EvThom 107)

Gt 08020 / p. 219 / 28.9.2007 Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf) Q 15,4-5a.7 (Mt 18,12-14 / Lk 15,1-7 / EvThom 107) (4) Welcher ...
Author: Jonas Gärtner
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Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf) Q 15,4-5a.7 (Mt 18,12-14 / Lk 15,1-7 / EvThom 107) (4) Welcher Mensch von euch, habend hundert Schafe und eines von ihnen verloren habend, wird nicht die neunundneunzig in den Bergen lassen, und losgehend das Verlorene suchen? (5a) Und wenn es geschieht, dass er es findet, (7) ich sage euch: Er freut sich über dieses mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Hauptteil der Parabel wird durch eine komplexe Frage gebildet. Durch die allgemeine Charakterisierung des Subjekts mit »ein Mensch« (˝nqrwpo@ anthro¯pos) wird sie in weisheitlicher Weise eingeleitet (Q 11,11 f.) und ist an alle Zuhörer oder Leserinnen gerichtet: Welcher Mensch von euch (tffl@ ˝nqrwpo@ ¥x ¢m¾n tis anthro¯pos ex hymo¯n, vgl. Lk 11,5; 14,28; 17,7), d. h. wer von euch? So offen die Frage gestellt ist, so konkret erzählt sie dann eine kleine Geschichte von Besitz und Verlust von Schafen bzw. einem Schaf. Wir lesen vom »Haben« und »Verlieren« (⁄pƒllumi apollymi) mit attributiven oder konditionalen Partizipien formuliert; sie erläutern zum einen den Zustand des Menschen, zum andern die Gefährdung seines Status: »der/wenn er … hat und … verloren hat« (Haubeck/Siebenthal 1997, 455). Der Zustand steht im Präsens, der Verlust im Aorist, weil er bereits punktuell abgeschlossen ist. Es geht um den Besitz von hundert Schafen und um den Verlust von einem Schaf. Die Parabel lebt also von Kontrasten: Hundert – eins, haben – verlieren, lassen – losgehen, suchen – finden. Die Variante »sich verirren« (Aorist Konj. Pass. von plan€w planao¯) Mt 18,12 macht ebenfalls Sinn. Aus der Perspektive des Menschen wird in die Perspektive der Schafe gewechselt. Eines der Schafe hat sich verirrt. Die Spannung entsteht nun aus dem Gegensatz »Haben« und »Sich Verirren«. Das anschließende Futur kennzeichnet den neuen Zustand im Ungleichgewicht. Der Mensch bleibt zwar im Besitz von neunundneunzig Schafen, er muss sie aber »zurücklassen«, um den Verlust auszugleichen (Jülicher II 2 1910, 317). Ein Alltagsereignis ist sehr allgemein erzählt worden. Auch die lokale Angabe »Berge« bleibt allgemein. Bei Mt 18,12 steht sie, Lk 15,4 hat dafür »Einöde«. Beide Angaben bleiben austauschbar. Das zweite Ereignis wirkt spezifischer. Der Mann besorgt sich nicht ein neues Schaf, sondern »geht los« (Aorist Part.) und »sucht« (zhtffw ze¯teo¯; Präsens) das »Verlorene/ Verirrte«. Das Präsens markiert, dass die Suche so lange anhalten wird, bis er es »findet« (e¢re…n heurein; Aorist Infinitiv). An das Suchen und Finden appelliert auch Q 11,9. Dem neuen Zustand geht hier aber ausdrücklich ein Eventualis voraus: »Und wenn es 205

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Parabeln in der Logienquelle Q

geschieht«. Das Finden ist nicht sicher. Die Parabel endet offen. Was ist, wenn der Mensch das verlorene/ verirrte Schaf lange Zeit nicht findet? Nun schließt der Erzähler »Jesus« eine sichere Verheißung als Deutung an. Der Suchende findet und freut sich (cafflrw chairo¯; Präsens). »Sich Freuen« wird in ungewöhnlicher Weise antithetisch aufgespalten. Die Freude über das eine verlorene Schaf ist größer (m”llon mallon) als über die neunundneunzig. Das abschließende attributive Partizip Perfekt setzt der Antithese die Krone auf: Die Vielen, die perfekt sicher im Sichnicht-Verirren sind, geben weniger Anlass zur Freude als das eine Verlorene, das sich finden lässt. Das unbestimmte Anfangssignal mit »welcher Mensch« wirkt mit dem rahmenden Schlusssignal »die Sich-nicht-verirrt-Habenden« zunächst harmlos, erzählt und bespricht aber im Innenteil Unerwartetes, nämlich nicht den Lobpreis von Herrn Jedermann auf die Selbstsicheren, sondern das Gegenteil, die größere Freude über einen Mühe machenden Verlorenen/ Verirrten (Linnemann 7 1978, 71). Unterschiedliche Figuren werden in der Parabel genannt: Da ist der Mensch, dem als Hirte, sei es als Lohnhirte, sei es als Besitzer Schafe anvertraut sind. Er bleibt durchgängig das handelnde Subjekt, er besitzt, verliert, lässt zurück, sucht, findet und freut sich schließlich. Daneben werden die Schafe genannt, die zwar zunächst als kollektive Gruppe eingeführt werden (100 Schafe), dann aber in das eine Verlorene und die neunundneunzig Nicht-Verirrten aufgespalten werden. Der Leser bzw. die Hörerin kann sich folglich mit drei Rollen identifizieren:  mit dem Helden, der das verlorene/ verirrte Schaf sucht,  mit den Helfern, die als neunundneunzig Schafe zusammenbleiben,  mit dem Gegner, der als Schaf verloren geht oder sich verirrt und die Suche auslöst. Ein starker Impuls wird freilich dadurch gesetzt, dass die einleitende Frage ausdrücklich den Menschen in die Gruppe der Hörer und Hörerinnen einordnet: Welcher Mensch von euch? Sollen sich die Angesprochenen also in den ›Helden‹ hineinversetzen? Zumindest wird damit auch der rhetorische Charakter der Frage unterstrichen. Sie erwartet unmissverständlich Zustimmung: Jeder von uns, könnte die innere Antwort lauten. Natürlich würde jeder so handeln. So scheint das innerhalb der Frage Geschilderte zunächst auch selbstverständlich (s. u.). Ein Hirte hat für die Vollständigkeit seiner Herde zu sorgen. Auftretende Verluste hat er zu kompensieren, insbesondere dann, wenn die Herde nicht sein Eigentum ist. Das zweite Ereignis durchbricht allerdings mit der Mittelpunktstellung der Suche des Verlorenen/ Verirrten diese Alltagsweisheit. Zwar stellt der Erzähler durch die Fortsetzung des Fragesatzes diese Suche als selbstverständlich hin, doch nicht für jeden Leser wird sie plausibel sein. Wird nicht durch die unbefristete Suche die Mehrheit der Gruppe gefährdet? – werden diejenigen fragen, die sich mit den Helfern identifizieren. Handelt der »Mensch« nicht unkontrolliert emotional, unverantwortlich und unvernünftig? – werden diejenigen fragen, die sich mit dem Menschen identifizieren. Wird nicht der Wunsch zum Sich-Verirren oder Verloren-Gehen durch das Finden gefährlich verstärkt? – werden diejenigen fragen, die sich mit der Minderheit identifizieren. Andererseits gehören die Suche nach dem Verlorenen und das Finden ebenfalls zur Alltagsplausibilität (Lk 15,8-10 die Parabel von der verlorenen Drachme; das Logion Q 11,9). Und die bis heute anhaltenden Kinderspiele vom Verloren-Gehen/ Sich-Verirren und Wieder-Finden verweisen auf eine anthropologische Grundkonstante von Binden 206

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und Lösen. Die Parabel kann auch in dieser Linie gelesen werden, so dass es dann um die bedingungslos anhaltende Sorge des Leiters um jeden Ausbrecher, um die Solidarität der Mehrheit mit ihm und um die Erprobung von Ablösung durch die Minderheiten geht. Nun bricht der zweite Satz der Parabel, der Schlusssatz, als Anakoluth ab. Der Eventualis vom Finden wird nicht abgeschlossen. Stattdessen setzt abrupt ein Ich-Kommentar des Erzählers ein: »Ich sage euch«. Wer spricht? Nach den beiden parallelen Evangelien wird die Parabel Lk 15,4-7 und Mt 18,12-14 von Jesus von Nazaret vorgetragen. Auch das Spruchevangelium Q führt am Anfang Jesus von »Nazareth« als Hauptperson und Sprecher der anschließenden Worte ein: Q 4,16-7,35 (Hoffmann/Heil 2002, 38-51). Im Rahmen des gesamten Spruchevangeliums gewinnt durch die betonte »Ich«-Einführung des Sprechers die Parabel eine theologische Dimension. Aus der Perspektive Jesu muss sie interpretiert werden. Der gesamte Kontext der Logienquelle Q muss von den Leserinnen und Lesern herangezogen werden, um die theologische Sachhälfte selbständig zu entwickeln. Um nicht eine beliebige Breite der Theologie aufgrund der mehrperspektivischen Auslegungsmöglichkeiten zuzulassen, gibt der Ich-Erzähler eine explizite Deutungsanweisung. Es geht um die größere Freude über den einen Gesuchten und Gefundenen. Im Spruchevangelium hat die programmatische Rede Q 4,16; 6,20-49, die sowohl aus der mt Bergpredigt als auch aus der lk Feldrede abgeleitet werden kann, genügend »Verlorene« in Israel genannt: Arme, Hungernde, Trauernde, Verfolgte, Feinde. Mit dem Heilungswunder für den Angehörigen eines heidnischen Zenturios kommt der gottesfürchtige Heide hinzu (Q 7,1.3.6b-9.?10?). Q kennt auch die »Gerechten« in Israel, insbesondere die Pharisäer und Schriftgelehrten und warnt sie mit einer Weherede (Q 11, 39-52). Die Mahnrede an die Jünger zum »Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht« (Q 12,2-12; vgl. Hoffmann/Heil 2002, 74-79) lenkt den Blick auf die Gemeinde. Auch in ihr gibt es Verlorene. Die »Ihr«-Anrede des Ich-Erzählers ist ebenfalls in erster Linie an die Jünger gerichtet und dann über sie an die Gemeinde, die die Jüngerschaft fortsetzt. Die Deutung Jesu kehrt das gewohnte frühjüdische Muster der Frömmigkeit radikal um. Gott als der Hirte Israels freut sich über die tätigen Bekenner, aber er freut sich noch mehr über jeden, der sich ausgegrenzt hatte oder ausgegrenzt worden war und sich wiederfinden ließ. Der umkehrende Sünder ist Gottes und Jesu liebstes Schaf.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Parabel wählt einen bei den Parabeln Jesu wie auch sonst im biblischen Traditionsraum geläufigen Bildspendebereich: Hirt und Herde (vgl. auch die Analysen zu Mt 25,32 f.; Joh 10,1-5.12 f.). Die spezielle Situation, die ins Auge gefasst wird, ist: Ein Tier aus der Herde verirrt sich (Mt 18,12) resp. geht verloren (Lk 15,4). Vorausgesetzt wird vom Erzähler die ›Hüteschafhaltung‹, die in der Antike im Vergleich mit der heute verbreiteten ›Koppelschafhaltung‹ dominierte (vgl. zum Folgenden Dalman 1939, 204-287; Zimmermann 2004a, 293-301). Die Herden blieben entweder fest an einem Ort oder zogen auf der Suche nach Weideplätzen umher. Unsere Parabel setzt – jedenfalls in der Version der Evangelien (Mt 18,12; Lk 15,4) – offenbar das Zweite voraus. Der Verlust eines Tieres ist unter diesen Bedingungen immer möglich. Die antiken Quellen erwähnen 207

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Parabeln in der Logienquelle Q

häufiger wilde Tiere, von denen Schafe getötet werden (Ex 22,12; 1Sam 17,34 f.; Am 3,12). Aber auch, dass Schafe sich verlaufen, kam offenbar nicht selten vor (Ps 119,176; Jes 53,6; Ez 34,4). Dem Hirten ist die sorgfältige Obhut über die Herde aufgetragen (Ps 23; Jes 40,11; Jer 23,1-4; implizit zu entnehmen auch aus der Kritik an Hirten, die diese Aufgabe nur schlecht ausfüllen, wie in Jer 50,6; Ez 34,1-10; Sach 11,15 f. u. a.). Der römische Schriftsteller Columella beschreibt diese Aufgabe in seinem Agrarhandbuch wie folgt: »Der Führer einer Herde soll sie umsichtig und wachsam – eine Forderung, die für alle Hirten aller Tiere gilt – und mit großer Sanftmut leiten, und zwar nicht so sehr schweigsam als vielmehr freundlich; und er soll beim Ausführen und Zurückholen der Schafe zwar mit Zuruf und Stock drohen, aber niemals nach ihnen werfen, ferner sich nie weiter von ihnen entfernen oder sich legen oder setzen. Wenn er nicht vor ihnen hergeht, soll er stehen, weil das Amt des Hüters sozusagen eine hoch erhabene Augenwarte verlangt; denn er soll weder dulden, dass die schwerfälligeren trächtigen Tiere, dadurch, dass sie zögernder gehen, noch die beweglicheren, die schon geworfen haben, durch ihr Vorauslaufen sich von den übrigen trennen; sonst könnte ein Dieb oder ein Raubtier den träumenden Hirten überlisten. Dies alles gilt ungefähr für jegliche Schafhaltung gleichermaßen …« (Colum. 7,3,26; Übersetzung: W. Richter)

Nicht immer sind es, wie in unserer Parabel vorausgesetzt zu sein scheint (V. 4; vgl. Lk 15,6), die eigenen Tiere, die gehütet werden (vgl. Joh 10,12 f.). Beim »Führer der Herde« kann es sich um einen Mann oder eine Frau handeln. In dem beliebten Liebesroman von Longos »Daphnis und Chloe« (3. Jh.) geht es sowohl um einen jungen Hirten (Daphnis) als auch um eine junge Hirtin (Chloe). Das Alte Testament kennt allerdings nur männliche Hirten, so dass üblicherweise in V. 4 der »Mensch« mit einem »Hirten« gleichgesetzt wird. Jesus könnte aber auch eine Frau meinen. Für die Beurteilung der Parabel ist interessant, wie nahe liegend die erzählte Reaktion des Hirten ist: Er lässt 99 Schafe zurück, um das eine zu suchen (V. 4). Auf den ersten Blick erfüllt er damit seine fundamentale Aufgabe, für die Herde zu sorgen. Je detaillierter gefragt wird, desto mehr Fragezeichen tauchen aber auch auf. Ökonomisch betrachtet wäre es höchst problematisch, die zurückbleibenden 99 Tiere einer Gefahr auszusetzen, um eines zu suchen (vgl. Jeremias 11 1998, 133). Die Mischnah gibt den Preis eines Schafes mit 8 Denaren an (mKer 5,2; mMen 13,8). In Relation zu Rindern oder Eseln (100-200 Denare: mMen 13,8; mBQ 3,9 bzw. mBQ 10,4) stellt das einzelne Tier sicher keinen gewaltigen Wert dar. Im Falle eines Lohnhirten hätte dieser für den Schaden zu haften, wenn nicht z. B. höhere Gewalt wie ein Tierangriff zum Verlust führt (Ex 22,914; mBM 7,9; bBM 10b; 93b u. a.). Doch erfahren die Leserinnen und Leser kaum etwas darüber, wie die Besitzverhältnisse sind, welche finanziellen Erwägungen eine Rolle spielen oder ob und wie für die zurückbleibende Herde und ihre Sicherheit gesorgt ist (z. B. durch Nennung der schützenden »Berge«?). Der Erzähler hat solche Fragen offenbar nicht im Blick (anders Scott 1989, 415, der das Risiko betont sieht). Plausibilität gewinnt das erzählte Geschehen nicht in erster Linie aus den sozialgeschichtlichen Details, sondern aus dem Bild vom Hirten und seiner Aufgabe.

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Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) So gewöhnlich in der Antike und speziell in Palästina Herden und Hirten sind, so verbreitet ist die Metaphorik, die auf diesen Bildspender zurückgreift (vgl. Hunziker-Rodewald 2001; Zimmermann 2004a, 317-344; sowie die Analysen zu Mt 25,32 f.; Joh 10,15.12 f.). Die Parabel zeichnet speziell das Bild eines Hirten, der einem verlorenen oder verirrten Schaf nachgeht (zur Zahlenrelation 99:1 siehe Billerbeck I 2 1926, 784 f.). Im biblischen Traditionsraum ruft dies gewichtige Assoziationen wach. Zu denken ist vor allem an die Bildfeldtradition, die JHWH als den Besitzer und Hirten der ›Herde Israel‹ sieht. Zu den charakteristischen Handlungen, die Gott im Rahmen dieser Metaphorik zugeschrieben werden, gehört – neben dem Führen oder Weiden – das Sammeln der verstreuten Herde (Jer 31,10; Ez 34,11-13.16; Mi 2,12 f.). Die Metapher ist deutlich positiv besetzt. Das Sammeln zielt auf die Wiederherstellung der Herde und ihrer Gemeinschaft mit dem Hirten. Im Vordergrund steht dabei die Gruppe bzw. das zum Beispiel in der Diaspora zerstreute Volk Israel. Aber ebenso kann die Fürsorge des göttlichen Hirten auch als persönliche Zuwendung empfunden werden, wie es besonders wirkmächtig in Ps 23 zum Ausdruck kommt. Der Wechsel der Anrede in das vertrauensvolle »Du« zeigt die Fürsorge des Hirten besonders bei den Gefahren der Niederungen: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich« (Ps 23,4; vgl. auch Gen 48,15 f.; Ps 119,176; auch BerR 86). Als Ursachen für das Verlieren oder die Zerstreuung werden auf der Bildebene unterschiedliche Szenarien ausgemalt, die sich im Kontext unschwer einem ›bildempfangenden Bereich‹ zuordnen lassen: So verweist zum Beispiel der Angriff von Raubtieren auf die Könige von Assur und Babel (Jer 50,17 f.; vgl. Jer 31,10 f.), die schlechte Führung durch die Hirten auf die Vernachlässigung von Leitungsfunktionen der Führer des Volkes (Jer 23,2; Ez 34,4) oder das Fehlen von Hirten auf die Führerlosigkeit Israels (1Kön 22,17 = 2Chr 18,16; Ez 34,5; vgl. Num 27,17; Jdt 11,19). In eine andere Richtung geht dagegen Jes 53,6. Hier verirren sich die Schafe, weil jedes seinen eigenen Weg geht. Im Kontext wird klar, dass an die Schuld der im Text als »Wir« redenden Gruppe gedacht ist. In der Septuaginta steht in Jes 53,6 die Vokabel plan€omai (planaomai – verirren), die im griechischen Alten Testament häufiger metaphorisch den Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes, besonders die Verehrung anderer Götter bezeichnet (Dtn 4,19; 11,28; 30,17; Spr 21,16; Ez 44,10-15; SapSal 5,6; auch Ps 119,176; vgl. Böcher 1983, bes. 234 f.). Das Wort ist auch in Mt 18,12 zu lesen, während Lk 15,4 ⁄pƒllumi (apollymi – hier: verlieren) verwendet und damit aus der Perspektive des Hirten oder Besitzers formuliert. Bis jetzt ist ausschließlich die biblische Tradition betrachtet worden. Vor allem das lukanische Bild vom Hirten, der das Schaf auf seinen Schultern trägt (Lk 15,5), lässt aber auch an bildliche Darstellungen eines Schafträgers denken, die häufig – aber nicht ausschließlich – im sepulkralen Umfeld zu finden sind, etwa auf Wänden und Decken der Katakomben oder auf Sarkophagen (so auch Fitzmyer 1985, 1077; vgl. zum Folgenden J. Engemann 1991; Nitz 3 1996). Das Bildmotiv kommt im christlichen wie im paganen Umfeld vor. Bildliche Darstellungen von Widderträgern sind schon aus klassischer Zeit gut belegt, werden in der Forschung hier jedoch zum Opferkult in Beziehung gebracht (Opfertierträger) und von den Grabbildern deutlich getrennt. Die Verwendung des Mo209

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Parabeln in der Logienquelle Q

tivs auf Sarkophagen etc. erlebt ihre Blüte ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Ein direkter Einfluss dieser speziellen Motivik auf die neutestamentlichen Texte besteht also nicht. Christliche Darstellungen eines Schafträgers im Kontext von Grab und Tod basieren wahrscheinlich auf entsprechenden paganen Darstellungen und verbinden diese – zumindest teilweise – mit einer christologischen Deutung von Lk 15,3-7 (von Joh 10,116 her). Sie gehören damit in die Rezeptionsgeschichte der Parabel. Christus, der gute Hirte, wird hier als Retter der Menschen dargestellt (vgl. Clem. Al. protr. XI,116,1). Für die pagane Motivik, die der christlichen zugrunde liegt, werden verschiedene motivliche Hintergründe ins Spiel gebracht: neben einer Darstellung des Gottes Hermes als Psychopompos, der die Seele des Verstorbenen ins Jenseits trägt, vor allem Hirtenidyllen in der antiken Literatur (sog. Bukolik), die – anders als die ikonographischen Belege – in ihrer literarischen Gestalt bis in die neutestamentliche Zeit zurück gut dokumentiert sind. Da ein spezifischer Bezug der Parabel zum Thema Tod nicht erkennbar ist, dürfte für Leserinnen und Leser mit hellenistischer Bildung insbesondere die Bukolik zum Assoziationspotential des Textes gehören. Sie zeichnet in ihren Texten eine Hirtenwelt, die als ein Hoffnungsbild vom Friedensreich und als ein Gegenentwurf zur als unzulänglich empfundenen eigenen Lebenswelt deutbar ist (dazu knapp Zimmermann 2004a, 328-330; ausführlicher Effe/Binder 2 2001). Die Parabel und ihre Erzählung sind für diese Denkwelt durchaus anschlussfähig, wie die skizzierte Rezeption zeigt. Schließlich ruft die Parabel eine weitere Bildfeldtradition ins Bewusstsein. Schon die kontrastiv verwendeten Verben der Parabel »suchen – finden« deuten auf einen weisheitlichen Hintergrund hin. Häufig ist hier vom »Suchen der Weisheit« als dem Weg des Gottesfürchtigen und Gerechten die Rede (vgl. Spr 8,17: Ich liebe, die mich lieben; und die mich suchen, finden mich). »Suchen« wird folglich metaphorisch als das Bemühen um ein gottgefälliges Leben verstanden (vgl. Am 5,4.6.14). Doch schon diese Haltung führt zum Erfolg, wer sucht, der findet auch (vgl. Q 11,9). Die Metaphorik steht häufig im Kontrast mit der gegensätzlichen Lebensform: Wer nicht Gott oder die Weisheit sucht, wird verloren gehen, wie es z. B. in Spr 7,25 als Warnung vor der ›Frau Torheit‹ formuliert ist: »Nicht schweife dein Herz ab zu ihren Wegen, verirre dich nicht auf ihre Pfade!«. Wer verbunden mit der Weg-Metapher vom Weg abkommt, geht zugrunde – oder verloren, wie die Doppelsemantik von ⁄pƒllumi apollymi ausdrücklich zulässt (Spr 11,23; 19,9). Das Verlorengehen ist also im Horizont des Tun-Ergehen-Zusammenhangs immer die Folge des eigenen Tuns – oder sogar dann Strafe Gottes für das falsche Tun, sprich: die Sünde (vgl. Spr 11,23.27; 14,6; 15,14; Hi 2,3). So kommt es zu einer Konventionalisierung der Metapher, die »verlieren« und »sündigen« kombiniert. In Kombination dieses Bildfelds mit der Schafsmetaphorik ist schließlich auf die Metapher von den »verlorenen Schafen aus dem Hause Israel« hinzuweisen, zu denen Jesus (Mt 15,24) oder die Jünger (Mt 10,6) gesandt werden.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Deutungsmöglichkeiten der Parabel stehen in engem Zusammenhang mit bestimmten Vorentscheidungen: Je nachdem, welche Identifikationsfigur in den Mittelpunkt gerückt wird, welche Perspektive man als Hörerin oder Leser einnimmt, werden unter210

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schiedliche Akzente gesetzt. Je nachdem, wie stark man traditionelle Bildfelder in Anspruch nimmt, wird man unterschiedliche Akzente in den Vordergrund rücken.

Die theologische Deutung: Gottes bedingungslose Zuwendung zu den Verlorenen Eine klassische Deutung erkennt in dem suchenden Hirten Gott, der sich dem verlorenen, d. h. hier dem auf Abwege geratenen Menschen zuwendet. Eine solche Interpretation wird etwa von Jülicher vorgeführt: Er lässt bei der Rekonstruktion von Q zwar die Anwendung Q 15,7 aus und lässt nur Q 15,4-6 als Grundbestand gelten. Doch er interpretiert Q im Sinne der Einschränkung der Anwendung Q 15,7. Nur das unerlaubte Verlorengehen ist zu übertragen, um »Gottes Liebe zu jedem einzelnen Sünder zu illustrieren, wie sie in der unermüdlichen Sorgfalt auch seines Suchens und in seiner grenzenlosen Freude beim Finden zum Ausdruck kommt« (Jülicher II 2 1910, 331). Also nur der Verlust des Sünders steht im Blickpunkt. Und die Adressatenmöglichkeiten von Sünder, Pharisäer und Jünger projiziert Jülicher zurück auf den historischen Jesus: »Bei welcher Gelegenheit Jesus diesen Grundgedanken seiner Religion in den Parabeln vom verlorenen Schaf und Groschen zu sinnigem Ausdruck gebracht hat, wissen wir nicht; er konnte ihn ebenso verzweifelten Sündern tröstend zurufen wie murrenden Pharisäern zur Rechtfertigung seiner eigenen Sünderliebe streitend entgegenhalten wie auch ehrgeizigen Jüngern, die in der Gefahr waren, ihren Wert gegenüber dem der ›Kleinen‹ ungebührlich emporzuschrauben, erziehend einprägen« (Jülicher II 2 1910, 331). Diese Deutung ist zu Recht grundlegend für die nachfolgende Gleichnisauslegung geworden. Die als Sünder gelten, sollen Vertrauen und Mut zur Umkehr zu Gottes Herrschaft fassen, die in Jesus angebrochen ist. Gott will in Jesus die »Heimholung aller Sünder« (Knoch 3 1987, 238 f.). Dabei werden keine Bedingungen gestellt. Ganz selbstverständlich wird von der Suche erzählt, die nicht an die Buße des Verlorenen oder eine bestimmte Frist gebunden wird, sondern die allein im Finden ihr Ziel erreicht. Allein die Fürsorge für das Verlorene rückt in den Mittelpunkt, so dass auch eine klare Zuweisung, ob der Suchende nun Gott oder Jesus ist, überflüssig wird. Der Hirte handelt wie Jesus und Gott allein aus Freude am Wiederfinden des einen Verlorenen/ Verirrten. Dabei müssen die neunundneunzig anderen nicht abgewertet werden. Die sich als »Gerechte« fühlen, sollen die Sorge Jesu um die Sünder akzeptieren und nicht ablehnen (Linnemann 7 1978, 75-78). Aufgrund einer individualistischen Hermeneutik wird bisweilen gegen die Erzählstruktur die innere Verbundenheit mit der Herde (Ganzheit nach Joh 10) oder die nicht terminierte Suche (alles sprengende Fürsorge nach Mt 18,12-14) explizit abgelehnt (Jeremias 11 1998, 135). Bereits Jülicher hatte gegen solch eine individualistische Engführung, die später existential untermauert wurde (Linnemann 7 1978, 78 f.), protestiert: Die Jünger sollen doch gegenüber den Abweichlern die Sorge und Freude Jesu übernehmen.

Die gruppendynamische Deutung: Mehr Mut zu Abweichungen! Betrachten wir die Parabel zunächst isoliert, dann kann sie wie bei Äsop und Phädrus eine kritische Sicht auf gesellschaftliches und personales Verhalten bedeuten. Ein Hirte hat für die Vollständigkeit seiner Herde zu sorgen. Auftretende Verluste hat er zu kompensieren, insbesondere dann, wenn die Herde nicht sein Eigentum ist. D. h. übertragen, dass ein Leiter einer Gruppe für den Erhalt der Vollständigkeit verantwortlich ist. Er hat 211

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Parabeln in der Logienquelle Q

den Gruppenzusammenhalt zu garantieren. Linnemann bestimmt zu Unrecht die Parabel als eine Hyperbel, als »eine überspitzte Darstellung«, in der es um die Umwertung »1 = mehr als 99« geht (Linnemann 7 1978, 71). Die neunundneunzig bleiben nicht unverantwortlich schutzlos zurück, denn die Berge könnten für Sicherheit stehen, während in den Schluchten Gefahr lauert. Einzelne Gruppenmitglieder handeln hingegen wie unzuverlässige Schafe. Sie gehen verloren oder verirren sich. Nun gelingt ihnen etwas, was sie eventuell vorher vermisst haben. Sie erlangen die Aufmerksamkeit des Leiters, oder sie erfahren eine von der Gruppe losgelöste, individuelle Freiheit. Allerdings gehen sie ein großes Risiko ein. Weil sie nicht zurückfinden oder zurückwollen, kann sich die Trennung vom Leiter und von der Gruppe dauerhaft gefährlich verfestigen. Wenn Berge oder Einöde vom Leser als Symbole für die Unmöglichkeit gedeutet werden, allein zu überleben, bedeutet die anhaltende Trennung den Untergang. Das Verbleiben beim Leiter und das Zusammenhalten bei kurzfristiger Abwesenheit des Leiters sind daher die üblichen, alltagsweisheitlichen Verhaltensweisen der Mehrheit der Gruppenmitglieder. Doch die erfolgreiche Suche des Gruppenleiters lässt Ausbrüche in Grenzen dennoch als möglich erscheinen. Das verlorene Schaf wird nicht getadelt, es wird nicht zur Verantwortung für den Aufwand des Hirten oder das mögliche Risiko der restlichen Herde gezogen. So kommt die Deutungsmöglichkeit in den Blick, dass der Christ im Vertrauen auf die Fürsorge Gottes das Verlorengehen mit Grenzerfahrung erproben kann, sei es im Spiel (Q 7,31-35), sei es in der Realität. Allerdings bevorzugt die Anwendung in Q 15,7, die die nachfolgenden Rahmungen von Lk und Mt narrativ und besprechend ausgestalten, ja richtungsweisend die traditionelle Ausdeutungslinie. Nicht das Ausbrechen ist das Ziel, sondern letztlich doch die Wiedervereinigung der Herde und die damit ausgelöste Freude der Gemeinschaft. Aber der Abweichling muss nicht eo ipso »sündig« oder »schwach« sein. Die Abwehr von Jeremias, »dass bei dem verirrten viel eher an ein besonders schwaches Tier gedacht ist«, und zwar gemäß V. 5, steht nicht im Text (Jeremias 11 1998, 133). Gerade junge, unbändige Schafe brechen aus, werden von den Hirtenhunden zurückgetrieben, gehen aber manchmal auch verloren oder verirren sich. Die Parabel verlässt also nicht das Ideal der einheitlichen Herde, sie vermittelt aber Zuversicht, dass auch Ausbrüche und Abweichungen, selbst wenn sie zu Irrwegen und Verlusten führen können, von der alles sprengenden Fürsorge Jesu und seiner Gemeinde umschlossen bleiben.

Die appellative Deutung: Sucht das Verlorene! Die rhetorische suggestive Frage der Parabel mit ihrer unmittelbaren Anrede an die Hörerinnen und Hörer lässt noch eine weitere Deutung zu: Der Hauptakteur ist nicht das ›verlorene Schaf‹, dem die Zuwendung gilt, sondern der Hirte, der dem Verlorenen nachgeht. Wurde in theologischer Deutungstradition dieser Hirte nicht ohne Grund mit Gott (oder Jesus) identifiziert, so lässt der Text selbst diese Zuweisung bewusst offen. Stattdessen wird der Suchende schlicht als »ein Mensch« eingeführt. Die Zustimmung erhoffende Frage sowie der Zuspruch der finalen Freude werben weiterhin für eine Identifikation mit dem Suchenden. Dabei kommen die weisheitlichen Bildfelder von Suchen-Finden bzw. Suchen-Verlieren in den Blick. Die im Bildfeld positiv besetzte Suche als 212

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gottgemäße Haltung der Glaubenden wird nun ethisch konkretisiert. Wer die Verlorenen sucht, findet die Freude des Lebens. Umgekehrt wird der Nicht-Suchende selbst verloren gehen. So könnte der Sinn der Parabel gerade darin liegen, die Adressaten zu ermutigen, wie der Mensch auf der Bildebene die Verlorenen zu suchen, sich den Sündern und Außenseitern zuzuwenden und entsprechend zu handeln. Diese Deutungslinie wird dann vor allem in der synoptischen Tradition entfaltet, sei es, dass der Gemeindehorizont wie bei Matthäus in den Mittelpunkt rückt, sei es, dass wie bei Lukas die murrenden Gerechten ermutigt werden sollen, in die Suche oder zumindest Freude über das Wiedergefundene einzustimmen (s. u.).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel vom verlorenen Schaf ist ein Paradebeispiel um zu zeigen, wie stark das Verstehen eines Gleichnisses durch seine kontextuelle Einbindung bestimmt ist.

Mt 18,12-14 Matthäus hat die Parabel in den Zusammenhang der sog. Gemeinderede (Mt 18,1-35) eingebettet. Sie schließt dort einen ersten Gedankengang ab, der durch das Thema Kinder/Kleine zusammengehalten wird. Auch am Ende des zweiten größeren Redeblocks (Mt 18,15 ff.: Umgang mit Sündern und Vergebung) steht wieder eine Parabel (Mt 18,23-35; zur Gliederung der Rede W. D. Davies/Allison 1991, 750 f.). Die Parabel selbst bildet mit zwei rahmenden Versen eine kleine Einheit in der Rede, die durch die Wiederholung der Stichworte »Vater im Himmel« und »Kleine« aus Vers 10 in Vers 14 abgerundet und abgeschlossen wird. Mt 18,12-14: (12) Seht zu, dass ihr nicht eines von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allzeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. (12) Was meint ihr? Wenn es geschieht, dass einem Menschen hundert Schafe (gehören) und eines von ihnen verirrt sich: Wird er nicht die neunundneunzig in den Bergen zurücklassen und er geht und sucht das verirrte? (13) Und wenn es geschieht, dass er es findet, amen, ich sage euch: Er freut sich mehr über dieses als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. (14) So ist es nicht der Wille vor eurem Vater im Himmel, dass eines von diesen Kleinen verloren geht. Es geht um die »Kleinen« (V. 10: mikr¾n mikro¯n). Waren am Anfang der Rede noch buchstäblich Kinder gemeint (18,2: paidfflon paidion), so ist nun (seit Vers 6?) wahrscheinlich im metaphorischen Sinne von Kleinen die Rede. Die Ausleger deuten auf Gemeindemitglieder, die aus sozialen Gründen marginalisiert werden oder auf dem Feld des Glaubens schwach sind (vgl. Gnilka 2 1992, 131; Luz 1997, 28 f.). Deren Engel, so der Vers, sehen allzeit das Angesicht Gottes. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Engelvorstellung sei hier ausgeblendet (zur ersten Orientierung W. D. Davies/Allison 1991, 770-772; Luz 1997, 29-31). Deutlich kommt jedenfalls die Nähe und Verbundenheit zum Ausdruck, die zwischen ihnen und dem himmlischen Vater besteht. Es schließt die eigentliche Parabel an. Matthäus variiert zwar die einleitende Frage, aber auch er appelliert an das Urteilsvermögen der Leserinnen und Leser und rechnet mit 213

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Parabeln in der Logienquelle Q

ihrer Zustimmung zum Verhalten des Hirten. Dieser wird in V. 14 explizit mit dem Vater im Himmel parallelisiert. Vor dem Hintergrund der Bildfeldtradition liegt es nahe, im Suchen des Hirten sein Suchen nach den Verlorenen zu erkennen. Im Matthäusevangelium wird die Hirtenmetapher sonst aber immer auf Jesus oder – abgeleitet – auf die von ihm ausgesandten Jünger angewendet (mehr dazu in der Analyse und Auslegung von Mt 25,32 f.). Das führt zu Überlegungen, ob nicht auch bei diesem Hirten an Jesus gedacht ist (z. B. W. D. Davies/Allison 1991, 773 f.; Chae 2006, 239-244). Sicher zu entscheiden ist das nicht. Gegebenenfalls wäre mitzudenken, dass das, was der Vater will, vor allen Dingen an und durch Jesus sichtbar wird (vgl. Mt 11,25-27). Überhaupt darf hier nicht an eine sich ausschließende Alternative gedacht werden, wie auch die nur bei Mt gebrauchte Metapher von den »verlorenen Schafen Israels« (Mt 10,6; 15,24) deutlich macht. Die Zuwendung Gottes wird hier sogar über Jesus hinaus auch durch die Jünger vermittelt. Die Freude über den Fund wird bei Matthäus als Wille des Vaters interpretiert, dass keiner der Kleinen verloren geht. Diese Zuspitzung kritisieren einige Ausleger als Entfernung von der ursprünglichen Parabel und ihrer Pointe, die in der Freude liege (so z. B. Holtz 1998, 166 f.). Eher wird man jedoch sagen können, dass Matthäus die ethischen Konsequenzen zieht. Erst an dieser Stelle spricht der matthäische Text von »verloren gehen«. Zuvor war von »verirren« die Rede. Verirren bedeutet vor dem Hintergrund des biblischen Sprachgebrauchs (s. o.) ein Abweichen vom Willen Gottes, ein Abirren vom Weg der Gerechtigkeit (so auch Mt 22,29; 24,4.11.24; vgl. Hultgren 2000, 55). Das hier mit »verlieren« übersetzte griechische Wort ⁄pƒllumi (apollymi) passt sprachlich gut zum Bild der Schafe (vgl. Mt 10,5; 15,24), hat für Matthäus möglicherweise aber auch noch eine andere Farbe: Er kann es für das endgültige Verlieren von Menschen verwenden, für den Tod (Mt 2,13; 8,25; 12,14; 26,52; 27,20) oder den Untergang im göttlichen Gericht (Mt 10,28.39; 16,25; vgl. 5,29 f.; 10,42; 21,41; 22,7). Das soll gerade nicht geschehen, so will die Parabel einschärfen. Wer sind ihre Adressaten? Manchmal wird vermutet, die Parabel wende sich an die Verantwortlichen in der christlichen Gemeinde, an ihre Leiter o. Ä. (so z. B. Lambrecht 1992, 51 f.; Hultgren 2000, 54). Es sind allerdings in Mt 18 alle Jünger angesprochen; ein irgendwie eingeschränkter Adressatenkreis ist nicht erkennbar (vgl. W. D. Davies/Allison 1991, 754). So scheint es wahrscheinlicher, dass die Verantwortung für die Kleinen in den Gemeinden allen aufgetragen und ans Herz gelegt werden soll.

Lk 15,1-7 Lk 15,3-7: (3) Er aber sagte zu ihnen folgende Parabel: (4) Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem Verlorenen nach, bis er es findet? (5) Und wenn er es gefunden hat, legt er es voller Freude auf seine Schultern (6) und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: »Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verlorene.« (7) Ich sage euch, so herrscht auch mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die die Umkehr nicht nötig haben.

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Zur Übersetzung ist anzumerken, dass in V. 7 das Futur als »gnomisches Futur« aufgefasst und daher präsentisch übersetzt wurde. Im Lukasevangelium bildet die Parabel vom verlorenen Schaf den Auftakt zu einer Parabeltrilogie, in der das Thema der Freude über den bzw. die verlorene(n) und wiedergefundene(n) Einzelne(n) variiert wird. Neben den Hirten, der nach einer aufwändigen Suche das verirrte Schaf zurückbringt (Lk 15,3-7), treten die Frau, die eine verlorene Drachme wiederfindet (Lk 15,8-10), und der Vater, der seinen zurückgekehrten Sohn aufnimmt wie einen Totgeglaubten (Lk 15,11-32). Eingeleitet werden diese Texte mit einer ausführlichen Situationsbeschreibung, die deutlich macht, dass die drei Parabeln vom Verlorenen eine Replik Jesu auf die Kritik der Frommen an seiner Botschaft und seinem Verhalten darstellen: Lk 15,1 f.: (1) Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. (2) Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber murrten und sagten: »Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen« (Lk 15,1-2, nach Jeremias 1971, 185-186 gestaltet aus Elementen von Lk 5,29-30). Solches Annehmen und Essen mit den Sündern war im Evangelium bereits mehrfach thematisiert und auch beschrieben worden, am prägnantesten in der Erzählung vom Gastmahl des Zöllners Levi (Lk 5,29-32), das ausmündete in zwei Logien, die das Selbstverständnis Jesu und seine Auffassung von seiner Sendung beschreiben: »Die Gesunden haben den Arzt nicht nötig, sondern die, denen es schlecht geht. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Umkehr« (Lk 5,31-32, vgl. dazu die Besprechung bei Lk 4,23). Auch das wenige Kapitel nach Lk 15 erzählte zweite Zöllnergastmahl im Haus des Zachäus mündet in ein solches programmatisches Wort vom Gekommensein: »Der Menschensohn ist nämlich gekommen, zu suchen und zu retten das Verlorene (tŠ ⁄polwlƒ@ to apolo¯los)« (Lk 19,10). In Lk 15 gibt Jesus die ausführlichste theologische Begründung für die Wahl seiner Klientel und Rechtfertigung für sein in den Augen der Frommen skandalöses Verhalten ihnen gegenüber, das ihm den Ruf eingebracht hatte, ein »Fresser und Säufer, Freund von Zöllnern und Sündern« zu sein (Lk 7,34): Sein Handeln entspricht dem Willen Gottes (vgl. Lk 15,7.10)! Der Einbindung in den Themenstrang der Kritik an Jesu Zuwendung zu »den Verlorenen« entspricht die möglicherweise in Q nicht ursprüngliche Rede vom »Verlieren« des Hirten und vom »verlorenen« Schaf in V. 4 (so W. L. Petersen 1981, 140-141; Fitzmyer 1985, 1074; eher ursprünglich dürfte die mt Rede vom »verirrten« Schaf sein), die im gänzlich aus lukanischer Feder stammenden V. 6 noch einmal betont aufgenommen wird (»mein Schaf, das verlorene« / tŠ ⁄polwlƒ@). Gegenüber der Q-Vorlage ausgeweitet und verändert ist das Thema der Freude. Dass der Hirt das Schaf in seiner Freude auf den Schultern trägt, soll vielleicht an Gottes fürsorgliches Handeln als Hirte Israels erinnern (Jes 40,11), auch eine rabbinische Erzählung über Moses, der als Schafhirte ein verirrtes Schaf des Jetro suchte, auf den Schultern zurückbrachte und sich damit in Gottes Augen für seine Aufgabe als Führer des Volkes qualifizierte, wird oft als literarisches Vorbild genannt (ShemR II.1). Assoziationen an das in der Kunst beliebte Motiv des Criophoros, der ein Schaf auf den Schultern zum Opfer trägt, oder an das alljährliche Tragen der Passalämmer zum Tempel führen zu einer »johanneischen« Deutung von Jesus als gutem Hirten und Lamm, das die Sünden der Welt trägt (Derrett 1979/80), die in der Parabel selbst in dieser Doppelheit wohl nicht 215

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Parabeln in der Logienquelle Q

angelegt ist (dazu oben). Dass Jesus sich und seine Jüngerinnen und Jünger gesandt wusste, wie Hirten die verlorenen Schafe des Hauses Israel zu sammeln, bezeugen die Logien Mt 10,6; 15,24; jedoch liegt der entscheidende Akzent bei Lukas (und Matthäus) gegenüber Johannes eben darauf, alle durch die Parabel Angesprochenen in diese Gottes Willen entsprechende Hirtentätigkeit einzubeziehen, sei es aktiv suchend, sei es in der Mitfreude (s. u.). Das Freudenfest im Haus (V. 6), das nicht recht zum Alltag eines Hütehirten passen will, könnte vom Evangelisten gestaltet worden sein (Holtz 1998, 164), um eine größere Parallelität mit den beiden folgenden Parabeln zu erhalten, wo das Fest situationsgemäß ist (Lk 15,9.22 f.27). Da die Parabel als auf Zustimmung rechnende rhetorische Frage formuliert ist, sind die Hörerinnen bzw. Leser indirekt in das Geschehen mit hineingenommen (s.o). Dieser Akzent wird bei Lk durch die Aufforderung zur Mitfreude in V. 6 deutlich verstärkt. Die Parabel erhält damit einen noch stärkeren Appellcharakter, als es die reine Fiktionalität leisten könnte (Güttgemanns 1971, 6-7). Auch die in V. 2 genannten murrenden Pharisäer und Schriftgelehrten sollen also in die Freude einstimmen. Man darf in diesem dreimal wiederholten Erzählzug sicher einen Hinweis auf die fröhlichen Feiern Jesu mit Frischbekehrten wie Levi sehen, zumal auch bei beiden Zöllnergastmahlen das Murren ([dia]goggÐzein [dia]goggyzein) der Frommen erwähnt wird (Lk 5,30; 19,7). Auch sonst ist dem Evangelisten das Thema Freude wichtig (siehe die Auslegungen zu Lk 15,8-10 und 15,11-32 in diesem Band). Bedeutsam ist hier, dass das aus Q stammende und dort situationsgerechte Thema der »größeren Freude« des Hirten über das eine, langgesuchte Schaf auf ganz neue Weise verwendet wird. Jesus fügt der Parabel nämlich in V. 7 eine Deutung hinzu, in der er die Freude des Hirten mit der Freude Gottes (»im Himmel«) parallelisiert und in einem gewagten Vergleich behauptet, auch Gott freue sich mehr über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die die Umkehr nicht nötig haben. Damit werden indirekt die Festmähler Jesu mit den Sündern als Spiegel der göttlichen Freude gerechtfertigt. Typisch für Lk ist das Betonen der Notwendigkeit der Umkehr (V. 7a begegnet das Verb metanoe…n metanoein, in V. 7b das Substantiv met€noia metanoia; vgl. auch Lk 3,8; 5,32; 10,13; 11,32; 15,10 u. ö.) als Voraussetzung der Freude in der Deutung; dieser Aspekt hat in der Parabel selbst keinen Anhalt, ist aber durch die Bildfeldtradition vorbereitet (vgl. Ps 119,176; Jer 31,18-20). Auch zeigt sich erneut, dass die drei Parabeln in Lk 15 vom Evangelisten als einander zu einem Ganzen anfüllende Teilerzählungen verstanden wurden, die Umkehr setzten die Worte des verlorenen Sohnes Lk 15,17-19.21 eindrücklich ins Bild (Holtz 1998, 167). Man sollte die Anstößigkeit von Jesu Deutung, die in Lk 15,10 noch in einer kürzeren Variante begegnet, nicht zu schnell verdrängen. Das Zähneknirschen seiner »gerechten« Zeitgenossen, die sich später im älteren Bruder des verlorenen Sohnes wiedererkennen können, ist schon verständlich. Ist diese Sünderliebe des göttlichen Vaters nicht übertrieben und ungerecht gegenüber seinen »braven« Kindern? Wie fast alle Jesusworte ist auch dieses nur in einem bestimmten Kontext theologisch wahr. Man muss dabei vor allem berücksichtigen, dass die Frömmigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten der Zeit Jesu eine strukturelle dunkle Rückseite hatte, nämlich die Ausgrenzung und Stigmatisierung all derer, die aufgrund ihres Berufes (Zöllner, Prostituierte) oder ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage waren, sich so akkurat auf die Befolgung der Tora zu konzentrieren wie die Frommen. Es ging Jesus um eine Reintegration solcher benachteiligter und von den Theologen aus den Augen verlorener Bevölkerungsschichten, 216

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die zusammenfassend als »Zöllner und Sünder« bezeichnet wurden, in das Volk Gottes. Wenn Jesus die Gerechten auffordert, die Freude Gottes zu teilen, dann fordert er damit von ihnen, zunächst die Verlusterfahrung und Trauer Gottes mit zu vollziehen und Freude an jedem Schritt zur Wiederherstellung der Ganzheit Israels zu finden, anstatt das eigene positive Selbstbild in Abgrenzung zu den Verlorenen zu gewinnen (vgl. v. a. Lk 18,9-14 und Dormeyer 1975, 354).

EvThom 107 (1) Jesus spricht: Das Königreich gleicht einem Hirten, der hundert Schafe hat. (2) Eines von ihnen verirrte sich, das größte. Er ließ die neunundneunzig (und) er suchte nach dem einen, bis er es fand. (3) Nachdem er sich abgeplagt hatte, sprach er zu dem Schaf: »Ich liebe dich mehr als die neunundneunzig.« Gegenüber der synoptischen Tradition zeigen sich in der Variante des ›verlorenen Schafs‹ im Thomasevangelium markante Differenzen, wobei kontrovers diskutiert wird, ob es sich dabei um eine unabhängige Überlieferung (so Nordsieck 3 2006, 372; Liebenberg 2001, 430) oder um eine eigenwillige Abänderung der synoptischen Vorlage handelt (so Schrage 1964, 194 f.; Lindemann 1980, 239 f.; Fieger 1991, 266 f.): So wird der Referenzmntero – Reich) eindeutig festgelegt, rahmen als »Reich Gottes-Gleichnis« ( ebenso wird die funktionale Bestimmung des suchenden Menschen nun auch begrifflich als »Hirte« (wörtl. einem Menschen als Hirt) manifestiert. Damit verändert sich auch die Sprachform. Behalten alle synoptischen Varianten die vermutlich von Q herkommende Form der rhetorischen Frage bei, so wird nun im Vergangenheitstempus erzählt. Entscheidender noch dürfte die Qualifikation des verlorenen Schafes sein: Es wird in EvThom 107 als »das größte« ( […] awa … epnocˇ pe) eigens hervorgehoben. Ferner wird am Ende die besondere Beziehung des Hirten zu diesem einen wosˇ) klassifiziert. Nicht die größere Freude, sondern die persönSchaf als »Liebe« ( lich zugesprochene Liebe sind folglich Zielpunkt der Parabel (»Ich liebe dich mehr …«). Der Angelpunkt einer Interpretation wird denn auch in dieser letztgenannten Zuspitzung gesehen. Was bedeutet diese Festlegung auf das »größte Schaf«? Wird die Suche nach dem Schaf an eine Bedingung geknüpft, die als ethische Qualität konkretisiert wird? Gilt die Zuwendung Gottes nur denen, die sie auch verdienen (Liebenberg 2001, 429)? Oder macht die bevorzugte Zuwendung Jesu zu den Verlorenen diese dann aus der Perspektive des Suchenden besonders wichtig und »groß« (so Nordsieck 3 2006, 373)? W. L. Petersen hatte mit Verweis auf atl. und rabbin. Belege im größten Schaf eine Metapher für Israel erkennen wollen (Petersen 1981, 133-135), wobei dagegen einzuwenden ist, dass die liebende Zuwendung Gottes in der jüdischen Tradition gerade nicht durch die Größe, sondern ganz im Gegenteil durch das Kleinsein motiviert ist (vgl. Dtn 7,7; Jes 60,22; Mi 5,1). Erhellend ist zweifellos eine kontextuelle Deutung im Horizont gnostischer Schriften. Dabei zeigen sich zwei Deutungsvarianten: Entweder der Hirte meint den Gnostiker, der mit dem großen Schaf den verlorenen Lichtfunken sucht und so zu seiner Erlösung bei Gott findet. Diese Deutung hat im näheren (EvThom 109: Perle und Reich-Gottes) und weiteren (EvThom 8; 96: ebenfalls »groß«; EvThom 2; 92; 94: suchen – finden) Kontext des EvThom Plausibilität. Auch das Zurücklassen der 99 anderen könnte hier im 217

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Parabeln in der Logienquelle Q

Sinne der Weltabwendung gedeutet werden (so Fieger 1991, 267). Oder im Schicksal des Schafes spiegelt sich der kosmische Erlösungsweg des gnostischen Mythos (so Lindemann 1980, 239). Für diese Deutung spricht vor allem die Parallele in EvVer 31,3032,16; dazu Gärtner 1961, 235 ff.) ebenso wie die altkirchliche Bezeugung über die gnostische Parabeldeutung (Iren. haer. 1,8,4; 1,24,2; Hipp. haer. 6,19). Das verlorene Schaf sei demnach der aus dem himmlischen Pleroma in die niedere Materie gefallene Teil, sei es die Weisheit (Achamoth), sei es der Äon, der nur durch den Erlöser wiedergefunden werden könne. So ungewohnt diese gnostische Deutung der Parabel auf das Schicksal der ganzen Menschheit für die modernen Ausleger/innen erscheinen mag, so zeigt sie doch eine erstaunliche Nähe zur allegorischen Interpretation auch der kirchlichen Tradition. Exemplarisch sei hier etwa auf die Deutung bei Origenes verwiesen, der bereits alle Elemente der klassischen Deutung erkennen lässt: Die Schafe symbolisieren die ganze Schöpfung, wobei die auf den Bergen zurückgelassenen auf die Engel gedeutet werden, während das eine Schaf im »Tal der Tränen« für die Menschheit steht. Der Hirte ist demnach der Erlöser, dessen Abstieg mit der Inkarnation identifiziert wird (vgl. Or. hom. Gen 2,5; GCS Or. VI 34; Or. c. Cels. 4,17). Mit nur geringen Veränderungen bestimmt diese allegorische Deutung die ganze Auslegungstradition (Belege bei Luz 1997, 34 f.). Nur gelegentlich wird auch eine ethische Deutung in Betracht gezogen, nach der dann die Schafherde mit der Menschheit identifiziert wird, die in neunundneunzig Gerechte und einen Ungerechten bzw. Sünder aufgespalten wird (so z. B. bei Hier. 160; Thom. lect. Nr. 1511). Seit der Reformation wird die Parabel dann im Horizont der Rechtfertigungstheologie gelesen: Der Verweis auf die besondere Freude über den reumütigen Sünder in Lk 15,7.10 stellt im lukanischen Kontext eine frohe Botschaft dar, die angesichts schwer empfundener Belastung durch eigene Schuld auch immer wieder reaktualisiert werden kann. Nicht zufällig hat Luther das Bild vom bedingungslos gefundenen Sünder-Schaf mit dem sola gratia-Prinzip verbunden: »Das verlorene Schaf sind wir (…) Das Schaf kann sich nicht selber helfen (…) Das Schaf sucht nicht seinen Herrn, sondern der Herr sucht das Schaf (…) Das Lamm Christus nimmt die Schafe auf seine Schultern, so und nicht umgekehrt. Er muss das Schaf tragen, dann kommt es zurecht, es läuft nicht auf eigenen Füßen, sondern auf denen des Hirten« (Predigt aus dem Jahr 1524, zit. nach Mühlhaupt 4 1968, 227 f.). Auch die pietistische Frömmigkeit empfindet in der Parabel einen persönlichen Trostzuspruch, wie es in dem besonders auch bei Kindern beliebten Lied von Henriette Luise von Hayn (1724-1782) »Weil ich Jesu Schäflein bin …« (EGbay 593) einfühlsam zum Ausdruck gebracht wird. Allerdings zeigt die Wirkungsgeschichte auch, dass Jesu Worte zum Anti-Evangelium werden können, wenn man sie als jederzeit gültige Maxime betrachtet und als Angebot einer »billigen Gnade« missversteht und missbraucht. So haben Annie Imbens und Ineke Jonker in einer verstörenden Untersuchung an Inzestopfern herausgefunden, dass Worte wie Lk 15,7.10 eine extrem schädliche Rolle im Leben von christlich erzogenen Tätern und Opfern zu spielen scheinen. Die Opfer fragten sich, ob die Engel im Himmel sich wirklich mehr über die Ankunft des in letzter Minute reumütigen Vaters freuen werden als über ihre eigene, und wurden ihrerseits von kirchlichen Autoritäten zu verstockten Sünderinnen erklärt, wenn sie sich nicht bereit fanden, ihrem reumütigen Vater zu vergeben. Und ein Vater, der zunächst den Missbrauch geleugnet hatte, gab ihn schließ218

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Neunundneunzig sind nicht genug! Q 15,4-5a.7

lich zu und sagte im selben Atemzug: »Ich habe gesündigt. Aber das macht nichts, mein Erlöser wird mir vergeben« (Imbens/Jonker 1992; Beavis 2002b). Eine solche selbstrechtfertigende »Auslegung« oder sagen wir eher: Aneignung des Textes fällt ohne jeden Zweifel aus dem Rahmen der textangemessenen Deutungen der biblischen Parabel vom verlorenen Schaf. Als Kontrapunkt gegen diese das Opferschema festigende Auslegung sei abschließend auf eine eigenwillige Interpretation der Parabel in den frühchristlichen Theklaakten verwiesen: Als die Apostolin Thekla, die durch Paulus zum Christentum bekehrt wurde, in Abwesenheit ihres Lehrers das Martyrium erleiden soll, heißt es »Thekla sucht nach Paulus wie ein Lamm (⁄mnƒ@ amnos), das in der Wüste nach seinem Hirten Ausschau hält« (ActThecl 21). Im Vergleich zum Q-Text hat hier eine bemerkenswerte Akzentverschiebung stattgefunden: Thekla ist ein aktives Lamm, das nicht wartet, bis es gesucht wird, sondern selbstständig dazu beiträgt, seinen Hirten wieder zu finden, der freilich nicht Paulus, sondern letztlich Christus ist, wie sie bei ihrer Selbsttaufe anerkennt. Im Wissen darum, dass die eigenen Aktivitäten oder gar risikobehafteten Wagnisse von der alles sprengenden Fürsorge Gottes und Jesu umschlossen bleiben, dürfen wir uns zu solchen überraschenden Ausbruchversuchen durchaus öfter ermutigen lassen.

Animosa Oveja Literatur zum Weiterlesen S. C. Barton, Parables on God’s Love and Foregiveness (Luke 15:1-7//Mattew 18:12-14; Luke 15,8-32, in: N. Logenecker (Hg.), The Challenge of Jesus’ Parables, Grand Rapids/Cambridge 2000, 199-216. D. R. Catchpole, Ein Schaf, eine Drachme, ein Israelit. Die Botschaft Jesu in Q, in: J. Degenhardt (Hg.), Die Freude an Gott – unsere Kraft, FS O. Knoch, Stuttgart 1991, 89-101. J. D. M. Derrett, Fresh Light on the Lost Sheep and the Lost Coin, NTS 26 (1979/80), 36-60. T. Holtz, Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12-14 / Lk 15,3-7) – Die Vollmacht Jesu, in: J. Kerˇkosvky´ (Hg.), EPITOAUTO. FS P. Pokorny´, Prag 1998, 163-175. A. J. Hultgren, The Parables of Jesus. A Commentary, Grand Rapids/Cambridge 2000, 46-62. J. Liebenberg, The Parable of the Lost Sheep in the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 414-430. P. Müller/G. Büttner/R. Heiligenthal, Verlieren und Finden (Lk 15,1-7; Mt 18,10-14), in: dies., Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002, 100-108. W. L. Petersen, The Parable of the Lost Sheep in the Gospel of Thomas and the Synoptics, NT 23 (1981), 128-147.

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