Dr. Norbert Schneider Vorsitzender der DLM

Gewalt und Gesellschaft – Fernsehen und Gewalt. Vortrag anlässlich der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirchen in Deutschland

Hannover, 4. September 2002, 11.00 Uhr

1. Die Tat und die Schuld: ein Ritual

Die Gewalttat, plötzlich einbrechend, grausam und groß macht erst einmal stumm. Der grausige Fund eines Massengrabs, die bestialische Tötung eines Kindes, der Selbstmörder, Massaker und Amoklauf, ground zero, in diesen Tagen ein Jahr alt – der Gewaltakt macht sprachlos, Augenzeugen des Realen ebenso wie die medialen Beobachter.

Doch aus Verstörung und Versteinerung erheben sich alsbald die öffentlichen Fragesteller und stellen die bekannten Fragen. Was wenigstens für eine Schweigesekunde unerklärlich erscheint, wird nun routiniert einsortiert in das Gehäuse von Ursache und Wirkung. Wie konnte das geschehen? Und, noch wichtiger: wer ist schuld? Merkwürdig leblos bleibt in dieser Phase der Täter, so als habe er sich mit der Tat verbraucht. Interessant ist er nicht als Subjekt, sondern als Träger von Einflüssen. Er wird unter der Hand selbst ein Produkt der Gewalt, nicht mehr deren Produzent. Dann werden die üblichen Verdächtigen in verbale U-Haft genommen: die Familie, die überfordert ist, der Staat, der keine Autorität mehr hat, die Gruppen, die keine Bindekraft entfalten, die Schule, die irgendwie am Ende ist.

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Und weit vor allen andern “die Medien”, an der Spitze das Fernsehen.

2. Eine Menge Indizien: das Fernsehen

Der Zusammenhang liegt auf der Hand. In der Regel ist ein Gewalttäter auch Fernsehzuschauer, neuerdings im Zweifel auch Internetnutzer. Als solcher sieht er Tag für Tag ein ziemliches Quantum zwar nicht an realer, aber doch an dargestellter Gewalt. Jahr für Jahr, erst zu Weihnachten und dann zu Ostern, zählt dpa die Mord- und Totschlaggeschichten im Fernsehen auf. Sie erscheinen fast wie eine Art Gegenbesetzung zu den besonderen christlichen Botschaften dieser Feste. Doch auch zwischen den Festen wird geschlagen und gemordet, geschossen und geblutet, gebrüllt, erniedrigt, gedemütigt und beleidigt. Mit Worten und mit Werken. Auf hohem Niveau kunstvoll inszeniert durch Filmregisseure wie Alfred Hitchcock, Ridley Scott oder Martin Scorsese. Aber auch auf dem Niveau von drittklassigem Programm-Ramsch.

Auch bei den nicht-fiktionalen Sendungen, den Nachrichten, den Reportagen, Dokumentationen, stößt man häufig auf Berichte über Greuel, Krieg und Terror, Gangstertum und Genozid. Manchmal werden die Zuschauer sogar Zeugen des Todes. Oder sie sehen aus sicherer Entfernung zu, wie ein Roboter der Israelis einen schwer verletzten Selbstmordattentäter nach Sprengstoff abtastet und ihn dabei über die Erde schleift wie ein Stück Dreck.

Vielen ist das viel zu viel. Sie fordern – gerade im Kontext von Gewalttaten, die öffentliche Erregung schaffen – sie fordern von denen, die das zeigen, den Veranstaltern von Fernsehen, Gewaltverzicht, Abrüstung. Andere rufen die werbetreibende Industrie zum Boykott auf. Wissenschaftler wiegeln wie stets sowohl auf als auch ab. Es schadet nichts, sagen die einen. Und die anderen raunen von schlimmen Effekten. Wieder andere plädieren ganz einfach dafür, man möge doch solche Schaugewalt einfach verbieten und damit Schluss und aus.

3. Von der Rache zum Recht – von der Ordnung zum Chaos

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Auch wenn man diese Gewaltszenen einzeln oder in der Summe unerträglich findet – Verbote gingen völlig in die Irre. Man kann nicht medial ignorieren, was real existiert, nämlich eine unübersehbare Lust und ein Zwang zur Gewalt. Die gab es schon, als es das Fernsehen noch nicht gab.

Gewalt ist unausrottbar, eine Art von anthropologischer Konstante, indigenisiert. Gewalt, der Gewalttäter – sie haben die Hand bereits an der Wiege der Menschheit. Man kann deren Geschichte auf der Suche nach einem ordnenden Prinzip auch als eine Geschichte des Kampfes zwischen Gewalt und dem Entstehen und Wachsen einer kulturellen Ordnung schreiben.

Der französische Anthropologe René Girard setzt als ein Urdatum für die Auseinandersetzung der Menschen mit der Gewalttat, was er die “Gründungsgewalt” nennt. Er meint damit jenen Akt von Gewalt, der erstmals gebändigt wird. Die allererste Gegenwehr, die Erfolg hat. Alle Ursprungsmythen kennen diese Gründungsgewalt: ein mythisches Geschöpf tötet das andere – der erste Schöpfungstag. Diese Tötung wird nach Girard “als Gründungsakt der kulturellen Ordnung wahrgenommen” (140) und verleiht von nun an “den Menschen ihre Menschlichkeit” (aaO). Diese Gründungsgewalt gehört daher zum “Wertvollsten”, was die Menschen haben.

Ähnlich bezieht Pierre Legendre dieses Urdatum in seiner Abhandlung über Vater und Vatermord auf die prekäre Konfiguration von Vater und Sohn (Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Freiburg 1998).

Die kulturelle Ordnung, das geregelte Zusammenleben bleiben jedoch auch gebändigt immer bedroht von der nur fallweise gebändigten Gewalt. Sie ist nie besiegt, ausgerottet oder auch nur minimiert. Damit sie jedoch ihren sozialen Schaden nicht anrichten kann, der durch die Spirale von Gewaltakt, Rache, Vergeltung für die Rache, neue Gewalt usw. entstünde, tritt das Opfer dazwischen. Nach Girard stellt der Opferkult – das ist sein sozialer Effekt – die Harmonie in der Gemeinschaft wieder her. Denn das Opfer ist die Art von Gewalt, die nicht das Risiko der Rache in sich

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birgt. Es hält die Rache in Zaum (32). Entsprechend wirft die Krise des Opferkults, die Säkularisierung des Opfers elementare Fragen für das Verhältnis von Gewalt und Gesellschaft auf.

Später tritt an die Stelle des Opfers das Recht, das Gericht. Freud, für den Macht nichts anderes ist als Gewalt, beschreibt die Entwicklung so, dass die größere Stärke des einen, der bisher sich durchsetzt, wettgemacht werden müsse durch die Vereinigung mehrerer Schwacher (in: Brief an Einstein “Warum Krieg”,1932). “Die Macht dieser Geeinigten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen.” (S. 277). “Das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft” (aaO). Alain Badiou, in der Tradition von Girard, stellt mit Bezug auf den 11. September fest: “Spätestens seit der Orestie des Aischylos ... wissen wir, dass die Frage stets darin besteht, wie man Rache durch Gerechtigkeit ersetzt” (Terror im System, 2002, 62).

4. “Die Gewalt ist sicherlich das schlechthin Böse” (Dirk Baecker)

Doch wie kommt die Gewalt überhaupt in die Welt? Von welchem Himmel fällt sie? Aus welcher Hölle steigt sie? Wessen Funktion ist sie? Ich kann diese ganz entscheidende Frage hier nur streifen, indem ich wenigstens eine Position aufgreife, die neuerdings wieder an Boden gewinnt. Sie identifiziert Gewalt mit dem Bösen.

Der Wiener Philosoph Liessmann weist fast amüsiert darauf hin, dass nach 200 Jahren Wissenschaft, die die Gewalt eben gerade nicht als das Böse stehen ließ, sondern als einen therapierbaren Makel erklärt hat, das Böse sich nun wieder zurückmelde. ”Nicht nur die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, nicht nur die Orgien der Zerstörung und der Menschenvernichtung, nicht nur die Gewaltexzesse totalitärer Systeme, auch individuelle destruktive und aggressive Handlungen scheinen immer wieder die Erklärungsschemata einer aufgeklärten Wissenschaft zu sprengen und haben sich damit einen Rest von Unbegreiflichkeit bewahrt, der es wieder zulässt, vom Bösen in einem nahezu vorreflexiven Sinne zu sprechen” (Ms. S. 2).

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Liessmann erinnert an Augustins Lehre von der Erbsünde und an Kierkegaards scharfsinnige Auslegung des Sündenfalls, in der das Böse als böser Wille zu verstehen ist, der von der bösen Tat unterschieden werden muss, die es als solche gar nicht geben kann.

Walter Schulz gruppiert in seiner “Philosophie in der veränderten Welt” seinen ethischen Entwurf um das damals ausgemusterte Paar von Gut und Böse.

Es wäre reizvoll, diesen Begriff des Bösen mit Freuds Destruktions- und Aggressionstrieb in Beziehung zu setzen, der ja auch von Freud nicht weganalysiert werden kann. Triebverzicht ist nicht Triebbeseitigung. Zwar kann dem Gewalttäter geholfen werden kann, doch die Gewalt selbst, verstanden als das Böse, wird dadurch nicht weniger oder schwächer.

Auf die Spitze getrieben wird dieser Gesichtspunkt der Unbesiegbarkeit der Gewalt im Sinne des Bösen durch Wolfgang Sofsky, in dessen Betrachtung am Ende auch die Ordnung, der Staat, die Gesellschaft als Gegenmacht nichts mehr bedeuten. Im Gegenteil: sie fördern durch ihre gewaltreduzierenden Repressionen regelrecht den Rückfall ins Chaos, ein wenig im Sinne von Römer 7, ein Text, den Sofsky sich entgehen lässt.

Sofskys Grundthese in seinem “Traktat über die Gewalt” lautet fast triumphierend: “... das Böse ist unvergänglich.” (S. 225) – sonst bekanntlich ein Epitheton des Göttlichen! Auch für Sofsky durchherrscht die Gewalt “die Geschichte des Gattungswesens von Anfang bis Ende. “Gewalt schafft Chaos, und Ordnung schafft Gewalt ... Gegründet auf der Angst vor Gewalt, erzeugt die Ordnung selbst neue Angst und Gewalt. Es ist die Erfahrung der Gewalt, welche die Menschen vereinigt.” (10)

In jeder Hinsicht wichtig ist: es ist nicht so sehr die reale Gewalt selbst, sondern die Angst vor der Gewalt, der Faden, nicht das Schwert, die Bedrohung eben, dass sie jederzeit stattfinden kann, was die Menschen schreckt oder eben auch fasziniert. Zur

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Gewalt gehört wesenhaft ihre Unvorhersehbarkeit, ihre Plötzlichkeit. Die gegenwärtige Diskussion über den Terrorismus hebt ganz besonders auf dieses Moment des Unvorhersehbaren, des Überraschenden ab. Mary Douglas, die große Anthropologin, hat einmal gesagt: “Kultur definiert die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Überraschungen umgeht” (zit. nach Terror, S. 219). Kultur in diesem Sinne erweist sich, manifestiert sich im Umgang mit der Angst vor Gewalt, ein Aspekt, den Sofsky aufgreift: ”Die Kultur gibt Rezepte an die Hand, um die Todesangst” – also den Einbruch tödlicher Gewalt! – “zu zerstreuen”. (215)

Man muss nicht dem gelegentlich etwas koketten Pessimismus anhängen, wie ihn Sofsky praktiziert, wenn er die Rückkehr der Gewalt, die Wiederkehr des Chaos als Pointe des Mythos beschreibt. Umgekehrt macht es auch keinen Sinn, Präsenz und Potenz der Gewalt einem Gedanken des Fortschritts zu opfern, der auch die Gewalt erfasst und irgendwann erledigt. Am Ende seiner Abhandlung über ”Das Unbehagen in der Kultur” schreibt Freud noch durchaus optimistisch: ”Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es der Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden” (aaO, 270). Doch ein Jahr später schon, 1931, fügt er unter dem Eindruck des aufkommenden Faschismus eine neue Schlussfrage hinzu: ”Aber wer kann den Erfolg und den Ausgang voraussehen?”

Der Historiker Eric Hobsbawn hat seine Bewertung des 20. Jahrhunderts ausgerichtet auf die Akte grenzenloser Gewalt, die eben nicht wegzivilisiert wurde, die sich eher noch gesteigert hat mit Genozid und Gulag, Holocaust und Hiroshima.

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5. Zwischen Angst und Lust – Beobachter, Zuschauer, Genießer

Eine Erklärung und Bewertung der Fernsehgewalt ohne diesen Hintergrund bleibt vordergründig und zuletzt überflüssig. Man muss – auch wenn ich dies nur in Form einer sehr groben Skizze hier tun konnte – man muss diese Bedeutung der Gewalt für die Gesellschaft, ihren Rang, was Erschrecken und Faszination angeht, und die Gegenpositionen als Referenzrahmen setzen, wenn man das Vorkommen von Gewalt nicht nur real, sondern auch medial, verstehen möchte. Denn auch die gezeigte Gewalt unterscheidet sich zunächst in nichts von der realen – bis auf den Umstand natürlich, dass sie nicht getan oder erlitten, sondern zunächst einmal nur beobachtet, gesehen und offenbar nicht nur abgelehnt, sondern auch genossen wird.

Auch das gibt es längst vor den modernen Massenmedien. Schon immer beobachtet der Mensch die Gewalt und deren Täter. Die Gewalt ist nicht nur von Anfang an. Sie ist auch von Anfang an auch ein Thema der jeweiligen Medien.

Am Anfang ist es das Fest, der Ort für die mündliche Tradition, in der der Mensch den Kampf zwischen Gewalt und Zähmung miterlebt, den Weg von der Rache zum Recht mitgeht. Neben den großen Mythen und den Epen des Homer wird vor allem die griechische Tragödie das Mittel, das Medium, mit dessen Hilfe sich der Zuschauer ein Bild macht und sein eigenes Verhältnis zur Gewalt bestimmt. Mit gewaltigen Wirkungen bis heute. Auf der anderen Seite steht die jüdische Tradition des Alten Testaments und wirkt ihrerseits weiter. Auch bei denen, die es nicht mehr kennen.

Man kann ganz grob sagen, dass wohl alle großen Texte nicht nur der westlichen Literatur dieses Thema auf je eigene Weise aufgreifen und einem Publikum – Zuschauern, Zuhörern, Lesern – anbieten. Für den Westen läuft die Linie von Homer und dann Aischylos über Shakespeare bis zu Paul Celan, vom Alten Testament bis zu Friedrich Schiller oder Gabriel Marques. Gewalt provoziert die Schau-, die Hörund die Leselust. Von Anfang an haben die Menschen ein scharfes Interesse für diese Gewaltgeschichten gezeigt. Vor allem für die Täter. Sie wollten deren Taten im-

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mer wieder hören und sehen und lesen. Sie können gar nicht genug davon bekommen.

Wolfgang Sofsky konstatiert: ”Wo immer Gewalt geschieht, ist der Zuschauer nicht weit.“ (aa0, 101). Ich füge hinzu: Gewalt sucht sich ihrem Wesen nach die öffentliche Beachtung. Ohne sie bliebe sie ohne Effekt. So dunkel die Gewalt selbst und ihre Herkunft auch sein mag, sie drängt ans Licht. “Man sieht (den Zuschauer) in der Arena blutiger Tier- und Sportkämpfe sitzen, in den Kinosälen, wenn ein Horrorfilm vorgeführt wird, vor dem Fernsehschirm zu Hause, wenn die Bilder des Krieges übertragen werden” (aaO, 103). Und wo Gewalt geheim geschieht, wird sie später als das nicht therapierbare Trauma der schweigenden Zeugen doch noch sichtbar.

Hier zeigt sich nun eine Merkwürdigkeit. Einerseits leiden sie – die Zuschauer – Todesängste, fürchten den nächsten Terrorschlag, hassen die Gewalt, weil sie zerstört, was sie lieben, an der Spitze ihr Leben. Andererseits sind es dieselben, die ins Theater laufen, sich blutige Königsdramen ansehen, Hitchcock verehren und keine Gelegenheit auslassen, Augenzeugen oder wenigstens mediale Zeugen der Gewalt zu werden. Ekel und Faszination gehen hier in einem Menschen problemlos miteinander. Wie soll man das verstehen?

Auch wenn davon so recht nie die Rede ist, weil man es lieber verdrängt: Zunächst muss man sich mit dem Umstand abfinden, dass beobachtete Gewalt unterhält. Das Böse übt ganz offensichtlich einen schier unwiderstehlichen Reiz aus. So schlicht und einfach ist die Sache eben auch, die hier – gerade wenn es um Fernsehen geht – zu verhandeln ist. Gewalt hat alles, um fabelhaft zu unterhalten. Und Fernsehen ist heute immer noch die Nummer 1 unter den Unterhaltungsadressen. Für den Durchschnittszuschauer über zwei Stunden pro Tag. Programmanbieter, auf der Suche mach dem Zuschauer, wären Narren, würden sie nicht möglichst viel von diesem Unterhaltungsmittel Gewalt anbieten, vor allem solche, die möglichst viele Zuschauer brauchen, um auf ihre Kosten zu kommen.

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Der Blick auf die unterhaltende Gewalt gibt eine erste und wichtige Antwort auf die Frage, was Gewalt im Fernsehen überhaupt verloren hat, wenn sie denn nicht unmittelbar Gewalt abbildet – als der gezeigte Krieg, als der gefilmte Terror.

Gewaltszenen kommen entsprechend ihrer Potentialität vor allem in Programmen vor, die der Unterhaltung dienen sollen. Im TV-Movie, der Serie, dem Spielfilm. Ihre Kernzeit ist die Primetime, zwischen 18 und 23 Uhr, wenn die meisten zuschauen. Die Darstellung von Gewalt hat in diesem Kontext einen nahezu konstitutiven, jedenfalls einen höchst attraktiven Wert für fiktionale Fernsehprogramme, die sich an die Masse der Zuschauer richten. Einschließlich der Nachrichten und der Sportarten wie der Formel 1, in denen es Tote geben könnte. Also ist es mindestens voreilig, Kritik an zuviel TV-Gewalt erst einmal an die Veranstalter richten. Die erste Adresse sind die Zuschauer. Es ist der Zuschauer in mir.

Aber was ist so unterhaltend an der Gewalt für das Publikum?

Gewalt entspannt, weil der Akt der Gewalt aufgebaute Spannung löst. Jeder Regisseur müht sich, mit diesem Pfund zu wuchern.

Gewalt ist attraktiv, weil sie etwas Unkompliziertes hat. Weil mit einem Schlag, weil auf einen Schlag alles anders ist. Gewalt bedient die Ungeduldigen. Das ist effektiv in einer Zeit, die keine hat. Gewalt ist sozusagen einfach einfach.

Gewalt bedient die Sehnsucht nach Helden. Niklas Luhmann, der die Gewalt ein wenig trocken unter die “Kommunikationsmittel” rechnet, beobachtet im Blick auf den Täter ganz unsoziologisch die Logik eines Angebots der Mafia: der Gewalttäter “kann kaum ignoriert werden”, sagt er (Vertrauen, 197 S. 60 ff). Fritz B. Simon ergänzt, “dass man als Täter nicht nur wahrgenommen wird, man wird auch ernst genommen.” (Fritz B. Simon, Terror im System, S. 26). Die Analyse vieler Gewaltakte im Blick auf die Täter bestätigt diese Annahme.

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Gezeigte Gewalt folgt der aktuellen Wertschätzung der Kurzfristigkeit. Die Gründe, die Motive etwa für einen Mord, für einen Amoklauf mögen komplex sein, gewissermaßen unergründlich. Der Mord selbst wirkt wenigstens wie eine klare Sache, ist leicht lesbar für jeden. Auch für Analphabeten. Das macht Gewalt womöglich besonders faszinierend in einer Welt, in der das Gefühl zunimmt, dass die Unübersichtlichkeit wächst. Gewalt bedient ein Bedürfnis nach Übersichtlichkeit. Die Sprache mit Worten ist umständlich, undurchsichtig. Die Sprache der Gewalt kennt keine Nebensätze. Der Worte sind genug gewechselt, wir wollen endlich Taten sehen. Sofsky, wie auch sonst gelegentlich durch Übertreibung klärend: “Jede Tat – eine Tätlichkeit.”

Für Fernsehen wichtig ist: Gewalt hat einen hohen Wiedererkennungswert. Das ist wichtig in einem Medium, das vom Ritual, vom déj à vu lebt. Die Art, wie Gewalt inszeniert wird, folgt dem Klischee und setzt es neu in die Welt. In gewisser Hinsicht verhält es sich mit der Gewalt wie mit der Pornographie. Es gibt nur ein begrenztes Reservoir an Einstellungen. Die Zahl der denkbaren Bilder ist endlich. Auch in völlig elektronisch erzeugten Filmen wird auf dieselbe altmodische Weise geprügelt wie zu Zeiten von Siegfried und später dann von John Wayne.

Reiche und Arme töten auf dieselbe Weise. Gewalt kennt keine Klassen, macht Unterschiede zu Gleichheiten, ein Aspekt, auf den auch schon Girard aufmerksam macht: Gewalt bricht los, wo es keine Unterschiede gibt. Das hilft einem Medium, das Massenmedium ist.

Ein weiteres Moment, das Gewalt für Zuschauer so faszinierend macht, ist, dass es in der Umgebung von Gewalt nicht nur einfache Alternativen, sondern sehr häufig große Gefühle gibt. Hass zum Beispiel mit dem Mord als Folge. Es ist nur Platz für einen. Eifersucht, die zur Waffe greifen lässt seit Kain und Abel. Fiktion im Kino, aber auch im Fernsehen lebt von großen Gefühlen, von der Erfahrung der Grenze, von Gegensätzen, von Liebe und Hass, Leben und Tod.

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Ich will für die Existenz von TV-Gewalt noch einen Grund erwähnen, der wieder zurückführt zu der anthropologischen Konstanten, die sich ein intelligenter Veranstalter zunutze macht. Gewalt ist sehr geeignet, als eine Art von global content gehandelt zu werden – als eine Art von überlokaler, interkultureller Ware, die überall im Großen und Ganzen gleichermaßen verstanden und rezipiert werden kann, ganz ähnlich wie Musik oder Sport. Schon immer gilt: Sex sells. Aber es gilt auch: violence sells. Gewalt rechnet sich im wahrsten Sinne des Wortes für ihre Produzenten. Der Referenzrahmen funktioniert auch als Resonanzboden. Weltweit, global.

Es geht aber in alledem auch um das, was Liessmann die “Faszination des Bösen” nennt: “Was bringt uns denn dazu, immer wieder mitanzusehen, wie ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer kracht...? Weil damit die Wirklichkeit einer Möglichkeit sichtbar wurde, weil demonstriert wurde, dass Menschen Dinge tun können, die wir bei hellem Tage weder uns noch anderen zutrauen würden. Das Gefühl, das wir beim Betrachten einer solchen Konstellation an uns erfahren, gleicht deshalb jener von Kierkegaard analysierten Angst-Lust: es ist die Angst vor dem Abgrund seines Selbst und die Lust an einer Freiheit, die einen auch dazu bringen könnte, mit dem Sprung in einen moralischen Abgrund wenigstens virtuell zu kokettieren.”

Im Fernsehen funktioniert die Angst-Lust besonders gut, weil es, wie Liessmann festhält, eine Verschränkung von Nähe und Distanz gibt wie sonst kaum. “Solange wir etwas im Fernsehen sehen können, das sich nicht hier, sondern woanders ereignet, kann es uns noch nicht ganz so schlecht gehen.” Und er fährt fort: “Bei aller Betroffenheitsrhetorik der Kommentatoren ist gerade angesichts solcher Katastrophen (wie dem 11. September oder der Flut im August) die Möglichkeit, sie im Fernsehen zu verfolgen, immer auch eine Form der Selbstvergewisserung, dass man im Grunde davon nicht betroffen ist, also Distanz zum Geschehen gewährleistet ist.” (Ms. S.10). Man hat es nicht nur, man ist das Schäfchen im Trockenen. Der Zuschauer empfindet ein “angenehmes Grauen” – ein Gedanke, den Hans Blumenberg in seinem berühmten Text über “Schiffbruch mit Zuschauer”, Untertitel: “Paradigma einer Daseinsmetapher” ausgearbeitet hat.

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Sofsky, der sich freilich nicht an so trivialen Dingen wie Fernsehprogrammen, sondern am erhabenen antiken Circus Maximus ausrichtet, attestiert dem neugierigen Zuschauer, der zunächst gar nicht zuschauen will, dann aber gefangen wird, ähnliche Gefühle, einen “Nervenkitzel des Außeralltäglichen, die gedämpfte Angstlust, die Aussicht auf ein Spektakel der Barbarei.” (aaO, 106). Doch er geht noch einen Schritt weiter: ”Was den Zuschauer erregt, ist die Gewalt selbst” (aaO 107). Der Täter zieht alles Interesse auf sich. Die “Faszination gilt dem Handeln, nicht dem Leiden” (aa0, S.108), konstatiert Sofsky und versichert sich umgehend der Zustimmung von Friedrich Nietzsche. ”Leiden-sehn tut wohl, Leiden-machen noch wohler” (F. N. Zur Genealogie der Moral)

Was an der dargestellten Gewalt faszinierend sein kann, beschreibt Michel Foucault in seinem schon 1975 erschienen Buch “Überwachen und Strafen”, in dem er dem Wandel von der Marter zur Strafe, zur Disziplin nachgeht. “Die posthume Kundmachung der Verbrechen” – ich füge ein: am Ende des 18. Jahrhunderts – “rechtfertigte die Justiz, verherrlichte aber auch den Verbrecher. Darum haben die Reformer des Strafsystems bald das Verbot der Fliegenden Blätter gefordert. Darum hat man im Volk diesen niedrigen und alltäglichen Heldensagen der Gesetzwidrigkeiten” – ich ergänze: die diese Fliegenden Blätter berichtet haben – “ein so lebhaftes Interesse entgegengebracht. Und darum haben sie ihre Bedeutung verloren, als sich die politische Funktion der im Volk beheimateten Gesetzwidrigkeit” – ich ergänze: nämlich nicht mehr die Beleidigung des Souveräns durch die Marter sichtbar zu machen – “änderte. Und schließlich sind sie verschwunden, als sich eine ganze Literatur des Verbrechens entwickelte” – ich ergänze: die sich heute ins Fernsehen fortgeschrieben hat, als Krimi, als detective story – “Eine Literatur, in der das Verbrechen verherrlicht wird, weil es eine der schönen Künste ist” – ich ergänze: ähnlich hat sich Alfred Hitchcock gegenüber Francois Truffault geäußert –“ weil es nur das Werk von Ausnahmenaturen sein kann, weil es die Monstrosität der Starken und der Mächtigen enthüllt, weil auch die Ruchlosigkeit noch ein Privileg ist: vom Schauerroman bis zu Quincey, vom Schloß Otranto bis zu Baudelaire wird das Verbrechen ästhetisch wiedergegeben, verwandelt und annehmbar gemacht. Anscheinend handelt es ich dabei um die Entdeckung der Schönheit und der Größe des Verbrechens; in Wirklichkeit ist es die Behauptung, dass die Größe auch ein Recht auf das Verbrechen hat und dieses sogar zum ausschließlichen Privileg der wirklichen Größe wird. Die schönen

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Morde sind nichts für die Tagelöhner der Gesetzwidrigkeit. Und die mit Gaboriau einsetzende Kriminalliteratur folgt auf diese erste Verschiebung: durch seine subtilen Schliche, durch seine extrem scharfe Intelligenz erhebt sich der Verbrecher über jeden Verdacht; und der Kampf zwischen zwei reinen Geistern – dem Mörder und dem Detektiv – stellt die wesentliche Auseinandersetzung dar.” Ich füge hinzu: man erinnert sich an das “Schweigen der Lämmer”.

Es gibt also zunächst aus zwei Gründen Gewalt im Fernsehen. Erstens ist das Fernsehen kein Spiegel einer heilen Welt und frei vom Bösen. Indem es Gewalt zeigt, reale wie fiktive, entspricht es seiner Funktion als einem Medium der Gesellschaft und unterscheidet sich darin prinzipiell nicht von anderen Medien anderer Zeiten. Und zweitens eignet sich Gewalt auf eine ganz besondere Weise als Mittel der Unterhaltung. Darauf einfach zu verzichten würde sowohl den Nutzern als auch den Veranstaltern eine Programmart von höchster Attraktivität nehmen – ein Verzicht, für den es unabweisbar gute Gründe geben müsste, die es aber, soweit ich sehe, nicht gibt.

Muss man nun aber vor diesem Befund kapitulieren, muss man akzeptieren, dass die Lust zur Unterhaltung, gestillt und bedient durch Gewaltszenen, eben, wie vieles andere auch, ihren, nämlich diesen Preis hat? Wo gelebt und gehobelt wird, fallen eben Späne? Muss man hinnehmen, dass alles so ist, wie es ist und dass es uns vielleicht nicht gut gefällt, aber unabweisbar ist?

Es geht auch hier nicht um alles oder nichts. Es geht um Verhältnismäßigkeit, um Angemessenheit. Es geht nicht um die wahren Gefühle, sondern um die richtigen Fragen. Und nicht um endgültige Siege, sondern um immer wieder neu aufbrechende Kämpfe. Man mag das resignativ nennen – aber ich halte es hier mit Albert Schweitzer: “Resignation ist die Halle, durch die man in die Ethik gelangt.“

Wenn meine knappe Analyse richtig ist, stellt sich keinen Augenblick die Frage nach dem “ob”, wohl aber eine Reihe anderer Fragen. Ich nenne die, die ich für wichtig halte: von welcher Qualität muss die gezeigte Gewalt sein und welche Quantität soll-

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te sie haben? Welche Folgen könnte es haben, wenn Gewalt überwiegend als unterhaltsam, als spannend empfunden wird? Und natürlich dann auch, wenn auch überschätzt: muss man Effekte der Nachahmung oder eben der Wirkung von TV-Gewalt befürchten?

6. Gewalt und ihr Kontext

Was die Qualität betrifft, entscheidet formal gesehen der Kontext, in dem die Szene, das Bild, das gezeigte Ereignis stehen. Inhaltlich gesehen ist dieser Kontext nichts irgendwie Beliebiges, das man so oder eben auch anders sehen könnte. Es ist genau der Kontext, den der Gewaltdiskurs immer umfasst: der Angriff der Gewalt auf die soziale Ordnung. Der Ausbruch des Bösen. Dargestellte Gewalt, die diesen Kontext nicht auf irgendeine Weise deutlich macht oder ihn sogar im Interesse anderer Effekte ausblendet oder gar unterdrückt, ist unverantwortlich und hat auch in TVProgrammen nichts zu suchen. Sie spekuliert nicht nur ausschließlich auf das Unterhaltungsbedürfnis des Zuschauers – das wäre vielleicht noch zu rechtfertigen, weil Unterhaltung entgegen landläufigen Vorurteilen noch keine Sünde an sich ist. Sie verkürzt Gewalt auf einen grundlosen Affekt. Sie isoliert und entsozialisiert den Gewaltakt und macht Gewalt zu einem Fall für sich. Gewalt ist demgegenüber immer eine Art von “Fall für zwei”: für sie selbst und für die Gesellschaft, die sie behelligen und am Ende zerstören möchte. Das muss man sehen können.

Die Fachleute für dargestellte Gewalt wissen das. Sie erfinden immer wieder neue Geschichten, um die Geschichte der Gewalt zu erzählen. Daran hat sich seit Homer nichts geändert. Dilettanten sind in dieser Hinsicht ahnungslos. Leider aber gibt es unter den Produzenten von TV-Programmen nicht nur Fachleute. Es gibt wie auch sonst Pfuscher und Fälscher, es gibt solche, die schlechte Ware anbieten. Es ist eine Funktion der Gewaltdebatte, die Dilettanten aufzuspüren und auszumustern.

Die Frage nach dem Quantum, der Gewaltmenge im Programm berührt die durchaus prekäre Beziehung zwischen Gewalt und Unterhaltung. Gibt es davon zu viel, dann ist damit zu rechnen, dass Gewalt gewöhnlich wird, dass sie auf eine Weise banali-

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siert wird, die ebenfalls den Bezug zur Destruktion, zu ihrer Zerstörungsabsicht nicht mehr erkennen läßt. Hier laufen übrigens auch die Veranstalter ins Risiko der Inflation. Optisch jederzeit präsent verliert die Gewalt eines ihrer besonderen Merkmale, das Moment der angstmachenden Überraschung, das jederzeit Bedrohliche. Zuviel gewaltgestützte Unterhaltung nimmt der Gewalt das, was Sofsky das “Außeralltägliche” genannt hat. Wenn Gewalt ein Bestandteil schier jeder Handlung wird, wird die Ausnahme zur Regel. Das aber kann nur dazu führen, dass Gewalt selbst auf Dauer als normal, regelmäßig, gewöhnlich, durchschnittlich eingeschätzt wird. Die Quantität steht gewissermaßen unter dem Risiko der Selbstkannibalisierung.

Die Antwort auf die zweite Frage ist auch eine Antwort auf die dritte – die nach den Folgen von zuviel Gewalt. Der prekäre Effekt ist vor allem der, dass die Gewalt ihren Schrecken verliert, dass sie nicht nur billig, sondern sozusagen hoffähig wird, dass sie auf Augenhöhe mit andern alltäglichen Handlungsweisen und Problemlösungen gerät. Sie wird gleich unter Gleichen. Gewalt problemlos auszuüben heißt: cool sein, sein wie alle – normal also. Nichts mehr dabei finden, wenn einer tot umfällt. Eher amüsiert sein, wie es ihn getroffen hat.

Zuviel Gewalt im Fernsehen, zuviel Quantität ist immer von der Qualität, die verzichtbar ist, weil sie Gewalt pur ist und nichts besagt außer Gewalt. Keinen Bezug nimmt. Keinen Kontext hat. So wie Sexualität ohne Kontext Pornographie ist, ist Gewalt ohne Kontext eine Obszönität: unanständig, um einen etwas altmodischen Begriff aufzunehmen.

Natürlich gibt es Streit um die Frage nach der Menge. Was ich für zuviel halte, hält ein anderer für harmlos. Ohne Kriterien ist ein solcher Streit ein Austausch unter tauben Falken. Meine Kriterien richte ich aus an der Rolle der Gewalt als dem Bösen, das soziales Leben zerstört.

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7. Zwischen Ursache und Wirkung

Bleibt noch die, wie ich finde, überschätzte Frage nach der Nachahmung.

Dass sie so nachhaltig gestellt wird, hat natürlich auch damit zu tun, dass es um Fernsehen geht. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Medium wie dem Fest, dem Theater, dem Buch, ja sogar noch dem Kino einerseits und dem Fernsehen liegt in der konkreten Funktion des Fernsehens als Leitmedium. Es ist – nach technischer Verbreitung wie nach Nutzung – das Massenmedium schlechthin. Daran führt auch eigenes Nutzungsverhalten, das gegen null gehen mag, nicht vorbei. Alles, was angeboten wird, findet eine massenhafte Rezeption und zwar eine auf Dauer gestellte. Die erwähnten zwei Stunden pro Tag sind absolut konkurrenzlos und werden in manchen Gegenden der Welt mühelos verdoppelt. Vielseher bringen es leicht auf acht Stunden und sind keine Rarität.

Dies bedeutet, dass die Inhalte auf eine qualitativ mit anderen Medien unvergleichliche Weise Wirkung entfalten können. Fernsehen ist in vielen Dingen des Alltags trendsetzend. Es bestimmt populäre Kultur. Den Musikgeschmack. Die Politik. Es ist an der Ausprägung von Haltungen, Einstellungen, Idolen substantiell beteiligt. Kein anderes Medium hat eine solche Breitenwirkung, auch wenn die Wirkung konkret noch nicht besonders gut erforscht ist, weil sie sich in einem hochkomplizierten feed back-Bereich abspielt.

Zugleich ist das Fernsehen trotz des vielen Redens in Talkshows ein Bildmedium. Das erhöht seine originäre Suggestionskraft. Man muss sich nichts lange vorstellen, so, wie dies etwa noch bei Romanen der Fall ist. Das Meiste steht als Bild da. Es besetzt, darin dem Film vergleichbar und vom Film noch übertroffen, aber eben nicht in dieser Breite wirksam, die Wahrnehmung – eine fremdbestimmte Wahrnehmung.

Beide Faktoren, deren Eigenart ich hier nur behaupten kann, machen das Fernsehen zu einem Medium sui generis. Und nur deshalb gibt es eine Debatte über Gewalt im

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Fernsehen und muss sie geben, weil die höchst unterhaltsamen Bilder der Gewalt nach Art und Umfang viel prägender sind als alles, was sonst medial auf Menschen einwirkt. Nicht von einem Moment auf den anderen. Nicht von der Medialität auf die Realität – heute gesehen, morgen nachgemacht. Sondern auf längere Sicht, als steter Tropfen – als steter Augentropfen sozusagen.

Deshalb sind sowohl der Umfang, das Quantum als auch die Art und Weise, die Qualität der Gewaltdarstellungen ein Thema von hohem gesellschaftlichem Rang. Deshalb ist von zentraler Bedeutung, in welchem Kontext Gewalt aufscheint. Und deshalb ist mindestens die Vermutung, es könnte zu Folgetaten kommen, ernst zu nehmen.

Aber wie steht es nun mit der Wirkung?

Immer wieder, zuletzt freilich seltener, ins Spiel gebracht wird die auf das Publikum der griechischen Tragödie bezogene Katharsis-Hypothese. Sie besagt: Was man medial erlebt, hat sich real erledigt. Zuschauen reinigt.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass hier und da tatsächlich medial bereits verbraucht wird, was dann real nicht zur mehr Verfügung steht. Doch nicht nur, dass diese Hypothese von einem Quantum an Gewalt ausgeht, das man entweder auf diese oder auf jene Weise abarbeitet, fiktional oder real – eine am Ende sehr statische Betrachtungsweise. Diese Hypothese wird dem Fernsehen nicht gerecht. Sie verkennt bzw. ignoriert vor allem die längerfristigen Prozesse auf der Seite des Zuschauers.

Das Gegenteil bietet die Hypothese von der Imitation. Sie unterstellt, dass fiktionale, mediale Gewalt erst dort zu sich selbst kommt, wo der Zuschauer sie real umsetzt, nachahmt. Dies ist die gängige, geradezu volkstümliche – populäre wie populistische – Anschauung über den im Grunde monokausalen Wirkprozess medialer Gewalt. Sie lebt immer wieder auf, wenn spektakuläre Verbrechen unter ausdrücklichem Bezug der Täter auf mediale Gewalt begangen werden. ”Ich habe das im Fernsehen

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gesehen”, sagen sie und lösen damit einen öffentlichen Reflex aus, der heißt: Haben wir das nicht immer schon gesagt! Schafft das Fernsehen ab!

Auch diese Hypothese hat an Ansehen verloren. Zwar wird man nicht ausschließen können, dass auch Fernsehprogramme nachgeahmt werden. Alles wird irgendwann nachgeahmt. Positives ebenso wie Negatives. Aber es ist absurd zu behaupten, Fernsehen stimuliere geradezu zur Gewalt, fördere das einzelne Verbrechen. Man müßte im Sinne dieser Logik dann Ähnliches vom Straßenverkehr sagen oder vom Leben auf dem Schulhof. Aus guten Gründen ist bisher noch niemand auf solche Ideen gekommen.

Wichtiger und weiterführend erscheint mir eine Überlegung, die auf die Annahme einer “Eins-zu-eins-Anwendung”, in beiden Richtungen, verzichtet und sich stattdessen, vorsichtiger, mit der Frage befasst, ob es so etwas wie ein fernsehgestütztes Klima für Gewalt geben könnte. Mit dieser Überlegung verbindet sich die Verstärkungs-Hypothese. Sie unterstellt, dass viel Gewalt im Fernsehen auch die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft beeinflusst. Wobei allerdings auch immer das Umgekehrte gilt.

Diese Annahme greift den bereits erwähnten Sachverhalt auf, dass Fernsehen bei der Ausbildung und Stützung von Werten, Haltungen, Moden und Trends, im agenda setting, eine wichtige Rolle spielt. Diese Annahme ist weithin unstrittig und sie gilt selbstverständlich nicht nur für Musikstile oder die Inszenierung von Politik, sie gilt auch für den Bereich der Gewaltdarstellung.

Wenn Gewalt gewöhnlich und normal wird, wenn einem geradezu etwas fehlt, wenn Gewalt fehlt, dann darf man vermuten, dass dies Einfluss auf einen Grundbestand an Einschätzungen hat, die Zuschauer bei sich nach und nach bilden, nicht von heute auf morgen, sondern langfristig, nicht von einem Film unmittelbar in die Realität, sondern auf Umwegen, abgeschwächt, verbunden mit anderen Haltungen und Einschätzungen.

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Diese Unterstellung kann man differenzieren. Wenn mir fortgesetzt vorgespielt wird, dass der Starke die Dinge zu seinen Gunsten entscheidet – und dies ist natürlich eine Kernbotschaft der Gewalt, Sofsky hat darauf verwiesen –, dann wird das auf Dauer eine Rolle spielen auch für mich. Wenn mir gezeigt wird, dass der Gewalttäter mehr Aufmerksamkeit findet als seine Opfer, dann darf man sich nicht wundern, wenn Täter so prominent und vorbildhaft werden wie Stars und andere Fixsterne, an denen sich eine Gesellschaft ausrichtet. Wenn Gewalt als cool konnotiert wird, wird dies auch Einfluss auf die Haltung solcher Jugendlicher nehmen, denen daran liegt, cool zu wirken.

Verstärkung spielt vor allem eine Rolle beim agenda setting. Je mehr Gewalt, desto mehr der Eindruck, man lebe in einer gewalthaltigen Welt und man löse die Probleme am besten auf gewaltsame Weise. Das mag dann ein Moment werden, das im Kontext von Amokschützen herangezogen werden darf. Doch auch da geht es nicht geradewegs von der Ursache zur Wirkung. Alle monokausalen Betrachtungen verkennen die Spezifika der medialen Kommunikation. Den Verzögerungseffekt, das Kontextproblem. Die Kraft der Bilder. Den Rückkanal. Die zahllosen Faktoren, die gegenseitig aufeinander einwirken, verstärkend, modifizierend, korrigierend, abschwächend. Es ist trotz aller Forschungen in diese Richtung immer noch viel zu wenig bekannt darüber, wie Wirkung sich aufbaut. Fast könnte man es richtig finden, dass wir auf den Begriff der Wirkung verzichten. Er unterstellt, dass es die eine Ursache gibt, wobei Medienwahrnehmung doch immer, auch einsam konsumiert, eine soziale Handlung ist. Im Übrigen bliebe die Frage, welche individuellen Faktoren sich auswirken, weil es empirisch gesehen beim einen offenbar wirkt und bei der anderen nicht. Sicher ist nur: im Kontext einer bestimmten Agenda fügen sich Dinge zu neuen Bildern und Einstellungen, die zu Beginn ihrer jeweiligen Karriere nichts miteinander zu tun hatten.

8. Ethik und Gewalt

Es kann angesichts dieser zentralen Rolle der Gewalt nicht überraschen, dass auch die großen ethischen Konzepte auf diese zentrale Stellung referieren, dass die Ver-

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minderung oder die Verhinderung von Gewalt in vielen Konzeptionen der alles überragende Zweck ist

Die meisten Entwürfe für eine moderne, zeitgemäße Ethik beziehen sich in ihren Zweckvorstellungen auf eine Erhaltung der Ordnung – Ordnung im Sinne des kosmos, als Gegenentwurf gegen Gewalt und Aggression, Chaos und Barbarei. Erinnert sei an Hobbes “Leviathan” und seinen Gedanken vom Staat. Jeremias Bentham bemüht sich um eine “Minderung des Leidens”, oder, positiv gewendet, um das “größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl”. Arthur Schopenhauer konzentriert seinen Entwurf auf den “Willen zur Selbsterhaltung”, Albert Schweitzer postuliert die “Ehrfurcht vor dem Leben”, Richard Rorty das Prinzip der liberalen Ironikerin, die “Verringerung der Grausamkeit”.

Jede Diskussion über Gewalt in der Gesellschaft, zu der immer auch die Diskussion über Gewalt in den Medien gehört hat und gehört, ist im Sinne dieses Zusammenhangs mit einer Ethik eine Diskussion über die gesellschaftlich erwünschten, über die zeitgemäßen ethischen Standards, über universale Ideale.

Jede Diskussion über Gewalt im Fernsehen ist in diesem Sinne eine Diskussion über Medienethik. Und erweist, dass diese Debatte alles andere als abstrakt ist und folgenlos bleibt.

Dabei wir sollten uns nicht – aus Gründen der Übersichtlichkeit so gut wie aus Gründen der Befangenheit – schnell und ohne große Diskussion darauf verständigen, dass es nur um eine Ethik des Anbieters geht, des Produzenten. Da sind wir schnell dabei und fragen mit brio in der Stimme: was darf er – und: darf er das überhaupt? Was sollte er besser lassen? Was leitet ihn überhaupt – außer dem Gedanken an seine Quote? Was muss er verantworten? Es geht im selben Maße eben auch um eine Rezipientenethik – was sieht der Zuschauer und wovon zuviel? Was geniesst er, wo sitzt die Lust verborgen?

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Fernsehkritik ist in diesem Sinne auch immer Selbstkritik. Die Gewaltdebatte erinnert auch an diesen Zusammenhang.

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Wichtige Literatur Art. Macht in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd.5, Darmstadt 1980

Dirk Baecker/Peter Krieg/Fritz B.Simon (Hrsg.), Terror als System. Der 11. September und die Folgen, Heidelberg 2002.

Jeremias Bentham, An Introduction to The Principles Of Moral and Legislation, London 1780

Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, stw 289, Frankfurt 4. Aufl. 1993.

Siegmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930, 1929) Studienausgabe Frankfurt 1974, Bd. IX, S. 191ff.

Ders., Warum Krieg? (1933, 1932) Studienausgabe Frankfurt 1974, Bd. IX, S. 271 ff.

Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt Paris 1972/ Zürich 3.Aufl.1999

Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München. Wien 1995

Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlungen über den Vater, Lektiones VIII, Paris 1989/Freiburg 1998

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Konrad Paul Liessmann, Das Böse – ein blinder Fleck in der Gesellschaft. Vortrag bei den “Mainzer Tagen der Fernsehkritik”, 19.02.02, Ms.

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1992

Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, Hrsg. von P. Deussen, München 1911

Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt Frankfurt, 3.Aufl. 2001

Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1978

Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1958

Gerhard Zacharias, Das Böse, München 1972