Wo die Heimat zur Fremde wird,... wird die Fremde zur Heimat

Universität Bremen Fachbereich 8: Kulturwissenschaften „Wo die Heimat zur Fremde wird, ... wird die Fremde zur Heimat.“ Über das Heimatbewußtsein be...
Author: Inge Blau
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Universität Bremen

Fachbereich 8: Kulturwissenschaften

„Wo die Heimat zur Fremde wird, ... wird die Fremde zur Heimat.“ Über das Heimatbewußtsein bei deutschen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen 1943 bis 1948

ausgearbeitet von Andreas Boldt 5. Semester

Studienbegleitender Leistungsnachweis zur Veranstaltung im WS 1997/98: Sylvelin Wissmann:

Heimat - Brauch und Mißbrauch III. 1945 bis zur Gegenwart. (VAK: 08-356) 0

Inhaltsverzeichnis Seite 1. Vorwort ----------------------------------------------------------------------------------------

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2. Geschichtlicher Teil ----------------------------------------------------------------------

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2.1. Die Deutsche Ostsiedlung -----------------------------------------------------------

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2.2. Ursachen und Hintergründe der Vertreibung -----------------------------------

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2.3. Neubeginn der Flüchtlinge - Die Situation in Deutschland 1946 ----------

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2.4. Woher kamen sie, wohin gingen sie? - Ergebnisse der Volkszählung vom 29. Oktober 1946 ---------------------------------------------------------------

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3. Heimat im Bewußtsein der vertriebenen Menschen ---------------------------

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3.1. Entwurzelung und Wiederverwurzelung -------------------------------------

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3.1.1. Was sind „Entwurzelungserfahrungen“? --------------------------------

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3.1.2. Wiederverwurzelung und sozialer Wandel -----------------------------

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3.2. Abschied aus der Heimat ---------------------------------------------------------

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3.2.1. Flucht, Treck und Aussiedlungstransporte -----------------------------

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3.2.2. Das Liedgut (Lagerlieder, Flüchtlingslieder, Heimatlieder) ---------

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3.2.3. Heimatsymbole, Heimatillusionen und eine Handvoll Erde --------

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3.2.4. Das allmähliche Heimischwerden in der neuen Heimat -------------

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3.2.5. Zweiheimatlichkeit und Wandlung des Heimatbegriffes ------------

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3.2.6. Flüchtlingstreffen - Heimattreffen -----------------------------------------

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3.3. Ostdeutsche Museen und Sammlungen -------------------------------------

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4. Flucht und Neueingliederung - Erlebnisse von Zeitzeugen -----------------

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4.1. Der Hohenstädter ----------------------------------------------------------------------

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4.2. Die Troppauerin ------------------------------------------------------------------------

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4.3. Die Budweiserin ------------------------------------------------------------------------

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4.4. Die Oppelnerin -------------------------------------------------------------------------

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4.5. Der Bodenbacher ----------------------------------------------------------------------

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4.6. Der Friedländer ------------------------------------------------------------------------

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4.7. Rosa Labenski -------------------------------------------------------------------------

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4.8. Alfred Kerr -------------------------------------------------------------------------------

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5. Zeittafel ----------------------------------------------------------------------------------------

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6. Bibliographie --------------------------------------------------------------------------------

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1. Vorwort Der Titel dieser Arbeit - „Wo die Heimat zur Fremde wird, ... wird die Fremde zur Heimat.“ stammt von Thomas Mann. Ich habe dieses Zitat deshalb gewählt, drückt es doch genau den Sachverhalt aus, womit sich diese Arbeit beschäftigt: mit dem Heimatbewußtsein der Flüchtlinge und Vertriebenen und wie sie damit leben konnten. Neben der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ von 1954 ein fünfbändiges, in acht Büchern gefaßtes Werk - findet man noch weit mehr Bücher von Einzelschicksalen. So kann man in der Universitätsbibliothek um die 250 Flüchtlings- und Vertriebenenschicksale finden, die natürlich in mehreren Büchern verteilt sind. Dabei liegt die Spannweite der Bücher zwischen „Romanen“ und Fachbüchern, zwischen Sammlungen und kleinen

Auszügen

von

Dokumenten

oder

gar

Ausstellungskatalogen.

Da

diese

Informationsflut kaum zu bewältigen war, habe ich zunächst drei Bücher in die engere Wahl genommen, wovon eines ein Roman ist. Von den insgesamt 73 beschriebenen Schicksalen blieben schließlich zwei Bücher übrig, aus denen ich sieben Schicksale vorstellen werde. Durch Zufall wurde ich später noch einmal fündig: Ein Emigrant von 1933 schrieb seine Eindrücke auf, als er im Juli 1947 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Bei der Bearbeitung des Themas stellte sich bald heraus, daß der Verlust der Heimat im Bewußtsein der Menschen bisher kaum bearbeitet worden war. Die wenigen Bücher, die mir zur Verfügung standen, befaßten sich eher mit Fakten und Zahlen und dem Wiedererlangen der alten Heimat. Wenn man Glück hatte, streifte das eine oder andere Buch das im Kurs behandelte Thema.

2. Geschichtlicher Teil 2.1. Die Deutsche Ostsiedlung Die Deutsche Ostsiedlung, die auch als deutsche Kolonisation im Osten bezeichnet wird, ist ein langfristiger Prozeß germanisierender Expansion im Mittelalter gegen den slawischen Osten, welches nur dünn von Slawen, Awaren und Ungarn bevölkert war. Nach dem Sieg Karls des Großen über die Awaren 796 wurde die Expansion der Bayern in die Donauebene und die Ostalpenländer durch Landnahme der Ungarn 896/900 wieder rückgängig gemacht. Diese Siedlerbewegung wurde nach dem Sieg über die Ungarn 955 wiederaufgenommen und war um die Mitte des 11. Jahrhunderts abgeschlossen. Während die 2

Ottonen mit der Gründung zahlreicher Missionsbistümer eine wichtige Voraussetzung der späteren Ostsiedlung schufen und die mittelelbischen Lande gewannen, setzte sie sich im Nordosten des Reichs erst im 12. Jahrhundert durch. Ihre Initiatoren waren weltliche und geistliche deutsche Fürsten in den Grenzländern (unter anderem Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär, die Grafen von Schaumburg, Erzbischof Wichmann von Magdeburg), später riefen christliche Slawenfürsten selbst deutsche Bauern, Kaufleute und Handwerker ins Land und belehnten auch deutsche Ritter und geistliche Orden mit Grundbesitz. Die Rodungen, Wirtschaftshöfe und Dorfgründungen der Zisterzienser und Prämonstratenser sowie die Niederlassungen der Johanniter und Templer wurden Vorbilder für die Siedlung. Bei der Ostsiedlung handelte es sich bis etwa 1200 um eroberte deutsche Landnahme, seitdem fast immer um einen vertraglich geregelten Vorgang, bei dem vielfach von ausgesprochenen Siedlungsunternehmern, deutsche und einheimische Lokatoren, deutschrechtliche Dörfer und Städte gegründet und mit Siedlern besetzt wurden. Die slawische Bevölkerung wurde teilweise verdrängt, besonders wenn sie sich der Umstellung widersetzte, sonst aber in das Siedlungswerk miteinbezogen. Die Motive dieser Siedlungsbewegung waren auf seiten der deutschen wie der slawischen Fürsten hauptsächlich der Wunsch, die einträglichere deutsche Rechts-

und

Wirtschaftsverfassung

einzuführen

(z.B.

„Zehntbarmachung“

durch

Hufeneinteilung), auf seiten der deutschen Siedler wohl Überbevölkerung bei vorläufigem Abschluß der Binnenordnung in ihrer Heimat sowie die Verheißung wirtschaftlicher Vorteile und größerer persönlicher Freiheit auf Siedlungsland. Ein Sonderfall der deutschen Ostsiedlung war die Staatsgründung des Deutschen Ordens, durch den Ostpreußen, Kurland und Livland christianisiert und deutsche Städte gegründet wurden (bäuerliche Siedlungen nur in Ostpreußen). Die Hanse, deren Kern die „wendischen Städte“ im Siedlungsbereich bildeten, stellte dann die Handels- und Seeverbindung der Ostseeländer mit Mittel- und Westeuropa her. Seit dem 14. Jahrhundert hat sich die Reichsgrenze durch die Ostsiedlung nicht mehr verändert. Um 1350 ebbte aus nicht völlig erklärbaren Günden (vielleicht im Zusammenhang mit der großen Pest) die Siedlungsbewegung ab und um 1400 schließlich stillstand. Teilweise gab es auch in der Neuzeit noch deutsche Siedlungswanderungen in den Osten, wie beispielsweise die Banater Schwaben und die Wolgadeutschen in Rußland. Die deutsche Ostkolonisation wurde seit dem späten 19. Jahrhundert von deutschem Chauvinismus verklärt: die Ostmarkenpolitik im östlichen Preußen und die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg im Osten (1914-1918) bezeugen dieses. Im Dritten Reich

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(1933-1945) überhöhte sich die übersteigerte Vaterlandsliebe zur Rechtfertigung der eigenen Expansions- und Germanisierungspolitik.

Die deutsche Kolonisation im Osten: Grenze zur Zeit Karls des Großen um 800 (links), zur Zeit Heinrichs des Löwen um 1180 (Mitte) und um 1400 (rechts). Quelle: Bertelsmann Lexikon Geschichte; Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 1991, S. 591

2.2. Ursachen und Hintergründe der Vertreibung Die Katastrophe, die innerhalb weniger Monate mehr als 17 Millionen Deutsche aus allen Gebieten ostwärts von Oder und Neiße innerhalb und außerhalb der Reichsgrenze erfaßte, von denen etwa zwei Millionen die Strapazen eines harten Winters und die Übergriffe der Sieger nicht überlebten, ist über die Deutschen im Osten nicht gleichsam über Nacht hereingebrochen. Die gewaltsame Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen, den Sudetenländern sowie aus Ostmittel- und Südosteuropa stellt vielmehr nur das Ende einer gewaltigen und größtenteils zwangsweisen Bevölkerungsverschiebung dar, die nach ersten Vorboten vor dem ersten Weltkrieg nach 1918/19 einsetzte, in den 20er Jahren etwas abflaute und seit 1939 das östliche Europa nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Zwar stellten die Deutschen zahlenmäßig den weitaus größten Anteil der von Zwangsvertreibungen Betroffenen, doch blieben auch einige kleinere Völker wie z.B. Esten und Krimtataren hiervon nicht verschont. 4

Die dem Deutschen in diesen Räumen drohende Katastrophe hat es nicht mit einem Schlag ereilt: Sie war vielmehr Resultat der seit der Französischen Revolution auftretenden Leitidee des homogenen Nationalstaats. Seit man im Laufe des 19. Jahrhunderts die althergebrachte Vorstellung, daß es gut und richtig sei, wenn mehrere Nationalitäten in einem übernationalen Staatsverband

friedlich

nebeneinander

lebten,

durch

den

sogenannten

„integralen

Nationalstaat“ zu ersetzen begann, war abzusehen, daß sich das Prinzip: „Ein Volk - ein Staat“ in einer ethnischen Schütterzone wie derjenigen Ostmittel- und Südosteuropas, in der die Gemengelage der Nationalitäten besonders ausgeprägt war, auf die Dauer verheerend auswirken mußte. Denn die letzte Konsequenz einer solchen Überzeugung mußte unausweichlich sein, daß sich die nationale Minderheit der das „Staatsvolk“ stellenden Mehrheit unterzuordnen, sich zu assimilieren oder aber im Weigerungsfall das Land zu verlassen habe. Infolge der ersten Russischen Revolution von 1905 kam es in den Ostseeprovinzen zu den ersten

Ausschreitungen

gegen

die

deutschbaltische

Oberschicht,

die

eine

erste

Rückwanderung von Deutschen auch aus Russisch-Polen ins Reich auslösten. Insgesamt fanden 5 000 Familien in der Provinz Posen Aufnahme. Das Echo in der Öffentlichkeit blieb zunächst gering, aber es ist der Beginn der Umsiedlungen und Vertreibungen des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg wurden auf

Seite des noch zaristischen Rußland die ersten

Deportationen durchgeführt. Nach ersten Verhaftungen und Verbannungen angeblich „unzuverlässiger“ Personen vor allem in den Ostseeprovinzen ermöglichte ein am 15. Februar 1915 verkündetes Gesetz die Enteignung aller Deutschen in einem 150 Kilometer breiten Streifen östlich der russischen Westgrenze und entlang der Ostseeküste. Bereits im Mai wurde die zwangsweise Entfernung aller im Frontbereich siedelnden deutschen Kolonisten befohlen und ihre Deportation nach Sibierien und in die Baschkirensteppe angeordnet. Wenngleich der rasche deutsche Vormarsch die Durchführung dieser Anordnung in den Gebieten westlich der Weichsel verhinderte, wurde die weiter östlich ansässige deutsche Bevölkerung Wolhyniens (ca. 250 000 Personen) im Treck, per Schiff oder per Eisenbahn nach Osten abtransportiert. Obgleich man sie dort einigermaßen glimpflich behandelte, gingen doch viele Familien in den folgenden Wirren von Revolution und Bürgerkrieg zugrunde; wenig mehr als die Hälfte der Wolhyniendeutschen kehrte nach 1921 in ihre nunmehr polnisch gewordene Heimat zurück, wo sie ihre Höfe entweder zerstört oder in fremden Händen vorfanden.

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Die deutsche Niederlage am Ende des Ersten Weltkrieges brachte für die Deutschen im östlichen Europa einen weiteren folgenschweren Einschnitt, da an der deutschen Ostgrenze nunmehr eine Reihe von neuen Staaten entstand, die dem Vorbild des „integralen Nationalstaats“ folgend bestrebt waren, möglichst alle eigenen Volkszugehörigen an sich zu ziehen und alle fremden Elemente aus dem eigenen Staatsgebiet zu drängen. Während das Sudetendeutschtum in der Tschechoslowakei, das immerhin 22,5 % der Gesamtbevölkerung stellte, bei seiner geschlossenen Siedlungsweise und gestützt auf ein funktionierendes

Mittelbauerntum

allen

Prager

Pressionsversuchen

gegenüber

verhältnismäßig resistent blieb, nahm die Verdrängung des Deutschtums aus dem polnischen Herrschaftsbereich, das nunmehr den Schutz des eigenen Staates und der deutschen Verwaltung entbehren mußte, bedeutende Ausmaße an. Im Jahre 1925 siedelten etwa 60 % der in Posen-Westpreußen (nun Polen) lebenden Menschen in das Deutsche Reich.

Deutsche Reichsgebiete östlich der Oder-Neiße-Linie 1945 (in den Grenzen nach dem Versailler Vertrag vom 10. Januar 1920. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 13

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Im „Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion“ vom 28. September 1939 wurde bereits die grundsätzlich freiwillige Übersiedlung von Deutschen aus der russischen und von Ukrainern und Weißrussen aus der deutschen Interessensphäre vereinbart. Bevor es jedoch dazu kam, schloß die Reichsregierung mit den Republiken Estland und Lettland Verträge über die Umsiedlung der dort ansässigen Deutschbalten in das Deutsche Reich bzw. die nach dem Polenfeldzug eingegliederten Gebiete des ehemaligen polnischen Staates. Da die Annexion der Freistaaten Estland und Lettland durch die Sowjetunion nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, entschlossen sich mehr als drei Viertel der dort lebenden Deutschen aus Furcht vor Verschickung, Zerstreuung oder Vernichtung, ihre Heimat zu verlassen. Sie wurden noch im Winter 1939/40 vor allem in dem neu geschaffenen „Reichsgau Wartheland“ angesiedelt, nachdem die dort ansässige polnische Bevölkerung teilweise in das sogenannte Generalgouvernment abgeschoben worden war. Da sich 16 200 Deutschbalten zunächst geweigert hatten, mußten sie im Frühjahr 1941 „nachumgesiedelt“ werden.

Polen während des Zweiten Weltkrieges. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 25

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Unter der Losung „Heim ins Reich“ wurden in den folgenden Monaten und Jahren auf Grund vertraglicher Vereinbarungen mit der Sowjetunion weitere deutsche Volksgruppen aus dem sowjetischen Machtbereich ausgesiedelt. Alle diese Volksgruppen wurden in ihrer überwiegenden Mehrzahl von den Behörden des „Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums“, Heinrich Himmler, in den beiden Reichsgauen „Wartheland“ und „Danzig-Westpreußen“ sowie in den zur Provinz Ostpreußen geschlagenen ehemals polnischen Gebieten angesiedelt. Der Beginn des Rußlandfeldzugs am 22. Juni 1941 brachte für die überwiegende Mehrzahl der Rußlanddeutschen die Katastrophe. Von nun an galten alle in der Sowjetunion siedelnden deutschen Kolonisten als zumindest potentielle Volksverräter und Staatsfeinde, die man durch Deportation aus ihren Wohnsitzen entfernen und durch Zerstreuung unschädlich zu machen suchte. Bereits am 15. August begann die Verschickungsaktion von 350 000 Deutschen aus der inzwischen aufgelösten Wolgadeutschen Sowjetrepublik; gleichzeitig wurden etwa 160 000 Deutsche aus Ostwolhynien, der Ukraine, der Krim und dem Kaukasus erfaßt und zusammen mit den Wolgadeutschen nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Der rasche Vormarsch

der

deutschen

Wehrmacht

verhinderte

zunächst

die

Deportation

der

Schwarzmeerdeutschen; sie wurden 1942 und 1943/44 nach Westen umgesiedelt, die letzten schon fluchtartig beim Rückzug der deutschen Truppen. Spätestens seit der alliierten Konfernz von Therean (28.11.-1.12.1943) war die sowjetische Haltung klar: In den Staaten Ost- und Südosteuropas sollte es nach dem Krieg möglichst keine Deutschen mehr geben. Am 15. Dezember 1944 billigte Churchill die Vertreibung der Deutschen. Diese prinzipielle Einigkeit der drei Großmächte erklärt, warum die Frage der Vertreibung bei der Konferenz von Jalta (4.-11.2.1945) nur eine untergeordnete Rolle spielte. Erst die Potsdamer Konferenz (17.7.-2.8.1945) brachte eine Änderung in der britischen Haltung. Churchill begann, die Massenausweisungen zu geißeln; er wollte damit die sowjetische Verhandlungsposition schwächen. Darüberhinaus befürchtete er Versorgungsprobleme in den Besatzungszonen. Im Verlauf der Beratungen rückte dieser Punkt allerdings immer mehr in den Hintergrund. Im Potsdamer Abkommen schließlich beschäftigt sich erst Artikel XIII mit der Aussiedlung der Deutschen. Darin heißt es: „ Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile

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derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß.“ 1 Die erste und schlimmste Phase der Vertreibung hatte am 19. Oktober 1944 mit dem ersten Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ostpreußen begonnen. Die im Januar 1945 einsetzende Winteroffensive brachte die Rote Armee innerhalb kurzer Zeit bis nach Schlesien und Pommern. Über fünf Millionen Deutsche, vor allem Frauen und Kinder, waren auf der Flucht - zu Fuß, auf Pferdefuhrwerken, in Güterzügen oder auf der eisigen Ostsee. Hunger und Kälte zehrten an den Kräften. Oft wurden die Trecks beschossen oder von der rasch vorrückenden Roten Armee überrollt. Allein zwei sowjetische U-Boot-Angriffe auf deutsche Evakuierungsschiffe in der Ostsee forderten über 10 000 Opfer. Die Zurückgebliebenen erwartete ein schreckliches Schicksal. Sie mußten für die Grausamkeiten der deutschen Besatzungspolitik in Polen und der Sowjetunion büßen. In Polen hatten sechs Millionen Menschen unter deutscher Herrschaft ihr Leben verloren. Die anderen waren der Versklavung und Deportation nur knapp entgangen. Außerdem verwandelten die Deutschen Truppen bei ihrem Rückzug die geräumten Gebiete in „verbrannte Erde“.

„Kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene“- so der Befehl Hitlers - sollte zurückbleiben und dem vorrückenden Feind in die Hände fallen. Durch die Taktik der „Verbrannten Erde“ verlor die in ihre Dörfer und Städte zurückkehrende polnische und russische Zivilbevölkerung jede Existenzgrundlage. Die Folge waren blinder Haß und der Ruf nach Vergeltung. Auf dem Foto erkennt man, daß deutsche Soldaten während des Rückzuges Häuser in Schutt und Asche legen. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 53, Bild 27

1

aus: Kuhn, Ekkehard: Nicht Rache, nicht Vergeltung. Die deutschen Vertriebenen; Langen Müller Verlag, München 1987; S. 344, Z. 12-17 9

Die Rache war nicht weniger grausam. Sowjetische Soldaten und Polen ließen ihrem Haß freien Lauf. Sie unterschieden nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen. 1914, beim Einmarsch der russischen Armee in Ostpreußen, war die Zivilbevölkerung fast unbehelligt geblieben. Damals hatte es nicht diese maßlose Wut gegeben, die sich jetzt im grausigen Morden entlud. Auch die neue tschechoslowakische Regierung unter Edvard Benes ging rigoros gegen die Deutschen vor. Bereits im Mai 1941 hatte sich Benes öffentlich für die Vertreibung ausgesprochen. Allzu gut erinnerte er sich an das Münchner Abkommen, in dem 1938 der Untergang seines Staates besiegelt worden war. Das sollte sich nicht wiederholen. In den Sudetendeutschen sah Benes eines ständigen Unruheherd, den er möglichst schnell beseitigen wollte. Bis zum Abschluß des Potsdamer Abkommens häuften sich Ausschreitungen, die von der Regierung stillschweigend geduldet wurden. Erst durch den „Plan zur Überführung der deutschen Bevölkerung“ vom 17. Oktober 1945 regelte der Alliierte Kontrollrat endgültig den Ablauf der Massenausweisungen, die m wesentlichen bis Ende 1947 abgeschlossen waren. Ähnliches wie in Polen und der Tschechoslowakei ereignete sich auch in Südosteuropa. Besonders hart traf es dabei die Jugoslawiendeutschen. Jeder fünfte kam bei der Flucht um, und von den Zurückgebliebenen starben zwei Drittel. Aus Rumänien und Ungarn werden Deutsche in die Sowjetunion deportiert. Noch 1951 mußten 50 000 Rumäniendeutsche den Weg in die Baragansteppe am Schwarzen Meer antreten. In ihrer am 5. August 1950 in Stuttgart verabschiedeten Charta verzichteten die Vertriebenen darauf, Rache und Vergeltung zu üben. Sie haben damit schon früh all denjenigen eine deutliche Absage erteilt, die immer wieder versuchen, die deutschen Verbrechen gegen die der Siegerstaaten aufzurechnen, und dabei bewußt oder unbewußt außer acht lassen, daß die Greuel am Ende des Zweiten Weltkrieges das direkte Resultat des deutschen Herrenmenschen-Wahns sind. Die Vertriebenen haben diesen Wahn mit dem Verlust ihrer Heimat und eines großen Teils ihrer Kultur bezahlt.

2.3. Neubeginn für die Flüchtlinge - Die Situation in Deutschland 1946 Die drei westlichen Besatzungszonen hatten 1946 bereits rund 5,9 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, die integriert werden mußten. Die Heimatvertriebenen standen vor großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Etwa 95 % von ihnen hatten ihren gesamten Besitz 10

verloren und oft nur so viel mitgebracht, wie sich auf einem Handwagen transportieren ließ, oder wie die Flüchtlinge selbst tragen konnten. Dazu kamen Unterbringungsschwierigkeiten. Ein großer Teil der Wohnungen war zerstört, selbst die einheimische Bevölkerung lebte oft noch in behelfsmäßigen Unterkünften. Der Wiederaufbau war noch nicht soweit fortgeschritten, daß für jede Familie eine eigene Wohnung vorhanden war. Wer Verwandte im Westen hatte, konnte zunächst dort unterkommen. Hausbesitzer und Mieter großer Wohnungen mußten einen Teil ihrer Räume abtreten. Dennoch blieben für viele Vertriebene nur Flüchtlingslager. Die Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen war überdurchschnittlich hoch. 20 % mußten zunächst berufsfremde Arbeiten annehmen, die durchweg schlechter bezahlt waren. Der Anteil der Flüchtlinge lag bei den Hilfsarbeitern um 60 % über der Norm, bei der Gruppe der Arbeiter ohne feststehenden Beruf um 70 %. Viele waren gezwungen, ihren erlernten Beruf zu wechseln. Die Mehrzahl übernahm ungelernte Arbeiten in der Industrie. Die Vertreibung hatte oft auch einen sozialen Abstieg zur Folge. Nur etwa ein Drittel der Zugewanderten hatte wieder die gleiche soziale Stellung erreicht wie vor der Flucht. Das lag zum Teil auch an der wirtschaftlichen Struktur der Ostgebiete, wo in der gewerblichen Wirtschaft die Klein- und Mittelbetriebe vorherrschten. Es wurde angestrebt, landwirtschaftlichen Siedlungsraum für Vertriebene zu schaffen, um ihnen eine Heimat- und eine Existenzgrundlage zu geben. Dazu waren umfangreiche Landzuweisungen notwendig, die aber 1946 kaum finanziert werden konnten. Die Finanzkraft der öffentlichen Hand war durch Soziallasten und Besatzungskosten eingeschränkt - 18 % der Vertriebenen und 4,3 % der Einheimischen waren Fürsorgeempfänger. Besonders von der Vertreibung betroffen waren Jugendliche und alte Menschen. 6,5 % der Flüchtlinge (rund 600 000) waren über 65 Jahre alt. Sie hatten alle Ersparnisse verloren und konnten von ihren Kindern - wenn diese überhaupt noch lebten - kaum unterstützt werden. Für die Jugendlichen war es ein besonderer Nachteil, daß die meisten Vertriebenen in ländlichen Gebieten untergebracht waren, wo es kaum Ausbildungsplätze gab. Für sie lag die Hoffnung auf einen qualifizierten Arbeitsplatz in weiter Ferne. Dazu kam, daß etwa 10 % in baufälligen Barackenlagern aufwuchsen, wo Großeltern, Eltern und Kinder dicht gedrängt in einem Raum lebten. Die Gefahr der Verwahrlosung war groß.

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2.4. Woher kamen sie, wohin gingen sie? - Ergebnisse der Volkszählung vom 29. Oktober 1946 Nach der Volkszählung 1946 gab es in den vier Besatzungszonen einschließlich Groß-Berlin 9 593 800 Heimatvertriebene und Flüchtlinge, das waren 14,9 % der Gesamtbevölkerung. Der größte Teil von ihnen stammte aus dem ehemaligen Reichsgebiet (5 608 100), davon allein aus Schlesien 2 682 400, aus Ostpreußen 1 427 999. Die übrigen waren Auslandsdeutsche (3 985 700). Sie kamen hauptsächlich aus der Tschechoslowakei (2386 500), aber auch aus dem Baltikum, Polen, Ungarn, Rumänien und der UdSSR. Dazu kamen einige hunderttausend Ausländer, die aus politischen Gründen nicht mehr in ihre Heimat in Osteuropa zurückkehren wollen. Die drei westlichen Zonen hatten zusammen 5 878 500 Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten davon lebten in der britischen und amerikanischen Zone (3 055 300 bzw. 2 744 900). Die Militärregierung der französischen Zone hatte sich zunächst geweigert, Flüchtlinge hereinzulassen, weil Frankreich nicht an der Potsdamer Konferenz beteiligt gewesen war. 1946 lebten dort 78 300 Vertriebene. Die sowjetische Zone hatte 3 598 400 Flüchtlinge aufgenommen, Groß-Berlin 116900. Die Flüchtlinge waren nicht gleichmäßig über die Länder verteilt. Sie wurden zunächst dort eingewiesen, wo noch unzerstörter Wohnraum zur Verfügung stand, d.h. in ländliche Gebiete. Die höchste Flüchtlingskonzentration im Westen hatte Schleswig-Holstein mit 32,2 % der Gesamtbevölkerung, danach folgten Niedersachsen (23,3 %) und Bayern (18,9 %). In der sowjetischen Zone waren die meisten Flüchtlinge in Mecklenburg (42,2%).

Anzahl und Herkunft aller deutschen

Flüchtlinge

und

Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten und Osteuropa

Anzahl

Herkunft

300 000 2 400 000 2 400 000 2 500 000 4 500 000 3 500 000 50 000 200 000 250 000 16 100 000

Baltikum Pommern Ostpreußen Polen Schlesien Sudetenland Rumänien Ungarn Jugoslawien

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3. Heimat im Bewußtsein der vertriebenen Menschen 3.1. Entwurzelung und Wiederverwurzelung 3.1.1.Was sind „Entwurzelungserfahrungen“? Der Begriff „Entwurzelungserfahrung“ gehört in den Bereich der Sozialgeschichte und der Sozialpsychologie. Er beschreibt einen sozialen Tatbestand und eine Gefühlslage. Im wissenschaftlichen Kontext verwendet, wird mit dem Wort Entwurzelung das Bild eines Baumes vorgestellt, der überirdisch nur gedeihen kann, wenn ein weitverzweigtes Wurzelgeflecht ihn mit den lebenswichtigen, unter der Erdoberfkäche liegenden Nahrungsquellen verbindet. Mit diesem Bild verknüpft ist die Vorstellung, daß der Baum nicht mehr gedeihen kann und krank wird, wenn man ihn eines Teils seiner Wurzeln beraubt. Nimmt man sie ihm ganz, so stirbt er ab. Dieses Bild kann auch auf den Menschen übertragen werden. Nur in einem bestimmten Umfeld kann er ein sicheres und subjektiv als befriedigend empfundenes Leben führen. Dazu gehören materielle und geistige Lebensgrundlagen, Sicherheit und Freiheit von Zukunftsangst. Entwurzelung verweist also auf einen negativen Tatbestand, nämlich auf den Verlust des lebenswichtigen Gutes der Verwurzelung in existentiellen Sicherheiten. Die Entwurzelten des Zweiten Weltkrieges verloren Heimat, Haus und Hof, den Kontakt zu Familienmitgliedern, Freunden und anderen Menschen ihres näheren sozialen Umfelds. Durch diese Begriffsbestimmung mag deutlich geworden sein, daß das Bild der Entwurzelung die Möglichkeit gibt, eine Vielzahl vergleichbarer Schicksale in den Blick zu nehmen und sie als Teile ein und desselben historischen Phänomens zu begreifen. Konkret: Nicht nur die aus dem Osten Europas vertriebenen Deutschen erlitten den spezifischen Verlust der Entwurzelung,

sondern

ebenso

die

Emigranten,

die

als

„Volksdeutsche“

Zwangsumgesiedelten, die Millionen deutscher Rüstungsarbeiter, die abseits ihrer Heimatgemeinden eingesetzt wurden, die aus den Großstädten Evakuierten, die ausländischen Zwangsarbeiter, die 1945 als sogenannte Displaced Persons in Deutschland lebten, aber auch die von ihren Familien getrennten Frontsoldaten und die Kriegsgefangenen. Die einen wie die anderen wurden zwangsweise aus ihren bisherigen Lebensverhältnissen herausgerissen. Wir haben es mit einer vergleichbaren Befindlichkeit zu tun, die als Verlust erfahren wurde. Die Menschen verloren ihre bisherigen gesellschaftlichen Beziehungen, ohne zu wissen, wie sich die Zukunft für sie entwickeln würde. Gewiß muß differenziert werden: Der Aspekt der gemeinsamen Erfahrung von Entwurzelung darf den Tatbestand nicht verwischen, daß der Grad beziehungsweise die Intensität der 13

Entwurzelung sehr unterschiedlich war. Eine zweijährige Evakuierung auf das Land mit anschließender Rückkehr in die Heimatstadt, vielleicht in das zerstörte Haus, bedeutete einen weit geringeren Eingriff in die soziale Befindlichkeit als der vollständige Heimatverlust durch gewaltsame Vertreibung.

3.1.2. Wiederverwurzelung und sozialer Wandel Die „Wiederverwurzelung“ bedeutet das Wiederfußfassen, das Hineinwachsen in die später so genannte „zweite Heimat“. Im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Folgen dieser Wiederverwurzelung ist zu berücksichtigen, daß mit dem Prozeß der Integration der Fremden auch eine Veränderung der einheimischen Bevölkerung verbunden war, und daß die Summe dieser beiden Faktoren erst den sozialen Wandel ausmachte. In der Literatur wird die Integration der Millionen von „Zugereisten“ in aller Regel als die Geschichte eines großen politischen Erfolgs gewürdigt. An der Berechtigung dieser Bewertung soll hier nicht gezweifelt werden. Im historischen Rückblick wird allerdings der Tatbestand häufig geschönt oder geglättet, daß die Fremden in der ersten Nachkriegszeit durchaus nicht überall mit offenen Armen aufgenommen wurden, sondern ihnen gelegentlich auch massive Ablehnung und Feindseligkeit begegnete. Es kam mitunter zu extremen Anpasungsschwierigkeiten zwischen Flüchtlingen und Einheimischen und zu rigiden Ausgrenzung der Ortsfremden durch die Dorf- oder Kleinstadtbevölkerung. Zur historischen Wahrheit gehört auch der Tatbestand, daß die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen im Konkurrenzkampf mit den Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt waren und daß sie zunächst einmal einen sozialen Abstieg erlebten. Der Entwurzelung als einer Negativerfahrung folgte also in der Regel keineswegs sogleich die positive Erfahrung des gelungenen Aufbaus einer neuen Existenz, also einer vergleichweise problemlosen Wiederverwurzelung. Der Prozeß der Integration zog sich über viele Jahre hin. und war häufig erst in den 60er Jahren abgeschlossen.

14

3.2. Abschied aus der Heimat. 3.2.1. Flucht, Treck und Aussiedlungstransporte Individuelle Handlungen beim Abschied aus der Heimat beschränkten sich oft auf instinktive Regungen. Diese bestanden aus einem letzten Gang auf den Friedhof und Besuch der Gräber von Anverwandten und Bekannten mit Gebet und stiller Andacht, vielfach dabei Mitnahme einer Handvoll Erde vom Grab der nächsten Familienangehörigen (Eltern, Kinder). Auch das letzte Durchschreiten von Haus und Hof, in feierlicher Form mit brennender geweihter Kerze, wie es vereinzelt aus dem Böhmerwald berichtet wurde, gehörten dazu. Der Abschied vom Vieh im Stall und von der Feldfrucht auf dem Speicher wurde von den Vertriebenen berichtet. Dabei hob man sich eine Handvoll Getreidekörner auf oder streute sie in Kreuzform über die Schüttung. Man nahm ein paar Körner mit, damit einem Gott auch in der Fremde das tägliche Brot gebe. Vereinzelt versabschiedete man sich vom Acker und nahm eine Handvoll Ackererde mit. Gelegentlich kam jemand auf den Gedanken, an die Haustüre in Abwandlung der Sitte zu Dreikönig statt K + M + B die Buchstaben G + G + W aufzuschreiben mit der Bedeutung „Gott gebe Wiederkehr“. Man kniet auf der Türschwelle nieder und betet zum Abschied den alten Haussegen. Beim endgültigen Weggang aus der Heimat gab es noch einen letzten Blick auf den Heimatort zurück von einem Aussichtspunkt aus. Ein solcher Punkt war z.B. der Ramsauer Sattel, über den viele Transporte der Sudetenschlesier das Altvatergebiet verließen. Der begleitende Prister segnete mit dem Kreuz die nun verlassene Heimat. Gemeinschaftliches Abschiedsverhalten war häufig vom letzten Gottesdienst in der Heimatkirche, oft zwischen Mitternacht und Morgengrauen, geprägt, weil der Befehl zum Abtransport spät abends eintraf und man schon am frühen Morgen fort sollte. Es gab Abschiedsandachten mit Gebet und Gesang, bei denen der Priester fehlte, wieder andere, bei denen der Priester ohne Gemeinde im weiten Kirchenraum blieb. Bei den Aussichtspunkten mit dem letzten Blick auf die Heimat zurück, beim Abfahren der Transporte von daheim, wurden Heimatlieder, Abschiedslieder und Kirchenlieder gesungen. Beim Aufbruch zur Flucht im Treck nahm man im Flüchtlingsgepäck viele ideelle Werten mit. Die Dinge mit Erinnerungswert waren hunderttausenden Menschen wichtiger als die rein materiellen: das, was in der guten Stube das Andenkenfach enthielt, Fotoalbum, Braurkranz, Weihnachtskrippen (oder wenigstens die Figuren), Kommunionskerzen, Kommunionsbilder der

Kinder,

das

Bild

über

den

Ehebetten,

Hochzeitsgeschenke,

Taufgeschenke, 15

Wallfahrtsandenken, die Schmuckspitze oder der Fuß des Christbaums, die ersten Kinderschuhe von Kindern, die längst erwachsen waren, Fächer aus der Tanzstunde, Heimatkunden,

Heimatkalender,

Sagenbüchlein

der

Heimat,

Gebetsbücher,

Kirchenliederbücher, Rosenkränze. Neben der gewöhnlichen Kleidung wurde vielfach die zusätzliche Heimattracht mitgenommen, auch wenn sie nur mehr bei Heimatfesten getragen wurde. Daneben wurden kleine Erinnerungsstücke mitgenommen, wie etwa ein Steinchen oder Stückchen Mauer aus dem Haus, aus der Umzäunung des Besitzes, eine seltene Gesteinsart der Heimat. Es kam dann vor, daß man bei einer Neusiedlung etwa Riesengebirgsspat oder ostpreußischen Bernstein in das neue Haus einmauerte. Ein besonderer Zug war die Mitnahme einer Handvoll Heimaterde vom Acker, aus dem Garten, von den Gräbern der nächsten Anverwandten, von der Wallfahrtskirche oder von einem bestimmten Berg. Auch von der Arbeitsstätte wird oft ein Erinnerungsstück mitgenommen: von Bergleuten bei der letzten Ausfahrt ein Stückchen Kohle oder Erz, von den Arbeitern im Eisenwerk ein Stückchen Schlacke.

3.2.2. Das Liedgut (Lagerlieder, Flüchtlingslieder, Heimatlieder) Eine ergreifende Erscheinung in dem Strom des Leides, der seit dem ersten Weltkrieg über die Deutschen im Osten und Südosten hereingebrochen ist, waren die Lieder, in denen sie sich den Schmerz von der Seele sangen, die ihnen Halt und Stärke geben und die schwere Last der körperlichen und seelischen Leiden ertragen helfen sollten. Die Schöpfer und Träger der Lieder sind zum Teil noch feststellbar, es sind Beispiele der Volksdichtung, schlicht in Sprache und Ausdruck, ihr Wert ist nicht nach formal-ästhetischen Maßstäben zu messen, er liegt für die Wissenschaft in der gültigen, dokumentarischen Aussage über das äußere und innere Erleben; für die Dichter - es war vielfach Gemeinschaftsdichtung junger Frauen und Mädchen unter Führung einer schöpferisch begabten Kameradin - und ihre Leidensgefährten aber sind die Lebenshilfe. Das Hauptgewicht liegt im Text, die Melodie wird von anderen Liedern übernommen, wobei wiederum ästhetische Gesichtspunkte keine Rolle spielen. Wie bei den neuen „Sagen“ ist auch bei diesen Liedern festzustellen, daß sie verklingen, wenn ihre

unmittelbare

aktuelle

Funktion

erfüllt

ist.

Manche

von

ihnen

werden

in

Erinnerungsstunden auch in der neuen Umwelt nach überstandenem Leid noch gesungen. Von 16

manchen Liedern sagen die Frauen, sie können sie nicht mehr singen, sie würden sie zu sehr aufregen. Das Leid der Vertreibung von Haus und Hof, der Verschickung und Verschleppung aus der Heimat, der Zerreißung der Familien, der Zwangsarbeit in fremdem Lande, der Not und des Elends der Heimatlosigkeit ganzer Volksgruppen begann für die Ostdeutschen mit der Verschickung der Deutschen aus Wolhynien nach Sibirien nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges im Juli 1915. Dieses Ereignis fand seine Niederschlag in einem Lied, das schon in den Jahren 1924 bis 1928 aufgezeichnet wurde und 14 bis 17 Strophen umfaßt „Aus Wolhynien

sind

gezogen

die

Verjagten,

arm

und

reich“.

Als

Aussagen

der

Überlieferungsträger wurde notiert:  „Wir haben das Lied oft gesungen und viel dabei geweint. Bis 1930 ist es noch gesungen worden. Seitdem haben sie es verboten und das hat sich langsam aufgehört.“  „Man hat es früher sehr viel gesungen. In allen Kolonien. Aber dann hat sich das langsam aufgehört ... Dann sind die neuen Lieder gekommen, die von den Verschickten nach Murmansk, nach Astrachan.“  „Ein Küster hat das gedichtet. Ich hab das Lied das erste Mal gelernt in der Verschickung in Ufa, wo ich noch jung war. Dann später, nach vielen Jahren, hab ich es ein zweites Mal gelernt in der Kolonie Sadki, schon in der Stalinzeit.“ 2 Kantor Mietz aus Kadyszcze gab an, er habe das Lied 1916 im Turgaigebiet gedichtet. Auch einige andere Kantoren, ja sogar ein Pastor wurden als Dichter der Lieder angegeben. Die Banaterin Katharina Engel sagte 1952 bei der Aufzeichnung des Lagerliedes aus Kragujewatz: „Wo die kleinen Hütten stehn am Waldesrand“, sie habe dieses Lied im Jahre 1948 bei der Zwangsarbeit selbst gedichtet. „Das habe ich geschrieben, während einem Bohnenpflücken auf einem Fetzen Papier mit einem Bleistiftrest. Die anderen Mädchen rechts und links von mir haben meine Arbeit gemacht. Wenn wir bei den Bohnen eine Reihe weiter gegangen sind, bin ich auch mit weiter, so, als wenn ich Bohnen pflücken möchte. Derweil habe ich geschrieben, und dann habe ich es vorgelesen, und sie haben gesungen jeden Vers zur Probe (nach der Melodie: „Wo die Nordseewellen spielen“). Was nicht paßte, das hab ich durchgestrichen und anders versucht, und die anderen haben dazu Vorschläge

2

aus: Hanika, Josef: Volkskundliche Wandlungen durch Heimatverlust und Zwangswanderung. Methodische Forschungsanleitung am Beispiel der deutschen Gegenwart; Otto Müller Verlag, Salzburg 1957; S. 106 17

gemacht. Dann haben wir das so zusammen fertiggemacht. Am Abend im Lager, wie wir alle „zu Haus“ waren, ist das eingelernt worden. Dann haben das die Männer und Frauen alle mitsammen gesungen. Das ist oft gesungen worden.“ 3 Die letzte Strophe lautet: „Es ist fast zu vergehen in diesem Land, Wo wir sind ganz fremd und unbekannt. Doch wir verzagen nicht und hoffen fort, Daß wir einst wiederkehren an unsern Heimatort.“ 4 Die Funktion des Liedes kommt in diesem Schlußvers klar zum Ausdruck. Andere Aussagen über die Entstehung der Lieder: „Die älteren Mädchen und die jungen Frauen, die haben sich die Lagerlieder selbst zusammengestellt. Ich war ein-, zweimal dabei, wie sie so ein Lied gedichtet haben. Die eine hat das Gesätzel dazu gebracht, die andere das zweite, die dritte wieder etwas. Sie haben solche Lieder manchmal bei der Arbeit gemacht, manchmal am Abend nach der Arbeit. Da hat man nicht sagen können ‘der und der ihr Lied ist das’. Dafür hat man machmal gesagt: ‘Das Lied, das die Frauen im Krautgarten gemacht haben’ - die haben es bei der Arbeit im Krautgarten sich zusammengestellt.“ 5 Das „Rudolfer Handelslied“, nach der Melodie „Argonnenwald um Mitternacht“ zu singen, In dunkler Nacht marschieren wir, Im tiefen Wasser stapfen wir, Wir suchen unsern Kindern Brot Um sie zu retten vor dem Hungertod.“ 6 ist nach Aussage der Gewährsfrau im Rudolfsgnader Lager entstanden: „Das haben wir jungen Frauen selbst gedichtet, in der Zeit, wie wir in der Nacht aus dem Lager geschlichen und zu den Serben auf Handel mit unseren guten Kleidern gegangen sind, damit uns die Kinder nicht vor Hunger sterben.“ 7 Die Lieder wurden von den Lagern in Rußland aus auch durch Briefe verbreitet. 3

ebenda, S. 106-107 ebenda, S. 107 5 ebenda, S. 107 6 ebenda, S. 107 4

18

Neben den ernsten, klagenden und tröstenden Liedern gibt es auch lustige, die ein anderes psychologisches Mittel zur Bewältigung der Situation anwenden: Spott, Satire, Selbstironie auf die Verhältnisse im Lager, die Wachposten usw. Neben dieser starken, volkhaften Liedproduktion der Südostdeutschen gibt es nur spärliche Hinweise auf ähnliche Lieder bei anderen Volksgruppen. Aus Linden bei Budweis, Südböhmen, hat A. Brosch 1946 ein Ausweisungslied aufgezeichnet („In den schönen Linden, in dem trauten Ort“, nach „Lilli Marlen“ zu singen), dessen letzte Strophe lautet: „Fünfzig Kilo Spinnstoff, Geschirr und Federbett, Für sieben sieben Tage Essen, dabei wird keiner fett. So hat man uns gwiesen aus Und fremde Leute zieh’n in’s Haus. Das ist ein wahrer Graus.“ 8 Von Schlesiern stammt ein „heiteres“ Lied aus dem Grenz-Auffanglager Wiesau/Oberpfalz: „In Wiesau vorm Walde, den Schienen entlang“, nach der Melodie „Im Golf von Biskaya“ zu singen mit einem Kehrreim aus einem Lied des Reichsarbeitsdienstes. Vom Liedern, die das Flüchtlingslos in der neuen Umwelt besingen, war am verbreitetsten: „Fern der Heimat irr’ als Flüchtling In der Fremde ich umher.“ 9 Nach dem Seßhaftwerden in der neuen Umwelt, bei den Heimattreffen drängten die sogenannten „Heimatlieder“, eine Art Heimathymnen, stark in den Vordergrund: Das Böhmerwaldlied, das Riesengebirgslied, das Kaiserwaldlied, „Siebenbürgen, Land des Segens“ usw. Vielfach wurden jetzt neue derartige Lieder für Landschaften und Heimatorte geschaffen, die noch kein solches Lied hatten. Oft sind es Nachdichtungen oder Umdichtungen populärer Heimatlieder anderer Landschaften, z.B. des „Friesenliedes“. An die bestehenden Lieder werden neue Strophen angefügt, die auf den Verlust der Heimat Bezug nehmen. Manche Lieder bekamen nun die Funktion von Heimatliedern, die sie früher nicht hatten. Zu den schon bestehenden Liedern der Heimatsehnsucht im deutschen Volksmund („Nach der Heimat möcht’ ich wieder“) wurden neue gedichtet, es entstanden viele Heimwehgedichte und

7

ebenda, S. 107 ebenda, S. 108 9 ebenda, S. 109 8

19

Heimwehlieder, die vielfach bei Heimattreffen oder auf Liedpostkarten und Flugblättern verbreitet wurden. Es setzen verstärkte Bestrebungen ein, das alte Liedgut der Heimat zu erhalten durch Herausgabe von Liederbüchern und Pflege bei landsmannschaftlichen Zusammenkünften, Heimatabenden oder in Singscharen. Auf der anderen Seite sterben nach der Zerstreuung der Heimatgenossen ganze Schichten des Volksliedgutes der alten Heimat ab: Lieder in der Mundart oder Lieder, die an das Brauchtum gebunden sind, wenn der Brauch nicht in die neue Heimat verpflanzt wurde.

3.2.3.

Heimatsymbole,

Heimatillusionen

und

eine

Handvoll

Heimaterde Die jäh aus der Heimat gerissenen und in eine fremde Umwelt zerstreuten Menschen versuchen dieses Trauma auch durch Herausstellen von sichtbaren Symbolen der verlorenen Heimat zu überwinden. Bei Zusammenkünften der Heimatgenossen suchen sie das Bild der Heimat, eine Illusion der Heimat zu wecken: in den Lokalen wird ein Heimatbild an die Wand gemalt, ein typisches allbekanntes Landschaftsbild, ein Stadtbild, es soll die Illusion erwecken, man bewege sich in der Heimat. Finden Vorführungen auf der Bühnen statt, so wird die Bühne als Heimatkulisse gestaltet. In Festzügen werden, wie dies auch sonst üblich ist, Festwagen mit Attrappen heimatlicher Baudenkmale, Darstellungen kennzeichnender Gewerbe, historische Persönlichkeiten, Gestalten der Geschichte (z.B. Ordensritter) oder Sagengestalten (Rübezahl) mitgeführt. Dazu kommen Wappen und Fahnen. In Wirtshäusern errichtet man Heimatecken. Für die Schlesier diesseits und jenseits der Reichsgrenze wurde Rübezahl zur heimatlichen Symbolgestalt, zum Repräsentanten der heimatlichen Welt. Vielfältig ist seine Funktion im landsmannschaftlichen Leben fern der Heimat. Er tritt leibhaftig auf als Weihnachtsmann, bei Faschingsveranstaltungen

(gewöhnlich

„mit

seinen

Zwergen“),

bei

Heimatttreffen,

Kinderfesten oder bei Sommerfesten. Schlesiervereine benennen sich nach Rübezahl; Ausflugsgaststätten, Berghütten und Cafés heißen nach ihm. Für die Ostpreußen ist der Elch (Elchkopf, Elchschaufel) Symbol, im Festzug sind es die Ordensritter, die Marienburg, der Kurenhahn, der Stinthengst, die Trakehner oder der Bernstein.

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In gleicher Weise haben die anderen Herkunftsgruppen ihre Symbole, dabei sind die einen symbolreich, andere, wie etwa die Donauschwaben, in dieser Hinsicht symbolärmer. Doch erhalten nun die Trachten, das Brauchtum, die heimatlichen Speisen und Getränke sehr starken Symbolcharakter. Das greifbarste und unmittelbarste Symbol der Heimat ist die Heimaterde. Eine Handvoll davon macht sie in der Ferne gegensätzlich nahe, schaubar und tastbar. Sie verbindet mit der Heimat wie mit einem unzerreißbaren Band, auf primitiver Stufe im Sinne magischen Denkens, in höherer Geistigkeit wird die Handvoll Heimaterde stellvertretendes reines Symbol vom starkem Ausdrucksgehalt, es verblaßt im zivilisatorischen Bereich zum bloßen Erinnerungszeichen. Das

Brauchtum

um

die

Handvoll

Heimaterde

hat

seine

Wurzeln

in

uralten

Menschheitsvorstellungen. Nach dem biblischen Bericht formt Gott der Schöpfer den Leib des ersten Menschen aus Erde - aus Erde von seinem Heimatboden. Tief in der Menschheitsgeschichte reicht die Vorstellung von der „Mutter Erde“, der „terra mater“. Sie bringt alles Leben aus ihrem Schoß hervor und nimmt es im Tode wieder in ihren Schoß auf. Die Heimat ist die gebärende und nährende Mutter, die Heimaterde nimmt den Toten wieder auf, nur in der Heimaterde sind sie wirklich „geborgen“. Darum strebt der Mensch aus einem religiösen Urtrieb heraus danach, in der Heimaterde zur letzten Ruhe gebettet zu werden. Das Grab in fremder Erde ist ein zusätzliches Opfer zum Verlust des Lebens. Darum die Sitte, ein Säckchen Heimaterde mit in die Fremde zu nehmen: sie soll ein Unterpfand für die Rückkehr in die Heimat, ein Dokument des Anrechtes auf sie sein, sie soll, dem fremden Boden beigemengt, die Fremde zur Heimat werden lassen und die neue Heimat an die alte binden.

3.2.4. Das allmähliche Heimischwerden in der neuen Heimat Man sucht unbewußt Beziehungen zu knüpfen zwischen alter und neuer Heimat, man sucht zuerst das, was in der neuen Umwelt „anheimelt“. Als eine Gruppe Ausgewiesener aus Bielau, Kr. Wastadt in Sudetenschlesien bei der Aufteilung ihres Transportes nach Großdingharting in Oberbayern kam, erinnerte sie das Dorfbild mit seinem Teich an ihren Heimatort, der auch einen Teich als Mittelpunkt hatte. Freudig sagten die Bielauer: „Da sind wir ja wieder daheim in Bielau.“ Und bald entdeckten

21

sie, daß der Patron der Pfarrkirche der gleiche ist, wie in ihren Heimatort, so daß sie gleich die Kirchweih des Aufnahmeortes mit echter innerer Anteilnahme mitfeiern konnten. Man hält gern mit seinen engeren Landsleuten Zusammenkünfte dort ab, wo etwas an die alte Heimat erinnert. Man sucht so die gemeinsamen Erscheinungsformen auch in Bauwerken, im kulturellen Bereich, in Sitte und Brauch, in sprachlichen Beziehungen. Beispiele aus dem religiösen Bereich bietet das Wallfahrtswesen. Man wallfahrtet gern nach Gnadenstätten, die eine Beziehung zur alten Heimat aufweisen: den gleichen Namen, denselben Heiligen, den gleichen Wallfahrtstermin, ein Gnadenbild, das verwandte Züge mit einem heimischen trägt. Es ist in der ersten Zeit ein ständiges Vergleichen zwischen alter und neuer Heimat, die Erscheinungen der neuen Umwelt werden beständig an denen der vertrauten alten Heimat gemessen. Die Ähnlichkeiten sind eine erste psychologische Hilfe bei der Eingewöhnung im neuen Ort. Bei diesem ständigen Vergleichen treten dann natürlich auch die Unterschiede hervor. Dabei wird das zuerst beachtet, was dem eigenen Heimischen gegenüber unterlegen ist. Diese Haltung entspringt einer seelischen Notwehr: dem gestörten Selbstbewußtsein muß wieder Auftrieb geboten werden. Bekannt sind die Übertreibungen, die sich aus dieser Haltung ergaben und von den Einheimischen bald erkannt wurden. Im

weiteren

Verlauf

des

Heimischwerdens

ließ

sich

folgendes

beobachten:

In

Aufnahmegebieten mit starken lebendigen Überlieferungen der Volkskultur begannen die Flüchtlinge ihr gleichartiges, gleichwertiges oder ähnliches Erbe herauszustellen. In Gegenden mit noch lebendigen Volkstrachten brachten die Heimatvertriebenen ihre eigenen Trachten in die Öffentlichkeit und versuchten sie, dem örtlichen oder landschaftlichen Brauchtum einzufügen. Solche Beobachtungen bietet vor allem der alpenländische Raum mit seiner lebendigen Trachtenüberlieferung, seinen Trachtenfesten usw. Im nordwestdeutschen Raum ist diese Überlieferung geringer, hier fehlt auch die starke Trachtenpflege bei den Vertriebenen. In Gegenden mit lebendigem Brauchtum werden auch die Heimatvertriebenen angeregt, ihr Brauchtum zu pflegen, schon um damit ihre Vollwertigkeit zu erweisen. So ist im Bereich Bayerns oder Österreichs ein viel stärkeres Leben ostdeutschen Brauchtums zu spüren als etwa im Ruhrgebiet. Solches Hervorholen volkskundlicher Gemeinsamkeiten fördert wieder das Heimischwerden der Vertriebenen.

22

Die

Geselligkeitsvereine,

Gesangsvereine,

Turn-

und

Sportvereine,

Spielgruppen,

Musikkapellen usw. nahmen sehr bald Heimatvertriebene auf, sie wurden zum Bindeglied zwischen beiden Gruppen. Ähnliches

galt

für religiöse Vereinigungen und für

Berufsorganisationen. Am stärksten war das Zusammenwachsen in den Jugendorganisationen, die Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen verschwanden gänzlich oder traten überhaupt gar nicht erst in Erscheinung. Vielfach wußten die Mitglieder von einander kaum, wer Heimatvertriebener, wer Einheimischer war. Dies galt besonders für die bündischen, konfessionellen und gewerkschaftlichen Vereinigungen. Doch gab es auch eigene Organisationen der Vertriebenenjugend.

3.2.5. Zweiheimatlichkeit und Wandlung des Heimatbegriffes Der Eingliederungsvorgang war für die Heimatvertriebenen ein Prozeß der Umheimatung. Ein Teil, vor allem die alten Leute, blieb der alten Heimat geistig-seelisch verhaftet, auch in der neuen Umgebung. Manche Menschen gaben die alte Heimat seelisch vollkommen auf und verloren sie. Die Jüngsten erlebten Heimat erst in der neuen Umwelt. Zwischen diesen Grenzfällen machte die Mehrheit der Vertriebenen jenen Umheimatungsprozeß durch. Es ergab sich ein seelisches Spannungsverhältnis zwischen der Bindung an die alte Heimat und dem Hineinwachsen in die neue. Diese Spannung bereitet Schwierigkeiten, gibt aber zugleich schöpferische Impulse, die sich auch im volkskundlichen Bereich auswirken. Man hat für diesen Spannungszustand den Begriff der Zweiheimatlichkeit geprägt, in Anlehnung an den der Zweisprachigkeit. Die Zwangswanderung ganzer Volksgruppen und Volksstämme aus ihren Heimaträumen, ihre Zerstreuung und Wiederseßhaftwerdung in anderen Räumen hatte die Frage: „Was ist Heimat?“ bei der geistigen Auseinandersetzung mit dem Geschehen, bei dem Suchen nach seiner geistigen Bewältigung in den Vordergrund gedrängt. Denn Heimat sei die Grundtatsache im Leben von Menschen und Gruppen, die daraus vertrieben oder verbannt worden sind. Im Exil vollzog sich ein Wandel des Heimatbegriffes, besser gesagt, eine Bedeutungs- und Bewertungsverschiebung von seinen räumlichen zu seinen menschlichen Komponenten. Der Mitmensch erschien nun als das wesentlichste Element in dem Erlebnisgefüge „Heimat“, Ort und Landschaft bildeten den Rahmen.

23

Die Heimat wird, wie dies besonders Kurt Stavenhagen beschrieben hat, als soziologisches Gebilde bewußt. Eugen Lemberg faßt Heimat als gesellschaftliches Ordnungsgefüge eigener Art, das dem Einzelnen Geborgenheit und Halt gibt. In der fremden Umwelt sei die alte Form zerbrochen, der Mensch könne aber nicht lange ohne „Heimat“ bleiben. „Der Mensch kann nicht in ständigem Gegensatz zu seiner Umwelt leben, sich von ihr verkannt und mißverstanden fühlend, ihr Urteil und ihre heimatbildende Kraft ablehnend. So geht er einfach zugrunde. Darum ist die einzige Hilfe gerade für die Vertriebenen und Flüchtlinge: Bindungen schaffen, gleichgültig welcher Art, sei es durch Beteiligung an einer Laienspielgruppe, einer Singgruppe, einem Sportverein, einer gesinnungs- und glaubensverwandten Gruppe von Menschen, aber auch durch Verankerung in einem entsprechenden Beruf oder Arbeitsplatz, durch menschliche Beziehungen jeder Art in der neuen Umwelt. Das ist nicht Verrat an der alten Heimat, wie manche glauben, sondern das ist gerade die Möglichkeit, das, was von der alten Heimat noch wirklich lebendige, heimatbildende, erziehende, einordnende Kraft besitzt, mit hereinzunehmen in den neuen Lebensabschnitt, erst eigentlich fruchtbar und wirksam werden zu lassen, damit der Flüchtling mit dem Verlust der Heimat nicht gleichzeitig seine Heimatfähigkeit verliert.“ 10 Heimatfähigkeit aber sei eine schöpferische Kraft, vergleichbar der des Künstlers. Der Mensch schaffe, in einer zweiten Schöpfung, in einer höchst aktiven, schöpferischen Tätigkeit Heimat, indem er die Dinge seiner Umwelt in die Heimat verwandle.

3.2.6. Flüchtlingstreffen - Heimattreffen Von dem Komplex „Heimat“ ist die räumliche Komponente verloren, die menschliche ist erhalten, aber die Heimatgenossen sind weithin zerstreut. Die Heimatsehnsucht führt diese Menschen zusammen. In ihrem Beisammensein erleben sie für einen Tag, für einige Stunden „Heimat“. Es spielen sich besonders in der ersten Zeit rührerende Szenen des Wiedersehens ab, man trifft Verwandte, Bekannte, Nachbarn, tauscht Erlebnisse und Erfahrungen aus, fragt nach denen, die man sucht, den Nichtanwesenden, man spricht in der heimatlichen Mundart, nach und nach wird in der Ausschmückung der Tagungsräume, in dem sich entwickelnden

10

ebenda, S. 71-72 24

Festprogramm die Heimatsymbolik, die Heimatillusion, heimatliches Erbe in Lied, Musik, Tanz und Brauchtum entfaltet, in Festzügen zur Schau gestellt. Während man in seiner neuen Umwelt in der ersten Zeit der sozial Deklassierte, auf die Nullpunktexistenz Herabgesunkene, der als Belastung empfundene „Flüchtling“ ist, kann man nun wieder einmal „Mensch unter Menschen“ sein, man gilt unter seinen Heimatgenossen noch als der, der man zu Hause war, als der geachtete Bürger, als der Betriebsinhaber, als der Hausbesitzer, als der Mensch mit seiner früheren Leistung, seiner Bedeutung in den heimatlichen Vereinen, man spricht einander mit den alten Titeln an, man sieht einander in der vollen soziale Geltung, die jeder in der Heimat hatte, man ist hier noch „wer“.

3.3. Ostdeutsche Museen und Sammlungen Vor etwa 30 Jahren waren ostdeutsche Museen kein Thema. Das hat sich inzwischen geändert. Museen finden den Zuspruch der Bevölkerung und auch ostdeutsche Museen sind gefragt; sie sind notwendig geworden, weil an keinem anderen Ort der ostdeutsche Anteil der deutschen Geschichte so deutlich präsentiert und nacherlebt werden kann wie in gutgestalteten ostdeutschen Museen. Sie wurden außerdem notwendig, weil andere Museen oder ähnliche Einrichtungen ostdeutsches Kulturgut gar nicht oder nur nebenbei sammeln. Natürlich gab es bereits vor 30 Jahren ostdeutsche Heimatstuben und ostdeutsche Sammlungen. Einige Betreiber dieser Einrichtungen scheuten die Bezeichnung Museum, weil ihre Sammlung zu lückenhaft war, weil sie nur nebenbei heimatliche Erinnerungsstücke sammelten, vor allem politisch tätig sein oder lediglich einen Treffpunkt für die Heimatgruppe unterhalten wollten. Erst im Laufe der Zeit wurden sie zu Sammlern. Dieses hat sich in den letzten drei Jahrzehnten geändert. Aus Sammlungen wurden Museen, Heimatstuben nannten sich Museum, besonders wenn sie neue und bessere Räumlichkeiten beziehen konnten, wie es in Bremervörde das Beispiel der Stuhmer Heimatstube zeigt, aus der das „Heimatmuseum Stuhm/Westpr.“ wurde. Für einige ostdeutsche Landschaften, Provinzen und Vertreibungsgebiete sind bereits ostdeutsche Landesmuseen vorhanden, die sich alle noch im Aufbau befinden und räumlich recht beengt untergebracht sind. Nur das Ostpreußische Landesmuseum konnte bisher einen für diesen Zweck konzipierten Neubau in Lüneburg beziehen. Zu nennen sind das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen-Hösel, das Westpreußische Landesmuseum in Münster-Wolbeck und das Siebenbürgische Museum in Gundelsheim. Daneben gibt es 25

mehrere landschaftsbezogene Einrichtungen und Heimatmuseen für ostdeutsche Teilgebiete, für sudetendeutsche Siedlungsräume und für einzelne Siedlungsgebiete in Ost- und Südosteuropa. Im Jahre 1989 beschrieben die ostdeutschen Museen ihre Aufgabe und Funktion wie folgt: „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland schließen 44 Jahre räumliche Trennung von der deutschen Vergangenheit im Osten ein. Daher wächst mit jedem Jahr die Bedeutung dieser Aufgabe und hoffentlich auch das Bewußtsein, daß ostdeutsche Landesmuseen Institute für alle Bürger sind, für Forschung und Lehre. Sie dienen der Eingliederung der noch immer aus dem Osten in die Bundesrepublik Deutschland kommenden Deutschen und sie dienen dem inneren Frieden. Ostdeutsche Landesmuseen bewahren und präsentieren nicht nur deutsches Kulturgut und deutsche Geschichte, sie beinhalten große Teile der europäischen Entwicklung - also auch Fundamente eines in Zukunft hoffentlich geeinten Europas. Sie enthalten viel mehr als nur gesammelte Heimat.“ 11

4. Flucht und Neueingliederung - Erlebnisse von Zeitzeugen Acht Schicksale von Menschen, die ihre Heimat verlassen mußten, davon eines von einem Emigranten und sieben von Flüchtlingen Im Vorwort des Buches von Alena Wagenerová zeigt Peter Glotz auf, wohin die Vertreibung führen kann, nämlich „[...] dazu, daß Menschen „nicht ortsgebunden“ sind, daß sie also keine unbezweifelbare Identität haben, daß sie sagen, „mir ist, als hätte ich keine Jugend gehabt“, oder daß sie „zweite Wurzeln“ schlagen müssen. Oft genug ist es schwer bis unmöglich, solche Wurzeln wirklich tief in einen neuen Boden zu treiben. Die alte Heimat ist fern, „ein merkwürdig gemischtes Gebilde“, ein Land, in dem „die Hunde begraben liegen, mit denen sich unbequem lebt“ - aber auch die neue Heimat bleibt seltsam unwirklich. Auch wer vom unmittelbaren Leid der Vertreibung selbst absieht, von der Brutalität und den Verbrechen, die mit der Massenumsiedlung von Menschen offenbar immer verbunden sind, muß zur Kenntnis nehmen, daß die Vertriebenen

11

aus: Frantzioch, Marion, Ratza, Odo, Reichert, Günter: 40 Jahre Arbeit für Deutschland - die Vertriebenen und Flüchtlinge. Ausstellungskatalog; Ullstein, Frankfurt a.M. 1989; S. 233 26

selbst in der zweiten Generation noch schwere Identitätsprobleme haben. Ein nach Bayern vertriebener Sudetendeutscher ist noch lange kein Bayer, werde in den Augen der Bayern noch in seinen eigenen. Und Leute ohne Identität sind durchaus ein Problem oder können jedenfalls zum Problem werden.“ 12 Der Autorin Wagenerová hatte ihre befragten Personen, die bei der Flucht Kinder waren, mit folgender Frage konfrontiert: Welches Echo hinterließ im Bewußtsein der Kinder die verlorene Heimat? Im Unterschied zu den vielen Dokumentar- und Erinnerungsbüchern zu diesem Thema steht in ihrem Buch also weder die Vertreibung noch die Kindheit „davor“ im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Zeit „danach“, die Bewältigung oder Verdrängung dieser Zäsur in der Biographie. Da die Autorennamen nicht mit veröffentlicht wurden, erscheinen hier nur die von der Autorin benutzten Stadtbezeichnungen.

4.1. Der Hohenstädter Ich persönlich habe kein Interesse an der alten Heimat. [...] Vom Wohnungsamt sind wir zwangsweise einquartiert worden in ein Haus. Die Leute waren schon älter, der Sohn ein Architekt, und sie waren natürlich sehr verbittert, daß sie jemanden aufnehmen mußten in ihr Prachthaus. Entsprechend sind wir auch behandelt worden. Es war kurz vor Weihnachten als wir kamen. Ein Ofen war da, aber kein Brennmaterial. Die Leute hatten Holz, wollten uns aber keins geben. Wir sollten uns totfrieren. Am Heiligen Abend ist zu uns eine Frau aus der Nachbarschaft gekommen, hat uns einen Sack Holz gebracht. Das war unser Weihnachtsgeschenk. Wir konnten es uns ein bißchen warm machen in einem Stübchen. Unsere Hausleute haben mit allen Schikanen versucht, uns wieder rauszuekeln. Flüchtling, das war ein Schimpfwort damals. Als Kind hat man darunter gelitten. Wir mußten leise sein, meine Mutter mußte sich ständig Beschwerden anhören, daß wir uns so oder so falsch verhalten haben. Wir haben gar nichts gemacht, wir waren brav, und trotzdem kamen laufend Beschwerden. So haben wir die erste Gelegenheit genutzt und sind in die Altstadt umgezogen. Dort mußten wir uns mit zwei anderen Familien eine Dreizimmerwohnung teilen. Da ging der Zirkus aufs neue los, bis mein Vater eine gute Arbeit fand und von der Firma eine Werkswohnung erhielt.

12

aus: Wagnerová, Alena: 1945 waren sie Kinder. Flucht und Vertreibung im Leben einer Generation; Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990; S. 10 27

[...] Und wir sind auch in der Schule als Flüchtlinge behandelt und beschimpft worden. Irgendwann mal hat man sich das nicht mehr gefallen lassen, hat sich zur Wehr gesetzt und später auch Freunde gewonnen. Ganz langsam ist man integriert worden, und schließlich ist nicht mehr darüber gesprochen worden; man hat dazu gehört. Das war aber bestimmt ein Zeitraum von fünf bis zehn Jahren, genau kann ich es nicht sagen. Aber die ersten fünf Jahre, die waren bitter. [...] Ich habe mich immer geschämt. Aber resignieren - dazu hatte man keine Zeit. [...] Aber langsam ging es bergauf. Zuerst haben wir uns Möbel angeschafft. Später, ab Anfang der 50er Jahre, kamen dann die Flüchtlinge aus der DDR. Da waren wir schon halb integriert. Und die sind wieder von der Allgemeinheit, selbst von den Vertriebenen als Flüchtlinge behandelt worden. Das war das Eigenartige. [...] Die Eltern haben am Anfang noch gehofft, daß sich etwas ändert und wir wieder zurück können. Aber die Hoffnung hat sich nach und nach immer mehr zerschlagen. Sie waren nicht glücklich in der sogenannten neuen Heimat, aber wir hatten keine andere Wahl. [...] Anfang der 70er Jahre bin ich mit meiner Frau ins Saarland gezogen. Sie ist eine Saarländerin und wollte in ihre Heimat zurück. Mir war es im Prinzip egal. Ich bin überall zu Hause, wo ich mich wohl fühle und Geld verdiene. In dem Sinne bin ich nicht ortsgebunden. Jeder Ort kann die Heimat sein. Aber mit diesem Heimatgefühl, wie es meine Frau hat, damit kann ich nichts anfangen. Ich habe auch zu Bietigheim heute keinen Bezug mehr. Als wir dorthin kamen, lebten dort 8 000 Menschen, es gab zwei Industriewerke aber sonst war es ein Bauerndorf, heute hat es 70 000 Einwohner. Wenn ich heute dort hinkommne, wo ich als Kind gespielt habe, wo schöne Wälder waren, es ist alles bebaut, abgeholzt, Straßen sind in alle Richtungen gebaut worden, Hochhäuser hingestellt. Es ist für mich eine fremde Stadt geworden. Die Freunde hat man aus den Augen verloren, die sind alle gar nicht mehr da. Sicher, ich bin in Schwaben aufgewachsen, ich habe auch die Mundart angenommen, weil ich dort aufgewachsen bin. Werde auch verspottet als Schwabe. Das macht mir nichts aus. Aber als Schwabe würde ich mich nie bezeichnen, ich würde schon eher sagen, ich bin ein Sudetendeutscher. Ich komme von dort, dazu stehe ich. Die Heimat ist verloren, und ich habe auch keine Möglichkeit, zurückzugehen. Was soll ich machen, als es praktisch abschreiben. Ich bin zwar dort geboren, daher ist es die Heimat, aber an das Heimatgefühl oder so etwas glaube ich nicht. Das wäre eingebildet, nichts Ehrliches. Wenn wir von der Heimat sprechen, dann müßte ich schon sagen, das ist der Ort, wo ich meine Kindheit verbracht hatte. Ich weiß

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es nur von den Eltern, wie schön es drüben war, aber die bewußte Erinnerung, die fehlt. So wüßte ich nicht, was ich dort suchen sollte. [...] 13 Seine Frau aus dem Saarland fügt noch hinzu: [...] Ich würde meinem Mann gerne die Heimat geben, aber er ist irgendwie ruhelos, getrieben. [...] Das würde er nie zugeben, daß er ein Vertriebener ist und in Schwaben nur aufgewachsen ist. [...] 14

Der erste Zug mit vertriebenen Sudetendeutschen kommt in Müchen an. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 212, Bild 128

4.2. Die Troppauerin [...] Aber ich hatte wahnsinniges Heimweh nach Troppau. Noch viele Jahre später habe ich mich in manchen Straßen in München verlaufen, weil ich dachte, wenn ich jetzt um die Ecke gehe, bin ich in Troppau. Noch heute geht es mir manchmal so. Aber inzwischen habe ich es verkraftet und habe kein Heimweh mehr. In der Heimat meines Mannes, in Schlesien, war ich. Aber nach Troppau will ich nicht. Ich würde wieder nur das heulende Elend bekommen, wie in den ersten Jahren. Und das soll ich auf meine alten Tage in mir hochkommen lassen? Heimat ist Heimat, da kann man sagen, was man will. Die Winkel und Ecken, die Leute, der Garten, die Wohnung und der Weg dorthin, die ganzen Erinnerungen - nein, ich fahre nicht. Ich träume auch nicht mehr, und wenn, dann sind es keine beängstigenden Träume. Ich habe früher furchtbar viel geträumt, immer von der Flucht. Die Ostpreußen, die Rußlanddeutschen, die Siebenbürger - ich habe alle Flüchtlinge der Welt geträumt, als wäre es mir passiert. Aber jetzt träume ich nicht mehr. [...]15

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Auszüge aus: Wagnerová, Alena: 1945 waren sie Kinder. Flucht und Vertreibung im Leben einer Generation; Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990; S. 24-31 14 ebenda, S. 32-33 15 ebenda, S. 34-42 29

4.3. Die Budweiserin [...] Aber der Mangel, die Unsicherheit, die Erfahrung, bei der Tante nicht willkommen, sondern nur geduldet zu sein, haben in mir Spuren hinterlassen; etwa das Gefühl ständiger Bedrohung und Entwurzelung. Und in diesem Sinn kamen wir auch gar nicht mehr zur Ruhe. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß die Mutter mit uns über unsere Situation gesprochen, uns etwas erklärt hätte. Aber das war zu dieser Zeit Kindern gegenüber wohl nicht üblich. [...] Meine Mutter fühlte sich unter den Vogelsberger Bauern natürlich als etwas Besseres. Aber sie hatte keine Perspektive für die Zukunft, und so flüchtete sie sich in die Vergangenheit, in die Erinnerungen an die Herrlichkeiten ihres früheren Lebens. Sie erzählte uns, was für eine feine Familie wir in Budweis gewesen waren, in welchem Wohlstand und Reichtum wir gelebt hatten, wie kostbar ihre Garderobe und ihr Schmuck waren und wie viele „Mädels“ - so nannten wir die Hausangestellten - sie gehabt habe. Das gleiche erzählte sie auch den Bauern. Die glaubten es ihr aber wohl nicht. Sie hatte ja keinen Beweis dafür, nicht einmal ein Foto. Sie prägte uns einfach ein, daß das Chaos und Provisorium, in dem wir lebten, etwas Vorübergehendes sei und wir in diese Umgebung nicht hineingehören. [...] Ich habe nicht geweint, als ich vor drei Jahren zum erstenmal in Budweis, in Ceské Budéjovice, war. Ich frage mich, was mich im Alter von 46 Jahren da hingetrieben hat, zugleich aber auch, warum ich solange gewartet habe mit meinem Besuch. Vielleicht weil ich die Widersprüche nicht auflösen konnte, die Aura, die sich in der Familie um die Budweiser Heimat ausgebreitet hat: diesen Jammerton, die Neigung zum Selbstbedauern auf der einen Seite; die angelesenen historischen Realitäten auf der anderen. Vielleicht habe ich es deswegen so lange aufgeschoben, um nicht in die kleinste Gefahr zu kommen, nur aus sentimentalen Gründen hinzufahren. Ich will aber nicht ausschließen, daß doch auch Gefühle mit im Spiel waren. [...] Vor Budweis tauchte dann das Schloß Frauenburg auf, ein Ort, an den ich eine Erinnerung hatte: Dorthin habe ich mit meinem Vater, es mußte 1944 gewesen sein, einen Ausflug gemacht, und ich war sehr stolz auf ihn in seiner Uniform. Jetzt, 40 Jahre später, war auf einmal dieses Schloß wieder da. und ich dachte, da warst du mal, und es war eine gute Zeit. Und da merkte ich, daß doch starke Gefühle wieder wach wurden. Ähnlich ging es mir in Budweis selbst. Die Optik war etwas verschoben, aber es war alles da, nur viel kleiner als in der Erinnerung. Der Weg von unserem Haus in die Altstadt war für das vierjährige Kind damals eine kleine Weltreise, jetzt ein paar Minuten. Die Straßenführung, 30

das Stadtbild haben sich nicht sehr geändert. Nur der Platz vor unserem Haus ist umgebildet worden, und den Garten gibt es auch nicht mehr. Aber die Brücke über den Fluß war noch da und das Gebäude, das wir „Deutsches Haus“ nannten, Spuren, die ich in meiner Erinnerung hatte, eingegraben durch die Erzählungen meiner Eltern, und die ich jetzt in einer neuen Realität wiederfand. Ich hatte das Gefühl, meine Vergangenheit wieder zu haben. Seitdem geht es mir besser. Ich hatte schon geglaubt, am Beginn meiner Biographie fehle etwas. Es sollte eben dazugehören, daß ich auch den Ort sehe und aufnehme, an dem sich die ersten Jahre meines Lebens abspielten. Zunächst war ich verwirrt. Dann wurde mir bewußt: es ist nicht nur die Geographie, und doch ist sie entscheidend. Dort zu stehen, wo sich in jeder Erinnerung, in jedem Gespräch, in jeder Erzählung der Familie die Geschichte, das Leben eben dieser Familie konkretisiert: vor dem großen alten Haus. Und zu wissen und zu akzeptieren, daß dort nun andere Menschen wohnen. Ich habe schlagartig begriffen, wie sehr mir das gefehlt hat. [...] 16

4.4. Die Oppelnerin Meine Familie ist eine typische DDR-Familie, voll integriert in diesem Land, obwohl wir ursprünglich aus Oberschlesien stammen. Ich wurde 1928 in Oppeln geboren. [...] [...] Meine ganze Familie hat durch die Umsiedlung eine Chance bekommen. Keiner hat zu mir gesagt: Du bist ein Flüchtling. Der Staat ist von Anfang an bemüht gewesen, uns zu integrieren. Es gab zwar auch Unterstützungen, aber nur so lange, bis die Leute hier Fuß gefaßt hatten. Man hat auch keine Heimatvertriebenenverbände gegründet. Es wurde bei uns sehr viel dafür getan, den Menschen klarzumachen: Die Gebiete sind weg, und daran wird sich auch nichts ändern. Das sind die Folgen des Zweiten Weltkrieges, und die sind zu akzeptieren. „Die Oder-Neiße-Friedensgrenze“ hieß es immer in den Filmen, in den Zeitungen, bei den Treffen der Jugend. Damit wurde das Bewußtsein geschaffen: Du mußt hier die Füße auf die Erde stellen, denn zurück kannst du nicht. Ich weiß nicht, ob diese offizielle Propaganda es dem einzelnen leichter machte, den Verlust der Heimat zu verarbeiten. Aber sie hat sicherlich dazu verholfen, sich keinen Illusionen hinzugeben. Es wurde Klarheit geschaffen. [...] Das Gefühl, ein Flüchtling zu sein, ist bei mir zwar völlig weg, ich leide aber darunter, daß ich nicht an meine Wurzeln kann. Mir ist alles verschlossen. Sicher, ich kann hinfahren, aber die

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Heimat realisiert sich nicht nur durch die Häuser oder die Landschaft, durch die Örtlichkeiten, sondern auch durch die Menschen, die dazu gehören; und die finde ich nicht wieder. Und so geht es mir nicht nur mit meiner Kindheit in Oberschlesien, sondern auch mit den zwei Jahren in der Tschechoslowakei, besonders die waren so prägend für meine Biographie. Ich bin immer mit Heimatgefühl hingefahren. Heute ist es ein Braunkohlerevier, Tisová [Deutsch: Theusen] existiert nicht mehr. Mir ist, als hätte ich keine Kindheit, keine Jugend gehabt. Ich weiß, wo ich hergekommen bin, aber ich habe keinen Beleg dafür, auf dem Papier schon, aber keinen emotionalen Beleg. Es muß Menschen geben, mit denen man gespielt hat oder zur ersten Kommunion gegangen ist, die heute erwachsen sind und mit denen man darüber spricht, wie man als Kind war, welche Streiche man zusammen ausgeheckt hat. Durch den Austausch von Kindheitserlebnissen kommt doch ein Stück Kindheit wieder zurück. [...] 17

4.5. Der Bodenbacher [...] Ich denke, die ersten Jahre in Deutschland waren für mich prägender und schwerer als die Lagererfahrungen. Das schlimmste überhaupt war der Haß, der uns hier entgegenschlug, insbesondere in Sachsen. Für sie waren wir die Pollaken, wie alle, die von außen kamen. Viele waren ganz schön fies zu uns, nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder. Sie haben richtige Horden gebildet und uns verprügelt. Merkwürdigerweise bin ich meinen Dialekt nie ganz losgeworden, obwohl ich schon seit meinem sechsten Lebensjahr in Sachsen lebe. Interessant war, daß manche Umsiedler in kürzester Zeit sächsischer als die Sachsen selbst sprachen. Meine Schwester, die damals schon dreizehn war, spricht auch heute noch sächsisch, sie hat sich ganz schnell angepaßt. In den Dörfern sind aber die Umsiedler auch heute noch, 40 Jahre nach der Umsiedlung, „die Neuen“. Die Großstädte haben sie längst geschluckt, aber auf dem Dorf ist die Integration noch nicht abgeschlossen. Die fleißigen Sudetendeutschen haben sich freilich mit ihrer Tüchtigkeit auch unbeliebt gemacht. Meine Mutter hat mit dem Zeug, was sie im Koffer hatte, immer an unseren Kleidern genäht und geflickt, so daß wir tadellos angezogen waren. Das hat wieder Neid erzeugt. Es hieß, wir werden begünstigt.

16 17

ebenda, S. 53-62 ebenda, S. 70-78 32

[...] Aber im nachhinein finde ich, es war keine falsche Entscheidung die Deutschen umzusiedeln in einer Zeit, in der sowieso Chaos herrschte. Später hätte es wieder Schwierigkeiten gegeben, davon bin ich fest überzeugt. Das ist doch überall so, wo es Minderheiten gibt, vor allem so starke Minderheiten wie die Sudetendeutschen. Die erste Tschechoslowakische Republik ist mit ihrem Nationalitätenproblem auch nicht fertig geworden, und das war ein demokratischer Staat. Man hätte wieder Sprach- und Schulprobleme gehabt, und diesen Komplikationen ist man aus dem Wege gegangen. [...] [...] Genauso ist es, wenn ich Bodenbach als meinen Geburtsort angebe. Es wird immer in Décín 4 geändert. Das halte ich für ungeschichtlich, es sträubt sich in mir etwas dagegen. Natürlich würde ich heute Décín 4 nicht Bodenbach nenen. Bodenbach gibt es nicht mehr, selbst wenn ein paar alte Häuser noch da stehen. Heute ist es eine tschechische Stadt. Aber als ich dort geboren wurde, hieß es eben Bodenbach. Und darauf möchte ich bestehen. Immerhin taucht der Name auch bei Hasek, Capek und Werfel auf. Aber wenn ich in der Tschechoslowakei sage, ich komme aus Bodenbach, nehmen sie es so, als wenn ich alles rückkgängig machen möchte. Die Empfindlichkeiten sind eben drüben noch sehr groß. Anscheinend sind sie damit auch nicht ganz klar gekommen, mit der Umsiedlerei. Man kann es kaum glauben. Aber vor kurzer Zeit ist meine Schwester, sie lebt in Sachsen, von ihren Kollegen angepöbelt worden, sie sei keine richtige Deutsche, sie solle die Gosche halten und sich gefälligst in die „Tschechei“ zurückscheren. Das muß man sich vorstellen: 40 Jahre nach der Umsiedlung, und wo sie dazu noch so perfekt sächsich spricht! Daß sie es überhaupt noch wußten! Meine Schwester hat sich nie um die Geschichte gekümmert, sie wußte nicht einmal, in welchem Staat sie geboren war. Jetzt hat es sie eingeholt. Ich habe schon 1959 meine Tante besucht, als Reisen noch gar nicht üblich war. Die Züge waren ganz leer. Erst in der Mitte der 60er Jahre konnte man ungehindert nach Prag fahren. Ich habe damals noch viele Stellen wieder erkannt, rein optisch, aber sonst ist in einem Gedächtnis nicht viel hängengeblieben. Ich glaube, es war gut für mich. Ich habe mir alles angesehen, und es wurde mir schnell klar: Es ist jetzt alles anders dort, und du bist da nicht mehr zu Hause. Fertig. Der Bodenbach, den ich in meinen sicher verklärten Erinnerungen habe, das Ausflugsziel mit den bunten Dampferchen, den gibt es heute nicht mehr. Und mit dem anderen habe ich nichts zu tun. Ich bin auch nicht wieder hingefahren, obwohl ich öfters in die Tschechoslowakei komme. Aber dahin zieht es micht nicht. Es ist auch erschütternd, wie die Dörfer dort aussehen. Die DDR ist schon verfallen, aber Nordböhmen ist uns ein gutes Stück voraus. Wenn die Bevölkerung ausgetauscht wird, ist das eben so. Die Tschechen, die

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jetzt dort leben, gehören auch nicht hin. Mit der Heimat ist es bei mir so eine Sache. Ich bin in Sachsen groß geworden. Ich habe dort 20 Jahre verbracht - und bin, ohne es zu bedauern, wieder weggezogen. Daran habe ich gemerkt, daß ich dort nicht richtig zu Hause war. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, ist mir heute fremder als manche andere. Am wohlsten fühle ich mich hier im Märkischen, wo ich seit 25 Jahre lebe. Die Frage, wo ich eigentlich zu Hause bin, hat mich zeitweilig sehr beschäftigt. Es ist sicher altersbedingt, wenn man sich fragt, woher man kommt, wo man seine Wurzeln hat. Ich meine, es wird immer eine Frage bleiben. Heute würde ich sagen, ich habe meine Wurzeln dort, wo mein Arbeitstisch steht. Die Arbeit, vor allem die ungetane, ist meine Heimat. 18

4.6. Der Friedländer [...] Demnächst - ich bin jetzt pensioniert - will ich rüber fahren. Ich habe schon Sehnsucht danach. Es ist ein herrliches Land, ich möchte es noch einmal sehen. Von meinen früheren Schulkameraden unterschiedlicher Altersstufen sind etwa zehn oder zwölf drüben geblieben. Aus verschiedenen Gründen. Zu Hause bin ich zwar heute in Köln, aber die Heimat ist Schlesien, die Verwurzelung, das, was ich bin, das ist Schlesien. Trotzdem fühle ich mich in Köln nicht fremd. [...] [...] Heimweh hatte ich schon, vor allem an Weihnachten. Man dachte daran, wie schön die Christnacht bei uns war. Je mehr Zeit verging, desto schöner war die Erinnerung. Und man dachte, hier ist es nicht mehr so. Vor allem die alten Weihnachtslieder haben mir gefehlt. Die saßen so fest in einem drin. Es war schon ein Bruch im Leben. Vielleicht erleichtert der Besuch das Ganze. [...] Lange Jahre habe ich von der Heimat geträumt und dabei so laut gestöhnt, daß meine Frau immer wach wurde. Zum letztenmal, das ist so drei Jahre her, bin ich im Traum zu Fuß nach Friedland gegangen. Am Ortseingang traf ich den Metzger von der „Goldenen Sonne“ und habe ihn gefragt, so laut, daß ich es selber hören konnte: Sind noch viele Deutsche da? Ich bin nach wie vor der Meinung, daß unser Anspruch auf Schlesien besteht. Man müßte sich nur in irgendeiner Art und Weise näher kommen. Gutwillige Menschen, die sachlich miteinander reden, könnten es. Nur spielen bisher immer die Ideologien hinein, die alles erschweren. Man kann natürlich die Menschen, die heute dort leben, nicht wieder vertreiben, dieser Auffassung sind die Schlesier auch. [...] 18

ebenda, S. 96-101 34

Die Polen stünden heute sicher besser da, hätten sie die Vertreibung nicht durchgeführt. Bei der Vertreibung hat man zu wenig an die Zukunft gedacht, sich nicht vorgestellt, wie schlimm es ist für das Land, wenn Menschen hineinziehen, die dazu kein Verhältnis haben, in dem Land nicht verwurzelt sind. Die Ergebnisse sieht man ja. Es hat weder den Vertreibern noch dem Land gut getan. 19

Ein Dokument der Vertreibung: 34 Deutsche - sechs Männer, sieben Kinder und 21 Frauen, werden in einem Eisenbahn-Waggon von Neubrunn (Niederschlesien) Richtung Westen verladen. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 238 (Anhang)

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ebenda, S. 110-115 35

4.7. Rosa Labenski Aufzeichnungen von Frau Rosa Labenski aus Zandersdorf / Ostpreußen: [...] Wir hatten nicht Zeit, uns von unserer Heimat zu verabschieden. [...] [...] Dann werden in einige Haus- und Stallgiebel Granaten geschossen. Ein A-Mast im Weidegarten kippt um, dann wenden die Panzer und fahren wieder nach Sturmhübel zurück. Der letzte verschnauft am Dorfeingang noch einmal. Einige Russen steigen aus und machen sich an einer Bretterscheune zu schaffen. Bald lodert die Flamme hoch und geht in kurzer Zeit über das ganze Gehöft. Herr Walker steht mit brennenden Augen am Giebelfenster und sieht zu. Wir unterhalten uns noch ein Weilchen über das, was kommen wird, kommen muß. Irgend jemand sagt: „Wir hätten doch flüchten müssen.“ Da sagt Herr Walker: „Kann man denn weg von einem Stück Erde, das schon der Großvater bearbeitet und bebaut hat? Kann man weg von Tieren, die man ein Leben lang gezüchtet hat? Ja, zum Donnerwetter, kann man weg aus einem Hause, wo die Eltern gestorben und die Kinder geboren sind? Aus den Ställen, wo man so manche Nacht bei einem kranken Pferd, bei einer ferkelnden Sau verbracht hat?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das kann man nicht!“ Er steht torkelnd auf, sieht noch einmal gen Osten, wo die Flammen, die sein Gehöft einäschern, zum Himmel lodern, geht hinaus, dreht sich noch einmal um und sagt: „Nun mag kommen was will, wir Menschen sind zu schwach, dagegen anzugehen!“ Er steigt in seinen Schlitten und fährt zu Neuwald, wo Frau und Tochter auf ihn warten. In etwa drei Stunden wird er von den Russen erschossen. Mir aber haben seine Worte die Augen geöffnet. Die Liebe allein ist es zu Hof, Feld und Garten, zu Tieren und Maschinen, die uns nicht flüchten ließ. So leicht einfach wegfahren und aufgeben, was unsere Vorfahren und wir geschaffen haben, nein, das konnten wir nicht. Eine seltsame Ruhe kehrt in mein Herz. Mein Verstand wird wieder klar trotz des Schauderns, den ein brennender Hof erweckt, wo kein Mensch hilft, niemand rettet. [...] Adamzent [ein Gehilfe] ist auf Erkundung ausgezogen. Nach einer Stunde kommt er zurück. „Fru, wette Se ock, wo wi senn?“ „Nein, ich hab keine Ahnung!“ „Wi seen bolt tohus!“ „Wie, zu Hause, in Zandersdorf?“ „Jo, jo, glick hinderm Wold kemmt de Bartenstener Chaussee und denn heb wi nich mehr wit tohus!“ Es ist wohl seine längste Rede seit Tagen, vielleicht seit Wochen. Seine Frau fällt ihm um den Hals. „Ach jo, tohus, noa tohus!“ 36

Auch unsern Herzen ist das Wort „zu Hause“ wie Labsal. Ach ja, nach Hause, nach Hause. Das Wort „zu Hause“ gibt uns sogar ein wenig Wärme. [...] „Ist’s wahr, Mutti, wir gehen nach Hause?“ „Ja!“ „Oh, ja!“ Seine Augen leuchteten wie ein paar Sterne. Nach Hause! Er schält sich aus den Decken und zieht die Schuhe an. Die anderen Kinder wachen auch auf, und bei jedem erweckt das Wort „nach Hause“ einen freudigen Wiederklang. [...] Und wieder Renate [die Tochter]: „Wir haben doch in der Schule gelernt, wir sollen unsere Heimat über alles lieben, sie niemals verlassen, dann wird es uns immer wohlgehen. Wir haben sie nicht verlassen, sie verstößt uns!“ Ein ungeheurer Trotz steht in Renates Augen und plötzlich fängt sie hemmungslos zu weinen an und die beiden kleinen Schwestern auch. Dieser Verzweiflungsausbruch der Kinder wirkt auf uns alle ansteckend. Das erste Mal fließen Tränen. Sie erleichtern unsere Herzen aber nicht. Sie laufen in kleinen Bächen die Wangen hinunter und tropfen in den Schnee. Wenn die Frühlingssonne den Schnee wegtaut, werden sie noch einmal unserer heißgeliebten Erde einen Gruß bringen. Gott allein weiß, wo wir dann sein werden. [...] 20

Nach dem Vorstoß der Roten Armee auf Elbing war für unzählige Trecks der Fluchtweg nach Westen abgeschnitten. Jetzt blieb nur noch ein Ausweg: die Fahrt über das zugefrorene Haff auf die Nehrung. Ein endloser Zug von Menschen quälte sich über das Eis, angegriffen von russischen Flugzeugen und immer der Gefahr ausgesetzt, im brüchigen Eis oder in Bombenlöchern zu versinken. Quelle: Grube, Frank, Richter, Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 157, Bilder 94 und 95

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Auszüge aus: Gollwitzer, Helmut; Labenski, Rosa: Und vergib uns unsere Schuld ... ; Hase & Koehler Verlag, Mainz 1965; S. 29, 33-34, 45,56-57 37

4.8. Alfred Kerr Alfred Kerr mußte 1933 emigrieren und kehrte im Juli 1947 wieder nach Deutschland zurück. In seinem Tagebuch machte er sich folgende Notizen: Tagebuch.- Hier in Deutschland überrascht den Zwangsgewanderten ein unbestimmtes Gefühl. Bin heut, seit vierzehn Jahren zuerst wieder, in dem Land meiner Liebe, meiner Qual, meiner Jugend. Und meiner Sprache. Diese Trottel wollten mir blitzdumm die Zugehörigkeit absprechen. Ich werde nicht wehleidig ... Aber wie kommt man sich vor, nach allem Vergangenen? Nicht wie ein nachtragender Feind - wahrhaftig nicht. Sondern wie ein erschütterter Gefährte. Erschüttert ... aber mißtrauisch. (Man soll die Wahrheit ermitteln, sie feststellen - und dann sie sagen.) Also: Mißtrauisch, doch weich ... Nein: viel eher weich als mißtrauisch ... Und trotzdem etwas mißtrauisch ... Genau so ist es. Zuletzt behält der romantische Begriff „Deutschland“ die Oberhand. Es ist ja doch nicht auszurotten, was man so lange belacht und geliebt hat. Und eines steht fest: über dem Ganzen dämmert die innigste Hoffnung für ein heut unglückliches Land. München ... Nürnberg ... Frankfurt ... Alles zugleich kann ein eben Hineingeschneiter nicht sehn - doch überwiegt der Eindruck: München ist keineswegs hoffnungslos. Du erkennst jedenfalls die Straßen, wo sie gewesen sind. Du rufst: „Da ist ja die liebe Feldherrnhalle, da ist sie ja...“ Wo damals die Flucht die Erscheinungen in die Geschichte einging - nach verschiedenen Richtungen ... Da ist ja der Franziskaner [Gaststätte] - wenn er auch kein „Franziskaner“ mehr schenkt; ja sind denn historische Erinnerungen gar nichts? ... Lag hier nicht irgendein Siegestor? Doch! ... Und hier ist man bestimmt in der Kaufingerstraß’n. Weißt, mit die Schaufenster ... Hier sogar ein extra-billiger Woolworth: mit Viertel- und Achtelpreisen - für die deutsche Bevölkerung. Sie drängt hinein.

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Tagebuch.- Gestern, als ich über die Grenze bin, und das Auto noch stillsteht, aß ich einiges vom Bahnhof in Zürich Mitgebrachte. Ein deutsches winziges Bübchen kommt näher und fragt lächelnd: „Schmeckt’s?“ Ich weiß nicht, warum, aber ich habe Lust, loszuheulen - obwohl das Kind vielleicht eingelernt ist. Mit dem Empfangenen wandert er ab. Kommt nach sehr kurzer Zeit zurück; und fragt wieder lächelnd. Nürnberg... Das war eine Stadt; und ist eine Schutthalde. Das war gemütlich-bürgerlich; und ist ein Grauen. Ein Grauen ohne Tragik; nur noch was Unangenehmes. Eine Ruppigkeit. Eine Häßlichkeit. Eine Trostlosigkeit... Eine Schutthalde. In den ’Meistersingern von Nürnberg klang es behaglich, friedvoll: „Wie duftet doch der Flieder...“ Es hat sich ausgeduftet. Die Lorenzkirche steht noch. Auch ihr Gegenstück: die mit dem wundervollen Sebaldusgrab. (Ist es noch vorhanden?) Der Weg zwischen beiden bleibt eine Seelenfolter. Du siehst kaum andres als Geröll. Irreführend wäre das Wort „Ruinen“ - da denkt man immerhin an gewesene Hausungen; dies aber ist dem Staub viel näher als der billigen Vorstellung zerrissener Wände. So daß im ersten Augenblick der Gedanke nicht abwegig scheint: dies Trümmertal seinem Zustand zu überlassen - und ein neues Nürnberg nebenan zu erbauen. Sind das Wahnbilder? ... Traumideen? ... Das alte Nürnberg wäre dann eine Sehenswürdigkeit ... wie Pompeji; wie Rothenburg; oder wie das erschütternde Timgad in Nordafrika. Ein Pilgerziel für die Fremden. Tagebuch. - Ich weiß nicht, ob ich in fünf Tagen alles richtig gesehen - aber ich weiß, daß ich alles, was ich gesehen, richtig gesagt habe. (Auf das Sagen kommt es an.) 21

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aus: Wildermuth, Rosemarie (Hg.): Vom Gestern zum Heute. 200 Jahre deutsche Geschichte in Texten und Dokumenten; Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987; S. 182-183 39

5. Zeittafel Eckdaten der deutschen Flüchtlinge und Vertriebene und deren Bestrebungen zur Rückkehr von 1914 bis 1986.22 1914 1918 1919

1920 1921

1923 1929 1933 1938

1939

1940 1941

1942 1943

1944

1945

28. Juni: Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo. Julikrise. 1. August: Beginn des Ersten Weltkrieges. 7. Oktober: Proklamierung eines „Vereinigten unabhängigen Polens“. 9. November: Ausrufung der Republik in Berlin durch Philipp Scheidemann. Abdankung des Kaisers Wilhelm II. Januar: Beginn des polnisch-tschechischen Krieges um das Gebiet von Teschen. 28. Juni: Bedingungslose Unterzeichnung des Versailler Vertrages durch Deutschland. Abtrennung von deutschen Gebieten. 10. September: Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain durch Deutsch-Österreich. Auflösung des Habsburgerreiches. Österreich verliert Böhmen und Mähren an die neugegründete Tschechoslowakei. Verbot des Anschlusses an Deutschland. Deutscher Abstimmungserfolg in Ost- und Westpreußen: 97 % bzw. 92 % der Stimmen für ein Verbleiben bei Deutschland. 20. März: Volksabstimmung in Oberschlesien. 59 % für das Verbleiben bei Deutschland, 40 % für den Anschluß an Polen. 2. Mai: Beginn des polnischen Aufstandes für ein polnisches Oberschlesien aus Enttäuschung über das Abstimmungsergebnis. 20. Oktober: Der Völkerbund gibt die Teilung Oberschlesiens bekannt, wodurch der größte Teil des Industriegebietes an Polen fällt. Das Memelgebiet wird Litauen zugesprochen. 24. Oktober: „Schwarzer Freitag“ an der New Yorker Börse. Beginn der Weltwirtschaftskrise. 30. Januar: Hitler wird Reichskanzler. 12. März: Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. 13. März: Gesetz über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ („Anschluß“). 29. September: Münchner Abkommen. Chamberlain für Großbritannien, Daladier für Frankreich, Mussolini für Italien und Hitler vereinbaren die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei und ihren Anschluß an das Deutsche Reich. 15. März: Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei. Der „Griff nach Prag“ stellte den Bruch des Münchner Abkommens dar. Hitler errichtet das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. 23. August: Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“), geheimes Zusatzprotokoll über die Teilung Polens. 1. September: Deutscher Angriff auf Polen. Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich. 3. September: Großbritannien und Frankreich erklären dem Deutschen Reich den Krieg aufgrund ihrer Beistandsverpflichtungen gegenüber Polen. Oktober und November: Verträge über die Umsiedlung von Deutschen zwischen dem Deutschen Reich und den Regierungen von Estland, Italien, Lettland und der Sowjetunion. 5. September: Deutsch-sowjetischer Vertrag über die Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien und aus der Nord-Bukowina in das Deutsche Reich. 22. Juni: Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion. Stalin läßt die Wolga-Deutschen nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Die Republik der Wolga-Deutschen in der Sowjetunion wird aufgelöst. Deutsch-kroatische und deutsch-serbische Verträge über die Umsiedlung der Volksdeutschen in das Deutsche Reich. 5. Dezember: Der amerikanische Präsident Roosevelt stimmt in einem Gespräch der Absicht des tschechischen Exilpolitikers Benesch zu, die Sudetendeutschen aus einem wiedererrichteten tschechischen Staat auszuweisen. 28. November bis 1. Dezember: Konferenz von Teheran. Stalin, Churchill und Roosevelt sprechen u. a. über eine zukünftige polnische Westgrenze. August: Die Rote Armee stößt über die Grenze von Ostpreußen. 21. Oktober: Massaker der Roten Armee im ostpreußischen Nemmersdorf. 15. Dezember: Vor dem britischen Unterhaus erklärt Churchill, daß er eine Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten billige, die an Polen fallen sollen. Dezember 1944 bis Januar 1945: Volksdeutsche Einwohner werden von der Roten Armee in Rumänien, Ungarn und in Jugoslawien zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Januar: Beginn der Massenflucht der ostpreußischen Bevölkerung. 3.-12. Februar: Konferenz von Jalta. Rossevelt, Churchill und Stalin kommen überein, daß Polen durch Gebiete im Westen und Norden für Abtretungen im Osten entschädigt werden solle. Die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens wird bis zu einer Friedenskonferenz zurückgestellt. Februar bis April 1945: Aus den von der Roten Armee besetzten Gebieten werden mehrere hunderttausend deutsche Frauen und Männer zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Winter und Frühjahr: Flucht des größten Teils der Bevölkerung in Ost- und Westpreußen, Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien. 14. März: Noch vor dem Ende des Krieges errichtet die polnische Regierung auf dem Gebiet der deutschen Ostprovinzen ihre eigenen Verwaltungsbezirke, die Woiwodschaften Masuren, Pommern, Nieder- und Oberschlesien. 20. März: Errichtung der Woiwodschaft Danzig. 9. April: Kapitulation der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg vor der Roten Armee nach langer Belagerung. 30. April: Selbstmord von Adolf Hitler. 5. Mai: Beginn des tschechischen Aufstands in Prag und in anderen Orten. Beginn des Terrors gegen Deutsche. 7. Mai: Kapitulation der schlesischen Hauptstadt Breslau vor der Roten Armee nach langer Belagerung. 8. Mai: Bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Mai bis Juni: Polnische Miliz treibt Hunderttausende von Deutschen aus den Ostprovinzen über Oder und Neiße nach Westen. Gleichzeitig versuchen geflohene Ostdeutsche wieder in ihre Heimat zurückzukehren, vor allem aus der Tschechoslowakei und der sowjetischen Besatzungszone. Juni: Vertreibung von Polen aus den an die Sowjetunion gefallenen Gebieten in die Gebiete östlich von Oder und Neiße. 14. Juni: Beginn der Vertreibung der Sudetendeutschen auf Anweisung örtlicher tschechischer Militärkommandanten.

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Auszüge aus: Kuhn, Ekkehard: Nicht Rache, nicht Vergeltung. Die deutschen Vertriebenen; Georg Müller Verlag, München 1987; S. 340 - 350 40

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26. Juni: In San Francisco wird die Charta der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie schließt die deutschen Vertriebenen ausdrücklich aus der internationalen Flüchtlingsfürsorge aus. 17. Juli bis 2. August: Potsdamer Konferenz zwischen Stalin, Churchill/Attlee und Truman. 2. August: Verabschiedung der Potsdamer Erklärung. In Artikel IX heißt es: „Die drei Regierungschefs bekräftigten ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.“ Die folgenreichste Passage in Artikel XIII lautet: „Die drei Regierungen erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß.“ 16. August: Churchill beklagt im britischen Unterhaus die Ausweisung der Deutschen als eine „Tragödie ungeheuren Ausmaßes“ und fordert Auskunft von der britischen Regierung. Herbst und Winter: Polen setzt die ungeordnete Vertreibung der Deutschen fort. August: Bildung von Hilfsstellen der Sudetendeutschen, Schlesier und der Volksdeutschen aus Südosteuropa in Bayern und Württemberg. 25. Oktober: Einrichtung des Staatskommisariats für das Flüchtlingswesen in Hessen. 2. November: Errichtung des Staatskommissariats für das Flüchtlingswesen in Bayern. 10. November: Errichtung des Staatskommissariats für das Flüchtlingswesen in Württemberg-Baden. 11. November: In Stuttgart wird beim Länderrat, in dem die drei Länder der amerikanischen Zone Groß-Hessen, WürttembergBaden und Bayern zusammenarbeiten, der „Länderausschuß Flüchtlingsfürsorge“ gegründet. 19. Januar: Die Tschechoslowakei beginnt ihre sogenannte geregelte Ausweisung der Sudetendeutschen mit Bahntransporten, die bis Herbst 1947 laufen. Februar: In Hamburg bildet sich die Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge, in Württemberg-Baden die Interessengemeinschaft der ausgesiedelten Deutschen, in Hessen die Arbeitsgemeinschaft der Ostvertriebenen, in Bayern der Hauptausschuß für Ostflüchtlinge. 3. April: Die Flüchtlingskommissare von Bayern, Hessen und Württemberg-Baden rufen im Stuttgarter Länderrat erstmals internationale Hilfe zur Lösung des Vertriebenenproblems an. April: Die weitere Tätigkeit der im August 1945 errichteten Hilfsstellen der Sudetendeutschen, Schlesier und der Volksdeutschen aus Südosteuropa in Bayern wird auf Betreiben der Ausweisungsländer durch den Alliierten Kontrollrat verboten. Mai: Britische Kontrollkommission untersagt Bildung von Vereinigungen der Vertriebenen in der britischen Zone und fordert die Auflösung der schon bestehenden Vereinigungen. 10. September: Bildung einer Landesflüchtlingsverwaltung in Nordrhein-Westfalen. 11. Oktober: Erste Interzonenkonferenz aller für die Vertriebenenfrage zuständigen deutschen Verwaltungsstellen in Stuttgart. 29. Oktober: Volkszählung in allen vier Besatzungszonen Deutschlands. Erstmals werden hier auch alle Vertriebenen und Zugewanderten erfaßt. 23. November: Einsetzung eines „Niedersächsischen Staatskommisars für das Flüchtlingswesen“. 1. Januar: Zusammenschluß der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zu einer wirtschaftlichen Einheit („Bi-Zone“). 10. März: Die amerikanische Militärregierung entscheidet: „Den Flüchtlingen wird die Bildung nichtpolitischer Organisationen in der amerikanischen Besatzungszone gestattet.“ Jede weitere Betätigung bleibt untersagt. 11. August: Die Länderflüchtlingsverwaltungen der britischen und amerikanischen Zone schließen sich zur „Arbeitsgemeinschaft der deutschen Flüchtlingsverwaltungen (ADFV)“ mit Sitz in Stuttgart zusammen. 20. Juni: Durchführung der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen. 9. April: Zusammenschluß der bestehenden Landesverbände der Vertriebenen zum „Zentralverband der vertriebenen Deutschen“ (ZvD). 23. Mai: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird in Bonn verkündet und in Kraft gesetzt. Gründung mehrerer Landsmannschaften. 8. August: „Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände“ (Soforthilfegesetz). Danach werden bis 1952 ca. 4,2 Milliarden an finanzieller Hilfe gewährt. 24. August: In Bad Homburg schließen sich die Landsmannschaften zu den „Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften“ (VOL) zusammen. 20. November: Treffen in Göttingen zwischen Vertretern von ZvD und VOL. Festlegung, daß der Zentralverband der vertriebenen Deutschen die Sozial- und wirtschaftlichen Aufgaben betreut, die Landsmannschaften sich den heimatpolitischen und kulturellen Aufgaben widmen. Beschluß, gemeinsam eine „Charta der Heimatvertriebenen“ zu erarbeiten. 27. November: „Eichstätter Erklärung sudetendeutscher Wissenschaftler und Politiker.“ U. a. „Nicht Vergeltung, sondern Gerechtigkeit ...“ Weitere Gründung von Landsmannschaften. Januar: Gründung des BHE (Bund für Heimatvertriebene und Entrechtete) in Rendsburg. 5. August: Erste gemeinsame Kundgebung der Vertriebenorganisationen in Stuttgart. Verkündung der CHARTA DER HEIMATVERTRIEBENEN. In ihr bekennen sich die deutschen Heimatvertriebenen zum Geist der Völkerversöhnung und zu einem neuen Europa. Sie verkünden feierlich den Verzicht auf Rache und Vergeltung für das ihnen angetane Unrecht. Gefordert wird das Recht auf Heimat als ein Grundrecht der Menschen. Weitere Gründungen von Landsmannschaften. 22. Mai: Die Bundesregierung verkündet das „Gesetz zur Umsiedlung von weiteren 300 000 Heimatvertriebenen aus den Ländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein“. Die Durchführung dieses Gesetzes bringt Erleichterungen für die am meisten belasteten Länder und fördert die Eingliederung. 18. November: Gründung des „Bundes der vertriebenen Deutschen (BvD)“ durch vier Landsmannschaften und den Zentralverband vertreibenen Deutscher (ZvD). 14. August: Verkündung des Lastenausgleichsgesetzes, das 14 Tage später in Kraft tritt. Regelung eines teilweise finanziellen Ausgleichs zwischen Vertrieben und Vermögenden. 18. August: Gründung des „Verbandes der Landsmannschaften“ (VdL) in Bad Kissingen (vorher VOL). 19. Mai: Das Gesetz über die Angelegenhiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) tritt in Kraft. Es regelt Rechtstellungs- und Eingliederungsfragen. 14. Juni: Konstituierung des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland, Volksbewegung für die Wiedervereinigung“ aus 128 Vertretern aller Gebeite des öffentlichen Lebens. August: 915 000 Menschen sind in der Bundesrepublik bisher durch behördliche Maßnahmnen umgesiedelt worden.

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5. Mai: Inkrafttreten der Pariser Verträge: Volle Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. 18. bis 23. Juli: Genfer Gipfelkonferenz der drei Westmächte und der Sowjetunion. In der „Genfer Direktive“ bekennen sich die vier Mächte zu ihrer gemeinsamen Verpflichtung, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Sie erweckt große Hoffnungen bei den Deutschen. 14. Dezember: Konstituierung des „Bundes der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landsverbände“ in Berlin (BdV). 13. August: Bau der Berliner Mauer. Abriegelung der Grenze zu den Berliner Westsektoren durch die DDR. Denkschrift der Evangelischen Kirche: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. 21. Oktober: Erstmals Verzicht auf einen Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte im ersten Kabinett von Bundeskanzler Willy Brandt. 12. August: Unterzeichnung des Moskauer Vertrages. Erstmals stellt eine Bundesregierung die territorialen Veränderungen des Zweiten Weltkrieges nicht mehr in Frage. Doch der von der Bundesregierung übergebene „Brief zur deutschen Einheit“ stellt fest, daß der Vertrag nicht dem Ziel widerspreche, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. 7. Dezember: Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen. In ihm wird die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen bekräftigt und erklärt, gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche zu erheben. Billigung des Moskauer und Warschauer Vertrages durch den Bundestag nach leidenschaftlicher parteipolitischer Auseinandersetzung. Die meisten CDU/CSU-Abgeordneten enthalten sich der Stimme. 21. Dezember: Abschluß des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. In Artikel 3 wird die Unverletzlichkeit der Grenzen bekräftigt. Die Bundesregierung übergibt den „Brief zur deutschen Einheit“. 31. Juli: Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zum Grundlagenvertrag (es war von der Bayerischen Staatsregierung angerufen worden). Der Grundvertrag ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Doch das Deutsche Reich besteht völkerrechtlich fort und ist mit der Bundesrepublik (teil)identisch. Die DDR zählt als Teil Deutschlands nicht zum Ausland, sondern zum Inland. 11. Dezember: Prager Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der CSSR. Beide Seiten betrachten das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 „als nichtig“. 7. Juli: Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu der Verfassungsbeschwerde gegen die Ostverträge. Ablehnung der Verfassungsbeschwerde. Fortsbestand des Rechtssubjektes „Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937“. 29. Januar: Rede des für die Vertriebenen und Flüchtlingen zuständigen Bundesinnenministers Friedrich Zimmermann in München. Darin u. a.: „Tendenzen, die deutsche Frage auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR zu beschränken und die ostdeutschen Gebiete jenseits der Oder und Neiße nicht einzubeziehen, wird es bei der neuen Bundesregierung nicht geben. Wir werden auch keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß die Vertreibung von Deutschen und die entschädigungslose Enteignung ihres Eigentums sowie anderer Entschädigungswerte völkerrechtswidrig ist.“ 10. November: V. Kongreß der Ostdeutschen Landsmannschaften und Landesvertretungen in Bonn. Teilnehmer für die Parteien: Bundeskanzler Helmut Kohl für die CDU, Ministerpräsident Franz-Josef Strauß für die CSU, Uwe Ronneburger für die FDP, Günter Herterich für die SPD. Entschließung der Ostdeutschen Landsmannschaften und Landesvertretungen: „Die Deutsche Frage ist offen“. Auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier in Hannover (14.-16. Juni) spricht zum erstenmal seit 20 Jahren mit Helmut Kohl wieder ein Bundeskanzler auf einem Vertriebenentreffen. Bundeskanzler Helmut Kohl spricht auf dem 37. Sudetendeutschen Tag in München. Der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft Franz Neubauer erinnert an den in der Charta erklärten Verzicht auf Rache und Vergeltung mit der Feststellung: „Damit haben wir uns als die erste, als die größte und seither am längsten bestehende Friedensbewegung auf deutschem Boden erwiesen, und zwar als Friedensbewegung, die diesen Namen ohne Wenn und Aber verdient.“

6. Bibliographie           

Bade, Klaus J. (Hg.): Neue Heimat im Westen: Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler; Westfälischer Heimatbund, Münster 1990; S. 81-127 Bertelsmann Lexikon Geschichte; Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 1991; S. 591 (Karte) Birke, Adolf M.: Nation ohne Haus, Deutschland 1945-1961, in der Reihe: Die Deutschen und ihre Nation; Siedler Verlag, Berlin 1989; S. 23-32 Frantzioch, Marion, Ratza, Odo, Reichert, Günter: 40 Jahre Arbeit für Deutschland - die Vertriebenen und Flüchtlinge. Ausstellungskatalog; Ullstein, Franfurt a.M. 1989; S. 10-38, 66-85, 116-127, 146-152, 177-181, 228-233 Gollwitzer, Helmut, Labenski, Rosa: Und vergib uns unsere Schuld ... Ein historisches Dokument 1945/48; Hase & Koehler Verlag, Mainz 1965 (Tatsachenroman); S. 29, 33-34, 45, 56-57 Grube, Frank, Richter Gerhard: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947; Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; S. 13, 25, 53, 157, 212, 238 (Fotos und Karten) Hanika, Josef: Volkskundliche Wandlungen durch Heimatverlust und Zwangswanderung. Methodische Forschungsanleitung am Beispiel der deutschen Gegenwart; Otto Müller Verlag, Salzburg 1957; S. 30-32, 55-57, 64-73, 104-111, 127-144 Kuhn, Ekkehard: Nicht Rache, nicht Vergeltung. Die deutschen Vertriebenen; langen Müller Verlag, München 1987; S. 340-350 Streibel, Robert (Hg.): Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnung und Verdrängung; Picus Verlag, Wien 1994; S. 257-284 Wagnerová, Alena: 1945 waren sie Kinder. Flucht und Vertreibung im Leben einer Generation; Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990; S. 9-42, 53-62, 70-78, 96-101, 110-115 Wildermuth, Rosemarie (Hg.): Vom Gestern zum Heute. 200 Jahre deutsche Geschichte in Texten und Dokumenten; Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987; S. 182-183

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