ergebnisse eine mangelnde Publizität 20

von professionellen Ansprechpartnern (vgl. Bussmann 2001, S.36 in Fuchs et al. 2009, S.36). Des Weiteren ist die Privatheit der Familie gesetzlich geschützt und unterstützt so den Gewalteinsatz in Familien (vgl. Bucher/ Cizek 2001, S.55 in Fuchs et al. 2009, S.36). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer der Eltern-Kind-Gewalt größer ist als bei Gewaltdelikten von externen Tätern gegen Kindern (vgl. Buchner/ Cizek 2001, S.55 in Fuchs et al. 2009, S.37). Der Deutsche Kinderschutzbund gibt Auskunft darüber, dass ca. 10% aller Kinder von ihren Eltern massiv geprügelt werden (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.48). 40% der Eltern bevorzugen lieber andere Formen physischer Gewalt wie Ohrfeigen oder Schläge. Über Kombinationsformen von physischer und psychischer Gewalt in der Familie kann man wenig sagen, da es nicht viele Studien darüber gibt. Die Befragung von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Großstädten (von Brettfeld und Wetzels 2003) ist zu folgendem Ergebnis gekommen: 13% gaben an, von ihren Eltern körperlich gezüchtigt worden zu sein (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.51 f.) „In Familien mit hoher Arbeitslosigkeit, in denen Eltern Sozialhilfeempfänger sind und mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, ist die innerfamiliäre Gewalt besonders hoch.“ (Brettfeld und Wetzel 2003, S.98 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.52 ) Weitere Faktoren, die eine Rolle bei der Gewaltausübung in der Familie spielen, sind Eltern mit psychischen Störungen, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit. Heute haben Eltern im Gegensatz zu früher weitestgehend eine andere Einstellung gegenüber ihren Kindern. Sie werden als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen und auch ist der Wille da, sie in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen. Jedoch fällt es den Eltern oft schwer, diese Einstellung im Alltag zu bewahren. Kommt es zu Spannungen oder Konflikten handeln sie oft entgegen ihrer Einstellung mit physischer und psychischer Gewalt. Viele Eltern zwingen sich körperliche Gewaltformen zu unterdrücken, verfügen jedoch nicht über Alternativen sich als Autorität durchzusetzen. Wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft ist eine Verschiebung von körperlicher zu verbaler Gewalt festzustellen. Psychische Gewalt kann versteckt ablaufen und ist für die Umwelt weniger sichtbar. Jedoch hat sie eine schädigende Auswirkung für die persönliche Integrität und das Selbstvertrauen von Kindern. Dies ist nicht unbedingt weniger schädigend als körperliche Formen der Gewalt (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.53). Viele der Kinder, die Gewalt in der Familie gegen sie oder andere Familienmitglieder erleben, verändern ihre Persönlichkeit. Sie verlieren ihr kindliches Urvertrauen zu Menschen, die ihnen nahestehen. Auch sind sie oftmals für ihr Leben gekennzeichnet. Sie leiden unter Liebesund Vertrauensunfähigkeit. Auch erleben sie noch einen anderen Aspekt von Ge21

walt: Sie erfahren am eigenen Körper, dass man sich durch Gewalt andere Menschen für die eigenen Interessen gefügig machen kann (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.49). Jedoch muss hinzugefügt werden, dass laut Fuchs, Lamnek, Luedtke und Baur die Folgen verbaler und psychischer Gewalt noch nicht ausreichend erforscht worden sind. (vgl. Carbarino/Bradshaw 2002; Werneck 1999 in Fuchs et al. 2009, S.37). Die Ursachen von Gewalt in Familien sind meistens darauf zurückzuführen, dass die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander gestört sind. Gewalt wird nicht selten als Zeichen von Liebe ausgeübt. Je intensiver die Liebe ist, desto mehr will man vom anderen Besitz ergreifen und greift eher zur Macht und Gewaltausübung. Kommt es zu Auseinandersetzungen, ist die Enttäuschung umso größer und wird durch Aggression und Gewalt entladen. Durch Gewalt in der Familie erlernen Kinder unberechenbares und unkontrolliertes Erziehungsverhalten (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.54 f). Zusammenfassend kann gesagt werden: „Je höher die Intensität und die Dauer der erlittenen Gewalt ausfallen, desto größer die eigene Gewaltbereitschaft und desto häufiger die Gewaltausübung von Jugendlichen.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.56)

3.2.2. Gleichaltrigen In der Lebensphase Kindheit ist die Familie die dominierende Sozialisationsinstanz. Mit Eintritt in die Jugendphase findet ein gesunder und normaler Ablösungsprozess vom Elternhaus statt. Nun werden die Peers zu einer wichtigen Sozialisationsinstanz (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.56). Peers bezeichnet die Gleichaltrigengruppen, die als Interaktionspartner akzeptiert wurden (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.175). „Verlangt wird eine gewisse ‘Soziabilität‘, also die Disposition, Handlungspläne miteinander abzustimmen, und zwar ohne das Streben einander zu dominieren, und dem Vorsatz, grundlosen Streit zu unterlassen.“ (Krappmann 1991, S.364 in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.175) Diese Art von Interaktion entwickelt sich ab dem 10. Lebensjahr (vgl. Mansel / Hurrelmann 1991, S.16 in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.175). Schon in der mittleren Phase der Kindheit unterscheiden Kinder zwischen Freundschaften und Bekanntschaften. Sie heben Freundschaften hervor, die auf besonderer Intensität und auf gegenseitigem Vertrauen basieren (vgl. Krappmann 1991, S.356 in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.175). In der Jugendphase (ca. ab dem 15. Lebensjahr) bekommen Cliquen eine wichtige Bedeutung. Sie beruht in erster Linie auf gemeinsamen Freizeitaktivitäten (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.176). „Diese verschiedenen Formen von Peer-Sozialisation stellen für die Jugendlichen ein flexibles, gestaltbares Beziehungsgefüge dar, das ihnen gleichzeitig 22

Rückhalt und ein Gefühl der Solidarität geben kann.“ (Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.176) Ebenso charakteristisch für Peer-Groups ist, dass alle Mitglieder eine vollwertige Teilnahmechance haben, außerhalb von Schule und Familie wird ihnen Selbstbestimmung ermöglicht. Peer-Groups können spontan entstandene Gruppierungen sein oder dauerhafte Cliquen. Auch stellt die Gleichaltrigengruppe ein Übungs- und Trainingsraum für das alltägliche Sozialleben dar (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.56). Allerdings muss die Anerkennung und die Achtung von Gleichaltrigen erworben werden. Schließlich bekommt man diese nicht von alleine. Man erwirbt sie durch bestimmte Leistungen, die von der Jugendgruppe anerkannt werden. In der Familie spielt solch ein Statuserwerb keine große Rolle, jedoch im Erwachsenenleben. Auch sind Gleichaltrigengruppen wichtig für die individuelle Orientierung (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.176). „In der Solidargemeinschaft von Gleichaltrigen, die sich gleichen Problemen gegenüber sehen, kann der Jugendliche biologisch bedingte Reifungsprozesse (Pubertät), interne Entwicklungsspannungen (kognitive und emotionale Entwicklung, Entstehung von Selbstreflexion) und sozial-kontextuelle Entwicklungen ( Ausbildungserfahrungen, soziale Placierungschancen) derart zu integrieren versuchen, daß [sic!] Identität entsteht, die gleichsam sozial produziert wird im Kontext der Interaktion von Jugendgruppen. Diese werden geradezu zur Prüfstelle gelungener Sozialisation.“ (Baacke 1983, S.235f. in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.176) Ebenso dienen Peer-Groups zur Ausprägung von politischer Sozialisation. Dies führt den Jugendlichen im besten Fall zu verantwortlichem Handeln und ist nicht von der Kontrollinstanz (Erwachsenen) erzwungen worden (vgl. Melzer 1992, S.48 ff in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.176) Trotz alledem sind die Peer-Groups nicht durch die Unterstützung vom Elternhaus zu ersetzen (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.117). Die Beziehung in der Familie basiert auf Nähe und Emotionalität. Die Rollenzuschreiben sind noch offen und noch nicht festgelegt. Dies hat die Familie mit der Jugendgruppe gemeinsam. Des Weiteren muss gesagt werden, dass Peers-Groups auch negative Bestimmungselemente vorweisen können. Die Straffälligkeiten bei Jugendlichen sind höher, bei denen die Eltern häufiger nicht zu Hause und weniger liebevoll sind. Dann ist die Bindung in Peer-Groups ein Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit daheim (vgl. Bronfenbrenner 1976, S.166 in Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.177). In diesen Gruppen gibt es ein höheres Konfliktpotential und eine Abschottung gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S.177). Pubertierende Jugendliche haben einen Drang nach 23

Abenteuer und Grenzüberschreitungen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.57). Auch Gewalt wurde schon immer von Jugendlichen ausgeübt. Zwischen dem 12. und dem 17. Lebensjahr sind Gesetzesverstöße „normal“. Die meisten Gewalthandlungen finden in der Gruppe statt. Da fühlt sich der Jugendliche sicher und geschützt. In der Gruppe kann er das ausleben, was in der Schule und in der Familie nicht möglich wäre: den Reiz des Verbotenen genießen. Häufig bewegen sich die Jugendlichen in einem Bereich zwischen Erlaubtem und Verbotenen, was das Ganze so reizvoll macht (vgl. Bründel und Hurrelmann 1997, S.189). Auch kann das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe mit einem Feindbild in Bezug auf andere Gruppen einhergehen. Die Kontrollmöglichkeit für Außenstehende ist gering. Oftmals bleiben Gewalthandlungen geheim und das Opfer kann über einen langen Zeitraum darin verstrickt sein. Auch kann die Gruppe als Ort für Gewalttäter genutzt werden. Sie besitzen eine zentrale Position im Machtgefüge der Gruppe. Der größte Anteil von Gewalt wird im Jugendalter von Cliquen oder Banden ausgeführt. Jede Jugendgruppe hat eigene soziale Umgangsformen und Spielregeln, eigene Werte, Normen und Verhaltensweisen, die von der Umwelt abweichen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.57).

3.2.3. Medien Die WHO-Studie (2002) liefert folgende Ergebnisse: Sächsische Schülerinnen und Schüler schauen in der Wochen 2 Stunden und 25 Minuten Fern und am Wochenende 3 Stunden und 15 Minuten. Vor dem Computer sitzen sie durchschnittlich unter der Woche eine Stunde und fünf Minuten und am Wochenende eine Stunde und 35 Minuten. Die Ergebnisse schwanken stark nach Geschlecht und Schulform. Gymnasiasten sehen im Durchschnitt zwei Stunden und 45 Minuten fern und Hauptschüler fast vier Stunden (vgl. Melzer et al. 2011, S.145). Kinder und Jugendliche werden gar von Medien angezogen, da sie das Bedürfnis haben ihre Sinne zu stimulieren. Allerdings prägt diese Form von Medienkonsum Einstellungen und Verhaltensweisen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.59). Neue Medien (Fernsehen, Computer, Internet) können als wirkliche Bereicherung angesehen werden. Jedoch gibt es auch viele Kehrseiten dieser virtuellen Welten. Sie kreieren eine künstliche Welt, die bei vielen Menschen schon die Wirklichkeit ersetzt. Kinder lernen durch Nachahmen, d.h. sie werden auch Verhaltensweisen aus dieser künstlichen Welt übernehmen, aus einer Welt, die voll ist mit Gewalt und Horror (vgl. Schneider 2001, S.31). „Ein zehnjähriges Kind hat heute im Durchschnitt eine fünfstellige Anzahl an Morden gesehen.“ (Schneider 2001, S.31) Besonders reizvoll sind die Darstellungen von Aggression und Gewalt, Horror und 24

Angst, aber auch von Sexualität (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.49). Auch belegen Studien, dass ein problematischer Medienkonsum das Aggressionspotential erhöht. Dies könnte eventuell damit zusammenhängen, dass die Hemmschwelle für die eigene Gewaltanwendung gesenkt wird. Je häufiger der Konsum problematischer Genres (Horror-und Gewaltfilme, Actionfilme, Porno-und Sexfilme), desto prädestinierter sind die Kinder und Jugendlichen für die Gewaltbefürwortung und Gewaltanwendung. Kinder, die jedoch aus anderen Gründen zu aggressivem Verhalten neigen, haben allerdings auch eine größere Neigung zum Konsum von Gewaltfilmen (vgl. Melzer et al. 2011, S.146). In Familien, in denen es sowieso schon viel Aggression und Gewalt gibt, kann der Konsum von Medien ein direkter Stimulator für Aggression und Gewalt sein. Mediale Inhalte prägen das Menschen- und Weltbild der Kinder und Jugendlichen mit entsprechenden Normen, Werten und Rollenbildern. Wenn das Elternhaus als Orientierungs-und Kommunikationsraum ausfällt, wird die Medienwelt zur zentralen Orientierung (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.59 f). Um dies noch einmal zu verdeutlichen: „Je schwächer die Sozialisationsinstanz Familie wird, desto stärker wird die Sozialisationsinstanz Medien.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.60) 10-15% der Kinder und Jugendlichen sind Medienintensivnutzer. Davon konsumiert die Hälfte Gewaltdarstellungen. Themen wie Überfall, Raub, Totschlag, Mord und Vergewaltigung stehen an der Tagesordnung. Killerspiele für den Computer legen es auf eine Vermischung von Fiktion und Realität an. Der Nutzer kann über den Bildschirm andere peinigen und töten. Vor allem Männer sind davon fasziniert, da dies Männlichkeit und Heldentum verkörpert. Personen, die sich nur auf Gewaltspiele konzentrieren, können zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden. Die Gewaltdarstellungen simulieren das Stillen des Bedürfnisses nach Erfolg und Stärke, das im wahren Leben auf andere Weise nicht mehr befriedigt werden kann. Computerspiele ragen unter den Medien heraus, da sie von Kindern und Jugendlichen am meisten genutzt werden. Die virtuelle Welt wird zu einer beherrschbaren Lebenswelt gemacht. Die Bochumer Studie kam zum Ergebnis, dass gewalthaltige Computerspiele zu einer Minderung der Mitleidsfähigkeit, emotionaler Abstumpfung und geringer Betroffenheit führt. Jedoch spielt auch die Persönlichkeit des nutzenden Kindes eine wichtige Rolle (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.60 f). Somit hat übermäßiger Medienkonsum folgende Auswirkungen: Medienkonsum fördert die soziale Vereinzelung und die Passivität von Kindern und Jugendlichen. Auch erleiden Kinder und Jugendliche einen Erfahrungsverlust, da geteilte soziale Erfahrungen und kommunikative Verständigung zu schwinden drohen gleichwohl wie authentische und praktische Handlungserfahrungen. Ebenso liefern Computer25

spiele Gewaltpräsentationen, auch das Fernsehen wird von Abenteuer-, Action-, Kriegs-, Horror-, und Kriminalfilmen beherrscht. Folglich ist der Gedanke plausibel, dass gewaltförmige Verhaltens- und Einstellungsmuster entstehen aufgrund der Veralltäglichung dieser Präsentationen. Ebenso liefern Medien Realitätsdarstellungen über aktuelle gesellschaftliche Zustände wie Dokumentationen und Berichte über Kriegshandlungen und Weltkonflikte etc. Ähnlich wie in den Filmen oder Computerspielen wird auch hier vermittelt, dass die Schwachen zum Opfer werden und die Stärkeren sich durchsetzen. Die Interessen werden mit physischer, psychischer und struktureller Gewalt realisiert. Dementsprechend werden Stärke, Gewalt und Bewaffnetsein mit Erfolg und Sicherheit in Verbindung gebracht. Des Weiteren ziehen gewaltförmige Medienpräsentationen die Kinder und Jugendlichen an, die in Lebensalltag und Schule Ungerechtigkeit, Ausgrenzung, Identitätsbedrohung und soziale Zurückweisung erfahren (vgl. Tillmann et al. 2007, S.40 f).

3.3. Die Schule als Ort für die Gewaltausübung 3.3.1. Geschlechtsspezifisches Gewaltverhalten Fast alle Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Schüler, die sich gewaltförmig verhalten, in erster Linie männlicher Natur sind (vgl. Knopf und Gallschütz 1997, S.23). Die Studie der Hansestadt Hamburg bestätigt genau dies. Sie nennt einen Prozentsatz von 90, während Mädchen nur zu etwa 3% durch gewaltförmiges Verhalten auffallen (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 1992 in Knopf und Gallschütz 1997, S. 23). Des Weiteren gaben in der Studie von Klockhaus/ Habermann-Morbey weit mehr männliche Jugendliche zu, bei Sachbeschädigungen in der Schule beteiligt gewesen zu sein. Auch Hurrelmann und Bründel beschreiben, dass sich die Gewaltprofile von Jungen und Mädchen vor allem bei physischer Gewalt unterscheiden. Körperliche Gewalt ist ein Jungenproblem. Dementsprechend sind sie häufiger Täter und Opfer. Diese Gewaltform ist bei Mädchen um einiges weniger ausgeprägt, sie stehen den Jungen bei weitem nach. Mädchen bevorzugen eher die verbale Gewalt: Ausgrenzung, Geläster und Abwertung. Laut den Untersuchungen von Schubarth (2000) und Melzer, Schubarth und Ehinger (2004) ist die Häufigkeit von Gewalt bei Mädchen spürbar geringer als bei Jungs. Der Grund für diese unterschiedlichen Vorzugsweisen von Gewaltformen bei Jungen und Mädchen gehen mit den unterschiedlichen Verarbeitungsformen und Bewältigungsregulationen von Jungen und Mädchen einher. Mädchen neigen als Bewältigungsform zur Autoaggression. Dies ist eine Form, bei der man selbst Opfer der Schädigung ist (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.95). „Sie neigen bei Anspannungen und Belastungen 26

(insbesondere Misserfolgserlebnissen) in der Schule im Durchschnitt sehr viel stärker als Jungen zu nach innen gerichteten Aggressionen bis hin zu psychosomatischen Beschwerden und Depressionen.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.96) Jungen tragen ihre Belastungen eher nach außen hin aus. Dadurch wirken sie auf ihre Umwelt viel aggressiver (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.96). „Sie neigen zu exteriorisierenden Bewältigungsformen, bei denen überwiegend eine andere Person geschädigt wird, oft aber auch die eigene Person, wenn zu Alkohol und Drogen gegriffen wird, um Ärger ‚herunterzuspülen‘ und/oder Konflikten auszuweichen.“ (Bilz, Hähne und Melzer 2003 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.96) Popp (2002) machte Untersuchungen zu geschlechterspezifischen Gewalthandlungen, die die Unterschiedlichkeit in den emotionalen Reaktionen auf Gewalt einerseits und die Interventionsbereitschaft analysiert. Männliche und weibliche Probanden sollten Stellung zu Bildern beziehen, auf denen Gewalthandlungen dargestellt wurden. Mädchen reagierten oft mit Angst und Ärger, wenn sie sich vorstellten, selbst in solch einer Situation zu sein. Jungen gaben oft an, nichts zu denken. Auch würde die Mehrheit beider Geschlechter sich nicht einmischen, wenn sie solche Gewalthandlungen beobachten würden (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.96).

3.3.2. Gewalt von Schülerinnen und Schülern gegenüber Lehrern Gewalt von Schülerinnen und Schülern gegenüber Lehrern kommt relativ häufig vor. Meistens handelt es sich hier um aggressive verbale Verhaltensweisen. Physische Formen von Gewalt kommen dagegen eher selten vor (vgl. Gatzemann 2000, S.111). Wenn Lehrer körperlich angegriffen wurden, kam dies meist nur beim Eingreifen von Schlägereien auf Seiten der Schüler vor. Gleichfalls kam es auch fast nie zu Gewaltandrohungen gegenüber Lehrern (vgl. Knopf und Gallschütz 1997, S.22).Verbale Aggressionen gegen Lehrerinnen und Lehrer kommen oft in Form von Beleidigungen vor (vgl. Gatzemann 2000, S. 111). Unter den Schülern treten zwar verbale Formen von Gewalt häufiger auf, dennoch ist an jeder Schulart festzustellen, dass auch Lehrer verbale Formen von Gewalt erleiden müssen. Insbesondere wird verspottet, beschimpft und es werden verunglimpfende Ausdrücke verwendet (vgl. Knopf und Gallschütz 1997, S.22). Auch Unterrichtsstörungen können als Gewalthandlungen angesehen werden. Sie können individuell oder kollektiv stattfinden. Unterrichtsstörungen sind konkrete Handlungen, die für die Lehrkraft sicht- und hörbar sind und die von den Schülerinnen und Schülern gewollt, geplant, gezielt gewählt sind. Bei Unterrichtsstörungen wehren sich Schülerinnen und Schüler gegen die Zwangsinstitution Schule und gegen Unterrichtsformen und Inhalte. Sie setzen ihre Macht bewusst oder unbewusst gegen die Lehrkraft ein. Auch sind sie in Über27

zahl und fühlen sich stark. Dies vermittelt der Lehrkraft manchmal ein Gefühl der Ohnmacht. Kollektive Ausdruckformen von Gewalt gegen den Lehrer zeigen sich zum Beispiel darin, dass Arbeitsaufträge von der gesamten Klasse verweigert werden oder gewalthaltig abgesprochene Störmanöver stattfinden, die auf Seiten der Schülerinnen und Schüler Rachegefühle oder Schadenfreude erzeugen. Unterrichtsstörungen können vielfältig sein. Sie sind verbunden mit Bedürfnissen und Wünschen und subjektiven Interessen der Schülerinnen und Schüler. Auch sind Störungen schwer zu objektivieren, da dies mit dem Störungsempfinden der Lehrkraft zusammenhängt. Auch werden Unterrichtsstörungen von vielen Lehrkräften als Missachtung ihrer Person angesehen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.80 f).

3.3.3. Gewalt in verschiedenen Schularten Laut Melzer, Schubarth und Ehninger sind es vor allem die Schulformen, die eine klare Differenzierung des Gewaltaufkommens erlauben (vgl. Melzer et al. 2011, S.89). Folglich gibt es an Förder- und Sonderschulen die höchste Gewaltbelastung und an Gymnasien die niedrigste (vgl. z.B. Meier u.a. 1995, S.176, Kolbe 1996, Fuchs u.a. 1996 in Melzer et al. 2011, S. 89). Hierbei kann festgehalten werden, dass Förder- und Sonderschüler eher körperliche Gewalt und Gymnasiasten eher verbale und psychische Gewalt bevorzugen. Die Mittelschulen sind von allen drei Arten von Gewalt gekennzeichnet (vgl. Melzer et al. 2011, S.90). Hurrelmann und Bründel behaupten andererseits, dass bei der Trennung der Gewaltformen kein großer schulspezifischer Unterschied festzustellen ist (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S. 94). Ein Grund für die höhere Gewaltbelastung an Haupt- und Sonderschulen könnte sein, dass die Schulen meistens in sozialen Brennpunkten liegen und Schüler unterrichten, die zu den „Modernisierungsverlierern“ zählen ( Fuchs, Lamnek und Luedtke 2001, S.48 in Hurrelmann und Bründel 2007,S.93). Sie fühlen sich häufig als Versager, abgestempelt und ausgegrenzt. Die Gewaltbelastung unterscheidet sich sehr stark je nach Einzugsgebiet der Einzelschulen. Eine Befragung von Schülerinnen und Schülern in Hessen machte deutlich, dass es am Gymnasium das geringste Ausmaß von Gewalthandlungen gibt. Vor allem gibt es weniger körperliche Gewalt als an der Real-, Haupt-, und Sonderschule. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Gesamtbeteiligung der Mädchen bei Gewalthandlungen sehr gering ist. 40% der männlichen Gymnasiasten, 50% der Jungen an integrierten Gesamtschulen und 67% der Jungen an Sonderschulen gaben an, dass sie schon mal in eine Prügelei verwickelt waren. Zu diesen Ergebnissen kamen auch Meier und Tillmann. Denn auch sie stellten fest, dass die höchsten Gewaltwer28

te an Schulen für Lernhilfe zu messen sind. Den Schülerinnen und Schülern dort fehlen geeignete Konfliktlösestrategien (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.93 f). Jedoch kommen Zweifel auf bei der Frage nach der Gewalt in den verschiedenen Schularten, da die milieuspezifischen Merkmale der Schülerpopulationen und ihr Einfluss auf Gewalthandlungen an einer Schulart zusammengebracht werden und sich kein direkter Einfluss des Schultyps nachweisen lässt (vgl. Heitmeyer/UlbrichHerrmann 1997, S.48 f in Melzer et al. 2011, S.90). „Lediglich indirekt, indem nämlich in bestimmten Schulformen bzw. Schulklassen ‚beispielsweise auf Grund des Einzugsgebietes der Schule oder innerschulischer Segregierungen (…) Kinder aus bestimmten Sozialschichten dominant vertreten sind‘, lassen sich problem- und eben auch gewaltfördernde Dimensionen auf die Schulform zurückführen.“ (Melzer 2000b, S.12 in Melzer et al. 2011, S.90 ) Hanewinkel (1995) ermittelte für Schleswig-Holstein, wie häufig Gewalt an Grundschulen vorkommt. In der Regel bleiben Grundschulen hinter den anderen Schulformen bei der Häufigkeit von Gewalt zurück. An Grundschule treten verbale Aggressionsformen nur halb so oft auf wie an der Hauptschule (vgl. Melzer et al. 2011, S.90).

3.3.4. Hat die Gewalt an Schulen zugenommen? „Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.“ ( Sokrates 469-399 v. Chr. in Wehr und Carlsburg 2005, S.7) Diese Zeilen von Sokrates haben über Generationen hinweg nicht an Aktualität verloren. Laut Heribert Rech ist es übertrieben von einer Gewaltgeneration zu sprechen, dennoch sollte man das Problem nicht verharmlosen, dass die Kinder- und Jungendkriminalität gestiegen ist. Grund dafür könnten verschlechterte Sozialisationsbedingungen und Lebensperspektiven von jungen Menschen sein. Seit den 90er Jahren hat die Zahl der registrierten tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen zugenommen. Die Bereitschaft junger Menschen Gewalthandlungen zu begehen ist gestiegen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.7 f). Auch bietet die Polizeistatistik Belege in den 1990 bis 1998 Jahren, dass die registrierten Gewalttaten junger Menschen nicht brutaler geworden sind, sondern die durchschnittliche Tatschwere zurückgegangen ist und es eine Zunahme von leichten Delikten gibt. Jedoch sind die Täter und Opfer jünger geworden. Hierbei gilt es allerdings zwischen Gewalt von Jugendlichen an Schulen und Gewalt von Jugendlichen 29

im Freizeitbereich zu unterscheiden. Dennoch überschneiden sich diese beiden Bereiche (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.98). Lamnek (Lamnek 2000, S.5) und Kassis (2002, S. 467) sehen eine Verbindung zwischen innerschulischer und außerschulischer Aggressivität. Neben polizeilichen Kriminalstatistiken werden auch Versicherungsstatistiken herangezogen. Denn abweichende Verhaltensweisen von Schülern werden oft nur durch die Versicherung geklärt. Oft gelangen diese Taten gar nicht an die Polizei (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.98 f). Die aussagekräftigste Methode um zu sehen, ob die Schülergewalt zugenommen hat, ist die Täter-Opfer-Befragung (vgl. Melzer 2000 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.100). Allerdings hängt es auch vom Einzelnen ab, was er als Gewalt empfindet (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.100). „Aus diesem Grund können die bisherigen Studien wegen der methodologischen und konzeptionellen Schwierigkeiten kein eindeutiges und klares Bild ergeben.“ (Melzer 2009, S.9 in Hurrelmann und Bründel 2007, S.100)

3.4. Die Schule als Ursache von Gewalt Auch die Schule produziert Gewalt. Insbesondere der Zwangscharakter der Schule ist bestimmend für die Ursachenfindung schulischer Gewalt: Denn Schulgewalt und Schülergewalt können oft nicht voneinander getrennt werden. Schule fördert Gewalt durch Prozesse der Benachteiligung, Stigmatisierung und Ausgrenzung, die sie selbst verstärkt oder auslöst (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.74). „ Aber auch übertriebene Leistungsanforderungen, einseitige kognitive Beanspruchungen, ungerechte Benotungen, Herabsetzung oder gar Erniedrigung der jungen Menschen sind Quellen aggressiven Verhaltens.“ (Meyenberg und Scholz 1995, S.75) Meyenberg und Scholz kritisieren den gleichen Punkt wie Hurrelmann und Bründel: Schule nimmt den Schüler emotional zu wenig an. Es gibt eine einseitige Betonung von kognitiven Leistungen. Bildung wird reduziert auf Wissensvermittlung (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.75) Werden die Schülerinnen und Schülern diesen Leistungsanforderungen nicht gerecht, merken sie, dass sie keine Chance im Wettbewerb haben. Dies ist auch Inhalt der Konflikt-und Spannungstheorie, die im Kapitel 2.3 beschrieben worden ist. Unberücksichtigt bleiben im Schulsystem individuelle, personenbezogene, soziale und emotionale Fähigkeiten. Die Schülerinnen und Schüler sind enttäuscht, da sie trotz Anstrengung nicht ihre gewünschten Noten erreichen. Dies erhöht den Druck und frustriert sie. Folglich wird Mitarbeit verweigert, resigniert oder rebelliert (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.105). Auch die Technokratisierung des Unterrichts durch die Lehrkraft und die Bedingungen wie 30

Tests, Notengebung, Stoffplan etc. sind problematisch, denn sie befördern Schule nicht als positiven Erlebnis- und Lebensraum. Schülerinnen und Schüler reagieren nicht selten mit Gewalt auf diese Schulgewalt (vgl. Meyenberg und Scholz 1995, S.75). Hurrelmann und Bründel gehen noch weiter ins Detail und beschreiben den Selektionscharakter, die fehlenden Zukunftsperspektiven, die äußeren Rahmenbedingen, die innere Schulstruktur und das Lehrerverhalten also Risikofaktoren für Gewalthandlungen. Wie gerade erwähnt, kann der Selektionscharakter unseres Schulsystems Auslöser für Gewalthandlungen sein. Vor allem wird nach dem Abiturzeugnis und Ende der vierten Klasse selektiert. Die Noten und Zeugnisse sollen die Schülerinnen und Schüler auf unsere Leistungsgesellschaft vorbereiten. Zeugnisse sind gleich Berechtigungsnachweise. Sie bestimmen, ob die Schülerinnen und Schüler eine Chance auf höhere Bildung, Einkommen, Macht und Einfluss erhalten. Die Leistungs-und Konkurrenzorientierung wird in vielen Fällen von Schülerinnen und Schülern als strukturelle Gewalt empfunden. Die Eltern und Schüler reagieren auf das selektive Schulsystem mit Unruhe und Nervosität. Vor allem das Prinzip der Versetzungsordnung, Klassenwiederholung und Übergangsentscheidungen in unterschiedlich bewerteten Schulformen fordert die andauernde Aufmerksamkeit der Eltern, um die Ausgangsposition der eigenen Kinder zu optimieren. Dieser Druck überträgt sich auf die Kinder und wird als institutionelle Gewalt wahrgenommen. Auch können fehlende Zukunftsperspektiven von Schülerinnen und Schülern zu aggressivem Verhalten führen. Vor allem trifft dies Schüler aus sozialen Brennpunkten und Familien mit Migrationshintergrund. Wenn die Jugendlichen sehen, dass die Eltern und Geschwister arbeitslos sind, sind sie selbst auch nicht so motiviert, sich eine Lehrstelle zu suchen. Ebenfalls haben Förder-und Sonderschüler auf dem Ausbildungsmarkt schlechte Chancen. Dies führt zu Frustration. Sie merken, dass die Anstrengung bessere Leistungen zu erzielen, sich nicht lohnt. Folge könnte Resignation, Hass oder Aggression sein. Natürlich ist die Verarbeitung von Schüler zu Schüler unterschiedlich, jedoch kann dies auch aggressives Verhalten hervorrufen. Auch können äußere Rahmenbedingungen wie zum Beispiel Architektur des Gebäudes und Aufteilung und Gestaltung der Klassenräume eine Rolle spielen. Die Gebäude, die vor 30 Jahren oder später gebaut wurden, entsprechen nicht mehr den Anforderungen, die heute an ein Schulgebäude gestellt werden. Es fehlen Großräumigkeit, Übersichtlichkeit, Farbigkeit, Helligkeit und moderne technische Ausstattung. Laut Sprague und Walker 2005 fördert dies Gewalt außerhalb des Unterrichts. Auch spielt es eine Rolle, ob die Schule gut gepflegt und Sachschäden 31

schnell beseitigt werden. Denn vernachlässigte Räume und unbehandelte Sachschäden bieten Reiz zum Vandalismus und Beschmieren der Wände. Wichtiger als die Architektur ist die interne Schulstruktur. Ist diese unübersichtlich, wissen die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel nicht, wem sie sich in Konfliktsituationen zuwenden sollen, dies führt zu Regellosigkeit. Ebenfalls kann inkompetentes Lehrerverhalten Aggressionen in den Schülern hervorrufen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.105 f). Im Folgenden nenne ich einige Faktoren nach Sprague und Walker (2005, S.3), die aggressives Verhalten bei Schülern begünstigen können aufgrund inkompetenten Lehrerverhaltens: •

„Schlechte Unterrichtsqualität;



überwiegend strafendes Verhalten in der Klassenführung von Lehrern;



keine ausreichende Würdigung von prosozialem Verhalten von Schülern;



keine Stärkung von Eigenverantwortung der Schüler für ihr Verhalten;



unklare Regeln und Erwartungen bezüglich des wünschenswerten Verhaltens;



wenig Hilfestellung für Problemschüler;



aggressives und entwürdigendes Verhalten von Lehrkräften;



Uneinigkeiten und mangelnde Abstimmung unter den Lehrkräften im Kollegium.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.121)

Dollase weist auf einen Faktor hin, den weder Hurrelmann und Bründel noch Meyenberg und Scholz berücksichtigen: Die Schulklasse als Auslöser aggressiven Handelns. Forschungen weltweit und in allen Kulturen belegen, dass die Gruppe ein Aggressions-und Gewaltrisiko mit sich bringt. Videountersuchungen zeigen, dass Kindergartenkinder im Alter von drei bis fünf Jahren ihre Konflikte nicht friedlich lösen. Kinder lernen nicht von selbst friedliche Konfliktlösestrategien. Sie müssen von Erwachsenen darauf hingewiesen werden. Deswegen schätzt Dollase Selbstständigkeitsideologien in der Erziehung (antiautoritäre Erziehung) als gefährlich ein. Hier lernen Kinder nämlich ihre Konflikte so zu lösen: „Der Stärkere gewinnt.“ (Dollase 2010, S.24) Ebenfalls betrachtet Dollase die Ideologie „Man muss auch mal lernen zu verlieren, irgendwann wird man auch mal siegen“ (Dollase 2010, S.24) kritisch. Denn Untersuchungen zeigen, dass die Tendenz dahin geht, dass wenn man im Kindergarten schon Verlierer war, auch in der Grundschule Verlierer sein wird. Dabei nehmen Kinder Schaden in ihrer Entwicklung. Die Gewinner erreichen ihre Ziele mit aggressivem und brutalem Verhalten. Dementsprechend entwickeln Kinder asoziale Strategien der Konfliktregelung, wenn man sie sich selbst überlässt. Kinder brauchen eine erwachsene Instanz, die ihnen moralische Normen und prosoziale 32

Verhaltensweisen beibringt. Die Schulklasse ist keine natürliche Gruppe. Der Umgang damit muss von jedem Menschen gelernt werden. Die Gruppe bietet viele Anlässe zur Aggressivitäts-und Konfliktentstehung. Die Temperamentsforschung kam zum Ergebnis, dass es Menschen gibt, die vor größeren Gruppen mehr Skepsis als andere haben. Viele Menschen fühlen sich in Gruppen nicht wohl und werden von Eltern und Lehrern dazu gezwungen, Teil der Gruppe zu sein. Dies kann zu Aggressionen gegen die anderen Gruppenmitglieder führen. Bisher gibt es keine Untersuchungen darüber, ob Gruppen das Sozialverhalten stärken. Der Mensch ist ein Cliquenwesen, aber kein Gruppenwesen. Er ist gerne mit Leuten zusammen, die er mag (vgl. Dollase 2010, S.24 f). Popp stellt sich die Frage sich die Frage, ob die Institution Schule den Jungen schadet oder sie benachteiligt. Hiermit soll nicht geleugnet werden, dass die Schule auch Sozialisationsprozesse für Mädchen bereitstellt, in denen sie auch Benachteiligungen erfahren. Allerdings konnte registriert werden, dass Jungen im Leistungsbereich benachteiligt sind und es so ein erhöhtes Risiko für schulverweigerndes und aggressives Verhalten besteht (vgl. Popp 2002, S.31). Auch Hurrelmann und Bründel betonen, dass mehr Mädchen das Gymnasium besuchen. Desweiteren bleiben Mädchen weniger oft sitzen und haben bessere Notendurchschnitte. Jungen besuchen sehr viel häufiger Haupt-und Sonderschulen (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.119). Hurrelmann und Bründel fragen allerdings nicht nur nach der Benachteiligung der Jungen, sondern nehmen beide Geschlechter gleichermaßen in den Blick, währenddessen Popp sich nur auf die Benachteiligung der Jungen bezieht. Schulbücher zum Beispiel zeigen deutlich „den immer noch bestehenden Androzentrismus, der in Geschlechter stereotypisierenden Zuschreibungen besteht und Frauen nicht in der ihnen heute gebührenden Rolle würdigt.“ (Hurrelmann und Bründel 2007, S.118) Auch wird die Erwähnung der Bedeutung von Frauen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft vernachlässigt, ob in Schulbüchern oder im Unterricht. Dementsprechend führt dies zur Aufrechterhaltung der Ungleichheit der Geschlechter. Lehrplanvorgaben und Bildungsinhalte orientieren sich überwiegend an der männlichen Lebensvorstellung. Trotz ihrer besseren Leistungen haben Mädchen in der Sekundastufe ein geringeres Selbstbewusstsein als die Jungen. Demzufolge gewinnt der Gedanke der Benachteiligung beider Geschlechter (vgl. Hurrelmann und Bründel 2007, S.118f).

33

4. Zivilcourage entwickeln 4.1. Zur Geschichte des Begriffs „Zivilcourage“ Der Begriff „Zivilcourage“ kommt aus dem Französischen und ist im Kontext der bürgerlichen Bewegung entstanden (vgl. Carlsburg et al. 2012, S.10). Im Jahre 1835 kam dem Begriff die Bedeutung „Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil“ zu (Carlsburg et al. 2012, S.10). Ebenso wurden der Begriff und seine Bedeutung im Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen. Somit wurde der Begriff zuerst verwendet zu Zeiten des Bürgertums. In dieser Zeit wurde der Staat als Zusammenschluss der Bürger verstanden (vgl. Carlsburg 2012 et al., S.10). „Der Begriff der Zivilcourage wird somit als zutiefst demokratischer vereinnahmt, obgleich es jene Verhaltensweisen, die hier als Zivilcourage gerühmt werden, nicht erst in der Moderne gab.“ (vgl. Carlsburg et al. 2012, S. 10)

4.1. Zivilcourage – Eine Definition In unserer Alltagssprache könnte man Zivilcourage als eine Form der Hilfeleistung in besonderen Situationen beschreiben. Eine Person wird schlecht behandelt oder ausgegrenzt, die Person, die Zivilcourage zeigt, fühlt sich verantwortlich für die ausgegrenzte Person und greift ein. Sie greift ein, obwohl sie vielleicht mit negativen Konsequenzen rechnen muss. Trotz dieser Risiken setzt sich der Mensch für humanitäre und demokratische Werte ein. Laut Moscovici und Lage ist Zivilcourage, wenn man sich in der Minderheit befindet und mit seinem Handeln gegen den Strom schwimmen muss. Zivilcourage fördert die politisch-moralische Einstellung, die Grund-und Menschenrechte als täglich zu schützendes Gut anzusehen (vgl. Jonas et al. 2007, S.11). Meyer beschreibt Zivilcourage als ein spezifischer Typus sozialen Handelns, das sich •

„in spezifischen Situationen



in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Öffentlichkeiten vollzieht, indem



eine Person ( seltener eine Gruppe) freiwillig eintritt



für die legitimen, primär nicht-materiellen Interessen und die personale Integrität vor allem anderer Personen, aber auch des Handelnden selbst, und



sich dabei an humanen und demokratischen Prinzipien orientiert“ (Meyer 2004, S.29)

34

Zivilcourage geschieht in Situationen, welche durch folgende Merkmale charakterisiert sind: •

Es sind Situationen, in denen Wertüberzeugungen oder die Integrität einer Person verletzt werden. Dadurch entstehen Konflikte.



Es entsteht ein Handlungsdruck und



es passiert in der Öffentlichkeit.



Es gibt immer ein Machtungleichgewicht der beteiligten Personen.



Die Person, die Zivilcourage zeigt, geht immer Risiko ein, da sie selbst unsicher über die Folgen ist. Allerdings würde sie auch Nachteile in Kauf nehmen.

Laut Meyer ist Zivilcourage als Handlungstypus und nicht als Eigenschaft einer Person zu sehen (vgl. Meyer 2004, S.30). Jonas, Boos und Brandstätter hingegen sagen, dass Zivilcourage situativen sowie auch personenbezogenen Dingen unterliegt. Im Folgenden werde ich drei situativ bedingte Aspekte aufzählen: •

Die Situation muss eindeutig sein für Außenstehende. Je unklarer die Situation ist, desto schwieriger ist zu erkennen, dass es sich um eine kritische Lage handelt.



Auch die Kosten einer zivilcouragierten Intervention spielen eine Rolle. Je höher die Kosten für die eigene Zivilcourage ausfallen würden, desto geringer ist die Tendenz zum Eingreifen. Dies reicht von milden sozialen Folgen (Blamage/ Verlust von Ansehen oder Unterstützung) bis hin zu schweren Nachteilen ( juristische Auseinandersetzung/ Lebensgefahr)



Auch können anwesende Personen ein Grund für das Nichteingreifen sein. Je mehr Zeugen da sind, desto weniger wird eingegriffen. Der erste Grund dafür ist, dass die eigene Verantwortung gesenkt wird, wenn mehrere Leute vor Ort sind. Der zweite Grund besagt, dass das passive Verhalten der Zuschauer, dadurch bedingt ist, dass die Situation kein Eingreifen benötigt.

Wie schon oben erwähnt, sagen Jonas, Boss und Brandstätter, dass auch personenbezogene Merkmale eine Rolle spielen beim Eingreifen in prekären Situationen: •

Die Werte und Einstellungen der couragierten Person spielen eine wesentliche Rolle. Darunter versteht man z.B. Intoleranz gegenüber der Verletzung moralischer Standards, Menschenwürde, Gleichberechtigung, Gewaltfreiheit, prosoziale Orientierung.



Auch sind bestimmte Persönlichkeitsmerkmale nicht außer Acht zu lassen (emotionale Belastbarkeit, Selbstvertrauen, altruistische Tendenzen) 35



Laut Latané und Darley ist das wichtigste personenbezogene Merkmal das Vorhandensein grundlegender Verhaltenskompetenzen und entsprechender Verhaltensroutinen (vgl. Jonas et al. 2007, S.12 f). „Selbst wenn eine Person eine Situation als kritisch und einer zivilcouragierten Intervention bedürftig interpretiert, sie persönliche Verantwortung übernimmt und entsprechend ihren eigenen Werten und Einstellungen handeln will, kann das Fehlen adäquater Verhaltensroutinen (z.B. verbale Deeskalationsstrategien oder das Alarmieren von Rettungskräften) die Ausübung von Zivilcourage verhindern.“ (Jonas et al. 2007,S.13)

Diese Aspekte bieten die Grundlage für zivilcouragiertes Handeln (vgl. Jonas et al. 2007, S.13). Meyer und Hermann beschreiben drei Formen von Handlungsarten: 1. Eingreifen vs. Nicht-Eingreifen: Oft sind es Situationen, die unvorhergesehen geschehen sind und in die man oft als Außenstehender hineingerät und in der man aktiv mutig handelt zugunsten anderer. 2. Sich wehren bzw. sich nicht wehren: Prosoziales Verhalten geschieht zugunsten anderer. Die Leute, die sich wehren (oder eingreifen) treten für allgemeine Werte ein oder verbinden die Belange anderer mit eigenen legitimen Interessen. Es geht hier nicht um den eigenen Vorteil, sondern es geht darum, sich zu wehren gegen Zumutungen und Angriffe, die aufgrund allgemeiner Werte in unserer Gesellschaft nicht annehmbar sind. 3. Sich einsetzen vs. sich nicht einsetzen: Hiermit ist der Einsatz für allgemeine Werte und/oder legitime Interessen anderer gemeint (vgl. Meyer und Hermann 1999, S.20).

4.2. Prävention und Förderung von Zivilcourage 4.2.1. Das Modellprojekt „Team Z" Im Jahr 2000 entschloss sich die Landeszentrale für politische Bildung in BadenWürttemberg die erneute Initiative gegen Gewalt, Intoleranz und Rechtsextremismus zu starten. Anlass dafür war der Bombenanschlag am 27.7.2000 in Düsseldorf, bei dem zehn Aussiedler, Aussiedlerinnen schwer verletzt wurden. Die meisten davon waren Juden. Seitdem nahm das Thema „Rechtsextremismus“ wieder viel Raum in den Medien ein. „Erneute Initiative“ deshalb, weil seit Jahren der Arbeitsschwerpunkt aller Landeszentralen für politische Bildung mit Rechtsextremismus, 36

Gewalt, Fremdenfeindlichkeit zu tun hatte. Deshalb wurde das Acht-PunkteProgramm entwickelt. Die ersten sieben Punkte beschäftigen sich mit Bildungsangeboten für Lehrende, für Zielgruppen der schulischen und außerschulischen Bildung, für Multiplikatoren und Partnereinrichtungen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.321). Der achte Punkt der Initiative lautet wie folgt: „Aufbau eines, Team Z´ (Z = Zivilcourage) der Landeszentrale. Ein junges kompetentes Team wird intensiv geschult. Es wird zur Verfügung stehen für Sozialarbeiter, Lehrerinnen und Lehrer und Personen, die vor Ort mit Gewaltbereitschaft konfrontiert und stark gefordert sind. Sie erhalten Schulung in Mediation und Konflikttraining und organisierten Erfahrungsaustausch.“ (Wehr und Carlsburg 2005, S.321f) Um diesem Punkt gerecht zu werden, muss man sich erstmal Fragen stellen wie: Welche individuellen Fähigkeiten sind von Nöten für zivilcouragiertes und gewaltfreies Handeln? Welche der förderlichen Fähigkeiten können in präventiver Arbeit gefördert, eingeübt oder erlernt werden? Die Literatur über Praxis- und Projektberichte kommt zu einer übereinstimmenden Feststellung: Es gibt kein schlüssiges Konzept für pädagogische Arbeit mit gewalttätigen Kindern und Jugendlichen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.322). „Zentraler Ansatzpunkt präventiver Arbeit ist die nachhaltige Förderung sozialer Qualifikationen und sozialer Handlungsfähigkeit.“ (Wehr und Carlsburg 2005, S.322) Untersuchungen, die sich mit gewalttätigen, intoleranten und rechtsextremen Einstellungen auseinandersetzten, kommen zu dem Ergebnis, dass es personale Gefährdungspunkte gibt. Denn gewaltbereite Kinder und/ oder Kinder, die rechtsextreme Haltungen einnehmen, haben Sozialisationsdefizite. Charakteristisch dafür sind: •

niedriges Selbstbewusstsein



mangelnde Empathiefähigkeit



unzureichende soziale Kompetenzen

Deshalb erscheint die Vermittlung dieser Erfahrungen in spezifischen Seminardesigns vielversprechend. Folglich zielen diese Seminare auf folgende soziale Grundeinstellungen ab: •

Empathiefähigkeit wird trainiert. Es soll gelernt werden, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.



Die Fähigkeit, bei Konflikten gewaltfrei reagieren zu können.



Und die Fähigkeit zu Argumentation, denn dies wirkt selbstsicher gegenüber anderen. 37

Wie zu sehen ist, zielen die Seminare auf die personalen Gefährdungspunkte ab. Entscheidend dabei ist, dass man diese Qualifikationen erlernen kann, nicht so sehr durch Belehren, als vielmehr durch Übung. Das Ziel dieses Modellprojekts ist es, dass Kinder und Jugendliche auf Gewalt als Mittel zur Lösung verzichten. Sie sollen lernen Konflikte konstruktiv zu bewältigen und bei Konfliktsituationen zwischen anderen vermitteln zu können. Das Modellprojekt besteht aus mehreren Teams. Sie bestehen aus jungen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die über fachliche und pädagogische Erfahrung verfügen. Das Team hat folgende Aufgaben: •

Die Organisation, Leitung und Durchführung von Seminaren und Workshops mit dem Ziel, unterschiedliche Modelle der Streit- und Konfliktschlichtung und präventive Maßnahmen gegen Gewalt zu etablieren.



Ein weiteres Feld ist die Arbeit mit Vereinen, Auszubildenden und SMVGruppen.



Auch bieten die Teams für Lehrer, Betreuer etc. Schulungen an. Hier werden deeskalierende und intervenierende Methoden vermittelt (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.322 ff).

Verlauf des Projektes Nachdem die finanziellen Mittel bewilligt wurden, folgten die Ausarbeitung einer Konzeption und die Gewinnung von interessierten Mitarbeitern. Auch müssen qualifizierte Trainer und Mediatoren gefunden werden. Kurt Faller konnte für die Ausbildungsphase gewonnen werden. Er entwickelte 1994 bis 1997 das Offenbacher Modellprojekt „Gewaltprävention“. Des Weiteren musste Werbung für das Projekt betrieben werden. Zu Projektbeginn hatte das Projekt 90 Anfragen interessierter Bildungseinrichtungen. 1. Projektphase: Basistraining Im Mittelpunkt dieser Phase steht die Ausbildung der Teamer und Teamerinnen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.324). Die Ausbildung hat ca. einen Zeitumfang von 70 Stunden und wird in vier Ausbildungsblöcken vermittelt: •

„Modul 1: Konfliktbegriff, Verhalten in aggressiven Situationen, Konfliktanalyse, Formen der Mediation und des Konflikttrainings, Systemisches Arbeiten.

38



Modul 2: Systemisches Denken in der schulischen und außerschulischen Arbeit, Techniken der Kommunikation, Verfahren professioneller Gesprächsführung.



Modul 3: Gruppenprozesse, Mediation und Konflikttraining, Systemdesigns, Settings.



Modul 4: Systemdesign und inhaltliche Angebote des ‚Team Z‘.“ (Wehr und Carlsburg 2005, S.325)

2. Projektphase: Durchführung der Praxisphase Die Teamer führen in unterschiedlichen Praxisfeldern Konflikttrainings durch. Auch sind Multiplikatoren, die in den Bildungseinrichtungen arbeiten, sinnvoll, da sie die Fortführung der Streit- und Konfliktschlichtungsmodelle gewährleisten (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.325).

In der Ausbildungsphase (am Basistraining) nehmen zwei bis drei Lehrer der interessierten Schule teil. Die spätere Betreuung und Ausbildung wird zum Deputat dazu gerechnet. Deswegen sind frühe Gespräche mit der Schulleitung und die Vorstellung des Modells unerlässlich. Wichtig ist auch, dass die Schlüsselpersonen, die das Schulklima und die Konfliktkultur bestimmen, dazu gewonnen werden. Um die Konfliktkultur zu verändern, ist es wichtig, dass die Lehrer mitmachen. Wenn zwei bis drei Lehrkräfte am Basistraining teilgenommen haben, lernen die anderen interessierten Lehrer an der Schule in einem sogenannten Auftakttraining durch praktische Übungen und Rollenspiele das Konzept näher kennen. Die Lehrer müssen schauen, welche sozialen Handlungskompetenzen an ihrer Schule schon integriert sind und welche noch entwickelt werden müssen. Dann wird für jede Schule ein Systemdesign entwickelt. Auch werden Schüler ausgewählt, um das Auftakttraining in 2,5 Tagen zu absolvieren. Dies wird durchgeführt von Teamern, erfahrenen Mediatoren und geschulten Lehrkräften. Fortgesetzt wird das dann in Arbeitsgemeinschaften, die dafür da sind, die Fertigkeiten und Kenntnisse des Trainings nochmals zu vertiefen und zu festigen. Nach diesem Prozess werden die Schülerinnen und Schüler als Streitschlichter aktiv. Sie sind ständiger Teil des Schulprogramms und eine Entlastung für Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler. Nach drei Jahren wurden 170 Veranstaltungen durchgeführt (Seminare, Aktionen Workshops und Vorträge) und 4000 Menschen haben teilgenommen. Die Zielgruppen dieses Programms waren Schülerinnen und Schüler, Lehrer aller Schularten, 39

Schulleiter, Referendare, Sozialpädagogen, Jugendleiter, Vollzugsbedienstete, Polizisten, Studierende, ehrenamtliche Mitarbeiter, Bürgerinitiativen, Multiplikatoren und Zivildienstleistende. Im Folgenden zeige ich die Zwischenergebnisse der Evaluation des Projektes „Team Z“ am Ende des Jahres 2014: •

Ein gutes Training steigert die soziale Kompetenz und die Empathiefähigkeit der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen.



Die Fähigkeit, Konflikte zu schlichten und über Deeskalationsstrategien zu verfügen, gibt den Menschen Sicherheit und erhöht die Bereitschaft, selbst zivilcouragiert zu handeln.



Kinder und Jugendliche, die als Streitschlichter tätig sind, verfügen über eine erhöhte Konfliktlösekompetenz.



Die Konfliktschlichtung verändert Interaktions-und Kommunikationsstrukturen in der Einrichtung. Sie fördert partnerschaftlichen Umgang.



Es gibt Konfliktarten, bei denen sich die Streitschlichtung nicht eignet. Vor allem bei eskalierenden Konflikten greifen die Lehrer/Betreuer wieder zu traditionellen Ordnungsmaßnahmen (vgl. Wehr und Carlsburg 2005, S.28ff).

5. Handlungsstrategien und Trainingsprogramme Laut dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg lag der Schwerpunkt von Prävention bisher immer nur auf der Vermeidung von problematischem Verhalten oder dem Beseitigen von Risiken. Seit den Amokläufen in Winnenden und Wendlingen (März 2009) müssen Schulen nicht nur auf solche Ereignisse vorbereitet sein. Auch muss der Präventionsgedanke im Bildungsauftrag der Schule verankert sein. Ziel ist es, ein gemeinsames Miteinander, das „Wir“ in der Gruppe, Klasse und Schule zu schaffen. Das auf Dan Olweus beruhende Präventionskonzept stark.stärker.WIR. wurde genau deshalb entwickelt. Im Folgenden nenne ich Kriterien für schulische Präventionsarbeit nach dem Konzept stark.stärker.WIR. (Präventionsprogramm an Schulen in Baden-Württemberg): •

Sie zielt auf die Entwicklung personaler und sozialer Kompetenzen und auf eine positive Lebengrundhaltung ab.



Das Präventionskonzept beinhaltet Gewaltprävention, Gesundheitsförderung und Suchtprävention (s. Abb.1).



Das Konzept muss auf Schulebene, Klassenebene und personeller Ebene verankert sein. 40



Die Präventionsarbeit ist Teil der Schulentwicklung.



Sie ist mit der Präventionsarbeit anderer Institutionen verstrickt.

Abbildung 1: Inhalt von Präventionsarbeit (Ministerium für Kultus, Jugend, Sport Baden-Württemberg 2013, S.17)

Auch schlägt das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg Kriterien wirksamer schulischer Präventionsprogramme vor. Durch empirische Forschungen wurden in den letzten Jahren verschieden Kriterien zusammengetragen, die wirksame und nachhaltige Präventionsprogramme erfüllen sollen: •

Prävention muss in ein breites Konzept der Gesundheitsförderung eingebettet sein und darf sich nicht nur auf spezifische Komponenten beziehen.



Präventionsprogramme müssen über die kognitive Ebene der Wissensvermittlung hinausgehen. Sie müssen auf eine strukturierte Art und Weise konkrete Verhaltenskompetenzen lehren. Diese Kompetenzen müssen geübt und angewendet werden.



Präventionsprogramme sollten geplant und langfristig sein. Frühzeitiges Einsetzten wäre wünschenswert (z.B. im Kindergarten). 41



Auch sollten sie fächerübergreifend angelegt sein.



Die angewendeten Programme sollten zielgruppenspezifisch und alters- und entwicklungsangemessen sein.



Die Maßnahmen müssen soziale und strukturelle Rahmenbedingungen der Institution in den Blick nehmen.



Die angewendeten Programme sollten theoretisch fundiert und wissenschaftlich evaluiert sein.



Auch sollten sie unter Alltagsbedingungen wirksam sein.



Die Lehrkräfte, die das Programm durchführen, müssen ausreichend darauf vorbereitet sein. Sie müssen über kommunikative Fähigkeiten und durch Fortbildungen über das notwendige methodische und didaktische Handwerkszeug verfügen.



Zur Durchführung solcher Programme müssen materielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen.

Auch formuliert das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württembergs Ziele für zukünftige schulbasierte Präventionsvorhaben: •

Ein Förderkonzept sollte schuljahresübergreifend und für verschiedene Entwicklungsphasen geeignet sein.



Es sollte eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen stattfinden.



Individuell auf die Schule abgestimmte, mehrere Ebenen umfassende Programme, die sowohl übergreifende als auch einzelne Maßnahmen miteinander verbinden (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg 2013, S.8ff).

5.1. Interventionsprogramm nach Olweus: Das Kernprogramm 5.1.1.Allgemeines Das Interventions- und Präventionsprogramm nach Olweus ist in drei Ebenen gegliedert: 1. Die Makroebene: Damit sind Maßnahmen gemeint, die auf Schulebene stattfinden. 2. Die Mesoebene: Sie umfasst Maßnahmen auf Klassenebene. 3. Die Mikroebene: Sie umfasst Maßnahmen auf der persönlichen Ebene. Alle drei Ebenen stellen ein sehr umfassendes Interventionsprogramm dar. Maßnahmen auf der Schulebene können z.B. ein pädagogischer Tag sein mit dem Thema Gewalt und Gewaltprävention an unserer Schule. Auf der Klassenebene 42

können z.B. Klassenregeln gegen Gewalt aufgestellt werden und auf der persönlichen Ebene könnte die Lehrkraft z.B. ernsthafte Gespräche mit den Gewalttätern und Opfern führen. Das Programm wurde entworfen, um Gewalttäter und Gewaltopferproblemen entgegenzuwirken (vgl. Olweus 2011, S.69 f). Ziel dieses Programmes ist es, „so weit wie möglich bestehende Gewalttäter-/Gewaltopfer-Probleme innerhalb und außerhalb der Schulumgebung zu vermindern und die Entwicklung neuer Probleme zu verhindern – idealerweise vollständig zu beseitigen.“ (Olweus 2011, S.70) Olweus unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Gewalt. Unmittelbare Gewalt beinhaltet offene Angriffe auf einen anderen Schüler. Darunter können Worte, Gesten, Grimassen und Körperkontakt fallen. Unter mittelbarer Gewalt versteht Olweus z.B. Schwierigkeiten eines Schülers/einer Schülerin, sich mit anderen anzufreunden, da er/sie von den Mitschülern ausgeschlossen wird. Auch betont Olweus einen klaren Zusammenhang zwischen unmittelbarer und mittelbarer Gewalt. Schülerinnen und Schüler, die unmittelbarer Gewalt ausgesetzt sind, werden im Normalfall auch von anderen ausgrenzt und abgelehnt. Andersherum gibt es jedoch häufig auch Schülerinnen und Schüler, die isoliert sind, ohne Opfer offener Gewalt zu sein (vgl. Olweus 2011, S.70 f). Olweus betont, dass das Programm auch positive Ziele aufweist: „bessere Beziehungen zwischen Gleichaltrigen in der Schule zu erreichen und Bedingungen zu schaffen, unter denen sowohl Opfer als auch Täter besser miteinander auskommen und innerhalb und außerhalb der schulischen Umgebung zurechtkommen können.“ (Olweus 2011, S.71) Zwei allgemeine Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das Interventionsprogramm erfolgreich ist. Die Erwachsenen in der Schule und auch zu Hause müssen ein gewisses Problembewusstsein entwickeln und das Ausmaß des Gewalttäter/Gewaltopfer-Problems an ihrer Schule erkennen. Ebenso müssen sie gemeinsam beschließen, dass sie sich für die Änderung der Situation einsetzen (vgl. Olweus 2011, S.71f). .

5.1.2. Maßnahmen auf der Schulebene: „Zielgruppe auf der Schulebene ist grundsätzlich die gesamte Schülerschaft der Schule, und die Maßnahmen konzentrieren sich nicht allein auf Schüler und Schülerinnen, die als Opfer und Täter ausgemacht worden sind. Die Maßnahmen richten sich darauf, Einstellungen zu entwickeln und Bedingungen zu schaffen, die das Ausmaß der Gewalttaten in der Schule insgesamt senken. Einige dieser Maßnah-

43

men haben das zusätzliche Ziel, die Entwicklung neuer Gewaltprobleme zu verhindern.“ (Olweus 2011, S.73) Im Folgenden werde ich die Maßnahmen, die auf Schulebene zu leisten sind näher beschreiben: 1. Fragebogenerhebung Will man an die Probleme einer bestimmten Schule herangehen, muss man erstmal Informationen sammeln über die Situation an dieser Schule. Dazu ist eine anonyme Erhebung mit Hilfe eines Gewaltfragebogens sinnvoll. Dieser liefert Erkenntnisse über das Ausmaß des Gewalttäter/Gewaltopfer-Problems an der Schule (vgl. Olweus 2011, S.72). 2. Pädagogischer Tag Sinnvoll ist es, einen pädagogischen Tag durchzuführen, an dem nicht nur die Schulleiter und die Lehrkräfte anwesend sind, sondern auch Experten wie Schulpsychologen, ein Experte der Lehrerfortbildung, Vertreter des Schulelternbeirates und Vertreter der Schülerschaft teilnehmen. Die Ergebnisse des Gewaltfragebogens sollten an diesem Tag erörtert und besprochen werden. Auch sollte an diesem Tag ein gemeinsamer Aktionsplan erstellt werden. Wenn Lehrkräfte sich dazu entscheiden, andere Maßnahmen des Programms für ihre Klasse zu nutzen, ist es dennoch wünschenswert, sich mit den Kollegen über bestimmte Maßnahmen und Grundsätze zu einigen (vgl. Olweus 2011, S.73 f). 3. Bessere Aufsicht während der Pause und Essenszeit Es wurde nachgewiesen, dass es in Schulen, die eine höhere Lehrerdichte in den Pausen aufweisen, weniger Gewalt gibt. Deswegen muss die Schule dafür sorgen, dass genügend Lehrkräfte in den Pausen die Schülerinnen und Schüler beaufsichtigen, falls es notwendig ist, auch in den Essenspausen. Es ist eine einfache und wirksame Maßnahme. Allerdings reicht nicht nur die Anwesenheit der Erwachsenen aus, schließlich müssen sie auch bereit sein, schnell und entschlossen in Gewalttaten einzugreifen (vgl. Olweus 2011, S.74f). „Die Richtschnur für ein eingreifendes Handeln sollte sein, dass eher zu früh als zu spät eingegriffen wird.“ (Olweus 2011, S.75) Ein Eingreifen der Lehrer vermittelt, dass Gewalt hier nicht akzeptiert wird. Würden Lehrer die Pausenaufsicht meiden oder bei Gewalthandlungen nicht eingreifen, überlassen sie die schwächeren Schüler der Willkür der gewalttätigen Schüler. Ein solches Verhalten drückt Billigung der Gewalttat aus. Um die Sicherheit der 44

Schüler zu gewährleisten, müssen sich die Lehrkräfte gegenseitig über die Zwischenfälle in den Pausen informieren. Des Weiteren sollte die Lehrkraft, die in eine Gewalttat während der Pause eingegriffen hat, zum/zur Klassenlehrer-/lehrerin des Schülers gehen und ihm/ihr davon berichten. So können Gewalthandlungen im frühen Stadium entdeckt und bekämpft werden. Auch gibt es die Option, zeitlich und räumliche Trennungen vorzunehmen, wie zum Beispiel unterschiedliche Pausenzeiten für ältere und jüngere Schüler oder getrennte Bereiche auf den Schulhöfen. Auch kann ein schöner/attraktiver Schulhof Gewalthandlungen verhindern, da diese aus purer Langeweile entstehen können. 4. Schulkonferenz (Kooperation Lehrkräfte-Eltern) Um Gewaltprobleme an der Schule lösen zu können, ist die enge Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern von großer Bedeutung. Um die Zusammenarbeit zu verbessern, können auch Eltern-Lehrer-Treffen organisiert werden, bei denen alle Eltern der ganzen Schule oder bestimmter Schülergruppen (z.B. Unterstufe) eingeladen werden. Des Weiteren können auch Einzel- oder Telefongespräche mit Eltern stattfinden. Es wird empfohlen, mehrere oder alle Kontaktformen zu nutzen, um Gewalt in der Schule entgegenzuwirken. Auch kann es sinnvoll sein, wenn Schülerinnen und Schüler an manchen Treffen teilnehmen. Wenn die Schule sich dazu entschlossen hat, gegen Gewalt in der Schule vorzugehen, müssen die Eltern darüber informiert und eingeladen werden, um daran teilnehmen zu können. Wurde der Fragebogen ausgewertet, können die Ergebnisse auch vorgestellt werden. Des Weiteren wäre sinnvoll, wenn ein Experte Auskunft über das Ausmaß, die Mechanismen und die Ursachen von Gewalt geben könnte. Die Eltern sollten bestenfalls auch darüber informiert werden, dass die Lehrerinnen und Lehrer nun auch ihre Aufmerksamkeit auf relativ unbedeutende Fälle von Gewalt und sozialer Ausgrenzung richten werden. Dementsprechend kann vermehrt Kontakt auf Seiten der Lehrer zu den Eltern gesucht werden. Aber auch sollte die Schule den Eltern Mut zusprechen, sich mit den Lehrkräften in Verbindung zu setzen, falls sie Bedenken haben, dass ihr Kind gemobbt wird oder mobbt. Nach dem Eltern-Lehrer-Treffen sollten die Protokolle des Treffens und der Aktionsplan gegen die Gewalt an alle Eltern verschickt werden. Die ersten drei beschriebenen Maßnahmen (Fragebogenerhebung, pädagogischer Tag, bessere Aufsicht während der Pause und Essenszeit) sind Kernbestandteile des Kernprogramms von Olweus. Die Maßnahme der Schulkonferenz ist ein wünschenswerter Bestandteil des Kernprogramms. Auch beschreibt Olweus noch weite45

re mögliche Maßnahmen, die allerdings nicht zum Kernprogramm gehören. Diese werde ich im Folgenden kurz anschneiden: •

Kontakttelefon: Eine Vertrauensperson in der Schule könnte einige Stunden in der Woche Anrufe von Eltern und Schülern entgegen nehmen, die ihre Situation anonym schildern, da tyrannisierte Schüler sich vielleicht nicht trauen, über ihre Situation offen mit anderen zu sprechen.



Lehrer- und Lehrerinnengruppen zur Entwicklung des sozialen Milieus an der Schule: Dies ist eine Zusammenkunft von Lehrern der Schule, in der verschiedene Probleme an der Schule erörtert und Erfahrungen untereinander ausgetauscht werden.



Arbeitsgruppen der Elternbeiräte: Die Lehrer und Eltern sollen gleichermaßen auf Gewalt reagieren. Dazu müssten die Eltern mehr über die Probleme erfahren und über Möglichkeiten, wie man dagegen vorgehen kann. Die Elternbeiräte können Zusammenkünfte organisieren und Literatur über Gewaltprobleme vorstellen und erörtern (vgl. Olweus 2011, S.74ff).

5.1.3. Maßnahmen auf der Klassenebene 1. Klassenregeln gegen Gewalt Olweus empfiehlt, Klassenregeln gegen Gewalt zu schaffen. Auch wenn die Schule schon allgemeine Regeln gegen Gewalt hat, ist es von Bedeutung, weitere Regeln gegen unmittelbare und mittelbare Gewalt zu schaffen. Die aufgestellten Regeln müssen nicht unbedingt als endgültige Fassung gesehen werden. Auch ist es wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler an der Diskussion zur Aufstellung der Regeln beteiligen. Die klasseninternen Regeln können sichtbar an eine Stelle des Klassenzimmers angebracht werden. Die Lehrkraft sollte sich Gedanken zur Vorbereitung dieses Themas machen. Gemeinsam in der Gruppe zur Entwicklung des sozialen Milieus können Vorbesprechungen getroffen werden (vgl. Olweus 2011, S.76f). Drei Regeln bilden die Ausgangsbasis: •

„Wir werden andere Schüler und Schülerinnen nicht mobben.



Wir werden versuchen, Schülerinnen und Schüler, die gemobbt werden, zu helfen.



Wir werden uns Mühe geben, Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, die leicht ausgegrenzt werden.“ (Olweus 2011, S.83)

46

Diese drei Regeln beinhalten Ziele gegen mittelbare und unmittelbare Gewalt. Den Schülerinnen und Schülern sollten die regelbezogenen Verhaltensweisen deutlich gemacht werden. Dies kann der Lehrer mithilfe von ausgewählter Literatur vermitteln. Hierbei muss er jedoch kritisch mit der Literatur umgehen, da viele literarische Beschreibungen solcher Probleme auf unrichtigen Vorstellungen von Gewalttätern und Gewaltopfern beruhen. Das Lesen von Literatur soll bei den Schülerinnen und Schüler Mitgefühl für die Gewaltopfer wecken. Durch Rollenspiele können Probleme der Gewalttätigkeit im Klassenraum spielend veranschaulicht werden. Auch lässt sich durch das Rollenspiel veranschaulichen, was „neutrale“ Schüler gegen soziale Ausgrenzung machen können. Nach dem Rollenspiel sollte eine Diskussion, die das Verhältnis zwischen Spiel und Wirklichkeit zur Sprache bringt, folgen. Des Weiteren kann auch die passive Beteiligung von Gewalt erörtert werden (die Leute, die sich schnell zum Gefolge eines Anführers machen). Hierbei müssen die Schülerinnen und Schüler verstehen, dass jeder selbst verantwortlich für sein Handeln ist und sich auch nicht aus der Verantwortung ziehen kann. Die Lehrkraft aufzuklären, wenn jemand in der Klasse gemobbt wird, wird oft als petzen verpöhnt. Deswegen muss die Lehrkraft den Schülerinnen und Schülern verdeutlichen, dass es dabei nicht um petzen, sondern um Mitgefühl mit dem Opfer und eine Pflicht zu helfen geht. 2. Klassengespräche Es ist wichtig für die Klassen, dass sie ein Forum haben, in dem sie über solche Probleme sprechen können. Um dauerhaft Ergebnisse zu erzielen, ist eine regelmäßige Überprüfung der Situation in der Klasse von Nöten. Auch können sich die Klassenregeln weiterentwickeln und die Strafen für Regelverletzungen gewählt werden. Ein Großteil des Klassengesprächs könnte den sozialen Beziehungen innerhalb der Klasse und Schule gewidmet werden. Um Vertrauen und Blickkontakt zu erzeugen, kann das Klassengespräch im Kreis stattfinden. Die Lehrkraft ist hierbei Leiter des Gesprächs. Klassengespräche sollten regelmäßig (einmal wöchentlich stattfinden), vorzugsweise am Ende der Woche (aber nicht in der letzten Unterrichtsstunde der Woche). Hier können die Ereignisse der Woche erörtern werden und Pläne für die nächste Woche gemacht werden. Dieser Wochenrückblick kann einen enormen Druck auf die Kinder ausüben, die gerne mobben. Diese Art von sozialer Kontrolle ist oft eine wirksame Methode, um das Verhalten von aggressiven Kindern zu beeinflussen. Die beiden oben beschriebenen Methoden (Klassenregeln gegen Gewalt, Klassengespräche) sind Kernbestand des Kernprogramms von Olweus. Allerdings schlägt 47

er noch weitere Maßnahmen auf der Klassenebene vor, um gegen das Problem von Gewalt vorzugehen. Im Folgenden werde ich diese kurz und knapp beschreiben: •

Kooperatives Lernen: Beim kooperativen Lernen arbeiten die Schüler in Gruppen zusammen, um eine Aufgabe zu lösen. Kinder, die sich an kooperativen Gruppen beteiligen, sind hilfsbereiter und unterstützen einander mehr.



Gemeinsame positive Klassenaktivitäten: Werden klasseninterne Aktivitäten ausgeführt, die Spaß machen, kann dies die Beziehung der Schülerinnen und Schüler untereinander positiv beeinflussen und ein Gefühl der Solidarität hervorrufen.



Zusammenarbeit Klassenelternbeirat-Lehrkräfte: In einer gemeinsamen Diskussion mit Eltern, Lehrern und Schülern können Vorschläge gefunden werden, diesem Problem entgegenzuwirken. Auch ist die enge Zusammenarbeit der Eltern und Lehrer von großer Bedeutung (vgl. Olweus 2011, S.89 ff).

5.1.4. Maßnahmen auf der persönlichen Ebene 1. Ernsthafte Gespräche mit den gewalttätigen Kinder und Opfern Weiß die Lehrkraft über Gewalttäter in ihrer Klasse Bescheid, sollte sie sofort das Gespräch zwischen den gewalttätigen Kindern und dem Opfer herbeiführen. Das Anliegen des Gespräches muss darin liegen, den Mobbern mitzuteilen, dass Mobben an der Schule nicht akzeptiert wird und dass sie damit aufhören sollen. Gibt es mehrere Mobber, sollte man die Gespräche zunächst mit ihnen einzeln ausführen und zwar in rascher Aufeinanderfolge, sodass die Mitglieder sich nicht untereinander austauschen können um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Die Lehrkraft muss damit rechnen, dass der Mobber sich aus der Situation herauszureden versuchen wird. Er wird seinen Anteil herunterspielen und die Rolle der anderen in der Gruppe hochspielen. Nach den Einzelgesprächen kann ein Gruppengespräch stattfinden. Hier sollte den Tätern klargemacht werden, dass Gewalttätigkeiten nicht geduldet werden und dass jede weitere Gewalttat bestraft wird. Hier ist es leichter für den Lehrer, wenn zuvor gemeinsame Klassenregeln gegen Gewalt aufgestellt wurden. Ein Klassengespräch kann dazu dienen, herauszufinden, ob die gewünschten Änderungen tatsächlich eintreten und von Dauer sind. Falls es nicht zu einer Verhaltensänderung der Mobber kommt, können auch Gespräche mit den/der Schulleitern/Schulleiterin oder den Eltern organisiert werden, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Das Opfer ist in der Regel ein ängstlicher und unsicherer Schüler und wird aus Angst Erwachsenen nicht von seiner Situation erzählen. Die Eltern des Opfers werden vom Opfer dazu gedrängt, mit dem Problem nicht an die Schule zu 48

treten. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass es auf lange Sicht dem Opfer schaden wird, wenn die Sache nicht ans Tageslicht kommt. Die Situation muss geklärt werden und es muss alles dafür getan werden, das Gewaltopfer zu schützen. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen der Schule und der Familie des Schülers. 2. Ernsthafte Gespräche mit den Eltern der beteiligten Schulkinder Wenn der Lehrer mitbekommt, dass ein Kind gemobbt wird, sollte er Kontakt zu den Eltern des Kindes aufnehmen. Es ist wichtig, die Eltern darum zu bitten, eng mit der Schule zusammenzuarbeiten. Auch kann es sein, dass Eltern Hilfe in dieser Situation benötigen. Hierbei kann die Schule helfen oder wenigstens den Eltern raten, an wen sie sich wenden können. Des Weiteren wäre ein Treffen erforderlich vom Lehrer, den Eltern und dem Opfer, um das Problem zu erörtern und eine Lösung dafür zu finden. Auch könnte man in Erwägung ziehen, ein gemeinsames Treffen der Eltern des Täters und des Opfers zu organisieren, falls dies möglich ist. 3. Lehrkräfte und Eltern werden pädagogisch kreativ Es ist viel pädagogische Kreativität gefragt, um als Lehrkraft jeder Situation gerecht zu werden (vgl. Olweus 2011, S.97 ff). „Zum Beispiel kann die Lehrkraft dem gemobbten Kind eine Aufgabe mit einem gewissen Wert für die Klasse stellen, die es zusammen mit einem der beliebteren Schüler oder Schülerinnen erfüllen soll, und dann das Ergebnis der Klasse vorstellen.“ (Olweus 2011, S.104) Untersuchungen ergaben, dass solche Zusammenarbeiten die Beliebtheit des weniger beliebten Schülers steigert. Die Aufgabe für das Opfer muss so gestellt sein, dass es auf jeden Fall die Aufgabe meistern kann. Kann das Opfer die Aufgabe nämlich nicht lösen, geschieht das Gegenteil (vgl. Olweus 2011, S.104). Die ersten beiden beschriebenen Punkte gehören zu dem Kernbestandteil des Kernprogramms. Der dritte, zuletzt beschriebe Punkt, ist eine weitere Maßnahme, die wünschenswert ist. Wie in jeder Ebene hat Olweus auch in dieser Ebene noch weitere Maßnahmen entwickelt: •

Diskussionsgruppen für Eltern von Gewalttätern und –opfern: Sinnvoll ist eine Teilnahme der Eltern des mobbenden und des gemobbten Kindes an Diskussionsgruppen, die von einem Therapeuten geleitet wird.



Klassen-und Schulwechsel: Falls trotz vielerlei Maßnahmen das Problem der Gewalt trotzdem besteht, ist ein Schul-oder Klassenwechsel vielleicht die einzige Lösung (vgl. Olweus 2011, S.105). 49

5.2. Die Farsta-Methode Farsta ist ein Stadtteil von Stockholm. Daher hat die Methode auch ihren Namen. Dort wurde sie entwickelt (von einem Team mit Karl Ljungström) und erfolgreich angewandt. Laut ihm ist es sinnvoll, an jeder Schule zwei bis fünf Lehrer zu haben, die sich um akute Fälle von Mobbing kümmern. In der Anti-Mobbing-Fibel wird Farsta als verdeckte Methode beschrieben. Dies wird einem im Folgenden klar (Taglieber et al. 2008, S.20). „Die Täter werden nicht geschont, sondern mit ihrer Tat konfrontiert.“ (Taglieber et al. 2008, S.20) Eine gute Vorbereitung ist erforderlich, um diese Methode anzuwenden. Die Methode ist in drei Schritte gegliedert. Im ersten Schritt erfährt die Lehrkraft von dem Mobbingfall. Zuerst spricht der Lehrer mit den Informanten. Danach befragt er das Opfer. Die Lehrkraft sollte das Opfer ermutigen und ihm Zuversicht vermitteln. Des Weiteren sollte der Lehrer genau recherchieren und alles exakt über diesen Fall wissen. Ganz wichtig bei der Methode ist, dass kein anderer von den Gesprächen mit den Informanten/Opfern erfahren darf, damit die Täter nicht vorgewarnt werden können. Der zweite Schritt beinhaltet die Organisation. Dazu gehören die Organisation eines Raumes und die Zeitplanung. Auch muss der Kollege informiert werden, dass der mobbende Schüler während des Unterrichts aus dem Klassenzimmer geholt wird. Im dritten Schritt wird der Täter überraschend aus dem Klassenzimmer geholt. Gibt es mehrere Täter, holt man diese einzeln in kurzen Abständen heraus. Das Gespräch ist laut Gesprächsbogen zu führen.

50

Abbildung 2: Gesprächsbogen zur Farsta-Methode (Taglieber et al. 2008, S.21)

51

Der Täter muss in die Verantwortung genommen werden. Der Täter wird versuchen sich zu rechtfertigen. Das dient zur Vermeidung von Schuldgefühlen und soll von der eigentlichen Tat ablenken. Diese Äußerungen muss die Lehrkraft erkennen und das Gespräch wieder auf die Tat lenken. Dabei ist es allerdings wichtig, den Täter nicht zu stigmatisieren, sondern dafür zu gewinnen, aktiver Bestandteil zur Veränderung der Situation zu werden (vgl. Taglieber et al. 2008, S.20ff).

5.3. No Blame Approach Die Methode No Blame Approach ist generell eine sanfte Methode und auch für die Grundschule passend. Sie ist gegliedert in vier Schritte. Im ersten Schritt sucht die Lehrkraft das Gespräch mit dem Opfer. Hierbei sind die Eltern zu verständigen, um das Einverständnis für das Gespräch einzuholen. Der Lehrer sollte mit dem betroffenen Kind über seine Gefühle sprechen und ihm aufzeigen, dass diese normal sind. Es sollen nicht einzelne Vorfälle besprochen werden, allerdings soll der Lehrer herausfinden, wer beim Mobbing mitmacht. Im zweiten Schritt folgt das Gespräch mit einer kleinen Gruppe. Dies kann eine Unterstützergruppe oder die ganze Klasse sein. Die Täter und die Mitläufer sind bei dem Gespräch dabei, das schikanierte Kind jedoch nicht. Der Lehrer nennt kleine Details, wie z.B. das es in der Klasse ein Kind gibt, dem es schlecht geht. „Wer weiß wen ich meine, wie glaubt ihr wie es sich fühlt?“, sind mögliche Fragen. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler können an der Tafel gesammelt werden. Im dritten Schritt muss der Lehrer die Verantwortung für das Problem auf die Klasse übertragen. Dies kann er dadurch erreichen, indem er das Einfühlungsvermögen der Klasse betont und Vorschläge verlangt zur Verbesserung der Lage in der Klasse. Der vierte Schritt beinhaltet die Nachbereitung. Nach ca. einer Woche spricht der Lehrer mit allen beteiligten Schülerinnen und Schülern einzeln. Er/Sie muss überprüfen, wie sich die Lage entwickelt hat. Und sehr wichtig ist es, allen am Prozess Beteiligten die nötige Anerkennung auszusprechen (vgl. Taglieber et al. 2008, S.24).

5.4. Schülermediatoren 5.4.1. Zur Begriffserklärung Es gibt unzählige Begriffe: Mediator, Konfliktlotsen, Kummerlöser, Streitschlichter, Peer-Mediatoren etc.(vgl. Rademacher 2007, S.19).

52

Laut Grüner, Hilt und Tilp werden diese oft analog verwendet oder vermischt. Die Gleichstellung von Streitschlichtern und Mediatoren ist irrführend und falsch. Sie beinhalten nämlich zwei unterschiedliche Konzepte. Der Schlichter übernimmt Verantwortung für den Inhalt der Konfliktbearbeitung und auch für die Lösung des Konflikts. Die Schlichtung wird beendet mit einem Schlichterspruch. Dieser kann von den Konfliktparteien abgelehnt oder angenommen werden. Dagegen trägt der Mediator die Verantwortung für die Rahmenbedingen (Gesprächsatmosphäre und Prozess der Konfliktbearbeitung). Mediation bedeutet Vermittlung, d.h. ein Mediator ist ein Vermittler und Begleiter. Am Ende der Mediation steht nicht der Schlichterspruch, sondern die eigenverantwortliche Suche der Konfliktparteien nach einer einvernehmlichen Lösung im Mittelpunkt. Im Vordergrund der Mediation steht das Training des Mitgefühls und der sozialen Kompetenz (vgl. Grüner et al. 2015, S.8).

5.4.2. Allgemeines zur Konfliktbehandlung und Mediation Schülermediation ist dafür da, Konflikte in der Schule zu klären und auch zu lösen. Die Schülerinnen und Schüler erwerben zentrale persönliche und soziale Fähigkeiten wie Perspektivenübernahme und Mitgefühl. Sie lernen die Situation mit den Augen des anderen zu sehen. Auch trainieren sie ihre Frustrationstoleranz und ihre Selbstkontrolle, da sie lernen, miteinander zu reden und nicht gleich draufzuschlagen. Des Weiteren lernen sie ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Die Schülerinnen und Schüler lernen zu verstehen, warum sie genauso und nicht anders gehandelt haben. Mediation ist Teil der Persönlichkeitsentwicklung und sollte genauso berücksichtigt werden wie Rechnen, Lesen, Schreiben. Die Schülermediation ist eine Methode, bei der Konflikte zwischen zwei oder mehreren Schüler bearbeitet werden mithilfe eines Dritten (dies sollte ein Mediatorenpaar sein). Die Mediatoren versuchen die Beteiligten zu einer Win-win-Situation zu führen, sodass es keine Verlierer gibt und die Konfliktlösung für alle Beteiligten zufriedenstellend ist. (Allerdings sollte die Schule noch andere Konzepte der Gewaltintervention-und Prävention parat haben. Denn Methoden, die bei einem Konflikt helfen, können andere wiederum verschlimmern.) (vgl. Grüner et al. 2015, S.6ff) Laut Hagedorn und Taglieber ist es wichtig, beim Konfliktmanagement auf präventive Maßnahmen, aber auch auf Grenzsetzung und Intervention vorbereitet zu sein.

53

Es gibt drei Formen, die zu Gewaltminderung führen: 1. Die präventive Konfliktbehandlung 2. Die interventive Konfliktbehandlung 3. Die kurative Konfliktbehandlung Im Folgenden werde ich auf diese drei Formen der Konfliktbehandlung eingehen: Präventive Konfliktbehandlung Diese Art von Konfliktbehandlung wirkt langfristig. Das Ziel ist es, das Einfühlungsvermögen und das Gemeinschaftsgefühl der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Leitfragen können dabei sein: Worin sind wir uns ähnlich/ Was verbindet uns etc. Es wird eine gewisse Nähe erzeugt, dadurch dass man mehr voneinander weiß. Ebenso mindert dies die Aggressionsbereitschaft. Zur erfolgreichen Prävention gehören Gespräche und Absprachen, wie man sich in Konfliktfällen verhalten kann. Dies erfahren Jugendliche durch dialogorientierte Gespräche, in denen Schüler auf einer Ebene miteinander und nicht übereinander reden. Diese sollten orientiert sein an gegenseitiger Verständigung und sie sollen Jugendlichen zeigen, dass auch im Dilemma Entscheidungen getroffen werden müssen. Hierbei sollen konstruktive Sichtweisen und soziale Kreativität entwickelt werden. Interventive Konfliktbehandlung Diese Maßnahmen wirken kurzfristig. Der pädagogische Auftrag beinhaltet, dass der nächsten Generation zu fairen Formen der Auseinandersetzung verholfen wird. Deshalb sind interventive Maßnahmen Teil des Konfliktlotsenmodells. Rechtsgüter in unserem Rechtsstaat sind: Leben, Gesundheit, Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Ehre. Allerdings ist das Freiheitsrecht in der Schule eingeschränkt. Die Schülerinnen und Schüler können nicht einfach so mal fern bleiben oder anderen aus dem Weg gehen. Die Lehrer müssen dafür sorgen, dass die Schüler sich nicht gegenseitig Gewalt und Schaden zufügen. Andreas Filtner nennt drei Bereiche, bei denen der Lehrer eingreifen sollte: •

Grenzen müssen dort gezogen werden, wo dem Individuum Gefahr droht.



Auch müssen Grenzen dort gezogen werden, wo Menschen, verletzt, geplagt, gekränkt werden.



Es gibt klare Grenzen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben erforderlich sind.

54

Zunächst müssen die Streitenden getrennt werden und durch Deeskalation in eine bessere Verfassung gebracht werden. Bei einer frühen Eskalationsstufe ist es leichter einzugreifen, als wenn es zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt. Dass Pädagogen und Konfliktlotsen intervenieren, ist vor allem in den höheren Altersstufen erforderlich, um Gefahren und Verletzungen entgegenzuwirken (vgl. Hagedorn und Taglieber 2005, S.6ff). Kurative Konfliktbehandlung „In der Gegenüberstellung von zwei oder mehreren Konfliktbeteiligten mit Hilfe eines Mittlers werden nach der Vorgehensweise, die sich Mediation nennt, die Dynamik der Gefühle und Interessen im Konflikt aufgedeckt und in die erneute Auseinandersetzung einbezogen.“ (Hagedorn und Taglieber 2005, S.10) Die Verantwortung für das eigene Tun und die Folgen für den anderen sollen geweckt werden. Bedauern und Entschuldigen sind keine Selbstverständlichkeit. Mediatoren helfen allerdings auch rückschauend zu denken und ein erweitertes Verständnis für die Konfliktentwicklung zu entwickeln. Der Mediationsprozess ist eine geregelte Verhandlungsfolge durch eine unbeteiligte Dritte Person. Diese dient als Überbrückungsleitung, in der Menschen nicht mehr allein verhandeln können (vgl. Hagedorn und Taglieber 2005, S.10).

5.4.3. Ablauf des Vorgehens des Mediators Das Setting Der Mediator sollte eine geschützte Verhandlungsumgebung organisieren (weg vom Konfliktort). Dort können sich die Beteiligten erstmal beruhigen. Die klassische Form ist, dass der Mediator und die Konfliktparteien im Dreieck sitzen. Eröffnung Der Mediator begrüßt die Beteiligten. Dies bestärkt die Streitenden in ihrer Bereitschaft, gemeinsam nach einer besseren Lösung zu suchen. Der Mediator erklärt seine Rolle in diesem Gespräch und es werden Gesprächsregeln und Ziele vereinbart. Zunächst sprechen die Streitenden nur zum Mediator. Definition des Konflikts Die Sicht beider Streitenden auf den Vorfall wird geklärt. Um eine Außenansicht dieses Konflikts zu bekommen, können Skizzen oder Figurenaufstellungen genutzt werden, in der wesentliche Streitmerkmale vermerkt sind. 55

Erhellung des Konfliktes Die Interessen und die Dynamik der Gefühle werden im aktuellen Konfliktgeschehen erfragt und gespiegelt. Das Gespräch soll kein Verhör mit dem Ziel eines Schuldeingeständnisses sein. Es sollte vermieden werden, nach dem Warum zu fragen. Dies würde zu Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen führen, statt zu einer Lösung (vgl. Hagedorn und Taglieber 2005, S.11). Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Streitschlichters, „dafür Sorge zu tragen, dass jede Partei versteht, was die andere sagt, geht es nun darum, Wahrnehmung, Gefühle, Bitte und vor allem die Bedürfnisse der einen Partei in das Bewusstsein der anderen Partei zu bringen.“ (Hogger 2007, S.132) Zusammenfassung Wenn es den Beteiligten gelingt, Verständnis für einander zu entwickeln, öffnen sich die Ventile für eine Neuregelung. Der Mediator fasst nochmals das Verlaufsfeedback zusammen. Sammlung möglicher Lösungen Die Beteiligten entwickeln Wünsche und Angebote zur Wiedergutmachung und Neuregelung. Operationalisierte Vereinbarung Können sich die „Streithähne“ auf eine Regelung einigen, versucht der Mediator diese zu operationalisieren. Es wird einen Zeitpunkt bis zur Erfolgskontrolle verabredet. Auch wird eine Vertragsunterschrift der beiden Beteiligten verlangt, bei der sie ihr Bemühen bestätigen. Erfolgskontrolle Nach der vereinbarten Zeit wird geschaut, ob die Vereinbarung tragfähig war. Dieses Verfahren benötigt Zeit (vgl. Hagedorn und Taglieber 2005, S.11f). Würde es keinen Raum für Konflikthintergründe geben, würden die Probleme nur oberflächlich gelöst werden, das heißt sie wären nicht beseitigt und würden irgendwann wieder hochkommen (vgl. Rademacher 2007,S.20). Auch werden Konflikte entschärft und Erkenntnisprozesse zur Selbst-und Fremdwahrnehmung werden in Gang gesetzt (vgl. Hagedorn und Taglieber 2005, S.12).

56

5.4.4. Vorzüge des Programms Der Einsatz von Schülerinnen und Schülern als Mediatoren bietet folgende Vorteile: •

„Die Schüler übernehmen selbst Verantwortung für die gewaltfreie Lösung von Konflikten.



Die Schüler lernen von anderen Schülern. Von ihnen können sie mitunter eher annehmen, wie man Konflikte konstruktiv lösen kann, als von Erwachsenen.



Die Schülermediatoren bilden eine sozial kompetente Peer-Gruppe.



Die Schülermediatoren haben eine Vorbildfunktion. Sie beeinflussen auch ihre privaten Peer-Gruppen positiv.



Das soziale Klima in der Schule verbessert sich. Die Zahl eskalierender und schwerer Konflikte sinkt.“ (Grüner et al. 2015, S.7)

Entscheidet sich eine Schule für Schülermediation, muss dies in das Gesamtkonzept von Prävention mit eingebunden sein, damit das Konzept erfolgsversprechend ist. Allerdings muss beachtet werden, dass nicht alle Konflikte geeignet sind für die Bearbeitung durch Schülermediatoren, vor allem wenn sie zu komplex oder zu schwerwiegend für Schülermediatoren sein können (z.B.Mobbing). Deshalb ist es von Notwendigkeit, dass es auch ausgebildete erwachsene Mediatoren an der Schule gibt, die eine professionelle Ausbildung und Begleitung der Schülermediatoren versichern können (vgl. Grüner et al. 2015, S.8).

5.5. Die Trainingsraummethode 5.5.1. Allgemeines Die Trainingsraummethode legt, wie der Name schon sagt, ihren Schwerpunkt auf den Trainingsraum. In ihm sitzen ausgebildete Trainingsraumlehrerinnen- und Lehrer. Hier finden Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler statt, denn sie sollen dort über ihr eigenes Verhalten reflektieren. Miller schlägt bei diesem Prozess drei Schritte vor: 1. Was willst du? (Schülerinnen und Schüler werden sich so ihrer Wünsche bewusst) 2. Was tust du? (Schülerinnen und Schüler übertragen ihr Wollen in eine Handlung) 3. Wie fühlst du dich? (Schülerinnen und Schüler prüfen, ob sie sich bei der Handlung wohlfühlen) Trainingsraumlehrer- und Lehrerinnen fungieren als Berater und Unterstützer. Der Zweck der Anwesenheit im Trainingsraum ist das Nach-und Durchdenken des eige57

nen Verhaltens. Die Schülerinnen und Schüler haben Zeit, über ihr Verhalten nachzudenken und werden von den Trainingsraumlehrern- und Lehrerinnen dabei unterstützt. Mithilfe des Lehrers sollen die Denkprozesse der Schülerinnen und Schüler in Gang gesetzt werden. In einer ruhigen, entspannten, vorwurfsfreien Umgebung sollen die Schüler Ideen entwickeln, wie er/sie seine/ihre Ziele erreichen kann, ohne dass dabei die Rechte der anderen Mitschülerinnen und Mitschüler verletzt werden. Der Trainingsraum ist entweder ein Klassenzimmer oder ein eigens eingerichteter Raum für die Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht stören und sich nicht an die Regeln halten. In dem Raum stehen 10-12 Einzeltische, an denen die Schülerinnen und Schüler Platz nehmen können. Der Raum ist den ganzen Schultag über mit Lehrern der Schule besetzt, die sich natürlich über den Tag hin abwechseln. Die Lehrer sprechen mit offener, respektvoller Haltung mit den Schülern, um herauszufinden, was den Schüler bewegt und was er mit seinem Verhalten beabsichtigt hat. Das Ziel dieses Gespräches liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler nicht mehr stören (vgl. Bründel und Simon 2003, S.49).

5.5.2. Ablauf des Aufenthalts im Trainingsraum Die Schülerin/der Schüler betritt den Trainingsraum nach Anklopfen und Hereinrufen des Lehrers. Im Folgenden stelle ich kurz und knapp die 14 Schritte zum Ablauf des Geschehens im Trainingsraum dar: 1. „Anklopfen und Eintreten 2. Begrüßung 3. Übergabe des ‚Laufzettels‘ 4. Schüler/in setzt sich auf einen freien Platz (je nach Situation) 5. Schüler/in signalisiert Gesprächsbereitschaft 6. Schüler/in schildert seine/ihre Sicht der Störung (erste Störung, zweite Störung) 7. Absichten/ Hintergründe erforschen 8. Absicht vom Verhalten trennen 9. Regelverstoß benennen 10. Ideen für das zukünftige Verhalten sammeln lassen 11. Plan schreiben lassen 12. Absprachen treffen über das Einholen der Hausaufgaben und Nacharbeiten des Versäumten 13. Plan kopieren 14. Verabschiedung“ (Bründel und Simon 2003, S.50) 58

Schüler und Lehrer begrüßen sich und stellen sich mit Namen vor, falls sie sich noch nicht kennen. Die Lehrkraft bittet den Schüler sich zu setzen. Anschließend soll der Schüler ein Signal geben (z.B. durch Hand heben), dass er gesprächsbereit ist. Die Schüler kommen mit unterschiedlichen Gefühlen in den Trainingsraum. Es kann sein, dass sie wütend sind und sich ungerecht behandelt fühlen. Die Schüler sollen sich beruhigen und über ihr Verhalten an einem der Tische nachdenken. Wichtig ist es, dass im Raum eine freundliche Atmosphäre herrscht, damit ein offenes Gespräch zustande kommen kann. Die Schüler sollen sich wohlfühlen und nicht das Gefühl haben, mit Vorwürfen oder Sanktionen konfrontiert zu werden. Des Weiteren gibt der Schüler dem Lehrer das Zuweisungsformular (Laufzettel). Darauf ist vom Fachlehrer die Art der ersten und zweiten Störung kurz vermerkt. Der Lehrer liest sich dieses leise durch. Der Schüler setzt sich zu dem Lehrer an den Tisch, der von den anderen Tischen weggerückt ist. Eine der Regeln im Trainingsraum ist, dass Ruhe herrscht. Wenn mehrere Schüler gleichzeitig kommen, sprechen sie nicht miteinander, sondern setzen sich an die Einzeltische. Jeder Schüler beschäftigt sich mit seinem eigenen Verhalten. Weitere sinnvolle Regeln sind, dass jeder sich bemüht, einen guten Plan zu erstellen und dass alle das Recht haben, ungestört zu arbeiten. Der Lehrer spricht nacheinander mit jedem Schüler. Die Gespräche finden in Frageform statt, denn nur dadurch kann der Lehrer herausfinden, was genau vorgefallen ist. Der Lehrer fragt nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wie und Wozu. Das, was der Schüler bewusst oder unbewusst mit seinem Störverhalten erreichen will, nennt man „kontrollierbare Variable“. Diese herauszufinden ist Ziel der Trainingsraummethode. Der Lehrer fragt nach Regeln, gegen die der Schüler verstoßen hat (vgl. Bründel und Simon 2003, S.50ff). Dieser Prozess ist angeknüpft an die Lebensweisheit „Es ist nicht möglich einen Menschen zu ändern, sondern nur, ihn darin zu unterstützen, sich selbst zu ändern“ (Bründel und Simon 2003,S.56), der Schüler soll alleine darüber nachdenken, was er tun kann, um sein Ziel, ohne stören, zu verwirklichen. Der Zukunftsaspekt ist hier sehr wichtig. Auch ist es wichtig, dass dem Lehrer vor dem Gespräch die Bereitschaft vom Schüler versichert wird, mit ihm zusammenarbeiten zu wollen, sonst sind Gespräche sinnlos. Nach diesem Ablauf lässt man die Schülerinnen und Schüler formulieren, was sie ändern wollen. Dies sollte in positiven Formulierungen geschehen und in einem Plan festgehalten werden (vgl. Bründel und Simon 2003, S.56f).

5.5.3. Gesprächsführung im Trainingsraum Das Gespräch im Trainingsraum beinhaltet die innere Auseinandersetzung um ein Thema und die Kooperation in einem Problemlöseprozess. Das Thema ist das Ver59

halten des Schülers. Die Kooperation besteht darin, dass der Lehrer den Schüler unterstützt und ihm hilft, über sein Störverhalten nachzudenken. Auch sollte der Lehrer den Schüler am Ende des Gespräches dazu bringen, sein künftiges Verhalten zu beschreiben. Diese Hilfe sollte frei von Vorwürfen, Beschuldigungen und Strafmaßnahmen sein. Die Lehrer sollten die Fähigkeit haben, auf die Schüler einzugehen und nicht parteiisch oder wertend mit ihnen umzugehen. Sie sagen den Schülern nicht, was sie zu tun haben. Dies lassen sie den Schüler selbst herausfinden. Die Aufgabe der Lehrer besteht darin, die Schüler zur Selbstreflexion und zur Übernahme von Verantwortung zu bringen. Ein sichtbares Zeichen der Verantwortung ist der am Ende des Gespräches entstandene Plan. Dieser wird von dem Schüler selbst formuliert. Die benötigte Kompetenz der Schüler besteht darin, ihr Verhalten zu beschreiben und Entscheidungen über zukünftiges Verhalten zu treffen (Beschreibungs- und Entscheidungsfähigkeit). Dies können sie nicht von alleine. Sie brauchen Hilfe, Unterstützung und Anleitung. Die Kompetenz des Lehrers besteht darin, sich auf die Schüler einstellen zu können und sie zu verstehen, aber auch das Gespräch zu leiten und zu strukturieren. Die Lehrkräfte haben zwei wichtige Aufgaben: einmal den eigenen Verstehensprozess voranzutreiben und gleichzeitig das Gespräch zu leiten.

60

Abbildung 3: Die kooperative Gesprächsführung der Trainingsraumlehrerinnen und – lehrer (Bründel und Simon 2003, S.64)

Der anzutreffende Lehrer im Trainingsraum sollte Aussagen wie diese vermeiden: •

Ach, du schon wieder. Du warst doch gerade erst hier?



Du muss lernen dich zu konzentrieren.



Du versuchst, dich um die Verantwortung zu drücken.

61

Moralisieren und Predigen hilft dem Schüler nicht weiter. Auch Analysieren und Interpretieren macht hier wenig Sinn (vgl. Bründel und Simon 2003, S.60ff.). Im Folgenden nenne ich einige „Gesprächskiller“, die den Schüler in seine Gesprächsbereitschaft verschließen: •

„Befehlen, Kommandieren, Anordnen



Warnen, Drohen



Moralisieren, Predigen, Belehren



Vorträge halten, Monologisieren



Beschimpfen, Etikettieren



Interpretieren, Analysieren, Diagnostizieren



Lächerlich machen



Verharmlosen



Nicht ernst nehmen“ (Bründel und Simon 2003, S.62)

Deswegen wird dem Lehrer nahegelegt, dass er resümiert und strukturiert und so lange nachfragt, bis er sich ein konkretes Bild von der Störungssituation in der Klasse verschafft hat. Wohlwollen und Urteilslosigkeit gegenüber dem Schüler muss in seiner Grundhaltung verankert sein (vgl. Bründel und Simon 2003, S.63).

5.5.4. Was tun bei Trainingsraumverweigerern? Die Verweigerung des Trainingsraums oder das Nicht-Mitarbeiten kommt nur sehr selten vor, da die Schüler nur die Option haben, mitzuarbeiten oder nach Hause zu gehen und am nächsten Tag nur in Begleitung der Eltern in die Schule kommen dürfen. Auch diese Schüler werden mit der Frage nach dem, was sie überhaupt möchten, konfrontiert. Es ist wichtig, dass man den Schülern die Entscheidung selbst überlässt. Natürlich sollte der Lehrer sich vergewissern, dass der Schüler die Konsequenzen der Verweigerung der Mitarbeit im Trainingsraum kennt. Schüler, die nicht einfach so nach Hause gehen können (aufgrund des Alters oder regulärer Buszeiten) verbleiben bis Unterrichtsschluss an der Schule, an einem Ort unter Aufsicht. Die Eltern hatten vor der Einführung dieses Programms die Möglichkeit, sich bei Elternabenden zu informieren oder sich schriftliche Informationen zukommen zu lassen (vgl. Bründel und Simon 2003, S.74).

6. Meine empirische Forschung 62

6.1. Qualitative Datenerhebung: Die Befragung Da der Schwerpunkt meiner Forschung „das Interview“ sein wird, werde ich zunächst diese Methode näher beschreiben, um eine Vorstellung dieser Methode zu vermitteln. Die Besonderheit an der qualitativen Befragungstechnik ist, dass der Interviewverlauf stärker vom Interviewten gesteuert wird als vom Interviewer (vgl. Bortz und Döring 2005, S.308). Charakteristisch für die offene oder qualitative Befragung ist, dass sie ohne Fragebogen oder festes Frageschema durchgeführt wird. Auch sind der Verlauf der Befragung sowie die Formulierung der Fragen vorab festgelegt (vgl. Lamnek 1995, S.43). Des Weiteren gibt es so gut wie keine Strukturierung durch den Interviewer. Er gibt nur das Rahmenthema vor und lässt den Befragten frei sprechen (vgl. Bortz und Döring 2005, S.309). Lediglich hilft der Interviewer durch Zwischenfragen weiter. Auch ist es entscheidend bei der qualitativen Befragung, auf die Art und Weise der gestellten Fragen zu achten. Hierbei wird in der Sozialforschung zwischen offener und geschlossener Frage differenziert. Unter geschlossenen Fragen werden Fragen verstanden, die vom Forscher im Vorhinein formuliert wurden und bei denen implizit in der Frageformulierung selbst oder durch die Vorgabe von Antwortkategorien außerhalb der Fragestellungen die möglichen Antworten vorgeben sind. Die Fragestellungen entsprechen der Vorstellung des Interviewers und nicht der des Befragten (vgl. Lamnek 1995, S.43f). „ Somit würde bei ihrem Einsatz eine Prädeterminierung der Forschungsergebnisse durch den Forscher erfolgen, die von der qualitativen Sozialforschung abgelehnt wird. […]. Es würde der Methodologie qualitativer Verfahren nicht entsprechen, mit geschlossenen Fragen ins Soziale Feld zu gehen.“ (Lamnek 1995, S.59) Offene Fragen hingegen sind Fragen, bei denen die Antworten des Interviewten nicht in ein bestimmtes Antwortschema eingeordnet werden muss (vgl. Lamnek 1995, S.59). Bortz und Döring beschreiben, dass offene oder halbstandardisierte Befragungen selten schriftlich durchgeführt werden, da die Probanden eher zu mündlichen Äußerungen bereit sind. Auch sind schriftliche Äußerungen weniger spontan und besser durchdacht und werden vom Respondenten als anstrengender empfunden. Dennoch sagen Bortz und Döring, dass es halbstandardisierte und offene schriftliche Befragungen zulässig sind. Bei der halbstandardisierten schriftlichen Befragung nutzt man als Technik offene Fragen ohne vorgegebene Antwortalternativen. Zu offenen schriftlichen Befragungen zählen Aufsätze und Tagebuch schreiben zu einem vorgegebenen Thema (vgl. Bortz und Döring 2005, S.309). Lamnek hingegen 63

behauptet, „daß qualitativ orientierte Befragungen praktisch ausschließlich mündlich erfolgen.“ (Lamnek 1995, S.59) Offene Befragungen sind streng genommen keine Interviews im engeren Sinne, denn das Frage-Antwort-Schema fehlt hier. Außerdem hat der Interviewer im qualitativen Interview nicht die Rolle des distanzierten Befragers. Der Interviewer soll ein engagierter, wohlwollender, emotional beteiligter Gesprächspartner für den Befragten sein. Auch sollte er die Eigenschaft haben, flexibel auf den Befragten einzugehen (vgl. Bortz und Döring 2005, S.309). Ebenso versuchen qualitative Interviews eher einem Alltagsgespräch zu gleichen als einem typischen Interview. Hier kommt der Befragte zu Wort und fungiert nicht nur als Datenlieferant. Er ist das Subjekt des Gespräches und der Forscher hält sich weitgehend zurück (vgl. Lamnek 1995, S.64). Der Interviewer kann bei der qualitativen Befragung selbst als „Erhebungsinstrument“ dienen. Gedanken, Gefühle und Reaktionen auf den Befragten werden nach dem Interview notiert. Auch dies kann mit in die Analyse eingebracht werden (vgl. Bortz und Döring 2005, S.308). Allgemein lässt sich sagen: „Qualitative Befragungen arbeiten mit offenen Fragen, lassen den Befragten viel Spielraum beim Antworten und berücksichtigen die Interaktion zwischen Befragtem und Interviewer sowie die Eindrücke und Deutungen des Interviewers als Informationsquellen. Im Unterschied dazu sind quantitative Befragungen standardisiert, fordern vom Befragten inhaltlich zugespitzte Antworten und vom Interviewer ein gleichförmiges Verhalten.“ (Bortz und Döring 2005, S.308) Es gibt eine Vielzahl von Varianten qualitativer Interviews. Dabei muss man sich die Frage stellen, nach welchen Kriterien im Untersuchungsfall eine Technik auszuwählen ist. Es gibt drei Auswahlkriterien nach Wiedemann (1987): 1. Zuerst muss geklärt werden, ob das zu untersuchende Thema im Bereich des subjektiven Erlebens repräsentiert ist und wie hoch der kognitive Zeitaufwand für den Befragten ist, da manche Erlebnisse für ihn schwer erinnerbar sein können. 2. Zeitaufwand, Rollenstruktur und Kontext des Interviews müssen für den Befragten akzeptabel sein. 3. Die Art der Datenauswertung, Dokumentation und relevante Gütekriterien sollten im Voraus geklärt werden (vgl. Bortz und Döring 2005, S.308).

64

6.2. Auswahl der Methodik und theoretischer Hintergrund Für meine Forschung habe ich mich für das Experteninterview entschieden, da ich mir dadurch erstens erhoffe, einen tieferen Einblick in die „Alltagswelt der Schule“ zu bekommen. Zweitens gehe ich davon aus, dass Experten aus der Schule, die sich schon länger mit Gewalt in Schulen und Gewaltprävention befassen, sich dazu äußern, wie die Schule in der Realität mit dieser Problematik umgeht. Um den Begriff „Experteninterview“ erklären zu können, muss man sich erst einmal darüber Gedanken machen, was ein Experte überhaupt ist. Der erste Gedanke, der einem in den Sinn kommt, ist, dass ein Experte ein Mensch ist, der über besonderes Wissen verfügt (vgl. Gläser und Laudel 2004, S.9). Man könnte ihn auch beschreiben als „Angehöriger einer Funktionselite“ (Gläser und Laudel 2004, S.9). Experteninterviews werden also gehalten mit Mitgliedern dieser Elite. Sie verfügen aufgrund ihrer Position über bestimmte über bestimmte Informationen. Allerdings kann man auch über Expertenwissen verfügen, wenn man kein hohes Tier ist, sondern z.B. wenn man alles über einen bestimmten Sachverhalt in Erfahrung bringt, weil es das eigene Hobby ist. Eine Gemeinsamkeit haben alle Experten: Sie verfügen über besonderes Wissen. Jeder Mensch verfügt über besonderes Wissen z.B. die soziale Kontexte, in denen man agiert, die Organisation, in der man arbeitet oder eigene Arbeitsprozesse, das Wohngebiet in dem man lebt, Bürgerinitiativen, in denen man mitarbeitet, oder über Veranstaltungen, an denen man teilnimmt. Nur unmittelbare Beteiligte verfügen über dieses Wissen. Aufgrund der eigenen individuellen Position und persönlicher Beobachtungen hat jeder eine besondere Perspektive auf den zu untersuchenden Sachverhalt. Wenn Sozialwissenschaftler soziale Kontexte untersuchen, aber selbst nicht diesen Kontexten angehören, benötigen sie Experten, die ihr besonderes Wissen für Untersuchungen zur Verfügung stellen. Laut Gläser und Laudel sind Experten Menschen, die ein besonderes Wissen über soziale Sachverhalte besitzen, und Experteninterviews sind eine Methode, dieses Wissen zu erschließen. Diese Art von Interviews werden zu einem ganz bestimmten Zweck eingesetzt: Mithilfe dieser Interviews soll Wissen von Experten über einen bestimmten Sachverhalt erschlossen werden. Sie sind in den Sozialwissenschaften weit verbreitet, besonders in der Soziologie und in den Politikwissenschaften. Experteninterviews haben zwei wichtige Merkmale: 1. Ein Sozialwissenschaftler will über einen bestimmten Sachverhalt Wissen erlangen, dafür befragt er den Experten. Der Experte ist nicht Objekt der Untersuchung. Er ist oder war Zeuge der uns interessierenden Prozesse. Ge65

danken, Einstellungen und Gefühle der Experten interessieren nur dann, wenn sie die Darstellungen beeinflussen, die die Experten uns von dem uns interessierenden Sachverhalt geben. 2. Experten haben eine besondere Stellung in dem sozialen Kontext, in dem wir uns bewegen (vgl. Gläser und Laudel 2004, S.9f). „Es handelt sich um Untersuchungen, in denen soziale Situationen oder Prozesse rekonstruiert werden sollen, um eine sozialwissenschaftliche Erklärung finden zu können.“ (Gläser und Laudel 2004, S.11) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Aufgabe von Experteninterviews darin besteht, dem Forscher besonderes Wissen der zu untersuchenden Situationen und Prozesse zugänglich zu machen. Des Weiteren werden Experteninterviews in Forschungen eingesetzt, in denen soziale Sachverhalte rekonstruiert werden sollen (vgl. Gläser und Laudel 2004, S.11).

6.3. Vorgehensweise in der Arbeit Der Gesamtablauf eines qualitativen Interviews beinhaltet sieben wichtige Schritte: 1. inhaltliche Vorarbeit 2. organisatorische Maßnahmen 3. Beginn des Gesprächs 4. Durchführung und Aufzeichnung des Interviews 5. Ende des Gesprächs 6. Verabschiedung 7. anschließende Gesprächsnotizen Im Folgenden werde ich auf jeden der sieben Punkte genauer eingehen. Da dies auch meine Vorgehensweise in meiner Forschung sein wird. 1. Inhaltliche Vorarbeit: Der erste Schritt beinhaltet die Festlegung des Befragungsthemas. Anschließend folgen Überlegungen zur Auswahl der Befragungspersonen. Auch muss man eine für die Forschung geeignete Befragungstechnik wählen. Ebenso sollten Interviewfragen ausformuliert werden (vgl. Bortz und Döring 2005, S.310). Klar ist, dass das Befragungsthema meiner Interviews der Titel meiner Wissenschaftlichen Arbeit ist: Aggression und Gewalt begegnen – Zivilcourage entwickeln – Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundarstufe 1. Ich selbst habe lange überlegt, wer Experte in diesem Thema sein könnte. Ich fragte mich, ob 66

es ausreicht, einen normalen Lehrer zu befragen. Durch Gespräche mit Freunden, angehenden Lehrern und schon fertig ausgebildeten Lehrern kamen mir einige Personen in den Sinn, die in der Schule arbeiten und die man aufgrund ihrer über den Unterricht hinausgehenden Tätigkeiten als Experten bezeichnen kann. Ich habe die Auswahl, einen Beratungslehrer, der für Prävention an seiner Schule (Gymnasium) zuständig ist, eine Sozialarbeiterin, die an derselben Schule arbeitet und eine externe Schulpräventionsleistern anzufragen, ob sie mit mir das Interview durchführen möchten. Da ich im Voraus nicht weiß, wie kommunikativ meine Interviewpartner/Partnerinnen sind, habe ich vorsorglich einige Leitfragen formuliert, um das Gespräch im Notfall aufrecht zu erhalten. 2. Organisatorische Maßnahmen: Zunächst sollte Kontakt zu den Interviewpartnern aufgenommen werden. Auch muss ein passender Termin abgesprochen werden. Wichtig ist auch das Zusammenstellen des Interview-Materials (Tonband, Interviewleitfaden etc.) (vgl. Bortz und Döring 2005, S.310). Da ich mich dafür entschieden hatte, dass es vielleicht spannend sein könnte, einen Mann und eine Frau zu interviewen, habe ich zuerst den Beratungslehrer kontaktiert, der mir gleich zusagte. Dieser gab mir auch nach Absprache mit der Sozialarbeiterin und der kirchlichen Jugendreferentin deren Kontakte weiter. Zuerst kontaktierte ich die Sozialarbeiterin. Da sie allerdings nicht von der Schule angestellt ist, musste ich noch ihren Chef kontaktieren. Dieser antwortete nach wenigen Tagen auf meine E-Mail, in der er sagte, dass das Thema meiner Arbeit nicht zu ihrem Arbeitsschwerpunkt gehöre. Danach kontaktierte ich auch durch eine E-Mail die kirchlich angestellte Jugendreferentin. Sie schrieb mir innerhalb einiger Stunden zurück und machte mit mir relativ spontan einen Termin aus. Danach ging ich in die Medienabteilung meiner Hochschule, um mir ein passendes Tonaufnahmegerät zu besorgen. 3. Beginn des Gesprächs: Angefangen wird mit einer gegenseitigen Vorstellung und ein wenig Small-Talk, sodass eine entspannte Atmosphäre hergestellt wird. Bei qualitativen Befragungen darf man nie auf Tonaufzeichnungen verzichten. Auch wenn manche Befragten psychologische Barrieren beim Sprechen vorm Mikrofon oder Bedenken im Datenschutz haben (vgl. Bortz und Döring 2005, S.310).

67

Bei dem Interview mit dem Beratungslehrer war kein Small-Talk nötig, da ich ihn schon ein wenig kannte. Die Atmosphäre war von Anfang an von beiden Seiten her entspannt und freundschaftlich. Er bot mir von Anfang an das „Du“ an. Auch das Diktiergerät änderte nichts daran, dass er offen mit mir sprach. Natürlich klärte ich ihn vor dem Interview über den Datenschutz auf, sodass er sich traute, ungehemmt zu reden. Da ich die Jugendreferentin der Kirche noch nicht kannte, begann unser Gespräch mit einer gegenseitigen Vorstellung. Da wir schnell merkten, dass wir aus demselben Ort kommen, war auch hier das Eis schnell gebrochen. Ebenso bot sie mir von Anfang an das „Du“ an. Wie auch schon bei dem Interview mit dem Beratungslehrer änderte das Diktiergerät nichts an unserer offenen Form des Gespräches. Auch sie klärte ich nochmals über den Datenschutz auf. 4. Durchführung und Aufzeichnung des Interviews: Die Hauptaufgabe des Interviewers ist die Überwachung und Steuerung des Gesprächsablaufs. Eigene Reaktionen und nonverbale Verhalten des Gesprächspartners sollten aufmerksam verfolgt werden. Der Interviewer ist während des Gesprächs die ganze Zeit gefordert, um weiterführende Fragen stellen zu können. Auch muss er darauf achten, dass der Interviewte nicht so weit abschweift. Der Interviewer muss die richtige Balance zwischen Eingreifen und Laufenlassen finden, um eine angemessene Interviewdauer einzuhalten. Ich bemerkte, dass ich nach beiden Interviews erschöpft war. Deshalb war es sinnvoll gewesen, dass ich die Interviews an getrennten Tagen durchführte. Während der Interviews war ich die ganze Zeit gefordert: nochmals nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe, meine Leitfragen zu stellen etc. An gedankliche Abschweifungen sind bei solch einem Interview nicht zu denken, da man sonst den Anschluss an das Gespräch verliert und nicht mehr nachfragen/nachhaken kann. So würde man Informationen verpassen, die für die Forschung vielleicht essentiell gewesen wären. 5. Ende des Gesprächs: Das offizielle Ende erfolgt durch Abschalten des Tonbandes (vgl. Bortz und Döring 2005, S.310).

68

Obwohl die Atmosphäre bei den Interviews entspannt war, fühlte ich mich erleichtert, als ich das Tonband wieder abschalten konnte. Das lag wohl daran, dass ich mich nicht mehr zu 100% konzentrieren musste. 6. Verabschiedung: Falls es Bedarf gibt, bietet man dem Versuchsteilnehmer an, ihm die Forschungsergebnisse mitzuteilen. 7. Anschließende Gesprächsnotizen: Gleich nach dem Interview sollte man sich das Interview ergänzende Notizen zur Gesprächssituation machen. Diese beinhalten Beschreibungen des Interviewpartners, der Räumlichkeiten, der Gesprächsatmosphäre, die Verfassung des Interviewers, Unterbrechungen und Nebensächlichkeiten wie Uhrzeit, Datum der Befragung (vgl. Bortz und Döring 2005, S.309 f). Gesprächsnotizen: 1. Interviewpartner Fall A: (4.11.2016/13.43 Uhr) Mein erster Interviewpartner wirkt offen und herzlich. Er wirkt sehr präsent und interessiert, wenn ich mit ihm spreche. Nachdem ich ihn über den Datenschutz aufgeklärt hatte, machte ich das Tonaufnahmegerät an und stellte meine erste einleitende Frage, nämlich wie er das Gewaltverhalten der Schülerinnen und Schüler sieht. Dies brach das Gespräch ins Rollen. Bei Fragen oder Formulierungen, bei denen er etwas nachdenken musste, fing er oft Sätze an, ohne sie zu beenden, bis er endlich die Worte gefunden hatte, die für ihn passend erschienen. Deswegen war der Zusammenhang der Sätze dennoch zu verstehen. Er stellt klar, dass das Thema umfangreich ist und nicht nur die Aufgabe von Schule sein kann, dies zu lösen. Das Interview mit ihm läuft sehr kooperativ. Störungen gab es keine, außer wenn das Diktiergerät mal wieder umgefallen ist. Unklar für mich blieb in erster Linie nichts, da er alles, was ich wissen wollte, umfangreich beantwortet hat und sogar darüber hinaus erzählt hat. 2. Interviewpartnerin Fall B: (29.11.2016/10.20 Uhr) Vor meinem zweiten Interview war ich aufgeregter als beim ersten, da ich die Person nur durch E-Mail Kontakt „kannte“. Doch wir kamen schnell ins Gespräch. Sie wirkte sehr interessiert an meinem Thema und bot mir auch gleich an, mal mit auf eine Fortbildung zu kommen. Somit war das Eis ge69

brochen und es gab auch beim Interview keine Hemmungen mehr nachzufragen von beiden Seiten. Auch über das Interview hinaus ging unser Gespräch noch weiter, was jetzt nicht unbedingt mit der Thematik meiner Wissenschaftlichen Arbeit zusammenhing. Dennoch hat sie viele Erfahrungen an Schulen gesammelt, die sehr spannend waren. Ab und zu sind Leute an uns vorbeigelaufen, die uns aber nicht wesentlich störten. Sie beantwortete mir alle meine Fragen. Auch in diesem Interview blieb keine Frage offen.

6.4. Themenbereiche und Interviewleitfaden Da mein Titel der wissenschaftlichen Arbeit eigentlich schon in drei Teile gegliedert ist, habe ich mich dazu entschieden, auch mein Interview in folgende drei Teile zu gliedern: 1. Aggression und Gewalt begegnen 2. Zivilcourage entwickeln 3. Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundastufe 1 Im ersten Abschnitt gebe ich den Interviewten die Möglichkeit zu erläutern, wo ihnen Gewalt in ihrem Berufsfeld begegnet. Spannend finde ich dabei noch den Ansatzpunkt, ob Schule auch in den Lehrern Aggressionen weckt. Im zweiten Abschnitt geht es um die Zivilcourage und was die Schule leistet, um ein Bewusstsein dafür auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu entwickeln. Der dritte Abschnitt handelt von den Handlungsstrategien und Trainingsprogrammen in der Sekundarstufe 1. Hier sollen die Interviewten erzählen, wie ihre Schule gegen Gewalt vorgeht bzw. möglicher Gewalt vorbeugt. Auch war mir wichtig, dass die Interviewten Statements zu meinen Hypothesen gaben, damit ich auch wirklich herausfinden kann, was Leute dazu sagen, die tagtäglich mit solchen Themen konfrontiert sind. Durch die Gespräche, die sich bei dem Interview entwickelten, stellte ich jedoch noch mehr Fragen als dieser Leitfaden vorweist. Deshalb ist zu beachten, dass Zwischenfragen hier natürlich nicht aufgezeigt werden, da diese auch von Interview zu Interview individuell sind. Im Folgenden soll der vollständige Interviewleitfaden vorgestellt werden:

1. Abschnitt: Aggression und Gewalt begegnen •

Wie sehen Sie das Gewaltverhalten der Schülerinnen und Schüler an ihrer Schule? Welche Formen von Gewalt kommen an ihrer Schule vor?/ Wie se70

hen Sie das Gewaltverhalten der Schülerinnen und Schülern an Schulen? Welche Formen von Gewalt haben Sie schon an Schulen erlebt? •

Wurde Ihnen oder einer anderen Lehrkraft schon einmal Gewalt von Schülerinnen und Schüler zugefügt? Wenn ja in welcher Form?/ Haben Sie schon einmal erlebt, dass einer Lehrkraft schon einmal Gewalt von Schülerinnen und Schüler zugefügt wurde? Wenn ja in welcher Form?



Was sagen Sie zu der Hypothese: „Schule ist ein Ort, der selbst Aggression und Gewalt erzeugt und nicht nur konfrontiert ist mit Gewalt von außerhalb.“



Hat die Schule in Ihnen schon einmal Aggressionen geweckt? Wie gehen Sie mit diesen Aggressionen um?

2. Abschnitt: Zivilcourage entwickeln •

Was tut Ihre Schule dafür, um auf Seiten der Schüler ein Bewusstsein für Zivilcourage zu entwickeln?/ Was tun Schulen dafür, um auf Seiten der Schüler ein Bewusstsein für Zivilcourage zu entwickeln?



Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es an Ihrer Schule, um dieses Bewusstsein zu verstärken?/ Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es an Schulen um dieses Bewusstsein zu verstärken?

3. Abschnitt: Handlungsstrategien und Trainingsprogramme in der Sekundarstufe 1 •

Geht Ihre Schule gegen Gewalt vor? Wenn ja wie?/ Wissen Sie, ob alle Schulen die sie kennen gegen Gewalt vorgehen? Wenn ja wie?



(Steht Ihre Schule geschlossen hinter dem Konzept?)



Was sagen Sie zu der Hypothese: „Gewaltprävention muss immer eingebunden sein in ein umfassendes Präventionskonzept.“



Was sagen Sie zu der Aussage: „Schule muss sich ändern. Hin zur unterstützenden Instanz. Und sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotenzials von Schülerinnen und Schüler, um Prävention leisten zu können.“

71



Was sagen Sie zu der Aussage: „Schule ist ein Ort, an dem überhaupt erst wirksam Prävention geleistet werden kann.“



Würden Sie Schule als strafende Instanz beschreiben?

Der Interviewleitfaden half mir, die Interviews strukturiert durchzuführen, und auch bei der Interpretation war er eine große Hilfe. Dadurch, dass ich mich an den Interviewleitfaden während der Interviews gehalten habe, haben beide Interviews denselben strukturellen Aufbau. Dies verhalf mir dann bei der Auswertung recht schnell, Textstellen wieder zu finden die einer gleichen Themenkatgorie angehören.

6.5. Auswertung der Interviews 6.5.1. Auswertungsmethode (nach Mayring) Die Auswertungsarbeit liegt der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring zu Grunde. Im Folgenden werde ich die Methode, die aus neun Stufen besteht, näher beschreiben, damit meine Auswertungsmethode auch für andere transparent bleibt. Die qualitative Inhaltsanalyse nach P. Mayring wurde im Rahmen eines großen Forschungsprojektes an transkribierten Protokollen offener Interviews erarbeitet. Der Ablauf ist durch eine detaillierte Beschreibung verfestigt. In der explorativen Phase sichtet der Forscher die Art des Materials. Dies verschafft ihm einen Überblick über Kategorien, die sich in den Einzelfällen charakterisieren lassen. Die Inhaltsanalyse nach Mayring ist offen für empirisch begründete Kategorien. Deswegen ist sie passend für eine qualitative Inhaltsanalyse. Weniger qualitativ an dieser Methode ist, dass Einzelfälle nicht in ihrer spezifischen Ganzheit beschrieben werden, sondern nur durch gegliederte Kategorien analytisch gefasst werden (vgl. Lamnek 1995, S.207). „Der Einzelfall wird eben doch zu einer Sammlung von Merkmalausprägungen.“ (Lamnek 1995, S.207)

Für das Vorgehen gibt es ein allgemeines Ablaufmodell, welches aus neun Stufen besteht: 72

1. Stufe: Festlegung des Materials Erstmal muss das Material definiert werden, welches der Inhaltsanalyse zugrunde liegt. Nicht alle Interviewprotokolle werden komplett ausgewertet, sondern nur Ausschnitte, die sich auf die Forschungsfrage beziehen. Also nur Textstellen, bei denen sich der Interviewpartner bewusst zum Gegenstand der Forschungsfrage äußert (vgl. Lamnek 1995, S.207). Ich werde nun die Textstellen in Fall A und Fall B auswählen, die mir Antworten auf meine Forschungsfrage geben: „Inwiefern findet Gewalt in der Schule statt und wie kann die Institution Schule diese verbeugen oder gar verhindern?“ Da ich auch erste Antworten auf meine Hypothesen bekommen habe, werde ich diese Textstellen ebenfalls berücksichtigen. Im Anhang unter „Ausgewählte Textstellen Fall A“ und „Ausgewählte Textstellen Fall B“ sind alle Textstellen in den Interviewtexten markiert, die mir Antworten auf meine Forschungsfrage und Hypothesen geben. Auch habe ich die Textstellen nach verschiedenen Unterpunkten gegliedert, um so eine sinnvolle Struktur in die Texte zu bringen, mit der ich dann weiterarbeiten kann. Mein erster Unterpunkt lautet „Formen von Gewalt“. Hierbei versuche ich herauszulesen, inwiefern Gewalt in Schulen stattfindet und in welchem Ausmaß. In der zweiten Kategorie geht es darum, wie die Schule gegen Gewalt vorgeht. Diesen Punkt habe ich noch einmal gesplittet in präventive und interventive Maßnahmen. Im vierten Unterpunkt geht es um Zivilcourage. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Schule etwas dafür tut, um auf Seiten der Schüler ein Bewusstsein für Zivilcourage zu entwickeln. Die Kategorien fünf bis acht setzen sich mit den Antworten meiner Hypothesen auseinander. Bei dem neunten Punkt, wollte ich herausfinden, ob Lehrer oder außerschule Partner unser Schulsystem als strafendes System bezeichnen würden. Jeder dieser Katergorien habe ich eine Farbe zugeteilt. Dieses Farbschema ist durchgehend wieder zu erkennen (s.Tabelle 1). Im Anhang unter „Bearbeitetes Interview Fall A“ und „Bearbeitestes Interview Fall B“ sind die ausgewählten Textstellen in den Interviews ebenfalls in diesem Farbschema markiert. Dies dient zu Wiederauffindung der passenden Textstellen in den Interviews. Des Weiteren wurde Anhang unter „Tabelle zur Analyse des Ma73

terials Fall A/ Fall B“ dasselbe Farbschema verwendet. All diese Dokumente sind im Kapitel 10.3 „Arbeitsmaterial zum Interpretieren der Interviews“ wiederzufinden.

1. Formen von Gewalt 2. Prävention 3. Intervention 4. Zivilcourage 5. Antworten zu Hypothese 1 6. Antworten zu Hypothese 2 7. Antworten zu Hypothese 3 8. Antworten zu Hypothese 4 9. Schule als strafende Instanz Tabelle 1: Meine Kategorien + Farbschema

2. Stufe: Analyse der Entstehungssituation Es werden Informationen über den Entstehungszusammenhang des Interviewprotokolls gesammelt. Dazu gehören: •

Eine Liste der beim Interview anwesenden Personen.



Der emotionale und kognitive Handlungshintergrund des Befragten.



Der soziokulturelle Rahmen.



Die Beschreibung der konkreten Erhebungssituation (vgl. Lamnek 1995, S.207).

Fall A: Beratungs-und Präventionslehrer am Gymnasium Am 4.11.2016 hatte ich ein Interview mit einem Beratungs-und Präventionslehrer an einem Gymnasium, der auch für die Schülerstreitschlichter an seiner Schule zuständig ist. Er selbst beschreibt seine Schule als eine nicht bürgerliche Schule. An der Schule sind Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen sozialen Schichten und auch viele Schüler mit Migrationshintergrund. Auf 13.00 Uhr ging ich an diesem Freitag in die Schule meines Interviewpartners, um mit ihm das Interview durchzuführen. Nach der Begrüßung am Eingang des Lehrerzimmers gingen wir in sein Büro, da es dort ruhiger war. Um 13.23 Uhr begannen wir mit dem Interview. Durchgehend waren wir 74

beide die einzigen anwesenden Personen während der Durchführung des Interviews. Vor dem Interview mit ihm war kein Small-Talk nötig, da ich ihn schon ein wenig kannte. Die Atmosphäre war von Anfang an von beiden Seiten her entspannt und freundschaftlich. Er bot mir von Anfang an das „Du“ an. Auch das Diktiergerät änderte nichts daran, dass er offen mit mir sprach. Natürlich klärte ich ihn vor dem Interview über den Datenschutz auf, sodass er sich traute ungehemmt zu reden. Fall B: Jugendreferentin der Kirche Am 29.11.2016 hatte ich ein Interview mit einer kirchlich angestellten Jugendreferantin. Sie ist in der Jugendarbeit tätig und organisiert die Zusammenarbeit mit den Schulen. Sie bietet für Schulen Präventionstage an oder Fortbildungen für bestimmte Präventionsprogramme. Der Kontakt zu ihr hat mir Fall A ermöglicht, der schon einige Male mit ihr zusammengearbeitet hat. Ich schrieb ihr eine E-Mail, ob sie Zeit und Lust hätte auf ein Interview mit mir. Sie antwortete sehr schnell und es kam relativ spontan ein Termin zustande. Wir trafen uns an diesem Dienstag um 10.00 Uhr an einem ausgemachten Ort. Auch sie bot mir gleich das „Du“ an. Da wir einen Raum brauchten, der relativ ruhig ist gingen wir zusammen ins Dekanat. Auf dem Weg ins Dekanat hielten wir ein bisschen Small-Talk. Ich war erleichtert, da die Frau sehr symphatisch und gesprächig wirkte, was eine sehr gute Vorraussetzung für mein Interview war. Angekommen im Dekanat setzten wir uns in den Eingangsbereich an einen Tisch. Natürlich sind manchmal Leute an uns vorbeigelaufen, aber das hat uns nicht weiter gestört. Ich klärte sie nochmal über den Datenschutz auf, was ich allerdings schon in der E-Mail erwähnt hatte, und stellte das Aufnahmegerät auf. Auch sie zeigte keine Hemmungen, vor dem Diktiergerät zu sprechen. 3. Stufe: Formale Charakterisierung des Materials Hier ist zu beschreiben, in welcher Form das Material vorliegt. Auch Tonaufnahmen müssen schriftlich in ein Protokoll umgewandelt werden (vgl. Lamnek, S.207f.). Tonaufnahmen müssen verschriftlicht werden, bevor sie Interpretiert werden können. In einem Transkript findet sich nicht nur der Interviewtext. Auch informiert er über besondere Merkmale des Gesprächsverlaufs (Tonhöhe, Pause etc.). Diese besonderen Merkmale sind wichtig für die spätere Interpretation. Nonverbale und paraverbale Äußerungen werden durch festgelegte Transkriptionszeichen deutlich (vgl. Bortz und Döring 75

2005, S.312).

Abbildung 4: Transkriptionszeichen (Bortz und Döring 2005, S.312)

Wie schon oben erwähnt, habe ich die Interviews mit einem Diktiergerät aufgenommen (siehe CD). Damit ich die Interviews interpretieren kann, habe ich beide Interviews vollständig transkribiert (s. Anhang Kapitel 10.2) und mit festgelegten Transkriptionszeichen (s. Abb. 4) gekennzeichnet. 4. Stufe: Richtung der Analyse Das zugrunde liegende Material wird in den ersten drei Stufen beschrieben. Nun muss man sich die Frage stellen, was man überhaupt aus dem Interview herausinterpretieren möchte? Die Analyse kann gerichtet sein: •

auf den Gegenstand des Protokolls (auf das Thema)



oder auf emotionale oder kognitive Befindlichkeiten des Kommunikators



oder auf die durch den Text repräsentierten Handlungen



oder auf Wirkungen der Äußerungen auf einen potenziellen, zur Zielgruppe gehörenden Rezipienten (vgl. Lamnek 1995, S.208).

Nun muss ich mich entscheiden, in welche Richtung meine Interpretation gehen soll. Da meine Forschungsfrage ja von Anfang an feststand, werde ich mich auf diejenigen Textstellen beziehen, die mir Antworten auf meine Thematik geben. 76

5. Stufe: Theoriegeleitete Differenzierung der Fragestellung Die Fragestellung muss vor der Analyse genau geklärt werden (vgl. Lamnek 1995, S.208). Wie schon in der Kategorie vier erwähnt, war meine Forschungsfrage von Anfang an klar. Um diese nochmals zu unterstreichen, entwickelte ich Hypothesen, die ich mit in das Interview einbrachte. 6. Stufe: Bestimmung der Analysetechnik Es muss eine Entscheidung getroffen werden über das zu verwendete Interpretative Verfahren (vgl. Lamnek 1995, S.208). Hier habe ich mich für das inhaltsanalytische Vorgehen der Zusammenfassung entschieden, das in Stufe acht noch näher beschrieben wird. 7. Stufe: Definition der Analyseeinheit Anhand des gewählten Verfahrens werden Textteile des Interviewprotokolls bestimmt. Diese sollen dann im nächsten Schritt ausgewertet werden (vgl. Lamnek 1995, S.208). 8. Stufe: Analyse des Materials Es gibt drei grundlegende inhaltsanalytische Analyseverfahren. Diese beinhalten die Zusammenfassung, die Explikation und die Strukturierung (vgl. Lamnek 1995, S.208f.). Im Folgenden werde ich diese drei Analyseverfahren näher beschreiben: •

Zusammenfassung: „Ziel der Analyse ist es, das Material so zu reduzieren, daß die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist“ (Mayring 1988, S.53 in Lamnek 1995, S.209). Durch Auslassungen, Generalisierungen, Konstruktionen, Integrationen, Selektion und Bündelungen werden abstrakte Aussagen gewonnen. Diese paraphrasieren das ursprüngliche Material (vgl. Lamnek 1995, S.209).



Explikation als Kontextanalyse: „Zu einzelnen interpretationsbedürftigen Textstellen wird zusätzliches Material herangezogen, um diese zu erklären, verständlich zu machen, zu erläutern, zu explizieren“ (Mayring 1988, S. 68 in Lamnek 1995, S.210). Dies dient der Erläute77

rung von Textstellen, bei denen sich die Interviewpartner unverständlich ausgedrückt haben. Es gibt zwei verschiedene Quellen für unverständliche Textstellen: entweder aus anderen Stellen der Protokolls (enge Explikation) oder aus der Stufe 2, den protokollierten Informationen über Interviewpartner und Erhebungssituationen (weite Explikation) (vgl. Lamnek, S. 210f.). •

Strukturierung: „ Diese wohl zentralste inhaltsanalytische Technik hat zum Ziel, eine bestimmte Struktur aus dem Material herauszufiltern“ und „unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen.“ (Mayring 1988, S.75 in Lamnek 1995, S.213) Es kann die innere Struktur herausgefiltert werden (formale Strukturierung). Auch kann Material zu bestimmten Inhaltsbereichen zusammengefasst werden (inhaltliche Strukturierung). Des Weiteren können einzelne markante Ausprägungen im Material gesucht werden (typisierende Strukturierung). Ebenso kann auch Material nach Dimensionen in Skalenform eingeschätzt werden (Skalierende Strukturierung) (vgl. Lamnek 1995, S. 213).

In der Stufe 1 habe ich schon mal die Textstellen herausgesucht, die für die Beantwortung meiner Forschungsfrage wichtig sind. Auch habe ich durch meine Gliederung den Texten eine gewisse Struktur gegeben. Diese Struktur werde ich beim Zusammenfassen beibehalten. Da ich mich für das Analyseverfahren der Zusammenfassung entschieden habe, werde ich das Material versuchen so zu reduzieren, dass die wichtigen Inhalte übrig bleiben. Im Anhang befindet sich unter „Arbeitsmaterial zum transkribieren der Interviews Fall - Bearbeitetes Interview Fall A“ und „ Bearbeitetes Interview Fall B“ (s. Kapitel 10.3) die verschriftlichte Befragung. Diese Befragung habe ich als Arbeitshilfe genommen. Hinter den markierten Textstellen, die ich in Stufe 1 herausgefiltert habe, stehen Ziffern (1,2 3 etc.). In den folgenden Tabellen (s. Anhang „Tabelle zur Analyse Fall A“ und „Tabelle zur Analyse Fall B“) stehen unter der Spalte „Nr.“ Zahlen. Diese Zahlen sind hinter den markierten Textstellen in meinem Arbeitsmaterial (s. Anhang „Bearbeitestes Interview Fall A“ und „Bearbeitetes Interview Fall B“) wiederzufinden, so dass nachvollziehbar ist, in welchem Teil des Interviews diese Aussagen wiederzufinden sind. Diese Tabellen zur Analyse zeigen mein 78

Vorgehen mit dem Ziel, die wichtigsten Inhalte aus den Texten zu holen. Ich habe wichtige Textstellen paraphrasiert, generalisiert und reduziert, um den Text wirklich nur auf die wichtigsten Inhalte zu begrenzen. 9. Stufe: Die Interpretation Die Ergebnisse werden interpretiert. Die individuellen Darstellungen der Einzelfälle sollen fallübergreifend generalisiert werden, um zu einer Gesamtdarstellung zu gelangen (vgl. Lamnek 1995, S.213ff.). Die Inhaltsanalyse nach Mayring lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: •

In der explorativen Phase sichtet der Forscher sein Material. Danach legt er ein System von Kategorien fest, nach denen er sein Material untersucht.



Die Aussagen der interviewten Personen werden durch die Techniken Zusammenfassen, Explikation und Strukturierung herausgearbeitet und den passenden Kategorien zugeordnet.



Zur Charakterisierung der Einzelfälle dient eine spezifische Merkmalskombination.



Zuletzt müssen die Einzelfalldarstellungen fallübergreifend generalisiert werden (vgl. Lamnek 1995, S.218)

Nach diesem Schema habe ich die Äußerungen der interviewten Personen nacheinander analysiert und interpretiert, um sie dann fallübergreifend generalisieren zu können. Dies ist unter der Überschrift „ Auswertung der Interviews“ wiederzufinden. Auf Wunsch aller Interviewten werde ich keine Namen nennen. Um die Daten in schriftlicher Form zur Verfügung zu haben, wurden alle Gespräche in voller Länge transkribiert (siehe CD im Anhang).

6.5.2. Auswertung der Interviews 6.5.2.1. Auswertung des Interviews Fall A Zur Person: In Fall A handelt es sich um einen 50-jährigen Gymnasiallehrer, der an seiner Schule als Beratungs- und Präventionslehrer tätig ist. Formen von Gewalt an seiner Schule: 79

Er beschreibt, dass es an seiner Schule Vandalismus, physische und verbale Gewalt gibt. Der Vandalismus bezieht sich vorallem auf die Sachzerstörung im Klassenzimmer. Die verbale Gewalt kann sich gegen andere Schüler oder Lehrkräfte richten. Sie äußert sich häufig durch Demütigungen oder Beleidigungen. Einer Lehrkraft an seiner Schule wurde zum Beispiel verbale Gewalt zugefügt, in dem sie mit Antisemitismus konfrontiert wurde. Des Weiteren gibt es auch Mobbing an der Schule. Physische Gewalt äußert sich an seiner Schule nur gegen andere Schüler. Diese ist sichtbar durch z.B. Stumpen und Schlägereien. Hier ist klar erkennbar, dass an der Schule von Herrn A alle gängigen Formen von Gewalt vorkommen, auf die ich auch schon in meiner Wissenschaftlichen Arbeit eingegangen bin. Das Gewaltverhalten der Schüler an seiner Schule würde ich als „normal“ beschreiben. Da meiner begrenzten Erfahrung nach jede mir bekannte Schule mit diesen Problemen zu kämpfen hat. Präventionsarbeit an seiner Schule: Eine präventive Maßnahme der Schule gegen Gewalt ist das Konzept der Schülerstreitschlichter. Die Streitschlichter sind ausgebildete Schüler aus den Klassen 9 bis zur Jahrgangsstufe 1 (Klasse 11) und für die Klassen 5-8 zuständig. Die Streitschlichter werden von auswärtigen Experten an der Schule ausgebildet. In den Anfangszeiten des Projekts waren die Streitschlichter in den Pausen für die anderen Schüler in einem Streitschlichterzimmer erreichbar. So kamen im Normalfall 2-3 Schlichtungen im Jahr zustande. Deshalb sorgte Herr A für eine Änderung. Er ordnete jeder Klasse eine bestimmte Anzahl von Streitschlichtern zu (klassenbezogene Streitschlichter). Die Streitschlichter sollen mit Besuchen in der ihnen zugeordneten Klasse ein Vertrauensverhältnis zu den Schülern aufbauen. Für Herr A. gehört dieses Streitschlichterkonzept zur Gewaltprävention, denn das Lösen von Konflikten beugt Gewalt vor. Herr A. wirkt sehr engagiert, dieses Programm aufrechtzuerhalten. Auch ist ihm als Lehrkraft hoch anzurechnen, dass er notwendige Änderungen in diesem Programm durchsetzt, damit es an seiner Schule Erfolg hat. Hierbei zeigt er eine hohe Flexibilität, sich in Situationen immer noch dynamisch zu bewegen, in denen er merkt, dass etwas nicht so gut funktioniert. Interventionsarbeit an seiner Schule: Die Schule von Herrn A. löst schwere Fälle von Gewalt disziplinarisch. In den Schulregeln der Schule ist beschrieben, dass die Schule Gewalt nicht toleriert. Die Schulleitung und der Klassenlehrer entscheiden über das Verfahren bei schweren punk80

tuellen Fällen. Bei Mobbingfällen hingegen können Experten von außerhalb oder der Beratungslehrer oder die Sozialarbeiterin mit eingebunden werden, denn sie können nach Auswahl einer Methode professionell reagieren. Hier ist zu erkennen, dass die Lehrer doch oft bei Problemschülern versuchen, selbst eine Lösung zu finden, oder eben die Schulleitung mit einbeziehen. Dadurch dass in den Schulregeln beschrieben ist, dass die Schule Gewalt nicht toleriert, haben die Lehrer und die Schulleitung einen Regelapparat, mit denen sie ihre Entscheidungen im Umgang mit Problemschülern begründen können. Der Beratungslehrer oder die Sozialarbeiterin können die Klassenlehrer bei Mobbingfällen professionell unterstützen. Dies kann bei Nutzen dieses Angebotes eine Erleichterung auf Seiten der Klassenlehrer auslösen, nicht mit dieser Situation alleine zu sein. Zivilcourage entwickeln: Herr A. erklärt, dass seine Schule in der Verpflichtung steht, etwas für das Bewusstsein für Zivilcourage zu machen, da sie „Schule gegen Rassismus und Schule mit Courage“ ist. Dennoch erklärt er, dass oft auch nichts an Förderung in diesem Bereich geschieht. Das größte Problem sieht er darin, dass Schüler nicht zwischen Petzen oder etwas Melden unterscheiden können. Für ihn ist ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Schülern die Basis, um überhaupt Zivilcourage entwickeln zu können. In seinen Augen darf die Schule auch nicht überfordert werden, denn es ist schon schwierig, ein Programm am Laufen zu halten. Er weist noch einmal darauf hin, dass die Streitschlichter an seiner Schule ausbildetet werden, couragiert zu handeln. Die Aussage von Herrn A., dass oft nichts für die Förderung in diesem Bereich getan wird, rechne ich ihm hoch an. Daran merkte ich, dass wir auf einer ehrlichen Basis miteinander sprachen und er nicht versuchte seine Schule in einen „schönen Schein“ zu stellen. In diesem Abschnitt und auch in dem Abschnitt, in dem es um die Streitschlichter geht, ist zu erkennen, dass er es für notwendig hält, eine Vertrauensbasis zu den Schülern aufzubauen. In diesem Abschnitt schützt er die Institution Schule vor der Überforderung von Bildungsaufträgen, da dies den Zeitrahmen, das Deputat der Lehrer überschreiten würde.

Antwort auf Hypothese 1: „Schule ist ein Ort, der selbst Aggression und Gewalt erzeugt und nicht nur konfrontiert ist mit Gewalt von außerhalb.“ Herr A. stimmt dieser Hypothese zu. Er ist der Meinung, dass Schule Gewalt und Aggression erzeugen kann. Der Grund dafür ist, dass Schule ein strafendes System 81

ist und dies kann zu einem Frust- und Ungerechtigkeitsgefühl führen. Er sagt, dass Schule sich weg von der strafenden zur beratenden Schule entwickeln müsste, um etwas an dieser Situation zu ändern. Auch betont er, dass Schule in den Lehrern Aggressionen hervorrufen kann. Hier gibt er als Lösungsvorschlag, dass Schule weg müsste von der starken Hierarchisierung. Sogar die Schulleitung hat in seinen Augen in diesem System zu viel Macht. Hier ist zu erkennen, dass Herr A. ganz klar und ehrlich über die Insitution Schule spricht. Denn für viele ist die Schule ein Ort, an dem die Kinder geschützt sind vor Gewalt und Aggressionen. Das sieht Herr A. allerdings anders. Des Weiteren ist zu erkennen, dass Herr A. selbst ein wenig von dem System Schule frustriert ist. Es scheint mir, als fühlt er sich von der Hierarchisierung im Schulsystem unterdrückt. Den Begriff „Hierarchisierung“ kommt nämlich des Öfteren im Interview vor. Es scheint mir so, als würde sich Herrn A. manchmal ohnmächtig in diesem System fühlen. Auch die Ausssage, dass die Schulleitung zu viel Macht hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass Herr A. vielleicht schon mal nicht so gute Erfahrungen mit Schulleitungen gemacht hat. . Antwort auf Hypothese 2: „Gewaltprävention muss immer eingebunden sein in ein umfassendes Präventionskonzept.“ Auch dieser Hypothese stimmt Herrn A. zu, dass Prävention ganzheitlich gesehen werden muss, da die Themen ineinander übergreifen. Hier zeigt sich, dass Herrn A. über den „Tellerrand“ hinausschauen kann. Er sagt, Gewaltprävention, Suchtprävention, Gesundheitsförderung etc. geht alles ineinander über. Herr Kunzmann beitzt die Fähigkeit, diese Themen als Ganzes zu sehen und nicht nur seinen Blick auf eines dieser Themen zu richten. Antwort auf Hypothese 3: „Schule muss sich ändern. Hin zur unterstützenden Instanz. Und sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotentials von Schülerinnen und Schüler, um Prävention leisten zu können.“ In dieser Hypothese sieht Herr A zwei Teile. Der erste Teil ist „ Schule muss sich ändern. Hin zur unterstützenden Instanz.“ Der zweite Teil bezieht sich auf „Und sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotentials von Schülerinnen und Schülern, um Prävention leisten zu können.“ Auch diesen beiden Teilen der Hypothese stimmt Herr A. zu. Beim ersten Teil betont er nochmal, dass Schule weg muss von der hierarchischen Form und dass die Schüler eher begleitet werden sollen und das beratend. Zum zweiten Teil der Hypo82

these sagt er, dass die Schüler mit dem Thema Gewalt konfrontiert werden müssen, um sie dafür zu sensibilisieren. Hier betont Herr A. ganz klar wieder die hierarchische Form der Schule, wobei man wieder auf seine möglichen Frusterfahrungen in diesem hierarchichen System schließen kann. Die Aussage, dass Schüler eher begleitet werden sollen und das beratend, zeigt noch einmal auf, dass Herr A. auf die Vertrauensbasis zwischen Lehrern und Schülern viel Wert legt. Hypothese 4: „Schule ist ein Ort, an dem überhaupt erst wirksam Prävention geleistet werden kann“ Diese Hypothese habe ich bei Herrn A. leider vergessen zu erwähnen. Somit gibt es von Herrn A. hierüber keine Aussage. Schule als strafende Instanz: Herr A. stimmt diesem Satz zu, dass Schule eine strafende Instanz ist. Die letzte Maßnahme der Schule ist immer strafend/ dispziplinierend. Der Grund dafür sagt er, sei die Hierarchisierung des Systems. In dem System Schule gebe es Mächtigere und Ohnmächtigere, ein Lehrer habe Macht über seine Schüler, die Schulleitung habe Macht über die Lehrer etc. Werde die Ordnung vom Ohnmächtigeren gestört, habe der Mächtigere die Macht ihn zu bestrafen. Zusammenfassung Fall A: Herr A. ist ein engagierter Lehrer, der trotz seiner langjähirgen Schulerfahrung flexibel in seinem Beruf ist. Er schafft es Präventionprogramme so zu ändern, dass sie an seine Schülerschaft angepasst sind. Er reflektiert Präventiosprogramme und ändert sie gegebenfalls. Er betreut das Streitschlichterprogramm an seiner Schule. An Herr A.‘s Schule kommen alle gängigen Formen von Gewalt vor. Bei punktuellen Gewaltvorfällen versuchen die Klassenlehrer und die Schulleitung selbst eine Lösung zu finden. Oft werden diese disziplinarisch gelöst. Bei dieser Entscheidung können sich die Schulleitung und die Lehrer auf Schulregeln beziehen, um ihre Maßnahme auch begründen zu können. Denn in den Schulregeln ist festgemacht, dass die Schule Gewalt nicht toleriert. Bei Mobbingfällen kann der Klassenlehrer sich Unterstützung bei dem Beratungslehrer oder der Sozialarbeiterin holen. Dies kann für ihn auch eine Erleichterung sein, denn sie können die Situation professionell lösen. Herr A. sagt, dass für die Förderung von Zivilcourage oft nichts gemacht werde Konjunktiv wegen indirekter Rede, habe ich weiter unten und oben auch schon verbes83

sert). Hierbei schätze ich ihn für seine Ehrlichkeit. Des Weiteren sagt er allerdings auch, dass man die Insitution Schule nicht mit Bildungsaufträgen überladen solle, denn es sei schon schwer, ein Programm am Laufen zu halten. Oft spricht Herr A. in seinem Interview von der Hierarchisierung im Schulsystem. Er selbst wirkt von diesem System frustriert. Es scheint mir, als fühlt er sich in diesem System manchmal ohnmächtig und unterdrückt. Auch ist aus dem Interview darauf zu schließen, dass er schon einmal schlechte Erfahrungen mit der Schulleitung gemacht haben könnte. Herrn A. gelingt es, ein weites Blickfeld beim Thema Gewaltprävention zu entwickeln. Denn er ist der Meinung, dass man Prävention im Ganzen sehen muss, da die Themen ineinander übergehen. Auch arbeitet Herr A. sehr viel mit Vertrauen. Eine gewisse Vertrauenbasis zwischen Lehrern und Schülern ist ihm wichtig.

6.5.2.2. Auswertung des Interviews Fall B Zur Person: In Fall B handelt es sich um eine ca. 40-jährige kirchliche Jugendreferentin. Sie ist in der Jugendarbeit tätig und organisiert auch die Zusammenarbeit mit Schulen. Formen von Gewalt an Schulen: Fall B beschreibt, dass sich Gewalt gegen andere Schüler an Schulen verbal, physisch oder psychisch äußert. Sie betont allerdings, dass der Hauptfokus auf der verbalen Gewalt liegt. Hierbei wissen die Schüler nicht, dass verbale Gewalt auch schon Gewalt ist. Physische Gewalt geschieht dann, wenn die Schüler verbal nicht weiterkommen. Auch psychische Gewalt ist an Schulen wiederzufinden. Hier ist Mobbing eine gängige Form von physischer Gewalt. Bei der Frage, ob sie schon einmal mitbekommen hätte, dass Schüler Gewalt gegen Lehrer ausüben, antwortete sie mit nein. Sie sagte allerdings, dass sie es nur andersherum erlebt hätte, dass Lehrer sich über die Auswirkung ihrer Sprache oft nicht im Klaren seien und so verbale Gewalt gegenüber Schülern ausüben. In ihr hat die Instanz Schule noch nie Aggressionen ausgelöst, wenn dann nur einzelne Personen. Auch sie bekommt in ihrem Beruf die gängigen Formen von Gewalt an Schulen mit. Interessant ist es, dass die Schüler ihr erzählen, dass Lehrer verbale Gewalt gegen Schüler ausüben. Wahrscheinlich ist es für Schüler einfacher mit außerschulischen Vertretern über ein solches Problem zu sprechen als mit anderen Lehrern an ihrer Schule. Das gegenüber Lehrern Gewalt ausgeübt wird, hat sie noch nicht mitbekommen, das liegt wohl daran, dass sie kein Teil der Lehrerschaft ist und interne 84

Schulinformationen ihr auch oft verborgen bleiben. Auch hat Schule in ihr noch nie Aggressionen ausgelöst. Hier sagt sie aber selbst, dass sie nicht in diesem System Schule drin ist und jederzeit wieder gehen kann, wenn sie will. Diese Möglichkeiten hat ein Lehrer natürlich nicht. Präventionsarbeit an Schulen: Die evangelische Kirche bietet verschiedene Präventionsprogramme für Schulen an. Dies ist sehr gefragt bei den Schulen. Sie können nicht mal allen Anfragen zusagen. Dies zeigt, dass auf Seiten der Schulen auf jedenfall ein Bewusstsein für das Gewaltproblem da ist. Zum Beispiel bieten sie Streitschlichtung oder Projekttage an Schulen an. Aber auch Fortbildungen für ausgebildete Streitschlichter, damit sie selbst einmal Projekttage leiten können. Interventionsarbeit an Schulen: In diesem Bereich bietet die Kirche nichts an, da die Vertreter nicht dauerhaft an den Schulen sind. Zivilcourage entwickeln: Auch Zivilcourage ist ein Thema in den Programmen der evangelischen Kirche. Sie taucht mal mehr oder weniger auf. Aber sie bieten auch ein Programm an namens Friedensstifter, bei dem der Hauptfokus auf der Zivilcourage liegt. Hier ist klar zu erkennen, dass der Zusammenhang zwischen Zivilcourage fördern und Gewaltprävention auf Seiten der Kirche erkannt wurde. Dies sind auch für mich zwei Themen, die ineinander übergehen und eigentlich nicht zu trennen sind. Antwort auf Hypothese 1: „ Schule ist ein Ort, der selbst Aggression und Gewalt erzeugt und nicht nur konfrontiert ist mit Gewalt von außerhalb.“ Fall B stimmt dieser Hypothese zu. Sie sagt, dass die Schule ein sehr geschlossenes System und eine Zwangsgemeinschaft sei. Zwangsgemeinschaften schaffen Konflikte. Um dies zu ändern, müsste die Schule offener, mit Partizipationsmöglichkeiten aufgebaut sein. Fall B erwähnt hier, dass Schule eine Zwangsgemeinschaft ist. Diesen Aspekt empfinde ich als sehr wichtig, da er oft außer Acht gelassen wird. Die Schüler müssen in die Schule gehen, die Schüler dürfen sich ihre Mitschüler und Lehrer nicht aussuchen. Die Schüler werden eigentlich gezwungen in eine Institution zu gehen, in der sie sich vielleicht gar nicht wohlfühlen. Sie werden gezwungen mit anderen Menschen tagtäglich zusammen zu sein, die sie vielleicht gar nicht mögen. Natürlich 85

entstehen da Konflikte. Schüler können auf die Institution, die Lehrer oder die Mitschüler aggressiv reagieren. Fall B kritisiert das System Schule hier nicht nur, sondern sie gibt auch einen Lösungsvorschlag, was ich meines Achtens sehr fortschrittlich finde. Die Schule müsste für die Schüler offener gestaltet sein und diese müssten mehr Möglichkeiten haben an der Schulgestaltung/am Schulleben aktiv teilzunehmen. Antwort auf Hypothese 2: „Gewaltprävention muss immer eingebunden sein in ein umfassendes Präventionskonzept.“ Auch dieser Hyptothese stimmt Fall B zu. Die Schule muss geschlossen hinter dem Präventionskonzept stehen, sonst macht es nicht viel Sinn. Viele Lehrer sagen auch, wir brauchen kein Präventionskonzept, da sie das klassenintern alleine regeln wollen. Es kann eine Zeit lang dauern, bis so ein Konzept vollständig an der Schule angekommen ist. Das Programm muss von unten mitwachsen, das heißt die Schulleitung, die Lehrerschaft muss überzeugt werden und mitziehen und die Schüler müssen auch erstmal in das Konzept hineinwachsen. Hier ist interessant, dass Prävention nur sinnvoll ist, wenn alle mitziehen. Hierbei ist auch zu erkennen, ob die Lehrerschaft dazu fähig ist, miteinander zusammenzuarbeiten und zu kooperieren, damit so etwas funktioniert. Daher könnte man im Umkehrschluss folgern, dass funktionierende Präventionsarbeit auf eine funktionierende Lehrerschaft schließen lässt. Dies ist natürlich auch wichtig für ein positives Gesamtklima an der Schule. Auch ist die Aussage, dass es eine Zeit lang dauert, bis solch ein Konzept an der Schule ankommt, sehr bemerkenswert, da wahrscheinlich viele erwarten, dass man den Erfolg von heute auf morgen erkennt. Hierbei ist es wichtig, dass die Lehrerschaft gemeinsam durchhält, bis ein Erfolg zu erkennen ist. Antwort auf Hypothese 3: „Schule muss sich ändern. Hin zur unterstützenden Instanz. Und sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotentials von Schülerinnen und Schüler, um Prävention leisten zu können.“ Anhand des Gesprächsverlaufs war zu erkennen, dass Fall B zwei Teile in dieser Hyphothese sieht. Sie beantwortete nämlich erst den einen Satz und dann den anderen und zwar getrennt voneinander. Der erste Teil war „Schule muss sich ändern hin zur unterstützenden Instanz“ und der zweite Teil war „Sie muss die Schülerinnen und Schüler hinführen zu einem Bewusstsein des Gewaltpotentials von Schülerinnen und Schülern um Prävention leisten zu können“. Dem ersten der Teil der Hypothese stimmte sie zu. Sie sagte, dass Schule sich nach außen hin, gesellschaftlich 86

öffnen müsste. Der Grund dafür ist, dass Schule heute nicht mehr nur eine reine Bildungseinrichtung ist, sondern auch als Erziehungseinrichtung gesehen wird. Würde die Schule nur die Lehre in den Mittelpunkt stellen, würde Prävention nicht funktionieren. Auch ist Fall B klar, dass die Schule das nicht alles alleine leisten kann, umso wichtiger, betont sie, sei die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern. Hier ist zu erkennen, dass die Arbeit mit außerschulischen Partnern den Lehrern/ der Schule etwas die Last nehmen soll, mit dem Erziehungsauftrag gegenüber den Schülerinnen und Schülern alleine zurechtkommen zu müssen. Auch ist zu sehen, dass die Vorstellung von Schule sich über die Generationen geändert hat (von der reinen Bildungseinrichtung hin zur Bildungs-und Erziehungseinrichtung). Deswegen ist es auch naheliegend, dass Schule sich ändern muss. Zu dem zweiten Teil der Hypthese sagte Fall B nicht viel. Sie sagt nicht, dass die Schüler zu einem Bewusstsein für das eigene Gewaltpotential oder das ihrer Mitschüler hingeführt werden müssen. Es wirkte so, als setze sie dies voraus. Wahrscheinlich hat sie die Erfahrung gemacht, dass die Schüler ihr Gewaltpotential und das der anderen kennen. Viel wichtiger war ihr, dass die Schüler begreifen, ab wann Gewalt anfängt. Oft sehen Schüler verbale und psychische Gewalt nicht als Gewalt an. Auch sagt sie, dass die Lehrer hier schon viel machen könnten, da dieses Wissen auch eine Bildungsfrage sei. Hypothese 4: „Schule ist ein Ort an dem überhaupt erst wirksam Prävention geleistet werden kann“ Dieser Hypothese steht Fall B kritisch gegenüber. Sie sagt, ja Schule ist ein Ort, aber nicht der alleinige Ort, an dem Prävention geleistet werden kann. Natürlich ist es ein guter Ort für Prävention, da man alle Schüler zwangsläufig vor Ort hat. Dennoch betont sie, dass es auch eine gesellschaftliche Aufgabe sei. Darauf sollte schon in Sportvereinen oder anderen Verbänden geachet werden, um einfach ein Grundverhalten zu erzielen. Würde viel früher darauf geachtet werden, dass man gewaltfrei miteinander umgeht, wäre die Last auf Seiten der Schule nicht so groß, die Probleme beheben zu müssen. Schule als strafende Instanz: Für Fall B ist Schule eine strafende Instanz. Dies verdeutlicht sie am Wort „Strafarbeit“. Sie ist der Meinung, dies liege am System. Die Schüler müssten die Möglichkeit haben, in ihrem eigenen Lernrhythmus zu lernen, dann wäre Strafen auch nicht mehr nötig. 87

Zusammenfassung Fall B: Bei Fall B war zu erkennen, dass sie Spaß an ihrem Job hat. Sie hat während des Interviews viel gelacht und eine positive Grundausstrahlung nach außen gezeigt. Wie schon oben erwähnt, bekommt auch sie die gängigen Formen wie physische, psychische und verbale Gewalt an Schulen mit. Sie schafft es, eine Vertrauensbasis zu den Schülern aufzubauen, sodass sie viel mitbekommt, wie sich Schüler z.B. in Gegenwart mancher Lehrer fühlen oder wer Mobbingopfer ist. Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass sie nicht im Schulsystem, in der Lehrerschaft drin ist. Die Schüler vertrauen sich ihr an in der Hoffnung, dass das nicht gleich mit ins Lehrerzimmer getragen wird. Auch für Schüler können außerschulische Partner befreiend wirken und ein kleiner Ausbruch aus dem Schulsystem bedeuten. Probleme, die Lehrer mit Schülern haben, bekommt sie nicht so mit, da sie, wie schon erwähnt, kein Teil der Lehrerschaft ist. Auch ist sie froh, dass sie kein Teil dieses Schulsystems ist. Sie kann jederzeit wieder gehen. Deswegen löst dieses System auch keinen Frust oder keine Aggressionen in ihr aus. Ihre Arbeit besteht darin, auf Anfrage von Schulen Präventionsprogramme einzuführen oder Projekttage durchzuführen. Außerschulische Partner sind vor allem an Gymnasien/Realschulen sehr gefragt. Werkrealschulen sind oft sehr gut ausgestattet mit Schulsozialarbeitern. Hier ist klar deutlich, dass Gewalt schon lange kein „Hauptschulproblem“ mehr ist. Bei intervenierenden Maßnahmen ist sie nie dabei und das macht sie auch nicht, da sie nicht dauerhaft an der Schule ist und somit keine Intervention möglich ist. Fall B beschreibt Schule als eine Zwangsgemeinschaft. Dies ist auch für mich ein wichtiger Aspekt, der nicht außer Acht gelassen werden darf. Die Schüler werden gezwungen in die Schule zu gehen, dies kann natürlich Konflikte und Aggressionen verursachen. Sehr lobenswert finde ich, dass Fall B die Aussage „Schule ist eine Zwangsgemeinschaft“ nicht einfach so stehen lässt. Sie denkt weiter und überlegt, was sich ändern müsste, dass Schule nicht mehr nur eine Zwangsgemeinschaft ist. Ein Lösungsansatz wäre, dass Schule offener gestaltet wird und dass die Schüler mehr Partizipationsmöglichkeiten haben. Desweiteren erwähnt sie, dass Schule heute nicht nur eine Bildungseinrichtung, sondern auch eine Erziehungseinrichtung geworden ist. Deswegen muss auch das System Schule sich ändern. Auch hierbei erwähnt sie nochmals, dass Schule sich öffnen müsste. Präventionsarbeit an Schulen ist nur sinnvoll, wenn alle mitziehen. Ein Lehrer alleine kann so ein Programm nicht halten. Hierbei ist auch wichtig, dass man den anderen Lehrerkräften vermittelt, dass so ein Programm nicht von heute auf morgen funktio88

niert, sondern dass es über die Jahre mitwächst. Desweiteren ist Schule nicht der einzige Ort, an dem Prävention stattfinden kann. Sie betont deutlich, dass dies auch eine Aufgabe der Gesellschaft sei. Fall B sagt, die Lehrer könnten viel mehr machen bei dem Thema, ab wann überhaupt Gewalt anfängt. Für sie gehört das nicht nur in die Präventionsarbeit, sondern ist auch eine Bildungsfrage. Des Weiteren müsste Schule sich ändern, sodass jeder Schüler die Möglichkeit hat in seinem eigenen Lehrrhytmus zu lernen, dann müsste Schule keine strafende Instanz mehr sein.

89