Aggression und Gewalt in der Psychiatrie

TopThema Auf aggressive Haltung stoßen nicht nur Pflegende in der Psychiatrie Foto: A. Lubitz, Joker Aggression und Gewalt in der Psychiatrie Deeska...
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Auf aggressive Haltung stoßen nicht nur Pflegende in der Psychiatrie Foto: A. Lubitz, Joker

Aggression und Gewalt in der Psychiatrie Deeskalations-Strategien, so die Autoren, brauche nicht nur die psychiatrische Pflege

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ggression und Gewalt kommen in der Pflege und speziell in der Psychiatrie ebenso vor wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. In der Gesellschaft finden die Phänomene Aggression und Gewalt besondere Beachtung. Berichte und Bilder über gewalttätige Ereignisse oder aber Filme mit gewalttätigem Inhalt, wecken ein großes Interesse und haben somit

auch wirtschaftliche Bedeutung (Bailey 1977). Andererseits kommt es aber oft vor, dass das Erleben von Aggression und Gewalt im persönlichen Umfeld, sei es im privaten oder beruflichen Kontext, Angst macht, die zu Lähmung und Hilflosigkeit führt. Die Folgen von Aggressionen und Gewalt werden häufig nicht erkannt, wodurch die Hilflosigkeit noch verstärkt wird. Pflege Aktuell | November 2003

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Die gleichzeitige Faszination und Abschreckung durch Gewalt & Aggression (Bailey 1977) findet sich auch im Bezug auf die Psychiatrie wieder. So finden Aggression und Gewalt in der Psychiatrie immer wieder besondere Beachtung in den Medien und in der Öffentlichkeit (Hoffmann-Richter 2000; Hoffmann-Richter et al. 1998; Hoffmann-Richter et al. 2003; Hoffmann-Richter et al. 1999; Straub, 1997). Immer noch bestehen in unserer Gesellschaft Vorurteile und Ängste (Richter & Sauter 1998) gegenüber psychisch kranken Menschen, viele davon unbegründet und aufgrund mangelnden Wissens aber auch aufgrund in der Vergangenheit geschürter Ängste, die noch heute nachwirken (Pitzner 1997). Pflege Aktuell | November 2003

Aggression und Gewalt in der Psychiatrie und generell die Ausübung von Zwang stellt einen speziellen Problembereich dar, der im deutschsprachigen Raum scheinbar tabuisiert wird (Fuchs 1998, 2000, Richter 1998; Richter & Berger 2001, Demand 1992, Pitzner 1997, Voelzke 1998) und für Patienten (Voelzke 1998, Johansson & Lundman 2002, Lüzén 2001) und Pflegende (Richter & Berger 2001, Richter 1999, Richter 1998, Dondalski 2003, Stiels-Glenn 1996) die größten Auswirkungen (körperlich und psychisch) zu haben scheint. Hier besteht sowohl ein Bedarf nach weiteren Untersuchungen (Richter 1998, Richter und Berger 2001, Fuchs 1998 & 2000) als auch die Notwendigkeit konkrete Handlungsstrategien zu entwerfen und zu evaluieren (Fuchs 1998, Richter 1998). In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, das Problemfeld zu umreißen, die Handlungsnotwendigkeiten aufzuzeigen und zu begründen sowie fundierte mögliche Handlungsstrategien aufzuzeigen, die abschließend an einem konkreten Managementansatz illustriert werden. Aggression und Gewalt in der Psychiatrie. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, Definitionen und Entstehungstheorien von Aggression und Gewalt ausführlich darzulegen. Es ist jedoch deutlich, dass Gewalt als Übergriff und Schädigung in der Psychiatrie noch eher wahrgenommen und als Problem akzeptiert wird als die unterschiedlichen Formen von Aggression. Hierbei steht es um die Anerkennung und Dokumentation verbaler Aggression (Beschimpfungen, Beleidigungen) und psychischer Folgeschäden besonders schlecht (Richter & Berger 2001, Stiels-Glenn 1996). Es bestehen grundsätzliche Probleme bei der Erfassung von Aggressions- und Gewaltereignissen in der Psychiatrie, indem viele Ereignisse erst gar nicht mitgeteilt werden (Richter 1998, Stiels-Glenn 1996, Pitzner 1997). Stark und Kidd (1995) ordnen dem eine Kombina-

tion verschiedener Gründe zu: (1) fehlende oder ungenügend bekannte Richtlinien, (2) keine oder unzureichende Meldeformulare, (3) Zeit und Aufwand zum Ausfüllen der Berichte, (4) Ansicht der Mitarbeiter, dass Gewalt zu ihrer Tätigkeit gehört; (5) Befürchtungen, ein solches Vorkommnis werde als Versagen des Mitarbeiters bewertet, (6) Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Fuchs (2000) geht davon aus, dass auch auf institutioneller Ebene tabuisiert wird bzw. Dunkelziffern in Kauf genommen werden, weil dies Mängel in der eigenen Einrichtung aufzeigen würde oder Angst vor schlechter Presse oder Öffentlichkeit besteht. Es ist anzumerken, dass es im deutschsprachigen Raum nur sehr wenige systematische Studien bzgl. gewalttätiger und aggressiver Übergriffe in der Psychiatrie gibt und man hierzulande im internationalen Vergleich weit hinterherhinkt (Fuchs 2000, Richter 1998; Richter & Berger). Richter (1998) hat die vorliegenden Daten und Studien mit internationalen verglichen und schließt daraus eine bedingte Übertragbarkeit. Er weist auf die Notwendigkeit einer systematischen Datenerhebung in Deutschland hin, was auch andere Autoren als verbesserungsbedürftig benennen (Fuchs 1998, 2000, Richter 2001). Einige Autoren stellen fest, dass es sich bei Aggressionsereignissen

Fachtagung„AggressionsManagement als Aufgabe der Pflege in Gesundheitseinrichtungen“am 9.12.03 im Klinikum Stadt Hanau mit Gernot Walter und Nico Oud. Inhalt: Der Umgang mit aggressiven und gewalttätigen Verhaltensweisen stellt für Pflegende eine der größten Herausforderungen dar. Gezielte Trainingsprogramme

Gernot Walter, Fachkrankenpfleger für Psychiatrie, Diplom Pflegewirt,Trainer für Aggressionsmanagement, beschäftigt als Pflegeexperte Psychiatrie am Klinikum Stadt Hanau

Nico Oud, Master in Nursing Sciences, Krankenpflegelehrer, Berater für Aggressionsmanagement, selbständiger Unternehmer seit 1997, www.oudconsultancy.nl

versetzen die Mitarbeiter in die Lage mit Aggressionen und Gewalt sicher umzugehen. Die Tagung hat den Charakter eines Workshops. Die Teilnehmer erfahren Kommunikationstechniken, Abwehrtechniken gegen Angriffe und Teamtechniken. Info Institut Rosenberger, Schollstrasse 18, 27755 Delmenhorst, Tel: 04221/ 20955 569

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auf psychiatrischen Akutstation in der Regel um komplexe Situationen handelt, in die individuelle Faktoren ebenso hineinspielen wie interaktive und situative (Whittington & Patterson 1998, Nijman et al. 1999, Duxbury 2002, Richter 1998), und in der individuellen Erklärung von Aggressionsereignissen berücksichtigt werden müssen. Viele Autoren machen deutlich, dass die Doppelfunktion der Psychiatrie als therapeutische Institution und Ordnungsmacht die Mitarbeiter in Konflikt bringt, helfen zu wollen aber auch Zwang und Gewalt gegenüber Patienten ausüben zu müssen (Leichtenberger 1993, Fuchs 2000, Wienberg 1997). Im Arbeitsfeld der stationären psychiatrischen Versorgung verknüpften sich typisch menschliche Verhaltensweisen bzw. Reaktionsformen wie Aggression und Gewalt in ihrer besonderen Ausdrucksform im Rahmen psychischer Erkrankungen (Krankheitsbedingte Verhaltensänderungen durch Wahnwahrnehmung, Halluzinationen, Bedrohungserleben und Angst, herabgesetzte Impulskontrolle, mangelnde verbale Ausdrucksmöglichkeiten, z.B. Steinert 1995) mit dem staatlichen Auftrag, Gewalt auszuüben (Unterbringung, Fixierung, Zwangsmedikation, Leichtenberger 1993, Wienberg 1997). Nicht selten ergeben sich Abfolgen von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Aggression, Gewalt bei Patient oder Mitarbeitern, die beim Gegenüber Ähnliches auslösen können, wodurch es zu einem Teufelskreis kommt, den es aber zu durchbrechen gilt (Leichtenberger 1993, Stiels-Glenn 1996).Wienberg (1997, Seite 18) schreibt:„Die Gewaltanteile psychiatrischen Handelns nicht zu akzeptieren, hieße letztlich, diese schwersten seelischen Krankheitszustände aus der Zuständigkeit der Psychiatrie auszuschließen und an andere Institutionen zu delegieren. Das kann aber keine Lösung des Gewaltproblems sein. Eine andere mögliche Konsequenz wäre: Die Gewalt-Anteile psychiatrischer Arbeit würden verdrängt, verleugnet und tabuisiert - damit 570

würden sie aber zugleich unkontrollierbar.“ All dies macht deutlich, dass es sich beim Umgang mit Aggression und Gewalt im Rahmen der stationären psychiatrischen Akutversorgung um ein besonders sensibles Feld handelt, das nur allzu oft vernachlässigt wird, aber gerade der Diskussion und Bewusstmachung bedarf, um angemessene proaktive Handlungsstrategien zu entwerfen. Denn nur so können wir unserem Doppelauftrag als psychiatrisch Tätige gerecht werden, besonders verletzlichen psychisch kranken Menschen zu helfen und gleichzeitig staatlich beauf- Um angemessene tragte Ordnungsmacht zu proaktive Strategien zum sein. Handeln zu entwerfen, Vorliegende muss diskutiert werden Erkenntnisse zum Management von Aggression und Gewalt auf psychiatrischen Stationen:„Gewaltvermeidung ist eines der höchsten Ziele der modernen Psychiatrie,“, so Richter (1998, S. 109) und benennt die drei Handlungsbereiche Prävention, Krisenmanagement und Nachsorge. In vielen Einrichtungen liegt der Schwerpunkt auf dem Krisenmanagement und die Handlungsstrategien sind eher reaktiv, d.h. reagieren auf aggressives und Gewalttätiges Verhalten von Patienten und nutzen dabei altbewährte Methoden wie körperliche Kontrolle und Fixierung sowie Zwangsmedikation. (Duxbury 2002). Sicherlich lassen sich nicht alle Aggressions- und Gewaltereignisse vermeiden (Grube 2001), doch weisen Untersuchungen darauf hin, dass sich Anzahl, Ausmaß und Folgen von Aggressions- und Gewaltereignissen durch gezielte Interventionen positiv beeinflussen lassen. Es bestehen verschiedene Erklärungsansätze für das Auftreten von Aggressions- und Gewalthandlungen. Überwiegend wurden bislang patientenbezogene Erklärungsmodelle entwickelt und getestet (z.B. Krankheitsbild, Krank-

heitssymptome, Funktionsstörungen, Konfliktbewältigungs- und Kommunikationsfähigkeiten, Frustrationstoleranz, Impulskontrolle, Alter, Geschlecht, Krankheits- und Lebensgeschichte, Alter, Geschlecht). Situationsbezogene (Vorfälle vor der Aufnahme, Zwangsunterbringung, Überfüllung, räumliche Enge, mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, Zeitpunkt nach Aufnahme, Ort des Ereignisses) und interaktionsbezogene Erklärungsmodelle (z.B. Konfliktbewältigungs- u. Kommunikationsfähigkeiten der beteiligten, Grundhaltung und Verhalten der Mitarbeiter, vorausgegangene Interaktionen, Situationen mit Aufforderungscharakter, Milieu auf Station) wurden bislang weniger untersucht und sind auch aufgrund der Komplexität schwerer zu untersuchen (Duxbury 2002). Duxbury (2002) weist daraufhin, dass der zugrundeliegende, oft nicht offen reflektierte Erklärungsansatz die Art und Auswahl der Managementstrategien im Umgang mit Aggression und Gewalt auf psychiatrischen Stationen beeinflusst. Vielerorts scheint das Patientenbezogene Erklärungsmodell zu überwiegen und es werden daher Strategien bevorzugt, die aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten kontrollieren (Duxbury 2002). Viele Autoren fordern daher einen multidimensionalen Ansatz, der die drei Erklärungsperspektiven integriert und aus dem auch angemessene, der Komplexität der Zusammenhänge gerecht werdende Handlungsstrategien abgeleitet werden (Duxbury 2002, Richter 1998, Nijman et al. 1999). Verschiedene Autoren haben aufgezeigt, dass: W die Anzahl der Übergriffe und das Ausmaß der Schädigung bei systematischer Schulung der Mitarbeiter zurückgehen (Rice 1985, Grube 2001), W Bezugspflegende sehr selten betroffen sind (Richter 1999), W Gewaltpotenziale bzw. die Risiken für Übergriffe einschätzbar sind (Doyle & Dolan 2002, Almvik & Woods 1998 Almvick et al. 2000), Pflege Aktuell | November 2003

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Sicherheitmanagement = Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit bei: Aggression – Gewalt – Traumate – Sexueller Belästigung Ebene

Prozesse

Ergebnisse

International

Berufsverbände Gesetze Forschung basistraining Zeit/Übungen Koordination Leitung Erfassung Datenverarbeitung

Kenntnisse Training aller Standards Sicherheit Abwesenheit Fluktuation Fixierungen Informationen

National Regional Institution Station Individuum Patient

Tabelle 1 Die verschiedenen Ebenen, Prozesse und Ergebnisse des Aggressionstrainings Grafik: Autoren

W individuelle Verhaltensabweichungen von PatientInnen in Richtung Aggressivität in ihrer Entwikklung gut beobachtbar sind (Witthington & Patterson 1998, Richter 1999), W es klar benennbare Interventionen, gibt die hilfreich im Umgang mit aggressiven Patienten sind (Richter 1999, Richter et al 2001, Rice 1985), W eine Grundhaltung der Inakzeptanz gegenüber aggressiven Verhaltensweisen in Zusammenhang mit einer Kultur des konstruktiven Umgangs mit Konflikten eine präventive Wirkung haben (Richter et al 2001, Fuchs 1998). Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass Aggressionsereignisse und gewalttätige Übergriffe einschätzbar und beeinflussbar sind. Ansätze zum Management von Aggression und Gewalt auf psychiatrischen Stationen. In den psychiatrischen Institutionen wird das Thema Management von Aggression und Gewalt erst zögerlich aufgegriffen (Richter 1998, Fuchs 1998). Es gibt dennoch mehrere Beispiele für einen Trend, das Thema systematisch zu bearbeiten und Strategien für den Umgang zu entwickeln. (Fuchs, 1998; Martin, 1995; Mason & Chandley, 1999; Nolting, 2000; Ruthemann, 1993; Rice 1985, Stirling & McHugh, 1998) W Verantwortung Hier liegt nun die Verantwortung der Entscheidungsträger sowohl in den Einrichtungen als auch in den Richtlinien gebenden Organisationen und Gremien (wie z.B. die Träger und Trägerverbände psychiatrischer Einrichtungen, die Berufsorganisation und die AufsichtsbehörPflege Aktuell | November 2003

den) dahin gehend, dass diese Erkenntnisse in der Praxis zur Anwendung kommen. Gefragt ist ein obligatorisches und systematisches Aggressions- und Sicherheitsmanagement in psychiatrischen Einrichtungen. In Tabelle 1 sind die verschiedenen Ebenen, Prozesse und erwünschten Ergebnisse eines Aggressions- und Sicherheitsmanagements dargestellt, die nachfolgend weiter erläutert werden. W Sicherheitsmanagement Sicherheitsmanagement betrifft alle Ebenen der Klinik. Die Mitarbeiter in Leitung und Entscheidungspositionen ebenso wie alle Mitarbeiter, dir mit Aggression und Gewalt konfrontiert sind. Auf der Ebene des direkten Patientenkontaktes ist konkretes Aggressionsmanagement gefragt, um Eskalation zu vermeiden, gegebenenfalls destruktive Eskalation zu kontrollieren und Folgen von Zwischenfällen zu bewältigen. Dies kann nur gelingen, wenn alle Mitarbeiter Aggression und Gewalt als ein gemeinsames Problem begreifen und angehen und es nicht an einzelne Berufsgruppen oder Mitarbeiter delegieren. Mitarbeiter müssen in individuellen Situationen Verantwortung übernehmen, zuvor angeeignete Fertigkeiten nutzen und definierte Abläufe und Strukturen einhalten. Mitarbeiter in der Leitungs- und Entscheidungsverantwortung müssen dazu beitragen, dass Rahmenbedingungen in Form von verbindlichen Handlungsstandards, der notwendigen Anzahl qualifizierter Mitarbeiter, der regelmäßigen, systematischen Erfassung von Zwischenfällen und einer funktionierenden

Nachbearbeitung und Nachsorge gestaltet werden. Im Folgenden werden wir uns weiter mit den notwendigen Maßnahmen und Rahmenbedingungen auf der institutionellen Ebene beschäftigen. Damit ein Aggressions- und Sicherheitsmanagement wirksam sein kann, muss es: W präventiv wirken, indem die Umgebungsbedingungen und das Verhalten der Mitarbeiter Aggressionsereignisse reduzieren und deren Folgen mildern, W Handlungsmöglichkeiten in Krisen sicherstellen, damit diese konstruktiv bewältigt werden können, W die Nachsorge sichern, um aus Erfahrungen zu lernen, das Sicherheitsmanagement stetig zu optimieren und die angemessene Nachbetreuung betroffener Personen zu gewährleisten. W Prävention Die präventiven Maßnahmen beinhalten das möglichst genaue Erfassen der Übergriffe. Das heißt, an welchen Orten, zu welchen Zeiten, durch welche Patienten und gegenüber welchen Mitarbeitern Übergriffe besonders häufig geschehen. Somit ist eine Identifikation der Aggressionsereignisse beeinflussenden Faktoren möglich und diesen kann begegnet werden. Eine weitere wichtige Maßnahme, die nicht nur präventiv, sondern auch in der Krisenbewältigung und in der Nachsorge wirkt, ist die systematische, kontinuierliche Schulung der Mitarbeiter aller Berufsgruppen. Die Inhalte dieser Schulungen sollten sowohl theoretische als auch praktische Anteile haben. Im Theorieteil geht es um das Wissen um Vorkommen und Arten von Aggression, Modelle von Entstehung und Verlauf von Aggressionsereignissen und Interventionsmöglichkeiten in bestimmten Phasen. Dem Erklärungsansatz zur Entstehung und zum Verlauf von Aggressionen sollte ein mehrdimensionaler Ansatz zugrunde liegen, der intrapersonale Aspekte ebenso berükksichtigt wie zwischenmenschlich interaktive und situative. Hilfreich 571

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Phasen eines Deeskalationsmodells

(Leadbetter & Patterson 1995)

Destruktive Phase

Aggression

Tabelle 2 Den Phasen werden emotionale Zustände der Patienten und angemessene Interventionen zugeordnet Grafik: Autoren

Übergangsphase I & II Wut/Ärger Auslösephase/ Aufhebungsphase Angst Wut/Ärger/Schuld/Groll Phasen

Emotionale Erregung

Krisenphase I & II

Beruhigen

Grundverhalten

kann dabei das von Leadbetter und Patterson (1995) zum Ablauf von Aggressionsereignissen entwickelte 7-Phasen-Modell sein. Den Phasen werden emotionale Zustände der Patienten und angemessene Interventionen zugeordnet (Tab. 2). Die Übergänge der einzelnen Phasen sind fließend und die Patienten können sich auch zwischen den Phasen hinund her bewegen. Das Modell gibt eine gute Orientierung darüber, welche Interventionen bei welchem Patientenverhalten hilfreich sind. Die praktischen Anteile sollten Techniken zum Selbstschutz und zur sicheren körperlichen Kontrolle von Patienten sowie Kommunikations- und Deeskalationstechniken beinhalten. Reflexion im Stationsteam, angemessenes Feedback geben und das Finden einer gemeinsamen Grundhaltung sollten ebenfalls verbindliche Themen eines solchen Seminars sein. Ergänzt wird das Ganze mit rechtlichen Aspekten und der Vorstellung etablierter Erfassungsinstrumente für Gewaltrisiko, Übergriffe und Zwangsmaßnahmen wie der Broset Violence Checklist (BVC) (Almvik & Woods, 1998; Almvik, Woods, & Rasmussen, 2000) und der Staff Observation Aggression Scale-Revised (SOAS-R) (Nijman, Evers, Merckelbach, & Palmstierna, 2002; Nijman & Palmstierna, 2002; Palmstierna, Nijman, Wistedt, & Merckelbach, 1999). Durch das Training sollen die Atmosphäre in der Einrichtung so beeinflusst werden, dass ein gewaltfreies/-armes Milieu entsteht, in dem mit Aggression und Gewalt 572

Ausmaß der Bedrohung

Aggression (Übergriff/Angriff )

Beruhigen/ Deeskalieren Physische Intervention ProblemDeeskalieren Intervention lösen

angemessen umgegangen wird. Das frühzeitige Erkennen von problematischen Verhalten und daraus abgeleitete Interventionen sind ein wesentlicher Bestandteil der Prävention. W Krisenmanagement Krisen sind außergewöhnliche Situationen, die außerhalb der normalen, alltäglichen Erfahrung liegen. Daher bedarf es in Krisensituationen eines zentralisierten Systemverständnisses, weil rasches Handeln notwendig ist, keine Zeit zur Diskussion und Erörterung bleibt, Problemlöse- und Denkfähigkeit sowie die Motorik eingeschränkt sind (Heinemann 1998, Leadbetter & Patterson 1995). Gewalttätige Krisen sind individuelle Erfahrungen der einzelnen Beteiligten, weisen aber dennoch Ähnlichkeiten in Struktur und Ablauf auf. Standards, wie zum Beispiel ein Fixierstandard dienen den Mitarbeitern als verbindliche Handlungsgrundlage. Die Umsetzung wird eingeübt und kontinuierlich überprüft. W Nachsorge Die Nachsorge umfasst sowohl die individuelle, personenbezogene Ebene als auch die institutionelle, strukturelle Ebene. Auf der individuellen Ebene ist in erster Linie sicherzustellen, dass körperliche und psychische Verletzungen, die Patien, Angehörige oder Mitarbeiter erfahren haben, wahrgenommen werden und diesen hilfreich begegnet wird. Dies erfolgt sinnvoller Weise durch Nachbesprechungen nach jedem Übergriff. W Konkrete Umsetzung Die Autoren dieses Artikels haben bei der Umsetzung eines Aggres-

Verarbeiten/ Nachbesprechung

sions- und Sicherheitsmanagements am Klinikum Stadt Hanau zusammen gearbeitet. Gernot Walter hatte als Pflegeexperte Psychiatrie vor Ort den Auftrag, eine Qualifizierung der Mitarbeiter für den Umgang mit Gewalt und Aggression in der Psychiatrischen Abteilung zu organisieren. Nico Oud bildete als externer Trainer und Berater Mitarbeiter der Psychiatrie aus und begleitete das Projekt. W Projektverlauf Der Start für das Projekt kann einer Tagung in Berlin im Jahre 2000 zugeordnet werden. Dort stellte Nico Oud (Institut Connecting/Amsterdam) seine Methode vor. In der Folge führte er 2001 einen multiprofessionell besuchten Tagesworkshop in Hanau durch. Dieser Workshop diente als Diskussionsgrundlage für die Frage, ob ein solches systematisches Aggressionsmanagement in Hanau eingeführt werden soll. Die Entscheidung dafür wurde auf allen Ebenen getroffen. Die Mitarbeiter wurden vorab darüber informiert, dass die Teilnahme an den Trainings verpflichtend ist. In den Jahren 2002 und 2003 wurden dann acht PflegemitarbeiterInnen als interne TrainerInnen für Aggressionsmanagement ausgebildet. Während des Trainings wurde sehr bald deutlich, dass daneben ein Rahmen benötigt wird, in dem Sicherheitsfragen aufgegriffen und diskutiert werden können. In Abstimmung mit der pflegerischen und ärztlichen Leitung übernahm das Trainerteam eine Koordinatorenfunktion innerhalb einer Sicherheitskonferenz in der alle Führungskräfte der Klinik, die Pflege Aktuell | November 2003

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Betriebsärztin und der Personalrat vertreten sind. Das Gremium trifft sich in zirka sechsmonatigen Abständen, trägt alle sicherheitsrelevanten Fragen und Probleme zusammen und erarbeitet Lösungsvorschläge. Ein erstes Produkt ist die Überarbeitung des Fixierstandards, der nun ebenfalls Richtlinien und Standards zum Umgang mit aggressiven und gewalttätigen Verhaltensweisen beinhaltet.

Mittlerweile finden jedes Jahr vier bis sechs fünftägige Basistrainings statt, an denen bisher 55 Prozent der MitarbeiterInnen teilgenommen haben. W Auswirkungen Eine systematische Untersuchung der Wirkungen unseres Aggressionsmanagements steht noch aus. Rückmeldungen von Kollegen berichten über größere innere per-

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sönliche Sicherheit und einen geordneteren Ablauf schwieriger Situationen. Mitarbeiter, die das Basistraining besucht haben, begreifen Aggression und Gewalt mittlerweile weitgehend als ein gemeinsames Problem. Eine Patientin, die schon mehrmals fixiert wurde und danach die neue Methode erlebte, gab an, dass sie sich dabei psychisch und körperlich besser gefühlt habe. 8

D. Sauter & D. Richter (Eds.), Gewalt in der psychiatrischen Pflege (pp 59-72). Bern: Huber.

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Die vollständige Literaturliste finden Sie aus Platzgründen auf der Homepage des DBfK unter www.dbfk.de 573