2013 TOURENFAHRER 107

Insel-Begabung Kreta – da denken viele nur an Badeurlaub am azurblauen Meer. Sollen sie doch, so kann man einen der südlichsten Außenposten Europas we...
Author: Bettina Maier
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Insel-Begabung Kreta – da denken viele nur an Badeurlaub am azurblauen Meer. Sollen sie doch, so kann man einen der südlichsten Außenposten Europas wenigstens ungestört erkunden und sich den wahren Begabungen von Griechenlands größter Insel widmen Text und Fotos: Christoph Driesen Tiefblick auf die Bucht von Finix. Bis man das Meer erreicht hat, muss noch viel Staub geschluckt werden.

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Ganz schmal zwängt sich die Piste durch die Tripití-Schlucht in den Asteroúsia-Bergen.

Wo der Lenker fast die Felswände streift und sich das Bollern der XT wie ein Hubschrauber anhört 10/2013 TOURENFAHRER 109

Viel geliebt und heiß umkämpft Oben: Einst als trutziges Wehrkloster erbaut, zeigt sich Odigítrias heute als Kleinod in hellen Farben. John, der Pope, führt durch die Anlage, die auch eine alte Ölmühle beherbergt. Rechts: Britische Flak über der MessaráEbene – einer von vielen Zeugen des »Kampf um Kreta«. Unten: Zwischen Olivenbäume und blanken Fels zwängt sich die Piste im Asteroúsia-Gebirge.

Rechte Seite: Turm des Skínakas-Observatoriums in luftiger Höhe. Mátala heißt Besucher mit Relikten der Hippie-Zeit willkommen. Die Wohnhöhlen der Aussteiger wurden schon in der Steinzeit angelegt. Kloster Arkádi ist Symbol des kretischen Widerstands und Freiheitswillens, der Beiwagen in einem privaten Kriegsmuseum Erinnerung an unselige Zeiten.

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D

u hast ein Problem«, sagt Yannis. Wir stehen vor dem fünften Geldautomaten in Iráklions Fußgängerzone, und auch der rückt kein Bargeld heraus. »Card not accepted« zeigt das Display – genau wie die vier vorherigen. Ja, offensichtlich habe ich ein Problem, aber damit hat eigentlich auch Yannis ein Problem, denn ich kann ihn nicht bezahlen. Yannis hat mir vor einer Stunde eine Ténéré vors Hotel gestellt, die ich für die nächsten zehn Tage mieten will, und nun komme ich nicht an Bargeld. Aber Yannis bleibt cool. So cool, wie er mit seinem Bürstenhaarschnitt und der verspiegelten Pilotenbrille auch aussieht. »Bezahl einfach, wenn du sie zurückbringst«, sagt der Motorradverleiher. »Aber kümmer‘ dich um dein Problem.« Momentan gibt es da nicht viel zu kümmern, denn die Banken haben geschlossen. Heute, morgen und die darauffolgenden drei Tage auch noch. Es ist Karfreitag in Griechenland – fünf Wochen nach unserem Ostern, denn in Griechenland feiert man nach dem Julianischen Kalender. Und man feiert lange, jedenfalls die Banker. Der Anruf bei meiner Hausbank führt natürlich in die obligatorische Endlos-Warteschleife, trotzdem sehe ich das Problem noch nicht als gravierend an. Ich habe schon einmal erlebt, dass alle Geldautomaten meine Karte ausspuckten, vor ein paar Jahren in Palermo, am nächsten Tag wurde sie anstandslos akzeptiert. Schlechte Verbindungen, der Feiertag, wer weiß das schon. Kein Grund zur Panik, denke ich mir und beschließe aufzubrechen. 130 Euro und eine Kreditkarte habe ich ja noch in der Tasche, wobei klar ist, dass Letztere in den Dörfern Südkretas kaum von Nutzen sein wird. »You have a good bike«, sagt der Hotelier beim Auschecken und reckt den Daumen in die Luft. Da hat er Recht, die vorm Hotel abgestellte Ténéré sieht aus wie direkt aus dem Yamaha-Showroom, von den 25.000 gelaufenen Kilometern sieht man ihr keinen einzigen an. Ungewöhnlich für ein Mietmotorrad, erst recht für eine Enduro auf einer Insel, wo man wirklich noch offroad fahren kann. Nichts wie raus aus Iráklion, dessen Häusermeer kein Ende zu nehmen scheint. Kretas größte Stadt ist alles andere als eine Schönheit. Die deutsche Luftwaffe zerbombte 1941 einen großen Teil der Altstadt, die Alliierten legten später den Rest in Schutt und Asche. Wie in Deutschland auch wurden für den 112 TOURENFAHRER 10/2013

Unterwegs im Ída-Massiv vor der Kulisse des 2456 m hohen Tímios Stavrós, Kretas höchstem Gipfel.

Wiederaufbau nicht gerade Architekten mit ausgeprägtem Sinn für Ästhetik verpflichtet, ein ungezügelter Bauboom in den 1970ern tat sein Übriges. Sicher, ein paar Kirchen und eine Handvoll venezianischer Bauten in Iráklions Zentrum sind durchaus sehenswert, überraschend hoch ist auch die Dichte trendiger, topgestylter Bars und Restaurants, aber mehr Zeit als nötig möchte man hier eigentlich nicht verbringen. Hinter Knossós, der Ausgrabungsstätte, wo die Reisebusse Spalier stehen, ist man plötzlich allein auf der Straße. Weinreben ranken hier am Straßenrand, es sieht ein wenig nach Toskana aus, rechter Hand ragt der Joúchtas gen Himmel. »Schlafender Zeus« wird der Fels genannt, dessen Profil aus bestimmtem Blickwinkel an den obersten Chef aller griechischen Götter erinnert. Ich entdecke aus dem Augenwinkel eine Schotterpiste, die hinaufführt, und spendiere der Ténéré die erste Staub-Patina. Gehört sich schließlich so für eine Enduro. Fahrerisch Spektakuläres darf man hier nicht erwarten, der Ausblick von oben allerdings hat es in sich: Weit zurück bis ans Meer reicht er, und dreht man sich um, schweift der Blick über die Messará-Ebene hinweg zum Asteroúsia-Gebirge im Süden. Das sieht ziemlich verlockend aus, also wird die fahrerisch eher eintönige Ebene mit gespanntem Gasseil durchquert. In Pirgos, am Fuß der Berge, noch einmal ein Stopp an einem Geldautomaten: »Card not accepted«. Langsam schwant mir Übles. In Loukia, einem kleinen Dorf, soll laut Karte eine Piste durchs Gebirge an die Küste abzweigen. Ich sehe nur einen einzigen nicht asphaltierten

Allgemeines

Kreta ist Griechenlands südlichste Insel und nach Zypern die zweitgrößte Insel im östlichen Mittelmeer. Kreta dehnt sich in West-Ost-Richtung über 260 Kilometer aus, die größte Breite beträgt 60 Kilometer. Mehr als 1000 Kilometer Küstenlinie und gleich vier hohe Bergketten prägen das Gesicht der Insel, die höchsten Erhebungen überschreiten 2400 Meter. Die großen Städte Iráklion, Chaniá und Réthimnon befinden sich alle an der Nordküste, mehr als die Hälfte der 610.000 Kreter hat dort ihr Domizil. An der zerklüfteten Südküste finden sich dagegen nur Kleinstädte und Fischerdörfer, was ihren besonderen Reiz ausmacht.

Es lebe die Freiheit

Die ausgeprägte Freiheitsliebe der Kreter ist nur zu verständlich, denn die Historie der Insel ist eine Geschichte der Besatzung. Römer, Araber und Venezianer geben sich förmlich die Klinke in die Hand, mit der türkischen Besatzung beginnt 1669 eines der dunkelsten Kapitel. 230 Jahre bleiben die Osmanen, während die Kreter einen Freiheitskampf aus dem Untergrund führen. Mit Hilfe der Großmächte werden die Türken schließlich vertrieben, erst 1913 folgt Kretas Anschluss an Griechenland. Doch die Freiheit währt nicht lange, 1941 landen deutsche Fallschirmjäger auf Kreta und besetzen nach schweren Kämpfen die Insel. Ein erbitterter Partisanenkrieg beginnt, als »Vergeltung« brennt die Wehrmacht zahlreiche Dörfer nieder und tötet unzählige Zivilisten. Erst 1945 rücken die letzten Deutschen ab – Kreta ist endlich frei.

Der Strand von Vathí ist nur über eine sehr holprige Piste zu erreichen. Deshalb wird man ihn wohl meist für sich allein haben.

Abzweig, das muss er sein. Lange, viel zu lange schlängelt sich die Piste am Fuß der Berge entlang, bevor sie endlich ins Gebirge abdreht. Gefühlsmäßig hätte ich längst ein weiteres Dorf passieren müssen, aber hier ist nichts. Doch, irgendwann knattere ich an einem einsamen Bauernhof vorbei, der Hofhund schlägt Alarm, und die Bäuerin steckt den Kopf aus der Tür. Auf Englisch nach dem Weg fragen? Fehlanzeige. Klar, würde auf einem Einödhof im Allgäu ja auch nicht funktionieren. Aber ein fragendes »Vasiliki?« reicht auch aus, um einen freundlichen Fingerzeig in die Richtung zu erhalten, aus der ich gerade gekommen bin. Schade eigentlich, die Piste wurde gerade nett, aber für Experimente ist es ein bisschen spät am Tag. Also Kehrtwende und zurück. Es sollen noch drei oder vier Bauernhöfe werden, auf deren Grundstück ich strande und in fragende Gesichter blicke, als ich die Ténéré zwischen gackernden Hühnern wende. Dann gerate ich auf eine

Piste, die breit ist wie eine Autobahn und wohl kaum die Zufahrt zum hinterletzten Gehöft ist. Ob es die richtige ist, weiß ich allerdings immer noch nicht, immerhin habe ich Vasiliki hinter mir gelassen. Mit der Autobahn ist es irgendwann vorbei, rumplig und schmal zieht sich die Strecke jetzt durch das Gebirge, das von betörender Schönheit ist. Nackter Fels in bizarren Formationen, knorrige Olivenbäume und dichte Macchia, dazwischen senkt sich die Piste in endlosen Serpentinen gen

Küste. Bevor das Wasser erreicht ist, zwängt sich der Weg aber noch handtuchbreit durch die Tripití-Schlucht, wo der Lenker fast die Felswände streift und sich das Bollern des Einzylinders wie ein Hubschrauber anhört. Gut, dass man hier so einfach nicht hinkommt, sonst wären wohl längst die Reisebusse vor Ort. Zumal sich hinter der Schlucht ein traumhafter Strand ausbreitet und die Piste jetzt ganz nah am Wasser an der Klippenküste entlangmäandert. Ich habe keine Ahnung, ob sie nach Lentas führt oder am nächsten Strand endet, aber im Moment ist das angesichts der wilden Schönheit auch egal. Ich fühle mich großartig. Allerdings nur, bis die Piste wieder in die Berge abbiegt. Wo zum Teufel führt sie hin? Ein paar wild dreinblickende Schafhirten, auf die ich treffe, geben Entwarnung. Lentas? Energisches Kopfnicken, ich bin auf dem richtigen Weg. Und strande schon vorher in der Taverna Anatoli am einsamen Petrakis Beach. Ein Zimmer ist noch frei, essen kann man mit den plätschernden Wellen zu Füßen – alles ist gut. Alles? Nein, ich erreiche meine Bank und erfahre, dass keine Verbindungsprobleme mit Kreta bestehen, meine Karte muss also defekt sein. Anruf bei

Hart am Abgrund. Vom Skínakas-Observatorium aus zieht sich eine Piste durch das Ída-Gebirge, das Dach Kretas.

Lentas? Energisches Kopfnicken der wild dreinblickenden Hirten. Ich bin auf dem richtigen Weg 10/2013 TOURENFAHRER 113

Plattfuß! Jetzt wird‘s eng, ich brauche Geld und einen Schlauch, bevor ganz Kreta Ostern feiert meiner Mutter. Ja, sie will sich kümmern, herausfinden, ob und wo ich mit einer Kreditkarte ohne PIN an Bargeld komme oder was es sonst für Möglichkeiten gibt. Auf Mütter ist einfach Verlass. Ihre Nachricht erreicht mich am nächsten Nachmittag, als ich nach ziemlich viel Schotter in der Bucht von Ágios Ioánnis bei einem Frappé sitze. Zurück nach Iráklion, sie hat mir Geld mit Western Union überwiesen. Bis halb neun soll das Büro geöffnet sein, also noch sechs Stunden Zeit für grad mal 80 Kilometer. Trotzdem gebe ich ordentlich Gas auf der winkligen Schotterpiste hoch nach Kapetanianá, fliege über die groben Auswaschungen, dass es mir hin und wieder das Hinterrad mächtig versetzt. Normal beim Enduro-Fahren, aber leider zu viel Elan für den aufgezogenen Michelin Anakee. In der ersten asphaltierten Kurve eiert die Fuhre mächtig – hinten hat die XT einen Plattfuß. Jetzt wird’s doch ein bisschen eng, ich brauche bis heute Abend nicht nur Geld, sondern auch einen Schlauch, bevor ganz Kreta Ostern feiert. Der Plattfuß scheint ein schleichender zu sein, 80 km/h lassen sich noch locker fahren, nur in den Kurven eiert es. Unterwegs fülle ich Luft nach, kurz nach fünf rolle ich in Iráklion ein, rufe Yannis wegen des Reifens an und mache mich auf zum Western-Union-Büro. Um vor einem heruntergelassenen Stahlgitter zu landen. Von wegen halb neun, hier hat sich längst jemand ins lange Wochenende aufgemacht. Aber in der Fußgängerzone ist ein weiteres Western-Union-Büro, und das hat geöffnet. Geld abheben? Erst Mittwoch wieder, die Zentrale in Athen hat schon um fünf zugemacht, und ohne die geht nichts ... Yannis hat mehr Glück, hat noch einen Reifenhändler aufgetan, der an diesem Abend den Schlauch wechselt. Als der den alten aus dem Reifen zieht, traue ich meinen Augen nicht: Er ist komplett durchgerissen. Wie steif ist die Karkasse des Anakee? So viel Stabilität komplett ohne Luft kenne ich sonst höchstens von einem Desert! Beeindruckend, aber das ändert nichts daran, dass ich keine 30 Euro mehr in der Tasche habe. Yannis kennt Zeus und die Welt, telefoniert 114 TOURENFAHRER 10/2013

Ein Hauch von Venedig. Chaniás Hafenfront erinnert an die Lagunenstadt, die Promenade ist nur bei Regen menschenleer.

mit diesem und jenem, findet aber auch keine Lösung. Schließlich drückt er mir 70 Euro in die Hand, alles, was er in der Tasche hat. »Gib’s mir zurück, wenn du das Motorrad wiederbringst.« Der Mann ist nicht nur cool, er ist ein Engel. Am nächsten Morgen verschwindet Iráklion zum zweiten Mal im Rückspiegel. Diesmal auf dem Weg hinauf ins Ída-Gebirge, das Dach Kretas. Alpine Kurvenschwünge schon bis Anógia, Kretas größtes Bergdorf in 800 Metern Höhe, richtig unterhaltsam wird es aber erst auf dem Abzweig in die höhere Bergwelt. Nein, bis auf den Tímios Stavrós, den 2456-Meter-Koloss, kann man nicht fahren, aber man hält genau auf Kretas Höchsten zu, dessen weiße Schneefelder in der Sonne glitzern. Immer karger und wilder wird die Berglandschaft, nur ein paar steinerne Rundhütten der Ziegenhirten säumen die Straße, die sich dem Himmel entgegenschraubt. Dann links ab, hinauf zum Skínakas-Observatorium. Zwei weiße Türme recken sich auf 1760 Metern Höhe in den stahlblauen Himmel, erbaut um in der völligen Einsamkeit mit mächtigen Teleskopen den Halley‘schen Kometen zu beobachten. Den wird man jetzt am helllichten Tag kaum entdecken,

Unterkünfte

An der Nordküste Kretas hat sich der Massentourismus mit unzähligen Hotelkomplexen breitgemacht. Wer auf pauschale All-inclusive-Angebote verzichten kann, sollte die urwüchsige Südküste ins Auge fassen. Große Hotels gibt es hier nur wenige, dafür unzählige Pensionen und Tavernen, die Zimmer vermieten. In der Nebensaison ist man mit rund 25 Euro dabei, teilweise sogar mit Frühstück.

Reisezeit

Von April bis Ende Oktober kann man eine Kreta-Reise locker angehen und darf mit Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad rechnen. Auch in den Wintermonaten herrschen angenehme Temperaturen von 15 Grad und mehr, man wird aber Schwierigkeiten haben, eine Unterkunft und ein geöffnetes Restaurant zu finden.

Literatur

Mit 804 Seiten ist »Kreta« aus dem Michael-Müller-Verlag der mit Abstand umfangreichste Reiseführer der Insel. Autor Eberhard Fohrer beschreibt selbst die kleinsten Dörfer und hat unzählige gute Tipps auf Lager. 26,90 Euro inkl. guter Faltkarte.

Steil stürzen sich die Hänge der Arádena-Schlucht 138 Meter in die Tiefe. Für Bungee-Springer eine Herausforderung.

kann dafür eine unglaubliche Rundumsicht genießen. Das Beste aber: Von hier schlängelt sich eine lange Piste durch das wilde Bergmassiv bis hinab in den Süden Kretas. Es staubt mächtig auf dem schmalen Fahrweg, der sich eng an die Felswände quetscht, und ich verdränge angesichts der berauschenden Landschaft und dem ausgeprägten Enduro-Spaß den Gedanken, dass ich hier mutterseelenallein über die Piste rumpele. Ein wenig an Marokkos Atlas-Gebirge erinnert das traumhaft schöne Szenario, und würde jetzt ein Berber aus dem Nichts auftauchen, käme mir das ganz normal vor. Aber hier taucht garantiert niemand auf, die nächste Siedlung ist noch mindestens 20 Kilometer entfernt und die rumpelige Piste mit dem nahen gähnenden Abgrund zumindest für normale Pkw auch nicht gerade eine Einladung. Ganz klar ein Offroad-Vergnügen, wie man es in Europa nur selten findet.

Eine Stunde, nachdem der Reifen den letzten Schotterbrocken aufgewirbelt hat, rolle ich in Mátala ein. Das ehemalige Fischerdorf, das es zu Weltruhm gebracht hat, das in den späten Sechzigern und Siebzigern genau wie Ibiza und Goa ein Mekka der Hippies war. Cat Stevens, Bob Dylan und Joni Mitchell waren hier, in ihrem Gefolge kamen Tausende von Freaks und Aussteigern. Kein Wunder, der Strand in der schmalen Bucht ist nicht der schlechteste, vor allem aber konnte man gleich nebenan seine eigene Höhle beziehen. Die Felswand rechts der Bucht erachteten nämlich schon die Steinzeitmenschen als nette Immobilie und gruben vor Tausenden von Jahren so viele Wohnhöhlen in den weichen Sandstein, dass er ausschaut wie ein Termitenbau. Heute ist natürlich nicht mehr dran zu denken, in den Höhlen zu hausen, das geschichtsträchtige Areal ist eingezäunt, aber immerhin begehbar. Geschnitzte Gesichter im Stamm des ersten Baums am Platz, bunt bemalte VW Bully und Käfer als längst nicht mehr rol-

lende Ikonen einer vergangenen Epoche – viel mehr erinnert nicht an Mátalas wilde Zeiten. Das Dorf hat sich herausgeputzt, aber genug Charme bewahrt, um ein paar Nächte zu bleiben. Ich finde sogar eine Unterkunft, die Kreditkarten akzeptiert und mit dem Akuna Matata eine Bar, in der ein paar Alt-Freaks hocken und auch musikalisch ein Hauch der alten Zeiten weiterlebt. »Früher haben wir hier in den Tag hineingelebt. Wenn das Geld ausging, sind wir bei den Bauern auf den Feldern arbeiten gegangen. Eine Woche vielleicht, dann hat es erst mal wieder gereicht.« Zoran sitzt vor meinem Nachbar-Appartement und schüttet sich morgens um zehn gerade das zweite Glas Ouzo ein. In den späten 80ern hat er hier gelebt, musste dann zurück nach Serbien. Dann kam der Krieg, und irgendwann ist er nach Holland geflüchtet. Was er im Krieg erlebt hat, erzählt er nicht, aber wahrscheinlich gibt es Gründe, warum er schon früh am Morgen keinen Wert auf einen klaren Kopf legt. John, der ganz in Schwarz gehüllte Pope, hat ihn durchaus. »Bekomme ich eine Doppelseite?«, lacht er, als er erfährt, dass ich Journalist bin und ihn vor die Kamera bitte. Lange hat er in den USA gelebt, deshalb nennt sich Bruder Yannis jetzt John. Aus dem Kloster Odigítrias, unweit von Mátala, haben er und seine Brüder ein Kleinod mit blühenden Pflanzen im Hof geschaffen – Landlust auf Griechisch. John spielt den Führer durch die Anlage, zeigt die alten Fresken in der Kirche, die Ölmühle im Nachbargebäude,

Enduro on the rocks. Steiniges Offroad-Vergnügen inmitten des Ída-Gebirges. 10/2013 TOURENFAHRER 115

Neun Tage waren wir auf Kreta unterwegs. Die gefahrene Strecke beträgt rund 850 Kilometer, davon viele abseits des Asphalts.

Karges Land breitet sich hinter dem Kloster aus. »Like the desert of Arizona«, hat Bruder John gesagt Anreise

Hoch über Iráklions weißem Häusermeer kurvt die »Old Road« gen Westen.

dann kommen schon die nächsten Touristen, um die er sich kümmern muss. Jetzt an Ostern ist er mehr Fremdenführer als Geistlicher, die Ostereier, die er mir zum Abschied mitgeben will, lehne ich aber dankend ab. Sie würden die Rumpelpisten, die hier am Kloster starten, kaum überleben. Hinunter an die Südspitze etwa, wo noch einige der steinzeitlichen Höhlenwohnungen am Pistenrand liegen und man einen grandiosen Ausblick über die unzähligen Buchten hat, die sich vor und hinter Mátala drängen. Karges Land ist das hier, »like the desert of Arizona«, wie John gesagt hat, trotzdem alles Weideland für die genügsamen Schafe. Deshalb verkneife ich mir auch lieber ein Bad am einsamen Strand von Vathí, obwohl ich komplett durchgeschwitzt bin. Aber es ist spät, und ich habe mehrere mannshohe Gatter auf dem Weg passiert. Keine Ahnung, ob abends jemand ein Schloss dranhängt, aber wenn, habe ich ein Problem. Anderntags noch einmal am Kloster vorbei, doch diesmal knirscht die Piste stramm nach Süden unter den Reifen, und ich hangele mich an der Küste entlang 116 TOURENFAHRER 10/2013

noch einmal ins famose Asteroúsia-Gebirge. Ab Lentas kenne ich den Weg ja schon, aber hinter der Tripití-Schlucht zweigt noch eine Piste nach Kapetanianá ab, die in meiner Karte nicht zu finden ist. Baumloses Land, die Ténéré surft über die runden Kuppen, die sich aneinanderdrängen wie die Wogen des Libyschen Meeres, das immer wieder im Blickfeld auftaucht. Ich treffe keinen einzigen Menschen. Auch nicht in Kapetanianá, auf der Piste weiter gen Osten belegen dann immerhin ein paar blökende Schafe, dass es eine Form von Leben gibt in dieser abgeschiedenen Bergregion. Am nächsten Morgen ist auch auf Kreta das Osterfest Vergangenheit und mein Problem gelöst. Ein dickes Bündel Geld steckt im Portemonnaie, als ich beruhigt gen Westen aufbreche. Zuerst auf kurviger Hauptstraße, dann durch die enge Kourtaliótiko-Schlucht, deren Felswände 250 Meter hoch hinaufragen. Kurz dahinter zuerst die Ruinen des Klosters Káto Préveli, dann eingebettet zwischen wilder Küste und kahlen Hängen das Kloster Préveli. Schon während der türkischen Besatzung war die Abtei ein Hort des Widerstands, als 1941 die Wehrmacht anrückte, versteckten die Mönche dann flüchtende Commonwealth-Soldaten, bis sie von U-Booten nach Ägypten gebracht wurden. 5000 sollen es gewesen sein

Kreta liegt nicht gerade um die Ecke – wer nicht Unmengen von Zeit im Gepäck hat, sollte per Flugzeug anreisen und vor Ort ein Motorrad mieten. Iráklion wird von fast allen deutschen Flughäfen regelmäßig angeflogen, Chaniá steht seltener auf dem Flugplan. Aufgrund vieler Pauschalreisender sind die Preise von Air Berlin, Germanwings, Condor oder tuifly durchaus überschaubar, allerdings nur in der Saison von April bis Oktober. Es empfiehlt sich allerdings, früh genug zu buchen. Die Anreise mit dem eigenen Motorrad erfolgt über Piräus, von wo Anek Lines und Minoan Lines täglich nach Kreta übersetzen. Wer genügend Zeit hat, kann Kreta auch in ein Insel-Hopping in der Ägäis einbinden, allerdings verkehren Autofähren zwischen den kleineren Inseln nicht allzu häufig. Tipp: Santorini, wohl schönste Insel der Ägäis, lässt sich gut mit einer Kreta-Reise kombinieren. Täglich besteht eine Schnellbootverbindung zu dem rund 100 Kilometer entfernten Vulkan-Archipel, eine Autofähre bedient die Route einmal die Woche. Wer einen Gabelflug bucht, kann meist zu überschaubaren Preisen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Motorradmiete

Verleiher gibt es einige auf Kreta. Exzellente Erfahrungen haben wir mit Eurodriver (www.eurodriver.gr, Tel. +30 / 693 745 9267) gemacht. Inhaber Yannis Michalakis hat eine Fahrzeugpalette, die diverse Yamaha-XT-Modelle, BMW F 650 GS, Suzuki V-Strom, Honda Transalp, aber auch Cruiser umfasst. Autos, Roller und Quads sind ebenfalls im Angebot. Yannis ist in Bayern aufgewachsen, spricht fließend Deutsch und ist bei Problemen sofort zur Stelle. Die gemietete 660er-Ténéré präsentierte sich zudem in einem Zustand, der keine Wünsche offenließ. Absolut empfehlenswert.

– besser kann christliche Nächstenliebe kaum funktionieren. Ein bisschen zu viele Reisebusse parken vor der Abtei, also schenke ich mir tiefere Einblicke ins Innere, streife lieber ausgiebig auf schmalen Sträßchen durch die Bergdörfer oberhalb von Plakiás. Die bieten Ausblicke auf die Bucht wie in einem Freilichttheater, und als ich schließlich nach Plakiás hinabgondele, bereue ich, kein Zimmer dort oben mit der Wahnsinnsaussicht genommen zu haben. Ein bisschen zu modernisiert präsentiert sich der Badeort, der mal Geheimtipp war. Wo einst Rucksackreisende abhingen, tummeln sich jetzt khakibehoste Rentner und Pauschaltouristen. »Nikos, mach mir noch’n Pils« – ich fühle mich wie im Dionysos-Grill in Gelsenkirchen. Egal, ist ja nur für eine Nacht. Kurviger Asphalt, mal in der ersten Etage, mal direkt am Meer – die Weiterfahrt macht Laune. Am Straßenrand ducken sich knorrige Olivenbäume unter steile Bergflanken, Schafe dösen im Schatten, hier und da eine blendend weiße Kirche mit blauem Kuppeldach. Chóra Sfakíon, das kleine Fischerdorf zwischen kahlen Bergen, gefällt auf Anhieb, und ich suche mir schon mittags eine Bleibe, bevor ich die Serpentinenstrecke westlich des Orts in Angriff nehme. Die sieht nicht nur nach Rennstrecke aus, sie fährt sich auch so, geht dann aber plötzlich in ein schmales Sträßchen über, das zwei Dörfer am Fuß der wilden Lefka Óri, der Weißen Berge, durchstreift. Ehe man sich versieht, rumpelt man dann auf einmal über die klapprigen hölzernen Planken einer Stahlträgerbrücke, und beim Blick nach unten kann man nur hoffen, dass hier kein Holzwurm sein Domizil hat. Denn unter einem öffnet sich der Schlund der Arádena-Schlucht – 138 Meter tief, im Sommer eine Einladung für todesmutige Bungee-Springer, bei Normalsterblichen aber eher ein Garant für ein mulmiges Gefühl. Und man wird sie zweimal befahren müssen, denn kurz darauf endet die Straße im winzigen Ágios Ioánnis. Die auf der Karte gestrichelten Pfade hinunter ans Meer oder hinauf in die Berge? Nicht dran zu denken, sie zu befahren, jedenfalls nicht mit einer Ténéré. Auch unten an der Finix-Bucht, die ich ein paar Kilometer zurück über eine holprige Piste ansteuere, ist definitiv Endstation für

www.bit.ly/tfabogps

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Chaniá

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K Réthimno

Ark Ar rrká kádi Arkádi

Anógia ó

Knossós K

Spili Moni ni Piso Préveli

Pirgos Pir

GRIECHENLAND CHENLAND 20 kkm

schweres Gerät. Die Saumpfade entlang der Küste sind Wanderer-Eldorado – es sei ihnen gegönnt. Chaniá muss einfach noch sein. Schließlich gilt Kretas zweitgrößte Stadt zu Recht als schönste der Insel – was aber nur die Altstadt betrifft. Venezianischer Charme an der Hafenfront, dahinter ein Labyrinth von engen Gassen und Treppengängen, die sich zwischen jahrhundertealte Palazzi quetschen. In jedem zweiten ein stilvolles Restaurant, eine coole Bar oder schicke Boutique. Ein Touristenmagnet, sicher, aber wer die Augen offen hält, findet auch hier Oasen der Ruhe. Die Stadt noch länger genießen und von hier zurückfliegen, das wär‘s,

Ioánnis

denke ich kurz, aber unterwegs auf der »Old Road« nach Iráklion verfliegt der Gedanke schnell wieder. Der schmale Lindwurm, der noch einmal durch alle Landschaftsformen Kretas kurvt, ist besser als jeder Stadtbummel. Am Kloster Arkádi schaue ich noch vorbei, weil es kretisches Nationalheiligtum ist. 1866 sprengten sich hier Hunderte von Menschen lieber in die Luft, als den anstürmenden Türken ausgeliefert zu sein. Seitdem ist das Kloster DAS Symbol für den bedingungslosen Freiheitswillen der stolzen Kreter. Kein Wunder, es reichen ja schon zehn Tage in diesem Paradies, um sich frei zu fühlen. Manchmal sogar ohne Geld.

Das Fischerdorf Chóra Sfakíon kauert sich zwischen kahle Berghänge, über denen bedrohlich ein Gewitter aufzieht. 10/2013 TOURENFAHRER 117