Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat

Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat Von Ben Richard Haacke Tutor: Michael Tiedje Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat Seite 2 Inhaltsv...
Author: Hajo Küchler
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Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat

Von Ben Richard Haacke Tutor: Michael Tiedje

Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat

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Inhaltsverzeichnis

Seite Warum diese Arbeit?

3

1.

Material und Methoden

4

2.

Vorbetrachtung

4

3.

Die geografische und regionale Nachbarschaft

5

4.

Nachbarschaft früher und heute

6

4.1. Die Nachbarschaft im dörflichen und regionalen Sinne 4.2. Das Nachbarschaftsverhältnis vor 1945

6

4.3. Das Nachbarschaftsverhältnis nach der Rückkehr 1991

12

5.

Zusammenfassung/ Schlussfolgerungen

22

6.

Literatur- und Fotoverzeichnis

24

7.

Danksagung

25

6

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Warum diese Arbeit? Bis vor gut vier Monaten hatte ich noch nie vom Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gehört. Hiervon erfuhr ich erst im Oktober 2012 durch meinen Schuldirektor. Beim gemeinsamen Weg zum Mittagessen erzählte er mir von diesem Geschichtswettbewerb, zu dem jährlich der Bundespräsident die Jugendlichen unter einem bestimmten Thema aufruft, zu suchen, zu forschen und zu finden. Unser Schuldirektor wusste von meinem geschichtlichen Interesse und drückte mir das Heft zum Wettbewerb einfach mit den Worten in die Hand: “Lies es dir mal durch und sag mir Bescheid, wie du es findest“. Ich las das Heft und merkte schnell, dass viel mehr darin steckte, als ich erwartet hatte. Aber zunächst konnte ich nicht so wirklich etwas mit dem Wettbewerbsthema „Vertraute Fremde Nachbarn in der Geschichte“ anfangen. Dann las ich das Wettbewerbsbegleitheft und hatte plötzlich einen Bezug zu der Thematik. Noch nie hatte ich davor darüber nachgedacht, welche Vielfalt, aber auch Widersprüchlichkeit im Wort Nachbar steckt. Sind meine Nachbarn nur die Menschen der Familie unmittelbar von Nebenan oder auch die Familie aus unserem Dorf oder dem Nachbardorf? Und wie verhält es sich mit dem Wort Nachbarschaft? Ganze Länder stehen in Nachbarschaft, genauso aber auch Kommunen, Städte, Dörfer und Häuser. Beeindruckt von der Vielfältigkeit dieses Themas, entschied ich mich für die Teilnahme an dem Wettbewerb. Mein Beitrag zum Thema: „Vertraute Fremde Nachbarn in der Geschichte“ beschäftigt sich mit der Sicht der Familie von der Marwitz auf die Vertreibung von ihrem Familienbesitz Gut Friedersdorf im Jahr 1945, der Wiederkehr 1990 und dem heutigen Leben in der Gemeinde. Mehrere Aspekte verbinden mich nachbarschaftlich mit der Familie von der Marwitz. Da ist zunächst eine ganz persönliche Verbundenheit mit Karl von der Marwitz, dem jüngsten Kind von Hans-Georg von der Marwitz und Dorothee von der Marwitz. Seit meinem fünften Lebensjahr kenne ich Karl. Wir beide gingen zusammen in die evangelische Kita „Arche Noah“ in Seelow und saßen fast jeden Tag nebeneinander auf der Schaukel. Wir freundeten uns an und lernten dadurch auch das Zuhause des jeweils anderen kennen. Nach der Kita besuchten wir unterschiedliche Schulen und verloren uns etwas aus den Augen. Als ich dann zu Beginn der 7. Klasse das Evangelische Johanniter-Gymnasium in Wriezen besuchte, traf ich Karl in meiner neuen Klasse wieder. Bald schon saßen wir nun auch wieder auf der Schulbank zusammen, als Bank–“Nachbarn“. Sowohl Karl als auch ich kommen beide aus dem Landkreis Märkisch-Oderland im Land Brandenburg. Ich wohne in der Gemeinde Letschin, Ortsteil Kienitz, und Karl kommt aus der sicherlich etwas entfernten Nachbargemeinde Vierlinden, Ortsteil Friederdorf. Somit leben unsere beiden Familien sowohl in geografischer als auch regionaler Hinsicht als Nachbarn in ähnlichen Strukturen. Dies bedeutet u.a. ein Leben mit dem Wasser der Oder, eine geringe Besiedlungsdichte, lange Schulwege, wenig öffentlicher Nahverkehr und für Jugendliche nicht ganz unwichtig, eine teilweise noch immer schwierige datentechnische Anbindung an die Welt.

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Außerdem wohnen unsere beiden Familien im Landkreis Märkisch-Oderland, der an seiner östlichsten Seite von der Oder begrenzt wird, die wiederum gleichzeitig die Staatsgrenze zum Nachbarstaat, der Republik Polen bildet. Sowohl privat als auch über die Schule existieren Kontakte nach Polen, in unseren beiden Familien. Durch die Besuche bei Karl wusste ich, dass seine Familie eine wichtige Rolle in Friedersdorf spielte, jedoch bis zu diesem Wettbewerb nicht, welche. Durch meine Geschichtslehrerin erfuhr ich, dass die Familie von der Marwitz schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Friedersdorf gewohnt hatte, es jedoch nach dem Krieg verlassen musste und erst später wieder zurückkehrte. Aus diesem Wissen heraus entwickelte sich die Idee dieser Arbeit. Um mich diesem Thema zu nähern, habe ich mich zum einen mit der Literatur beschäftigt und zum anderen ein Interview mit Hans-Georg von der Marwitz, seiner Mutter und seiner Frau in Friedersdorf geführt. In der vorliegenden Arbeit möchte ich beschreiben, wie die Familie von der Marwitz in Friedersdorf mit den Nachbarn vor 1945 und nach ihrer Rückkehr 1990 lebte, wie ihr Verhältnis zueinander war, wodurch dies beeinflusst wurde und wie sich die Nachbarschaft heute aus Sicht der Familie darstellt. Also wie es sich anfühlt, nach nun über 20 Jahren als vertraute fremde Nachbarn mit den Friedersdorfern zu wohnen. Das ist mein Beitrag zum diesjährigen Geschichtswettbewerb. 1. Material und Methoden Für meine Arbeit habe ich mich zunächst mit der Literatur über die Familie von der Marwitz sowie die der Adelsfamilien aus Brandenburg beschäftigt. Außerdem weiterführende Literatur, wie zum Beispiel Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und auch etwas über die naturräumliche Ausstattung des Oderbruchs und der angrenzenden Gebiete gelesen. Während des Lesens machte ich mir Notizen, die ich im Rahmen der Konsultationen mit meinem fachlichen Betreuer, Herrn Michael Tiedje, besprach. Die Notizen dienten mir dann als Grundlage für die Erarbeitung der Interviewfragen. Das Interview habe ich mit Hans-Georg von der Marwitz, seiner Mutter Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz und seiner Frau Dorothee von der Marwitz am 02.02.2013 zum Thema „Nachbarschaft früher und heute“ geführt und mit einem Tonaufnahmegerät aufgezeichnet. Aus Zeitgründen half mir meine Mutter die Aufzeichnungen zu transkribieren und Bilder einzuscannen. 2. Vorbetrachtung Um meine geschichtlichen Ausarbeitungen mit den mündlichen Aussagen der Interviewpartner zu untersetzen, sind unter Punkt 4 jedem Kapitel entsprechende Interviewauszüge vorangestellt. Die Auszüge aus dem Interview sind kursiv dargestellt und der jeweils Sprechende durch Unterstreichung hervorgehoben. Damit sich das Interview flüssig liest, habe ich vereinzelt Füllwörter oder nicht vollendete Sätze weggelassen. Auslassungen sind dann mit drei Punkten gekennzeichnet.

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3. Die geografische und regionale Nachbarschaft Aus geografischer Sicht kommen die Familie von der Marwitz und meine Familie aus benachbarten Regionen. Karl von der Marwitz lebt mit seiner Familie in Friedersdorf. Der Ort liegt am Westrand des Oderbruchs, am Anstieg zur Ostbrandenburgischen Platte (16). Der Höhenunterschied zum Oderbruch beträgt etwa 50 Meter. Ich wohne mit meiner Familie in Kienitz einem Dorf, das zur Gemeinde Letschin gehört und am östlichsten Rand des Oderbruchs liegt (16). Unsere beiden Dörfer gehören zum Land Brandenburg und dem Landkreis Märkisch-Oderland. Die Oder bildet in der Region, in der wir leben, die natürliche Begrenzung zum Nachbarland Polen. Das Oderbruch ist eine Landschaft, gleich einem großen Tal, das im Osten von der Oder begrenzt wird. Schon immer führte dieser Fluss jährlich Hoch- und Niedrigwasser und erlangte 1997 bundesweit Bekanntheit durch das besonders hohe Sommerhochwasser. Das Oderbruch erstreckt sich in seiner größten Ausdehnung von Norden nach Süden auf eine Länge von 80 Kilometern und ist circa 15 Kilometer breit. Die Landschaft wurde eiszeitlich geprägt, so dass das Bruch über zumeist fruchtbare Böden verfügt und die Oderhänge als nährstoffarm gelten. Bereits Theodor Fontane beschrieb in seinem Werk „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (3) die Landschaft mit den Worten „das schöne fruchtbare Bruchland“. Dies wurde vor rund 300 Jahren durch die vollständige Eindeichung der Oder für die hier siedelnden Menschen nutzbar. Die Kontrolle des Binnenwassers erfolgte durch ausgedehnte Kanalsysteme, die noch heute hier das ländliche Bild prägen. Waren es vor der Eindeichung Fischer, die das Gebiet nutzten, nahm nach der Eindeichung die Bedeutung der landwirtschaftlichen Nutzung stetig zu. Das Bruchland ist eine offene Landschaft, in der Kopfweiden, Hecken und Feldgehölze prägend sind. Dagegen kommt Wald in diesem Gebiet kaum vor. Der Mensch konnte ursprünglich nur auf einzelnen Erhebungen im Bruch siedeln. Nach Eindeichung und Entwässerung war es möglich, dass sich auch in tieferen Lagen dörfliche Siedlungsformen bildeten. Bis heute gibt es im Oderbruch keinerlei große Städte und Industrie. Auf Grund der vergleichsweise dünnen Besiedelung dieser Region gehören weite Wege zum Kindergarten, zur Schule oder für Freizeitaktivitäten für mich und meine Freunde zum Alltag. Das Oderbruch ist in mehreren Büchern beschrieben und wird auch auf Internetseiten in seiner Vielfalt behandelt (vgl. www.oderbruchpavillion.de).

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4. Nachbarschaft früher und heute 4.1 Die Nachbarschaft im dörflichen und regionalen Sinn Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Nachbarschaft im dörflichen, regionalen Sinn, was bedeutet das für Sie?“ Hans-Georg von der Marwitz: „Nachbarschaft ja das ist ein weiter Begriff. Einerseits kann man es grenzübergreifend sehen. Zum anderen deine Frage speziell Nachbarschaft im dörflichen, regionalen Sinne .. ist … ganz spannend. Da wir durch die Geschichte und die Familientradition hier (Anmerkung des Verfassers: gemeint ist der Ort Friedersdorf) sehr viele Anknüpfungspunkte haben. Also meine Vorfahren, viele meiner Vorfahren, waren immer über die Dorfgrenzen hinaus tätig. Sei es als Politiker oder Offiziere. Insofern gibt es den nachbarschaftlichen Kontext hier von Friedersdorf in vielen Bereichen. Das kann man also sehr weit fassen. … Wir sind ja eigentlich eine slawische Familie. Wir stammen … aus dem Osten. Insofern reichen sehr viele Wurzeln in den heute polnischen Teil. Und wir erleben auch als Familie ein immer stärkeres Interesse … in Polen.“ 4.2 Das Nachbarschaftsverhältnis vor 1945 Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Was mich interessieren würde, wie das Nachbarschaftsverhältnis war, bevor sie vertrieben wurden?“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Zu meiner Kinderzeit? Ben Haacke: „Ja.“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Das waren ja gewachsene Strukturen. Wir sind ja hier ansässig, nach dem 30jährigen Krieg. Da war ja dieses Dorf total zerstört oder weitgehend zerstört, auch die Kirche. Viele Bewohner waren ausgestorben durch Krankheiten und durch den Krieg eben. Mit uns etwa zur gleichen Zeit sind etliche Bauernfamilien hier in dieses Dorf gekommen. Das stimmt doch?“ Hans-Georg von der Marwitz: „Ja, ja. Zumindest gibt es einige Familien, die fast zeitgleich mit uns hier in Friedersdorf aufschlugen. ….“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Und diese zur damaligen Zeit ansässigen Bauernfamilien, die gibt es bis zum heutigen Tag zum Teil noch. Zum Teil sind die ausgestorben oder es haben Flüchtlinge eingeheiratet. Das war ein menschlich sehr gutes Verhältnis. Zwischen unserer Familie und den Bauern. Die waren freie Menschen. Und dann der restliche Teil des Dorfs das waren die Arbeiterfamilien. Aber die waren auch zum Teil in mehreren Generationen schon hier beschäftigt und ansässig. Ja also da war ein sehr harmonisches Leben in diesem Dorf. Jeder wusste, was er vom Anderen zu halten hat. Also wenn die Bauern mal irgendwo mit irgendwelchen Bauten oder so was im Rückstand waren, dann konnte man ihnen helfen, wenn sie drum baten.“ Dorothee von der Marwitz: „Das waren natürlich sehr klare festgelegte Strukturen. Was ja den Menschen auch eine gewisse Sicherheit gab. …. Also die Stände waren

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klar festgelegt. Jeder wusste genau, was er sozusagen in seinem Stand zu tun und zu lassen hatte.“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Und wo die Grenzen waren.“ Dorothee von der Marwitz: „Und wo die Grenzen eben waren. .. Das habe ich dir aber auch schon ein bisschen versucht zu erklären. Dass eben die Arbeiterfamilien, …, abhängig vom Gut waren. Ja das waren sie, aber eben auch nicht nur im negativen Sinn. Sondern eben auch im Positiven. Das ist eine Frage, wie man das auslegt. Die Arbeiterfamilien die waren so, wie heute Angestellte sind. Wie heute ein guter Arbeitgeber sich quasi um seine Angestellten kümmert, kümmerte sich der Gutsherr um seine Arbeiter im Sinne das die eine… Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: …„Wohnung, Deputat, genug Holz.“ Dorothee von der Marwitz: „Das die Essen bekamen. Das sich jemand kümmerte, wenn sie krank wurden.“ Die Familie von der Marwitz aus Friedersdorf ist eine brandenburgische Adelsfamilie, die selbst zum neumärkischen Uradel gehört (1). Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Familie im 13. Jahrhundert. Die Wurzeln des Geschlechts reichen bis tief in die Geschichte; damit gehört die Familie von der Marwitz zu einem der ältesten Adelsgeschlechter der Mark Brandenburg. Mehrere literarische Werke befassen sich ausführlich mit der umfassenden Geschichte der Familie. Friedersdorf gelangte 1682 durch Heirat an Hans Georg von der Marwitz. Er machte die Felder um Friedersdorf wieder urbar und brachte das Dorf bis zu seinem Tod 1704 „auf eine hohe Stufe der Kultur“ (2). 1719 übernahm sein Sohn August Gebhard von der Marwitz das Gut. Dieser führte ein patriarchalisches Leben auf dem Lande. Dies bedeutet, dass der Gutsherr die Polizei und die ausführende Gewalt über seine Untergeben darstellte. In Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ wird dies anschaulich beschrieben. Die Friedersdorfer Bauern fürchteten den ehemaligen „Gardecapitän“ (3), der bei jedem Kirchengang am Sonntag einen Kirchenvogt kontrollieren ließ, wer anwesend war. Ein grundlos Nichtanwesender wurde dann „an seinem Beutel oder seinem Leibe bestraft“ (3). Tatsächlich hatten die Gutsherren die fast alleinige Kontrolle über ihre Untergebenen. „Die Macht der preußischen Könige endete an den Grenzen der Gutsbezirke“ (3), was die Machtsituation der Zeit noch verdeutlicht. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts änderte sich wenig hinsichtlich der Hierarchien auf den Gutshöfen. Die bäuerliche Gebundenheit verhinderte jegliche Entwicklung und machte „moderne industrielle Entwicklung und kapitalistische Produktionsweise(n) unmöglich“ (4). Friedersdorf bildet hier eine der Ausnahmen: Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Hans-Georg von der Marwitz: „Bis zur Zeit der Bauernbefreiung war hier in Brandenburg Abhängigkeit von den Gütern elementar. Da gab es wirklich keinen freien Besitz. Es sei denn auf einigen Gütern, und dazu gehörte auch Friedersdorf. Schon mein vierfacher Urgroßvater hat in den 70iger Jahren des 18. Jahrhunderts, also 1779, die Bauern in die Selbständigkeit entlassen. Fast 30 Jahre vor den SteinHardenbergischen Reformen.“

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Mit der Übernahme des Friedersdorfer Gutes durch Friedrich August Ludwig von der Marwitz im Jahre 1802 wurde eine moderne und wegweisende landwirtschaftliche Produktionsweise eingeführt sowie dörfliche Gemeinschaft geschaffen. Durch das Studium von Schriften des Agrarwissenschaftlers Albrecht Daniel Thaer sowie praktischen Erfahrungen, die er auf umliegenden Gütern sammelte, gelangte Friedrich August Ludwig von der Marwitz zu der Ansicht, durch die Abschaffung der Dreifelderwirtschaft und deren Ersatz durch rationellen Ackerbau eine Steigerung des Ertrages zu erzielen. Seine Bemühungen, die sich als erfolgreich erwiesen, beschreibt Karl August Varnhagen von Ense mit denen eines „stattlichen Edelhof(s), der (...) gleich ins Auge fiel (…) durch seine umliegenden, bis in das Oderbruch hinein sich erstreckenden und vortrefflich bewirtschafteten Länderein.“ (5).

Abbildung: Friedrich August Ludwig von der Marwitz, (5, S. 51).

Bereits seit 1779 waren die Friedersdorfer Bauern Eigentümer ihrer Höfe, „wo andere brandenburgische Gutsherren ihre Bauern in Zeitpacht hielten, diesen ständig also mit dem Verlust der Existenzgrundlage drohen konnten, waren die Marwitzschen Bauern ihres Besitzes gewiss. Außerdem hatten sie 1735 ihre Äcker, 1774 die Wiesen und Weideflächen von denen der Herrschaft separiert.“ (5, S. 48). Von der Marwitz errichtete eine Schule im Dorf, handelte mit den Bauern Verträge über ihre Ländereien aus, gab ihnen Mitspracherecht in ihrem sozialen Umfeld und brachte der Dorfbevölkerung die christliche Religion näher. Besonders seine Erfahrungen aus den vielen Feldzügen, in denen er die Leistungen seiner Bauernsoldaten schätzen lernte, lenkten sein Handeln und sein Wirken. „1818 bat er

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seine Gemeinde, das Patenamt für seinen Sohn Gebhard zu übernehmen“ (5, S. 53). Das Treuebekenntnis sowie die Taufinszenierung selbst verpflichteten Gemeinde sowie Gutsherren zur Treue, was Marwitz` Erfahrungen während seiner Zeit im Militär und deren Übertragung auf das ländliche Sozialwesen verdeutlichen. Marwitz verpflichtete so sich selbst ebenso zur Verantwortung über seine Gemeinde wie seine Untertanen gegenüber ihm. Dies spiegelt das Menschen- und Gesellschaftsbild des Gutsherrn wider und lässt den damaligen Umgang in Friedersdorf erahnen. Marwitz bewirtschaftet Friedersdorf bis zu seinem Tod 1837. Sein Sohn Bernhard von der Marwitz war bei seinem Tod erst 14 Jahre alt. Deshalb übernahmen seine Vormünder, bis zu seiner Volljährigkeit, die Leitung über das Gut Friedersdorf. Jedoch konnte kein Vormund die Autorität des Friedrich August Ludwig aufbieten, was schlussendlich zum Verlust der Gemeinschaft, wie sie unter dem verstorbenen von der Marwitz herrschte, führte. Die Preußischen Agrarreformen erfassen Friedersdorf und jegliche „Bindungen und Abhängigkeiten, soweit sie personen- und vermögensrechtlicher Art waren, mussten (...) verschwinden“(5, S.54). Der später volljährige Bernhard von der Marwitz, Majoratsherr in Friedersdorf sowie Rittmeister und Ehrenritter des Johanniterordens, bewirtschaftete nach Erwerb seiner Volljährigkeit das Gut zeitgemäß und erhielt trotz der Reformen seinen für vergleichweise fortschrittliche Landwirtschaft bekannten Ruf. Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Hans-Georg von der Marwitz: „Die Arbeiterfamilien waren genauso frei, wie alle anderen auch. Die Arbeiter hatten Arbeiterfamilien hatten Arbeitsverträge schon zu Großvaters Zeiten. Genauso Arbeitsverträge, wie heute auch. Natürlich unter damaligen Bedingungen, klar. Die hatten natürlich nicht die Verdienste wie heute. Es gab genauso eine Lohnabteilung, wie heute, die ganzen Unterlagen habe ich ja. Wir haben das große Glück, dass es noch ein Gutsarchiv gibt. Das ist nicht zerstört worden nach 1945. Große Teile dieses Gutsarchivs liegen heute in Potsdam. Da kann man sich noch informieren, wie das da war. Selbstverständlich war ein Abhängigkeitsverhältnis vorhanden, aber das habe ich heute zu meinen Arbeitnehmern genauso.“… „Danach war letztlich das Verhältnis hier mit den Arbeitnehmern in Friedersdorf gut. Natürlich, gab es sehr viel mehr Arbeitnehmer als zur heutigen Zeit. Die technischen Voraussetzungen, die wir heute haben, die lassen ja heute einen Betrieb in meiner Betriebsgröße mit 5 Beschäftigten zu. Zur damaligen Zeit waren hier 70 Beschäftigte. Das hat damit schon eine besondere Dominanz im Dorf ausgemacht. 70 Beschäftigte mit ihren Familien, damit war 2/3 der Bevölkerung des Dorfes im Gut oder im Betrieb beschäftigt. Insofern hatte das zur damaligen Zeit schon auch eine besondere Bedeutung, so ein Betrieb. Weil es ja nicht nur Beschäftigte in der Landwirtschaft, sondern sie hatten darüber hinaus ein ganzes Flechtwerk an…“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz:…“ Mitarbeitern.“ Hans-Georg von der Marwitz: „Ja Mitarbeitern sowieso, aber auch ein Flechtwerk an verschiedenen Gewerken. Es gab hier eine Stellmacherei, eine Schlosserei, einen Mechaniker. Die Beschäftigten waren eben unterschiedlich hier im Betrieb involviert.“

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Dorothee von der Marwitz: „Ja im Haus oder im Amt oder im Garten, auf dem Feld, in den Ställen. Es gab ja natürlich Schweineställe, Kuhställe und Pferde. Es gab die Gespannführer.“ Hans Georg von der Marwitz: „Also damit war dann schon eine sehr enge Verflechtung da. Aber damit hat man natürlich nicht so ein unabhängiges Nachbarschaftsverhältnis gehabt, wie zum Beispiel in Friedersdorf mit den Bauern. Die Friedersdorfer Bauern waren seit Ende des 18. Jahrhunderts, meine Mutter hatte es ja gerade kurz beschrieben, auch schon seit Generationen hier. Und hatten damit ihre Selbständigkeit. Ich glaube das Verhältnis ist das entscheidende. Wie war man so in der Nachbarschaft zwischen anderen Gewerken oder Mitarbeitern der Landwirtsfamilien oder der Handwerker, die es hier gab. Und das war eben ein sehr gewachsenes Verhältnis. Weil es natürlich auch ein Geben und Nehmen war. Ein Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinne nicht herrschte und dennoch waren gerade die Handwerksunternehmen, die es darüber hinaus gab, sehr oft in dem Betrieb (Anmerkung des Verfassers: gemeint ist das Gut Friedersdorf) involviert, weil eben die Aufträge dort vergeben wurden.“ Die Höfe der Bauern und die Unterkünfte der Tagelöhner waren aus Holz und besaßen Dächer aus Stroh, wobei sich die Behausungen der Bauern an der Außenseite des Dorfes und die der Tagelöhner im inneren, an der Straße gelegen befanden. Kern des Dorfes und Blickfang der meisten Besucher stellte das Schloss der Familie von der Marwitz sowie das Gutshaus und die barocke Kirche, „die sehr wahrscheinlich in märkischen Landen nicht ihresgleichen hat“ (3, S.216), dar. Ebenfalls gab es 1809 in Friedersdorf ein Amt, Vorwerk und eine Mühle. Der Vergleich, der bei der Feuerassekuranz versicherten Gebäude, in der Guts- und Amtsgebäude mit je 4000 Talern versichert waren und die Bauernhäuser mit je 300 Talern, lässt den Unterschied zwischen den Unterkünften deutlich werden.

Abbildung: Der Marwitzsche Wirtschaftshof, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, (5, S. 54).

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Bodo von der Marwitz übernahm 1919 das Gut in Friedersdorf. Durch teils private Investitionen sowie mithilfe von Krediten modernisierte und sanierte er Friedersdorf, darunter auch die Unterkünfte der Gutsarbeiter. Ihm gelang es, das Gut in den Krisen und wirtschaftlichen Unruhen der 1920er Jahre ohne Existenzbedrohung zu führen. „In der Phase der tiefsten Depression zu Beginn der 1930er Jahre führte die Substanzerhaltung zu schweren Einschnitten für die Beschäftigten“(7, S. 65). Um nicht in den Konkurs zu geraten, musste Marwitz Sparmaßnahmen treffen, die die erhebliche Kürzung von Gehältern der Beschäftigten sowie die der Ausgaben für Investitionen zur Folge hatten. Nach den Verbesserungen der wirtschaftlichen Verhältnisse im Verlauf der 30er Jahre stiegen diese jedoch wieder an, was auch die Gutsarbeiter begünstigte. Zum Vergleich betrugen die Ausgaben für die Arbeitslöhne der Gutsbeschäftigten 1937/38 138.000,- Mark, wohingegen diese im Jahr 1932/33 bei unter 80.000,- Mark gelegen hatten.

Abbildung: Schloss Friedersdorf, 1931, (8, S. 66).

Die Unterstützung der nationalsozialistischen Regierung in Form von beispielsweise sogenannten Steuergutscheinen nutzte Bodo von der Marwitz „in bescheidenem Maße“ (7, S.62), was als mögliches Misstrauen gegenüber der faschistischen Regierung gewertet werden kann. Marwitz hegte eine enge Freundschaft zu CarlHans Graf von Hardenberg, einem der Mitverschwörer vom Hitler-Attentat am 20. Juli 1944. In den Monaten nach der Verhaftung des Grafen kommt Marwitz regelmäßig nach Neuhardenberg, unterstützt dessen Frau und hält seinem inhaftierten Freund die Treue. Während des Zweiten Weltkrieges erhöht sich die Mitarbeit von ausländischen Arbeitskräften auch in Friedersdorf. Neben dem schon an Traditionen anknüpfenden Einsatz von oft polnischen sowie ungarischen Gelegenheitsarbeitern stießen nach dem Überfall auf Polen nun auch französische, ukrainische und russische Zwangsarbeiter dazu. Ganzjährig auf dem Gut Friedersdorf lebend, wurden

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die Frauen und Männer in neu errichteten Baracken untergebracht. Die Arbeiter wurden für ihre im Akkord erfolgenden Leistungen geringfügig entlohnt, jedoch von dem Gutsherren als auch durch die Bauern versorgt.

Abbildung: Bodo von der Marwitz (links außen) Französische Zwangsarbeiter auf dem Gut Friedersdorf, (7, S.64).

Bodo von der Marwitz hat kurz vor dem Zusammenbruch die meisten Einwohner und seine Familie nach Groß Kreutz, seinem zweiten Gut bei Werder, evakuieren lassen. Er hielt mit wenigen Mitarbeitern und einigen Bauern die Stellung, um den Betrieb so gut es eben ging weiterzuführen, bis er sich durch die vor dem Tor stehenden Russen gezwungen sah, Friedersdorf zu verlassen (8, S. 65). Als die Rote Armee am Morgen des 16. April 1945 zum Sturm auf die Seelower Höhen ansetzte, verließ Bodo von der Marwitz sein ihm anvertrautes Gut. 4.3 Das Nachbarschaftsverhältnis nach der Rückkehr 1991 Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Spielte denn die verlorene Heimat Friedersdorf in Ihrem Leben nach der Vertreibung 1945 eine große Rolle?“ Hans-Georg von der Marwitz: „Friederdorf war zwar am Rande immer wieder mal ein Thema in der Familie. Aber nicht das Thema. Viele meinen ja, man hätte über nichts anderes geredet. Das stimmt in meiner Familie in keiner Weise. Also meine Eltern und wir haben uns sehr selten über Friedersdorfer Lebensverhältnisse unterhalten.“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Das war einfach sozusagen verloren ja. Insofern war das für uns ein Thema, also für meine Generation, meinen Mann ein Thema, das nicht mehr in Frage kam.“ Hans-Georg von der Marwitz „Das schmerzte sicher auch, wenn man an Kindheit und verlorene Lebensräume denkt. Manchmal ist es besser, man zieht dann auch einen Schlussstrich und beginnt neu. Und dieser Neuanfang ist von meinen Eltern sehr konsequent betrieben worden. So dass wir uns als Kinder in den jeweiligen

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Lebensräumen, Franken, Allgäu, sehr wohl fühlten. Ich kann nicht sagen, dass ich in irgendeiner Form…“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: …„etwas vermiss hättest.“ Hans-Georg von der Marwitz: „Vermisst sowieso nicht. Das ich in keiner Weise Schwingungen in mir spürte, wenn man über Brandenburg hörte oder über Friedersdorf sprach. Dass war für mich weit, weit weg. Also das ist für mich nicht greifbar gewesen. Wir sind auch nie vor der Wende mit unseren Eltern in die Brandenburger oder Pommersche Region gereist. Im Gegensatz zu vielen anderen Familien, die sehr bewusst die Erinnerung an die Heimat, die Tradition, die Wurzeln wachgehalten haben. Dass für uns, diese Renaissance möglich wurde, das ist dieser Wende geschuldet und …. der Suche nach einem Einstieg, einem wirtschaftlichen Einstieg ....“ Friedersdorf wurde während des Zweiten Weltkrieges zu großen Teilen zerstört. Die Kirche wird durch Granatentreffer beschädigt und 1959 wegen Einsturzgefahr komplett geschlossen, wohingegen das Schloss Friedersdorf 1948 als „Relikt des Alten Preußens“ und sinnbildlich für die Macht des Adels stehend im Zuge der Bodenreformen in der sowjetischen Besatzungszone gesprengt und abgetragen wird. In dieser Hinsicht ist der Befehl Nr. 209 vom 9. September 1947 von Bedeutung, da in ihm unter anderem das Land Brandenburg dazu aufgefordert wird, 10.000 Neubauernhäuser zu errichten. „Der Grundbedarf an Baumaterialien sollte aus dem Abriß freier Gutsgebäude (...) gewonnen werden.“(9, S. 13). Die Landräte wurden dazu verpflichtet, die Neubauern bei dem Abbruch der Gebäude und dem Transport der Baumaterialien zu unterstützen. Die im Zuge der Losung „Junkerland in Bauernhand“ zwangsenteigneten Großgrundbesitzer mit einem Eigentum von mehr als 100 Hektar wurden gewaltsam vertrieben oder in Sammellager (oft umfunktionierte Konzentrationslager) verschleppt.

Abbildung: Propagandaplakat, 1945, (9, S.2).

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Die enteigneten Güter wurden „zerspalten“ und aufgeteilt. Adel und Gutsherrschaft sollten bei der neuen „sozialistischen“ Entwicklung keine Rolle mehr spielen. Um die Erinnerungen an die Adligen und Gutsherren und deren Familiengeschichte auszulöschen, wurden die, oft das Dorfbild bestimmenden Gutshäuser und Schlösser, geplündert, zerstört oder umgenutzt. Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Wie muss ich mir das vorstellen, Ihre Rückkehr und das nachbarschaftliche Leben in einem Dorf, in dem die Existenz Ihrer Familie praktisch ausgelöscht war?“ Hans-Georg von der Marwitz: „Die Nachbarschaft hier stellte sich am Anfang schon als eine gewisse Herausforderung für uns dar. Weil wir eben doch für viele fremd waren. Für viele Menschen doch die 40 Jahre Geschichtsverständnis der DDR noch hinzukam. Vorsichtig ausgedrückt „Junkerland in Bauernhand“. Das war eine Ideologie, die hier bis zum Untergang der DDR im Geschichtsunterricht vermittelt wurde. Na, sagen wir mal so. Unsere Familien galten doch als Inbegriff des Bösen. Ein bisschen überspitzt. Das klingt jetzt überspitzt. Aber es war doch tatsächlich so, dass sich mit unserem Weg nach Friedersdorf, unserer Rückkehr nach Friedersdorf und mit unserem Namen, haben sich viele sehr schwer getan. Die haben gesagt mein Gott, Unternehmer, Junker, Großgrundbesitz, also das haben wir doch eigentlich alles überwunden.“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „Vorurteile. Es gab ja ganz viele Vorurteile.“ Hans-Georg von der Marwitz: „Die Vorurteile sind in den 40 Jahren wirklich richtig.“ Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz: „…geschürt…“ Hans-Georg von der Marwitz: „geschürt und untermauert worden. Und insofern waren viele am Anfang sehr skeptisch. Die sahen uns und dachten: `Jetzt kommen die, vor denen uns schon die Eltern und Großeltern gewarnt haben. Was soll draus werden. Also eigentlich wollen wir mit denen überhaupt nichts zu tun haben`. Das Verhältnis hier im Dorf hat sich sehr schnell verändert. Weil wir eben nicht diesem Bild entsprochen haben, das sie sich von uns gemacht haben. Die haben uns ja kennengelernt bei einigen Besuchen hier in Friedersdorf. Wir haben die Dorfgemeinschaft eingeladen mit uns über den Einstieg hier zu diskutieren. Viele dachten: `Naja nun brechen die Zeiten wieder an, wie wir es von unseren Großeltern gelernt haben`. Und haben dann festgestellt: `Das Bild, was unsere Eltern, Großeltern uns von den alten Junkerfamilien gemacht haben` - vielleicht waren es nicht immer die Eltern sondern die Schulen. Die Eltern haben ja hier, halt, das muss ich auch noch mal korrigieren. Das stimmt so nicht. Es gab hier sehr viele Familien, die geradezu ein idealisiertes Bild auch von uns hatten. Also es gab, wenn du so willst alles. Es gab zum einen diejenigen die sagten: `Um Gottes es kommen die, vor denen uns die Eltern schon gewarnt haben`. Ja, das waren die einen. Die wurden mehr oder weniger eines Besseren belehrt. Ja, nach dem Motto: `Na so wie die jetzt hier angefangen haben.“ Vielleicht muss ich dazu sagen, wir haben uns einen Wohnwagen gekauft und die ersten 9 Monate im Wohnwagen gelebt. Das waren

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eben sehr dramatische Verhältnisse und das in Zeiten wo Außentemperaturen von 27°C Minus herrschten. Das waren also schon sehr, sehr harte Anfänge. Da haben viele gesagt: `Ne so haben wir uns eigentlich die Rückkehr der Marwitzes nicht vorgestellt`. Dann gab es aber auch diejenigen, die gedacht haben: Oh jetzt kommen die guten alten Zeiten wieder. Ja, Die von meinem Großvater, dem Schloss, die alte Geschichten, diese dann von ihren Großeltern, Eltern gehört hatten. `Ach das war die beste Zeit unseres Lebens`. Die wurden enttäuscht. Die kamen zum Teil bei uns am Wohnwagen an und klopften an die Tür und haben sich dann vorgestellt als Personal, Chauffeure und sonst was alles. Ich habe gesagt `Leute, hier gib es kein Schloss, hier gibt’s Nichts. All das brauch ich nicht. Ich brauch einen guten Traktorfahrer, einen guten Landwirt. Ich brauche Leute, die mit mir zusammen diesen Betrieb aufziehen. Was ihr euch von uns vorstellt, ist bar jeder Realität. Das können wir in keiner Weise und wollen wir auch gar nicht darstellen`. So und eigentlich die Einzigen die sehr unverkrampft, aber auch mit Distanz auf uns zugingen, waren vor allem diejenigen, die nach Fünfundvierzig hier neu angefangen haben, die sogenannten Siedler.“ Zum Zeitpunkt des Mauerfalls lebte der 1961 in Heidelberg geborene Hans-Georg von der Marwitz in einem Dorf im Allgäu, in dem er den 40 Hektar großen, auf Biowirtschaft ausgelegten Familienbetrieb leitete. Einem Zufall ist es geschuldet, dass Hans-Georg im März 1989 für wenige Tage nach Freital bei Dresden reiste. Hier machte er seine ersten Erfahrungen mit der ihm bis dahin wenig bekannten DDR. Es sind „wichtige Erfahrungen“ in seinen Augen sowie eine „Lektion in deutschdeutscher Geschichte“(10, S. 72), die für ihn den Anfang seines Interesses markieren. Ende des Jahres fiel die Mauer und mit der Wiedervereinigung regten sich in Marwitz „unternehmerische Ambitionen“ (11, S. 68). Im Frühjahr besichtigt Hans-Georg zusammen mit seinem Schwager, auf der Suche nach einem möglichen wirtschaftlichen Einstieg, mehrere landwirtschaftliche Betriebe im Raum Berlin. Bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen LPG-Betrieben kommt es teilweise zum Gespräch mit den jeweiligen Vorsitzenden. Mehreren Orts folgen aus diesen dann nach Marwitz` Ausführungen konkrete Verhandlungen. Beispielsweise in der LPGBriesen/Sieversdorf, wo er nach eigenen Ausführungen am ehesten auf „fruchtbaren Boden, im doppelten Sinne“ (Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz) stieß. Jedoch rückte Friedersdorf zu dem Zeitpunkt nie in den Fokus des Landwirts. Er besuchte zwar eben dieses, beschrieb die äußeren Eindrücke jedoch mit „niederschmetternd“ (11, S. 69), denn das Dorf war zum Zeitpunkt von Marwitz` Durchreise „wirtschaftlich vernachlässigt“(8, S.72) worden. Die Schäden des Krieges zeichneten noch immer das Dorf, welches „in einem trostlosen Zustand“(10, S.73) war, „Die Kirche halb zerstört und wo einst das Herrenhaus stand, nur gähnende Leere; daneben Ruinen, Bauschutt, Hausmüll und Gestrüpp.“(10, S. 73). Ein kurzes Gespräch mit dem Brigadier Wilke der LPG Worin (Friedersdorf, Teilbereich der LPG), kann an Marwitz` Entschluss, in Friedersdorf nicht das gefunden zu haben, was er gesucht hatte, nichts ändern. Sein Vater jedoch, der ebenfalls im Frühjahr ins Oderland reiste, durchfuhr Friedersdorf bei seiner Rückreise, wie auch der Sohn zuvor, und wurde abermals von dem Brigadier angesprochen. Dieser konnte ihn davon überzeugen, den Boden genauer zu prüfen. Nachdem er seinem Sohn über die „dortige Situation – die günstigen

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landwirtschaftlichen Bedingungen und den fruchtbaren Boden“(8, S. 72) berichtet hatte, beschließen beide, gemeinsam erneut nach Friedersdorf zu fahren. In den anschließenden Verhandlungen sowie im Vertrag wurde eine Nutzfläche von knapp 800 Hektar festgelegt. Hans-Georg von der Marwitz unterschrieb den Vertrag am 25. September 1990. Noch vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gehören Marwitzens zu den ersten adligen Rückkehrern in ihre einst vertraute Heimat. Anfangs noch fremd, soll sie später für ihn und seine Familie das neue Zuhause werden. Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Ich habe ja Karl in der Evangelischen Kita „Arche Noah“ in Seelow kennengelernt und wir haben uns beide dann auf dem Johanniter-Gymnasium Wriezen wiedergetroffen. Die Gründung der beiden Einrichtungen hat Ihre Familie aktiv mit begleitet. Können Sie mir sagen, warum?“ Dorothee von der Marwitz: „Uns war wichtig, dass das christliche Leben zum Alltag dazugehört.“ Hans-Georg von der Marwitz: „Also ein christliches Selbstverständnis. Das war ja schon von unserer Familie vorgegeben. Also speziell durch meine Familie, also meine Eltern. Mein Vater war Pfarrer. So bin ich von klein auf in christlichen Verhältnissen großgeworden. Und auch die christliche Gemeinschaft ja, Gemeinde überhaupt hat mir von klein auf viel bedeutet. Ich bin in so einer Gemeinschaft letztlich sozialisiert wurden. Dorothee ähnlich im katholischen Umfeld. Insofern ja der Mensch greift auf das zurück, was ihn letztlich geprägt hat. Und umso mehr er positive Erfahrungen damit gemacht hat, umso mehr ist ihm dieser Wertekanon dann auch wichtig. Nicht nur für sich sondern auch für die nächste Generation. So war das für uns ganz klar. Das gab es am Anfang hier nicht. Das war doch sehr einschneidend für uns, dass das christliche Leben in der Gesellschaft kaum verankert war. Es gab eine Kirchengemeinde. Aber das kirchliche und gemeindliche Leben fand in der Nische statt. Also man sprach darüber nicht offen. Man sprach nicht offen über seinen Glauben, man ging nicht selbstverständlich gemeinsam in die Gottesdienste. Die jährlichen Höhepunkte, die Jahreshöhepunkte, die für mich bzw. für unsere Familie in Süddeutschland sowieso, Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Das spielte hier eine absolut untergeordnete Rolle. Vor allem in den ersten Jahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Da hat sich enorm was verändert. Ja. Aber als wir 1990/91 kamen stand das Land noch ganz unter dem Eindruck der sozialistischen Herrschaft. Und da hatte Christ sein eben nichts zu suchen. Jedenfalls nicht im Tagesgeschehen, im Tagesverlauf, nicht in den Schulen. Das war undenkbar gewesen zu DDR-Zeiten. Und ein freies Wort eines christlichen Menschen wäre auch nicht so ohne weiteres möglich gewesen.“ Als Pfarrerssohn wuchs Hans-Georg in der Obhut seiner religiösen Eltern auf, die ihr Leben nach seinen eigenen Erzählungen ganz nach den christlichen Werten gestalteten, die bereits in seiner Erziehung eine große Rolle spielten.

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Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Hans-Georg von der Marwitz: „Ich bin 1990 erstmalig hier gewesen. Für mich war es in erste Linie, wenn du so willst, eine unternehmerische Entscheidung, eine wirtschaftliche Entscheidung hier nach Friedersdorf zu gehen. Das stand ursprünglich nicht in meinem Blick, in meiner Vision.“ Anspruch auf ehemaligen Marwitzschen Boden stellte er nicht. Er sah sich als „Neuankömmling“ (Interview vom 01.02.2013 bei der Familie von der Marwitz) der sich in eine gewachsene Gemeinde einfinden muss. Gemäß dieser Ansicht veranstaltet Hans-Georg von der Marwitz zu Beginn in Friedersdorf eine Versammlung, in die er alle Friedersdorfer einlud, um seine Familie und sich vorzustellen, ihre Pläne und Vorhaben zu erläutern, einander kennenzulernen. „Das war eine sehr kluge Herangehensweise, erinnert sich ein Anwohner.“ (11). Auf diese Weise gelingt ihm von Anfang an, bestehende Vorurteile und Ängste in Teilen der Friedersdorfer Gemeinde abzubauen. Hans-Georg und seine Familie entsprachen nicht dem Bild des zurückkehrenden hochnäsigen Junkers mit der Gier nach Macht, was die DDR zeit ihres Bestehens „gepredigt“ hatte. Die Leute hatten gesehen, „dass wir ganz normale junge Leute sind, die sich irgendwie `ne neue Existenz aufbauen wollen“, so Frau Dorothee von der Marwitz 2001 zurückblickend auf den Anfang. (11, S. 73)

Abbildung: Familie von der Marwitz, v.l.n.r. Dorothee, Clara und Hans-Georg von der Marwitz, März 1992, (8, S. 75).

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Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Hans-Georg von der Marwitz: „Wir kamen am 08. Januar 91 dann mit dem Wohnwagen hier an und ab Mitte 91 war eigentlich schon klar, das wird ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis werden. …“ Mit dem Aufbau beginnend, erfolgten als erstes erhebliche Sanierungs- und Umbauarbeiten am ehemaligen Kavaliers- sowie am Torhaus. Diese sollten zu Wohnhäusern umfunktioniert werden und der Familie als Wohnung dienen. Während der Bauarbeiten, die erst am Ende des Jahres 1991 den Einzug ermöglichten, lebte die Familie in einem eigens dafür angeschafften Wohnwagen. Die Umstände einer adligen Familie, die bei Temperaturen bis weit unter null Grad, statt in einer warmen Behausung die Zeit draußen im Wohnwagen verbrachte, brachte Familie von der Marwitz wie bereits im Interview deutlich wurde, viele Sympathien im Dorf ein. Währendessen wurden durch umfangreiche Baumaßnahmen die wirtschaftlichen Gebäude wieder in Stand gesetzt und Marwitz begann mit der Bewirtschaftung der Betriebsfläche. Ohne die ökologische Orientierung des Familienbetriebs aus dem Allgäu zu übernehmen, richtete er seinen Betrieb auf eine landwirtschaftliche Pflanzen- und Tierproduktion (11, S. 72) aus. Nach einiger Zeit musste er jedoch akzeptieren, dass sich diese Art von Landwirtschaft hier als wenig rentabel und als „wirtschaftliche Untiefe“ (11, S. 72) erweisen würde. Daraufhin begann er mit einer Umstrukturierung seines unternehmerischen Konzepts. In Folge dessen konzentrierte er den Betrieb in den Jahren danach auf „Ackerbau und Pflanzenproduktion“ (11, S. 72), was sich bis heute bewährt hat.

Abbildung: Kunstspeicher, (26)

Abbildung: Innenansicht des Kunstspeichers, (27)

So intensiv, wie sich Marwitz mit der Errichtung seines Betriebes beschäftigt, so intensiv sind auch die Anstrengungen, sich in die Friedersdorfer Gemeinde zu engagieren. Aktiv wirkt er bei der Gründung des „Freundeskreis(es) Friedersdorf e.V.“ 1991 mit, der sich das Ziel gesetzt hat, „Kunst und Kultur im Ort zu fördern“ (11, S. 74) sowie Interessierten die Friedersdorfer Geschichte näher zu bringen. Der auf die Initiative dieses Vereins zurückgehende heutige Kunstspeicher, entstanden aus einem umfunktionierten Getreidespeicher, beherbergt heute den Speicherladen sowie das dazugehörige Restaurant „Zum Alten Speicher“. Er stellt einen der touristischen Höhepunkte im ländlichen Umkreis dar und wird ebenfalls für kulturelle Veranstaltung sowie Ausstellungen verschiedenster Art genutzt.

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Bei der Sanierung der Dorfkirche war von der Marwitz schon vor dem Einzug in sein eigenes Haus beteiligt. Er bemühte sich um Sponsoren und beteiligte sich maßgeblich am Sammeln weiterer Spenden. Heute bietet die komplett hergerichtete Kirche von außen einen imposanten Eindruck, und mit ihrem, durch viele Epitaphien und Gemälde geschmückten Inneren insgesamt einen kulturellen Höhepunkt im Raum Märkisch-Oderland.

Abbildung: Außenansicht der Friedersdorfer Kirche mit Familien Friedhof, (10, S. 73).

Abbildung: Innenansicht der Friedersdorfer Kirche, (10, S.73).

Auch politisch engagiert und beteiligt sich Hans-Georg von der Marwitz in Friedersdorf und Umgebung. Er ließ sich als Mitglied der CDU 1998 für die Wahl zum Kreistag aufstellen und wurde ab 2009 zum Mitglied des Deutschen Bundestages gewählt. Seinem Engagement ist die Gründung verschiedener Vereine und Verbände zu verdanken, darunter beispielsweise der Christliche Verein Junger

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Männer (CVJM) in Seelow. Als Gegner der unterirdischen Speicherung von CO2 unterstützt er die heimischen Bürgerinitiativen gegen die geplante Errichtung von Endlagerstätten im Oderbruch. Bei der diesjährigen Bundestagswahl wird Marwitz erneut für den Wahlkreis Märkisch-Oderland kandidieren. Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Ben Haacke: „Als ich Karl in der Kita kennengelernt habe, war er für mich einfach nur ein Spielkamerad. Auch bei den Besuchen bei Ihnen hier zu Hause habe ich nichts groß anders gefunden, als bei mir zu Hause. Aber natürlich habe ich, als ich größer wurde, auch die eine oder andere Bemerkung von Menschen mitbekommen über die adligen Rückkehrer. Ich frage mich natürlich nach Beschäftigung mit diesem Thema heute, ob Sie das Gefühl haben, dass Friedersdorf für Ihre Kinder und Enkel Heimat ist?“ Dorothee von der Marwitz: „Unsere Kinder sind hier großgeworden. Für die ist das hier vertraut.“ Hans-Georg von der Marwitz: „Für die ist das Heimat.“ Dorothee von der Marwitz: „Die kennen es gar nicht anders mehr sozusagen. Und trotzdem haben die wahrscheinlich auch gemerkt, dass bei uns vielleicht manches anders gelaufen ist, als in anderen Familien. Nicht unbedingt bei euch, aber in anderen Nachbarsfamilien herrscht vielleicht ein anderer familiärer Stil, vielleicht ein anderer Erziehungsstil. Vielleicht gibt es andere Erziehungsschwerpunkte, andere Werte. Das ist natürlich schon etwas, wo unsere Kinder sich dann auch in der Heimat ein bisschen fremd gefühlt haben. Das fing damit an, dass für uns wichtig war, dass unsere Kinder Religionsunterricht haben. Dies war in anderen Familien gar nicht so der Fall. …Unsere Kinder haben auch gemerkt, … das, was sie zu Hause lernen, dass das kein Selbstverständnis in anderen Familien ist. Also da waren Nachbarskinder, mit denen sie sich natürlich auch getroffen haben, Fußball gespielt, ins Dorf gezogen sind. Vielleicht auch die einen oder anderen Klingelstreiche gemacht haben. Aber dabei haben sie eben gemerkt, dass doch vieles in den Familien anders ist.“

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Heute lebt Hans-Georg von der Marwitz mit seiner Frau Dorothee, den Kindern, sowie seiner Mutter in Friedersdorf. Selbst, wenn das Allgäu noch immer seine Heimat ist, so ist Friedersdorf doch längst zu seinem Zuhause geworden. Von seinen vier Kindern ist seine 1991 geborene Tochter Clara die Älteste. Sie sowie ihre Geschwister Bernhard, Johanna und Karl wachsen hier auf und lernten das Dorf von Kindheit an kennen. Für sie ist Friedersdorf am Rande des Oderbruchs von Anfang an die Heimat, denn alles ist vertraut. Das Land und die Menschen, um sie herum.

Abbildung: Familie von der Marwitz v.l.n.r. Dorothee, Bernhard, Johanna, Hans-Georg, Clara und Karl von der Marwitz, (10, S. 67).

Auszug aus dem Interview vom 02.02.2013 bei der Familie von der Marwitz: Hans Georg von der Marwitz: „Was hier in den letzten Jahren gewachsen ist. Weniger was wir jetzt hier aufbauen durften. Das hätte ich ja auch ganz woanders machen können. Aber, dass es im Kontext der Familie passieren durfte. Das ist das Besondere.“

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5. Zusammenfassung/ Schlussfolgerungen Durch die Beschäftigung mit dem Thema meiner Arbeit, „Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat“, habe ich eine vage Vorstellung davon bekommen, wie es ist, einer Familie mit jahrhundertalter Tradition anzugehören. Zum einen welche Verantwortung man als Mitglied so einer Familie trägt, Erschaffenes und Aufgebautes zu erhalten und weiterzuführen. Aber auch, dass es durchaus einer gewissen Portion Mut bedarf, um vielleicht auch mit dem „Das war schon immer so“ zu brechen. Beispielhaft dafür steht da für mich Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der durch veränderte Anbaumethoden z.B. die Abschaffung der Dreifelderwirtschaft eine rationellere und ertragsreichere Landwirtschaft auf dem Gut Friedersdorf begründete. Außerdem ermöglichte sein Onkel Johann Friedrich Adolph von der Marwitz als einer der ersten Gutsherren schon 1779 den Bauern in Friedersdorf die Selbständigkeit, also die Bewirtschaftung ihres eigenen Grund und Bodens. Für Beide waren die Bauern im Laufe der Zeit wohl eher Partner als Untergebene. Aber auch Hans-Georg von der Marwitz gehört für mich zu den Mutigen, da er es gewagt hat, nach Friedersdorf zurückzukehren, um sich nicht nur dem Aufbau des Gutes zu widmen, sondern sich auch für die Region, in der ich lebe z.B. durch den Aufbau des Kunstspeichers, dem Aufbau der evangelischen Kita „Arche Noah“ oder des Evangelischen Johanniter-Gymnasiums Wriezen zu engagieren. Interessant ist, wie Hans-Georg von der Marwitz das Thema Nachbarschaft sieht. Für ihn gehörten zur Nachbarschaft natürlich der unmittelbare Dorfnachbar, der Angestellte in seinem Gut und die Nachbargemeinden. Aber genauso bedeutsam und wichtig sind für ihn die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Polen. Für die Zeit vor 1945 haben sowohl die Mutter von Hans-Georg von der Marwitz, Barbara Franziska Dorothee von der Marwitz, als auch er selbst ihre Einschätzung der nachbarschaftlichen Verhältnisse eng an die wirtschaftlichen Verhältnisse geknüpft. Da das Gut im Dorf Friedersdorf als Arbeitsgeber über 200 Jahre eine dominierende Rolle gespielt hat, waren die Nachbarschaftsbeziehungen in sehr vielen Fällen durch mehr oder weniger starke wirtschaftliche Abhängigkeiten geprägt. Da gab es zum einen die freien Bauern und Handwerker, die als Partner gegenüber der Familie von der Marwitz agieren konnten. Natürlich war es dadurch eher möglich ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu entwickeln, da ja die Zusammenarbeit und das Zusammenleben auf Freiwilligkeit beruhten. Zum anderen waren da die Angestellten und Arbeiter des Gutes, die in einem direkten ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber, der Familie von der Marwitz, standen. Sicherlich werden sich auch hier gute nachbarschaftliche Kontakte ergeben haben, aber aus dem genannten Grund nicht auf der gleichen Ebene, wie bei den Bauern und Handwerkern.

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Nach der Rückkehr der Familie von der Marwitz nach Friedersdorf gab es nach Aussagen meiner Interviewpartner im Wesentlichen drei Gruppen von Menschen. Die eine Gruppe, die sich als Verlierer der Geschichte sahen und meinten, dass sich der Adel und die Junker ihre Besitztümer wieder zurückholen. Die andere Gruppe, die in der Rückkehr des Adels eine Chance auf einen Arbeitsplatz und eine gesicherte ökonomische Zukunft sahen. Und die Gruppe der Siedler die zu den Marwitzens fast neutral standen und somit den Rückkehrern von Anfang an am unbefangensten begegneten. Dass der Adel auch anpacken konnte, hat die meisten Friedersdorfer überrascht und beeindruckt. Und schon bald waren es einfach nur Menschen, eine ganz normal Familie, die sich, wie viele andere auch, eine Existenz aufbauen wollten. Überraschend war für die Familie von der Marwitz nach der Rückkehr nach Friedersdorf, dass ein christliches Leben in vielen Familien entweder nicht zum Alltag gehörte oder in gesellschaftlichen Nischen stattfand. Nach Ansicht von Dorothee von der Marwitz war es z.B. dieses christliche Selbstverständnis, das ihre Kinder teilweise in anderen Familien, bei Nachbarskindern und Freunden anfangs vergeblich gesucht haben. Die Beobachtung der Familie von der Marwitz in diesem Punkt spiegelt sich z.B. auch in meiner eigenen Familie wieder. Mein Vater und meine Schwester sind getauft und aktive Christen. Meine Mutter und ich sind Atheisten, die nur Ostern und Weihnachten die Kirche besuchen. Heute gehört die Familie von der Marwitz wieder zu den vertrauten Nachbarn in der Region sowohl als Arbeitgeber, als Förderer von Kunst, Kultur und christlichem Leben sowie letztendlich einfach auch als Familie mit den gleichen Sorgen, Nöten und Freuden, wie so viele andere Familien hier. Vielleicht wird die Familie aber auch immer ein Hauch von Fremdheit auf Grund dieser fast schon übermächtigen langen Familientradition umgeben, die ja kaum jemand in dieser Region so eindrucksvoll belegen kann, wie die Familie von der Marwitz. Von der ja selbst Hans-Georg von der Marwitz sagte: „Ich kann mich noch erinnern, als wir hier herkamen (Anmerkung des Verfassers: gemeint ist der Ort Friedersdorf). Da hat mir das geradezu Angst gemacht. Diese vielen Altvorderen. Wenn man mal durch die Friedersdorfer Kirche geht. Bist du mal in der Kirche gewesen? Da gehen wir nachher noch einmal durch. Das du das nochmal an Hand dieser monomentalen Tafeln erfährst und dann auch verstehen kannst, wovon ich jetzt spreche.“ (Interview vom 02.02.2013). Vor Beginn der Arbeit war ich skeptisch, ob man zu dem Thema „Vertraute, fremde Nachbarn“ wirklich etwas schreiben kann. Jetzt, nach dem ich alles Material aufgearbeitet und in eine Struktur gebracht habe, bin ich selbst erstaunt, wie spannend und vielschichtig diese Thema für mich selbst geworden ist. Um ein objektiveres Bild vom Nachbarschaftsverhältnis zwischen der Familie von der Marwitz und den Friedersdorfern zu bekommen, müsste ich natürlich auch noch die Kinder der Familie von der Marwitz, also Karl, Clara, Bernhard und Johanna sowie Angehörige von Bauern- und Arbeiterfamilien, die schon seit mehreren Generationen in Friedersdorf leben und Zugewanderte befragen. Da dazu auf Grund des

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Abgabetermins leider keine Zeit ist, kann ich dies nicht mehr in dieser Arbeit betrachten. Aber auf jeden Fall werde ich meinen „Nachbarn“ Karl zu dem Thema bei einem unserer nächsten Treffen fragen. Und vielleicht ergibt sich in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit noch andere Personen zu dieser Thematik zu interviewen. Mich hat das Thema jetzt jedenfalls gefesselt! Ben Haacke, Letschin OT Kienitz, 28.02.2013

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Literatur- und Fotoverzeichnis 1) Heinrich, Gerd:(Hg.), Berlin und Brandenburg, Krönerverlag Stuttgart, 1973, S. 188f. 2) www.vondermarwitz.com/geschichtliches/friedersdorf, 5.1.13, 15:37. 3) Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Das Oderland, München, Carl Hanser Verlag, 1966, 1968. 4) Carsten, L. Francis: Gutsherrschaft und Adelsmacht. In: Schlenke, Manfred (Hg.): Preussen. Politik, Kultur, Gesellschaft 1, Bd. 1, Reinbek, Rowohlt, 1986, S. 50-66. Hier S. 65 5) Frie, Ewald: Adelige Rückkehrer im Land Brandenburg, Friedersdorf. Dorfgesellschaft und Gutsherrschaft unter Ludwig von der Marwitz (1777-1837), Berlin, Metropol, 2001, S. 45. 6) http://www.vondermarwitz.com/geschichtliches/friedrich-august-ludwig-von-der-marwitz, 24.2.13, 18:05. 7) Potratz, Rainer: Adelige Rückkehrer im Land Brandenburg. Bodo von der Marwitz als Rittergutsbesitzer in Friedersdorf von 1919 bis 1945: Ein märkisches Mustergut in der Agrarkrise, Berlin, Metropol, 2001, S. 65. 8) Nippert, Erwin: Das Oderbruch: zur Geschichte einer deutschen Landschaft, Berlin, Brandenburgisches Verl.-Haus, 1955. 9) Maether, Bernd: Brandenburgs

Schlösser und Herrenhäuser 1945–1952, Potsdam,

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 1999. 10) Schellhorn, Martina: Heimat verpflichtet. Märkische Adelige – eine Bilanz nach 20 Jahren, Potsdam, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2012. 11) Gentz, Ulrike: Adelige Rückkehrer im Land Brandenburg, Berlin, Metropol, 2001. 12) Berliner Festspiele GmbH: Preussen. Zur Sozialgeschichte eines Staates, Bd. 3, Reinbek, Rowohlt, 1981. 13) Keiderling, Gerhard: Berlin 1945 – 1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin, Dietz Verl., 1987. 14) Hartmann, Ralph: DDR-Legenden. Der Unrechtsstaat, der Schießbefehl und die marode Wirtschaft, 2. Aufl., Berlin, Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2009. 15) Märkische Oderzeitung,: Journal, Sturköpfiger Reformgegner, Sonnabend/Sonntag, 1./2. Dezember 2012. 16) www.oderbruchpavillion.de, 23.1.13, 17:29. 17) http://de.wikipedia.org/wiki/Friedersdorf_(Vierlinden), 28.12.12, 17:34. 18) http://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkirche_Friedersdorf_(Vierlinden), 28.12.12, 17: 44. 19) http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Adolf_von_der_Marwitz, 12.1.13, 12:12. 20) http://de.wikipedia.org/wiki/Marwitz_(Adelsgeschlecht), 12.1.13, 12:30. 21) http://de.wikipedia.org/wiki/Oderbruch,29.12.12, 29.12.12, 11:57. 22) http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Oderbruch&stable=0&shownotice=1&fromsection=Or te_im_Oderbruch_und_an_seinen_R.C3.A4ndern, 29.12.12., 14:07.

Friedersdorf, die vertraute fremde Heimat 23) http://www.vondermarwitz.com/geschichtliches/friedersdorf, 5.1.13, 13:25. 24) http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1993_3_4_muehleisen.pdf, 11.2.13, 19:44. 25) http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Georg_von_der_Marwitz, 28.1.13, 18:03. 26) http://bilder.laeden.me/foto/ kunstspeicher-friedersdorf-17864730.htm, 27.2.13, 20:57. 27) http://kunstspeicher-friedersdorf.de/Speicheransicht.php, 27.2.13, 21:06.

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Danksagung Ich möchte Herrn Michael Tiedje, Schulleiter des Evangelischen JohanniterGymnasiums Wriezen, danken für die Anregung zur Teilnahme an diesem Wettbewerb, die Betreuung dieser Arbeit als Tutor, die Bereitstellung von Basisliteratur, die Diskussion über die Konzeption des Projektes, die Herstellung des Kontaktes zur Familie von der Marwitz sowie die kritische Durchsicht der hier vorliegenden Arbeit. Sehr herzlich möchte ich der Familie von der Marwitz für das Interview danken, die Bereitstellung von Literatur, die Führung durch die Friedersdorfer Kirche und den Friedhof, die sehr freundliche Gesprächsatmosphäre, die nette Bewirtung sowie den perfekten Transportservice. Mir hat das Interview wirklich sehr viel Spaß gemacht. Hätte ich das Interview nur mit Stift und Zettel durchgeführt, wäre wohl mehr als die Hälfte der Information verloren gegangen. Ich danke daher Heike Schnürpel für die kurzfristige Bereitstellung eines hochauflösenden Tonaufnahmegerätes. Meiner Mutter, Frau Dr. Heike Haacke, danke ich für die Transkription des Interviews, das Einscannen der Fotos und die vielen Hinweise und Tipps zur Erstellung einer Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch. Meinem Vater, Toralf Schiwietz, danke ich für die Bereitstellung der Literatur über das Oderbruch sowie die Diskussion zu diesem Thema im Zusammenhang mit dieser Arbeit.

Ben Haacke, Letschin OT Kienitz, 28.02.2013