Wir lieben die Heimat

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Author: Marcus Melsbach
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TITEL

„Wir lieben die Heimat“ SPIEGEL-Autor Henryk M. Broder über den langen Abschied von der DDR er geographische Mittelpunkt der D D R liegt bei 12 Grad 31 Minuten östlicher Länge und 52 Grad 12 Minuten nördlicher Breite in der Nähe der Ortschaft Verlorenwasser im Landkreis Potsdam-Mittelmark auf halber Strecke zwischen der Gaststätte „Zur Hirschtränke“ und der Pension „Jagdhaus Weitzgrund“. Bis zur Wende war die durch ein Schild im Wald markierte Stelle ein beliebtes Ausflugsziel. Vor allem an Christi Himmelfahrt, in der D D R „Herrentag“ genannt, wurde rund um den „Mittelpunkt“ gezecht und gebechert – wenn auch auf eine beinah dissidentische Art. „Nach der Abschaffung von Christi Himmelfahrt als Feiertag“, erinnert sich Klaus Nichelmann, „mußten wir ein halbes Jahr im voraus Urlaub beantragen, damit die Betriebsleitung nicht merkte, um welchen Tag es ging.“ Mit dem Ende der D D R kehrte auch am „Mittelpunkt der D D R “ Stille ein, bis Klaus Nichelmann, Sprecher der

K. ERIKSSON

S. SAUER / LICHTBLICK

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„Mittelpunkt“-Aktivist Nichelmann, Touristenattraktion „Mittelpunkt der DDR“*: „Es war nicht alles schlecht“ Bürgerinitiative „Pro Belzig“, kürzlich aktiv wurde. Ein paar Meter von der Originalstelle entfernt ließ er einen achteckigen, offenen Holzpavillon errichten und gleich daneben ein neues Schild aufstellen: „Achtung: Hier ist der Mittelpunkt der ehemaligen D D R !“ Zu Christi Himmelfahrt 1995, noch immer „Herrentag“ genannt, wurde wieder gefeiert, mit Wernesgrüner Bier

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und Suppe aus der Gulaschkanone. Außerdem hatte Nichelmann einen 14 mal 4 Zentimeter großen Stempel mitgebracht, mit dem jedem Teilnehmer der Fete auf einer Urkunde bescheinigt wurde, daß er „den Mittelpunkt der ehemaligen D D R “ besucht hat. Einige ließen * DDR-Karte aus bemaltem Beton, in der Nähe der Ortschaft Verlorenwasser bei Brandenburg.

sich den Stempel in ihren alten DDRPersonalausweis drücken. Ein seltsames Phänomen macht sich zwischen Kap Arkona im Norden und Apolda im Süden breit: Die D D R ist wieder da. Den Arbeiter-und-BauernStaat gibt es nicht mehr, doch dreht sich das Land noch immer (oder: schon wieder) um seinen eigenen Mittelpunkt. Ähnlich geht es den Menschen, die

früher gern gehört haben“, sagt Uwe plötzlich heimatlos wurden, ohne ihre Vor ein paar Jahren haben diese Kids und stellt den Gast aus dem Westen auf noch einen Wochenlohn für eine echte Wohnstube zu verlassen. „Ich hab’ Wrangler hingelegt, sie hätten ihren die Probe, indem er ein paar Namen hier gelebt, es war nicht alles Ausweis für eine alte CD von Udo Linnennt: „Pankow, Karat, Holger Biege, schlecht“, sagt Klaus Nichelmann und denberg getauscht, und heute kann es Ute Freudenberg“. Eben hat der DJ das setzt gleich hinzu, daß er um nichts in ihnen nicht „zornig“ genug zugehen. „Gänselieschen“ von Klaus Renft aufgeder Welt die SED und das Politbüro legt. „Es ist nicht nur die Musik, es ist zurückholen möchte. „Man hat die Uwe versteht nicht, worüber der Gast die gemeinsame Erinnerung. Wenn das Wende eigentlich nicht mitbekommen, staunt, und empfiehlt, wiederzukom,G änselieschen‘ läuft, schauen sich alle men, wenn im „Kesselhaus“ alte DDRdanach hat jeder mit der Umstellung zu tun gehabt. Jetzt erst, nach fünf Jahren, kommen wir zum Nachdenken.“ Nichelmann, 1943 in Ostpreußen geboren, hat mit seiner Bürgerinitiative dafür gekämpft, daß Belzig Kreisstadt wurde. Nun steckt der Heizungsingenieur, der sich nach der Wende selbständig gemacht hat, seine ganze Freizeit in die Pflege des „Mittelpunktes“. Das sei, sagt er, „erlebte Geschichte“. In zwei Jahren, wenn Belzig 1000 Jahre alt wird, soll es ein großes Volksfest geben. Bis dahin, hofft Nichelmann, wird der reaktivierte „Mittelpunkt der ehemaligen D D R “ als Attraktion für Touristen über die Grenzen der Kreisstadt Belzig bekannt sein. Zwischen dem Waldstück bei Verlorenwasser und der Steinwüste des Prenzlauer Bergs liegen Welten, doch scheinen die Menschen dort wie hier vom gleichen Bedürfnis getrieben: in ihre Geschichte einzutauchen, um sie noch einmal zu erFDJ-Parodie in Halle (1995)*: „Wir wollen niemals auseinandergehen“ leben. Jeden Freitag um 22 Uhr Filme gezeigt werden, „Heigeht in der alten Kantine der ßer Sommer“ oder „Die Le„KulturBrauerei“ die „ost rock gende von Paul und Paula“. test the west disco“ ab. Auch „Dann sitzen alle still da, halhier wird die D D R im Verhältten sich fest und heulen.“ nis 1:1 für ein paar Stunden „Je länger die Wende zurekonstruiert. „Die Musik rückliegt, um so schöner wird kommt aus dem Osten, die Eindie D D R “, sagt auch Ralf trittspreise sind original Ost Scherff, 32, der mit seinem und die Getränke auch“, sagt Bruder Andreas, 33, in Berlin Uwe, 33, gelernter ElektroMitte den „Kaufmannsladen“ monteur, der zusammen mit betreibt. Die beiden führen seinem Freund Peter, 32, einoch ein paar Original-DDRnem Konditor, seit einem Jahr Artikel im Sortiment, zum einmal in der Woche hinter der Beispiel Grabower Küßchen Theke steht und Kneipier („Negerküsse mit kakaospielt. Der Eintritt kostet, wie haltiger Fettglasur“) und früher in der D D R , 3,10 Mark; Dr. Quendt ABCD Russisch ein Glas Wodka-Cola (zuberei- FDJ-Werbung: Wochenlohn für eine Wrangler Brot („Qualität, die man tet mit der volkseigenen Cluban und wissen Bescheid, ohne was zu saCola) 3 Mark, wer lieber Bier trinken schmeckt“); auch die Club Cola, sagt gen.“ möchte, greift zu den Original-OstRalf, „schmeckt genau wie früher“, obUwe und Peter gehören mit ihren Marken Radeberger, Wernesgrüner wohl das alte Etikett neu gestaltet wurüber 30 Jahren zu den Senioren in dem und Bürgerbräu. de. Es komme immer öfter vor, daß überfüllten, zugedröhnten und vollgeKunden in den Laden kommen, eine alDie Diskjockeys Axel und Udo miqualmten Raum. Die meisten Besucher te Marke sehen und rufen: „Der Osten schen die Musik, entsprechend einer der freitäglichen „ost rock disco“ in der ist wieder da! Klasse!“ alten Order aus dem DDR-KulturminiKulturBrauerei sind 20 bis 25 Jahre alt. sterium, 60 zu 40; das heißt, 60 ProHinter der Theke hat Ralf eine zent der gespielten Titel müssen DDR„Preistafel Preisstufe II“ aus einer eheProduktionen sein, „Musik, die wir maligen HO-Gaststätte hingestellt, Er* „Revue 60“ im Neuen Theater. DER SPIEGEL 27/1995

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innerung an die Zeiten, D D R zu verabschieden, als ein „Deutsches Piles dauerte eine Weile, sener 0,25 Liter“ genau bis wir begriffen hatten, 51 Pfennig, ein „Weiwas passiert ist.“ Fünf zendoppelkorn 2 cl“ 73 Jahre später begeben Pfennig und ein „Kräusich viele ehemalige terbitterlikör“ 60 PfenDDR-B ürger in eine nig kosteten. virtuelle DDR-Realität, Ralf hat Karosserieum sie noch einmal, baufacharbeiter gelernt, diesmal bewußt und ohwar dann als Kleindarne Hektik, zu erleben. steller am Deutschen Die Galerie „Stufe Theater gemeldet, hat 85“ im vierten Stock eiaber „immer eigene Sanes Ost-Berliner Fabrikchen“ gemacht, zum gebäudes zeigt „RaritäBeispiel alte Firmenten, Kitsch und Kurioses schilder und Lederjak- Berliner Kaufmann Scherff (l.)*: „Die DDR hat krank gemacht“ aus der D D R “, eine ken in der Provinz einschaurig schöne Sammscheiden kann, besinnt er sich auf seine gekauft und in Berlin verkauft. Irgendlung politischer Plakate („Wie wir heute eigene, unverwechselbare Identität. Er wie hat er sich durchgeschlagen. „Die arbeiten, werden wir morgen leben“), fährt wieder Trabi, raucht F6 und Club, D D R war das Land der AusnahmegeWimpel („Wir kämpfen um den Ehrentrinkt Goldbrand und Nordhäuser Dopnehmigungen, das Leben hat die Leute titel Kollektiv der sozialistischen Arpelkorn. krank gemacht, wer sich nicht die Zeit beit“) und Losungen („Überholen ohne nimmt zu genesen, der bleibt krank.“ einzuholen“, „Trinkgelder sind unerUnd wenn er in die seit März 1995 wünscht!“), ergänzt um Artefakte des wiedereröffnete Mokka Milch Eisbar in 1988 hat er den Wehrdienst verweisozialistischen Alltags: unter anderem der Ost-Berliner Karl-Marx-Allee geht, gert und wäre „höchstwahrscheinlich in Bastelarbeiten für einen anti-imperialibis 1990 die Eisdiele der DDR-Hauptden Knast gekommen, wenn die Wende stischen Solidaritätsbasar, ein Schild, stadt, dann bestellt er am liebsten den nicht passiert wäre“; dennoch sagt er: das auf deutsch, englisch, französisch Eisbecher „Pittiplatsch“ (Fruchteis, „Ich möchte keinen Tag von der D D R und russisch „Grenzgebiet“ verkündet Sahne, Pfirsich und Kakaostreusel) oder missen, wir hatten soviel Spaß, so viele und auf dessen Rückseite jemand „Friden „Schwedenbecher“ (Vanilleeis, schöne Sachen erlebt.“ Und weil ihm sche Eier abzugeb.“ gemalt hat; ein EinSahne, Eierlikör und Apfelmus), zwei die Arbeit im Laden nicht reicht, orgakaufsnetz, gefüllt mit einer Packung DDR-typische Delikanisiert er VeranstalSpee Vollwaschmittel, einem Pfund tessen. tungen, zuletzt Ende Magdeburger Eiermakkaroni, einem Unter den richtigen Mai das „Schwalbe Paket Verbandwatte und einer Packung Speisen führen ebenFestival Berlin“, ein Pfefferminzbonbons aus dem VEB Süßfalls zwei Klassiker der Treffen der Liebhaber warenfabrik Oschersleben. DDR-Gastronomie die von DDR-MotorrolAn einer Wand hängt eine CampingHitliste an: Soljanka lern der legendären liege aus sowjetischer Produktion („Von und Würzfleisch. „NeuMarke Simson. „Wir der SU lernen heißt liegen lernen!“), in lich haben wir Avocawollen uns nicht von einer Ecke steht ein Staubsauger der docreme-Suppe angeden Westlern an der Marke Steppke, daneben liegt ein boten, die wollte keiner Hand führen lassen. NVA-Teppich („Für unsere Sicherhaben“, sagt der Das ist unsere Verheit“), auf dem ein Mädchen in der UniFreund der Betreibegangenheit.“ form der Jungen Pioniere einem Karin, die nach zwei JahDer Ossi, das rätlaschnikow tragenden Soldaten einen ren Haft in Hohenselhafte Wesen: ZuStrauß roter Rosen überreicht – lauter schönhausen wegen erst kann er die D D R Teile aus dem Fundus eines geschlosseversuchter Republiknicht schnell genug nen Staatstheaters. flucht 1981 die D D R loswerden, dann klagt Zur „Finissage“ kommen etwa 100 verlassen durfte und er darüber, daß sie Besucher, um über das Motto der Ausseitdem in West-Berlin ihm abhanden gekomstellung „Zum Abschied bleibt keine lebt. men ist, schließlich Zeit“ zu diskutieren. Doch zuerst liest Zum akustischen versucht er, sie aus Ilona Seffner, 40, die im Rahmen eines Ambiente der Mokka ein paar BruchstükABM-Projekts „Soziokultur“ die GaleMilch Eisbar gehört ein ken wieder zusamrie „Stufe 85“ führt, einige selbstgemenzusetzen. Wäh- DDR-Spezialität „Pittiplatsch“ Schlager, der in den schriebene Gedichte vor. Es seien, sagt siebziger Jahren im rend im Westen von DDR-Radio oft gespielt wurde: „In der der Notwendigkeit der „inneren Einsie, „weniger Gedichte als BeschreibunMokka Milch Eisbar hat sie mich geseheit“ gesprochen wird, setzt sich der gen von Befindlichkeiten“. Eines ihrer hen, in der Mokka Milch Eisbar da ist es Osten um so stärker vom Westen ab, je Poeme heißt „Meine D D R “ und geht geschehen.“ Zur Wiedereröffnung im mehr sich die Lebensbedingungen anso: März 1995 kam auch Thomas Natschingleichen. DDR mein Heimatland/ ach wie bist du ski, der das Lied vor über 20 Jahren mit Als man den Ossi noch mühelos daran mir bekannt/ deine Mauern/ deine Türseiner Gruppe aufgenommen hatte. erkennen konnte, daß er „Hamse . . .?“ me/ alte Männer/ viel Gewürme/ Fühl „Plötzlich war 1990 überall Westen“, und „Plaste“ statt „Plastik“ sagte, wollte mich hin und hergerissen/ seh dich mit sagt die 24jährige Ost-Berlinerin Petra, er unbedingt so sein wie sein westdeutder Zeit verbissen/ denn du gibst mir „wir hatten keine Zeit, uns von der scher Cousin: cool, wendig und abgekeine Chance/ schlimmer noch/ du brüht. Nun, da er Benetton von Ralph machst mir angst. Lauren und Nike von Reebok unter* Mit seinem Mitarbeiter Stefan Schröter.

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DDR-Raritätenschau in Berlin: Aus dem Fundus eines geschlossenen Staatstheaters Dann erzählt Ilona Seffner vom Tag, an dem die Mauer fiel, wie eine Nachbarin zu ihr kam und sagte: „Die Grenze ist offen“, wie sie dann beide da saßen und heulten, wie sie mit ihrem Sohn zum erstenmal in den Westen fuhr, wie ihr an der Grenze die Knie weich wurden und wie sie vor Aufregung fast kotzen mußte. „Es war wie im Zeitraffer, eine ungeheure Intensität.“ Danach liest Ilona Seffner, die in der D D R als Erzieherin gearbeitet hat, nach der Wende ein Projekt für gefährdete Jugendliche im Prenzlauer Berg leitete und dann anderthalb Jahre arbeitslos war, noch ein paar selbstgeschriebene Gedichte vor, darunter eines mit dem Titel „Volkes Entscheid“: Der Sozialismus erschlagen/ Die SED begraben/ Jetzt haben wir endlich das Paradies/ Doch mir geht es damit ganz schön mies.

Die anschließende Diskussion geht nicht, wie man annehmen könnte, um die Qualität der Gedichte von Ilona Seffner, sondern um das Motto der Ausstellung „Zum Abschied bleibt keine Zeit“. Es soll „aus dem Wirrwarr herausführen“, sagt Peter Finke, ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der D D R , einer der Leihgeber der Ausstellung. „Man muß ja versuchen, rauszukommen aus den Dingen, die wir erlebt haben, und da hilft die Erinnerung und das Loslassen von Erinnerungen.“ – „Stopp!“ ruft daraufhin eine Frau, „sprich nicht in der Mehrzahl, sag nicht: wir. Ich will da nicht rauskommen, das ist ein Teil meines Lebens, und der hat Bestand.“

Honecker lebt

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urz nach Erich Honeckers Tod erschien bei Nebelhorn Musik in Berlin die Erich-Honecker-CD „Das war mein Lebensexil“. Der ehemalige Staatsratsvorsitzende und Generalsekretär der SED erzählt aus seinem Leben, rechtfertigt seine Politik und kündigt die Wiederkehr des Sozialismus an. Dazu werden DDRSchlager und FDJ-Lieder gespielt, singen Chor und Orchester der Nationalen Volksarmee. Die CD verkauft sich nach Angaben des Buschfunk-Vertriebs „sehr gut, vor allem im Osten“. Demnächst soll ein „OstMonopoly“ unter dem Titel „Überholen ohne einzuholen“ auf den Markt kommen. Gespielt wird auf der Karte der DDR, Start ist Berlin, Ziel: Wandlitz, der ehemalige NobelWohnort für Mitglieder des SED-Politbüros. Einzelverkaufspreis der CD: 39 Mark.

Ihm sei „politische Propaganda im Alltagsleben nicht begegnet“, sagt ein Mann, der sich als Musiker und Texter von Schlagern vorstellt, wenn ein Westdeutscher in die Ausstellung käme, würden alle seine Vorurteile gegen die D D R bestätigt. Es habe doch auch „Antikulturen“ in der D D R gegeben, die kämen in der Ausstellung nicht vor. „Ihr suhlt euch im Sumpf eurer Erinnerungen! Warum macht ihr das?“ ruft ein männlicher Besucher aus dem Hintergrund. Worauf Peter Finke ein wenig ungehalten reagiert: „Das kann ich nicht annehmen, wir haben als ganz normale Bürger hier gelebt. Wir haben ein relativ normales Leben gehabt, das zu vergleichen ist mit dem Leben eines Bürgers in der Bundesrepublik, wenn man bestimmte Freiheiten wie Reisefreiheit oder Konsumfreiheit mal wegläßt. Von Sumpf kann keine Rede sein!“ An dieser Stelle greift ein Besucher aus dem Westen mit dem Hinweis ein, von einem normalen Land und von einem normalen Leben könne keine Rede sein, „wenn ich nicht die Möglichkeit habe, mich über etwas anderes zu informieren als die offizielle Meinung“. Worauf sich die Reihen der Ossis wieder fester schließen. Mit dem Freiheitsbegriff müsse man „etwas vorsichtig sein“, wird der Gast aus dem Westen von Renaldo Tolksdörfer belehrt, einem ehemaligen hauptamtlichen FDJ-Sekretär, der heute „DDR-Devotionalien und Bücher“ verkauft, die er gleich nach der Wende eingesammelt hat. „Wenn ich in der D D R gesagt hätte, Honecker ist blöd, wäre ich nach Bautzen abgegangen. Dafür konnte ich sagen, mein Betriebsleiter hat nicht alle Tassen im Schrank, weil er für die Nachtschicht DER SPIEGEL 27/1995

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kein warmes Essen bereitgestellt hat. Heute ist es umgekehrt. Sie können sagen, Herr Kohl ist nicht ganz richtig im Kopf, aber sagen Sie das mal Ihrem Chef, dann sind Sie gleich auf der Straße.“ Er habe, bekennt Tolksdörfer, bis zum November 1989 das Gefühl gehabt, „in der D D R gut zu leben“. Das sei doch keine Frage der Gefühle, setzt der Gast aus dem Westen nach, es gehe um „objektive Möglichkeiten, die man hat oder nicht hat“. „Wir haben alles gehabt, was ihr gehabt habt“, stellt Peter Finke kategorisch Berliner Nostalgie-Cafe´ „Mauerblümchen“: „Hier können Ossis über sich selber lachen“ fest, „es war bloß alles ein nur da, wo Ossis unter sich bleiben. Ein bißchen kleiner. Das Auto, die WaschAuftauchen von Wessis ruft sofort maschine, der Kühlschrank, der FernseTrotz- und Abwehrreaktionen hervor. her.“ Und er zeigt keine Spur von IrritaKaum haben sich Ossis untereinander tion, als eine Frau dazwischenruft: „Das darauf verständigt, daß der „DDRstimmt überhaupt ganz und gar nicht!“ Mief“ eigentlich unerträglich war, bringt Es sind therapeutische Diskussionen, er Schlager unter allen DDR-Prosie die Wessi-Frage „Wie habt ihr es da die ehemalige DDR-B ürger über ihr Ledukten, deren Ende im Jahre nur ausgehalten?“ dazu, die „guten Seiben in der ehemaligen D D R führen. Sie 1990 besiegelt schien, ist der Rotten“ der D D R hervorzukehren, zum fangen bei einer Mitropa-Tasse oder eikäppchen-Sekt der Freyburger RotBeispiel das Sozialversicherungsbuch, nem FDJ-Wimpel an und führen gerakäppchen Sektkellerei. Das 1894 das jeder Bürger der D D R hatte und dewegs in die „Befindlichkeit“ einer gegründete Unternehmen gehört „wo alles drin stand, was man für die Existenz voller Widersprüche, Kränheute zu 60 Prozent der ehemals Rente brauchte“. kungen und Kompromisse. Die Reakvolkseigenen Geschäftsführung und Was im Westen ein wenig voreilig tionen der Besucher, sagt Ilona Seffner, zu 40 Prozent der westdeutschen Fa„Ostalgie“ genannt wird, spielt sich auf reichen von „Ich möchte die D D R wiemilie Eckes. Wurden vor der Wende Flohmärkten ab, wo 15 Millionen Flaschen des seinerzeit DDR-Fahnen, Spielberüchtigten Getränks verkauft, so zeug-Trabis und SEDsank der Absatz im Jahre 1991 auf Anstecknadeln ver2,9 Millionen Flaschen, um seitdem kauft werden. „Ostalsteil in die Höhe zu gehen: auf 5,7 gie“ hat oft ganz praktiMillionen Flaschen 1992, 10 Milliosche, nachvollziehbare nen Flaschen 1993 und 17 Millionen Gr ünde. „Ich hab’ auf im Jahre 1994 (davon in Westdas Auto zwölf Jahre deutschland nur 50 000). Inzwigewartet, das schafft schen wird Rotkäppchen in verschieBindung“, sagt eine denen Geschmacksvarianten, auch Brandenburgerin auf als Brut, angeboten. „So eine bedie Frage, warum sie kannte Marke kann nicht einfach vernoch immer einen Trabi fährt, obwohl sie sich schwinden, nur weil die Marktwirtlängst ein richtiges Auschaft kommt“, sagt der Unternehto leisten könnte. menssprecher. Hobby-Lyrikerin Seffner: „Alte Männer, viel Gewürme“ „Die Leute müssen den Zusammenhang zwischen Einkaufen und Arbeitsplätzen derhaben, da war alles besser!“ bis „Das begreifen; wenn sie nur Westprodukte ist ja nicht auszuhalten, warum tun wir kaufen, dürfen sie sich nicht wundern, uns das an?“ Eine SED-Parole, ein Abdaß Ostbetriebe zumachen“, sagt Pierre zeichen der Gesellschaft für DeutschGedalge, der zusammen mit seinem Sowjetische Freundschaft, eine PlastePartner Harald Kujus im Ost-Berliner Vase aus dem Soli-Basar bringen ErinStadtbezirk Friedrichshain einen Supernerungen hervor, „die viele verdrängt markt mit dem Namen „Zur ück in die und verleugnet haben“. Niemand im Zukunft“ aufgemacht hat. Westen könne nachvollziehen, „was sich bei uns abgespielt hat“, diese „Mischung Die beiden machen über 50 Prozent aus Fürsorge und Schwachsinn, Ordihres Umsatzes mit Ostprodukten, wonung und Improvisation“. bei als Ostprodukt alles gilt, was im Osten hergestellt wird, auch wenn viele Diese Art der Auseinandersetzung Betriebe inzwischen Unternehmen im mit der eigenen Geschichte funktioniert

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Rotkäppchens Rückkehr D

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mit Ananas“ zu trinken. „Es ist erstaunWesten gehören. Das Sorlich, wie schnell man vergißt, wie das timent reicht von ElmenLeben mal war“, sagt „Mauerblümhorster Fruchtsäften aus chen“-Mitbesitzer Jens Rammelt, „hier Rostock und Rh öntropfen können die Ossis über sich selber lachen Magenbitter aus Meininund die Wessis was über die D D R lergen über Pasewalker Konnen.“ serven und Möwe Feine Eiernudeln aus Waren an der Das könnte auch die didaktische AbMüritz bis zu Würzner sicht von Peter Sodann sein, wenn er eiCorn Flakes, Burger Knäkne hätte. Der Intendant des Neuen ke und Werra-Krepp ToiTheaters in Halle hat gleich nach der lettenpapier aus WernsWende eine „Revue 60“ aufgeführt, die hausen in Thüringen. seitdem über 60mal vor ausverkauftem „Ich habe zwei Kinder, Haus gespielt wurde. Es ist die Re-Ineinen Hund, ein Grundszenierung der D D R der sechziger Jahre stück und einen Kredit – es in Form einer historischen Collage. Was geht auch um meinen Arfrüher bitterer Ernst und amtliche beitsplatz“, sagt Gedalge, Wahrheit war, wird nun als Originalton der zwei Wochen nach dem mit ironischer Hand serviert. Die HelBau der Mauer geboren den des Arbeiter-und-Bauern-Staates wurde und sich Anfang warten nur darauf, als Komiker geoutet 1990 mit einem Obst- und zu werden. Gem üseladen selbständig Walter Ulbricht erklärt noch einmal, gemacht hat. Den Namen niemand habe die Absicht, eine Mauer seines Geschäfts erklärt er zu bauen, und bald darauf, nach erfolgso: „Zur ück zu den alten Nostalgie-Supermarkt in Berlin* tem Mauerbau, berichtet er, in den Produkten und damit in die 50 Prozent Umsatz mit Ostprodukten „ereignisreichen Tagen“ sei „weit weniZukunft!“ ger passiert als bei einer Rock’n’RollTatsächlich gleicht die ostalgische Beles Metallschild, das es nur einmal gibt: Veranstaltung in Berlin“; dann verschäftigung mit der D D R einer Zeitrei„Magistrat von Berlin – Hauptstadt der spricht er, im sozialistischen Lager werse in Vergangenheit und Zukunft zuD D R “ und die letzte „Urkunde über die de bis 1965 „ein Überfluß an Lebensmitgleich. Kein Mensch hätte zur Zeit der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft teln erreicht werden“; der FDJ-Chor Wende angenommen, daß ausgerechnet der Deutschen Demokratischen Repusingt „Wir sind überall auf der Erde“; der Trabi, das Symbol für Mangelwirtblik“ vom 13. November 1989. Ulbricht tanzt mit Chruschtschow, wähschaft und kärglichen Komfort, zum rend zwei Junge Pioniere „Wir wollen Natürlich gibt es Soljanka („der WoKultauto der neunziger Jahre avancieniemals auseinandergehen“ singen; der chenrückblick“) und Grilletta („König ren würde. Zuweilen wird es sogar von Arbeiterchor des VEB Chemische Werder Cheeseburger“) zu essen und „Sekt Sammlern als Wertobjekt angesehen, mit dem sich Spekulationsgewinne erzielen lassen. Und niemand hätte vorausgesehen, daß Ost-Berliner Jugendliche, die im November 1989 massenweise in den Westteil der Stadt strömten, heute am liebsten unter sich bleiben. Zum Beier 1975 fertiggestellte spiel in der „Tagung“ in der Wühlischunterirdische Kommanstraße, wo eine Marchlewski-Büste als dobunker der Nationalen Barhocker dient, der Kaffee in echten Volksarmee bei Harnekop, Mitropa-Tassen serviert wird und blaue nordöstlich von Berlin, in Speisekarten vom 12. FDJ-Parlament dem die militärische Fühausliegen („Guten Appetit wünscht das rung der DDR einen AtomKollektiv der Tagung!“). Die Gäste krieg überleben wollte, ist werden schon vor dem Betreten des Loseit Januar dieses Jahres kals mit einem Aushang darauf hingewieder begehbar. Eine Berliwiesen, was sie erwartet: „Mo: Warenner Bau-Service-Firma hat das über 300 Hektar große Gelände vom Bund gepachtet und möchte den voll annahme, Di: Urlaub oder Krankheit, funktionsfähigen Bunker zu einer touristischen Attraktion ausbauen. „Wir werden Mi: Inventur, Do: Frisör und KWV, Fr: den Gästen einen Erlebnisurlaub mit viel Spaß anbieten“, sagt der GeschäftsfühKomme gleich wieder, Sa: Brigadefeier, rer des Unternehmens, ein ehemaliger Kaderleiter (Personalchef) im Ministerrat So: Ruhetag“. Oder im Cafe´ „Mauerblümchen“ in der DDR, der an jedem Wochenende Besucher durch das dreigeschossige Labyder Wisbyer Straße. Da hängt über der rinth führt. Die zweistündige Tour kostet 20 Mark, an einem normalen WochenTheke ein Stück Mauer aus Styropor, ende kommen 500 Neugierige, Ostern waren es über 1000. Im Herbst soll ein regleich daneben ein blauer Pappkoffer, gulärer Hotelbetrieb aufgenommen werden, eine Nacht im Feldbett eines Mannder einem Delegierten des 10. Parlaschaftsraums wird etwa 100 Mark pro Person kosten, Frühstück inklusive. Für ments der FDJ im Juni 1976 diente. Auf September haben sich bereits 30 Gäste angesagt, ehemalige NVA-Soldaten, die zwei der vielen Exponate sind die beiauf dem mit Flakgeschützen und Elektrozaun gesicherten Gelände Dienst taten. den Besitzer besonders stolz: ein dunkRaum Nr. 2.32.4, ein wenig abgelegen am Ende eines Ganges, soll als Hoch-

Hochzeit im Bunker

* Mit Geschäftsführern Harald Kujus, Pierre Gedalge.

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zeitssuite eingerichtet werden. Ein Brautpaar aus Westdeutschland hat schon gebucht.

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ke Buna jubelt „Aus den Öfen, aus den Kolonnen, haben wir das Glück gewonnen!“; ein Mädchenchor trällert „Wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört.“ Für die Vorstellung wird das Theater in eine Parteitagshalle verwandelt. Die „Delegierten“ sitzen an weißgedeckten, mit roten Fähnchen dekorierten Tischen, die Wände sind mit Fahnen der D D R geschmückt. Darunter hängen Porträts der Mitglieder des Politbüros. So authentisch wie bei der „Revue 60“ im Neuen Theater in Halle haben die Bürger und Bürgerinnen ihre D D R lange nicht mehr erlebt. Zwei Stunden lang erwacht die Ulbricht-Ära wie ein Zombie zu neuem Leben. „Erinnern wir uns, wie ES damals war, wie WIR damals waren. Lassen Sie sich einladen zu einem großen Parteitag über zehn Jahre real existierenden Sozialismus. Diesmal aber zur Unterhaltung und nicht zur Belehrung“, heißt es im Zentralorgan des Neuen Theaters – Der Hammer. Bei den ersten Vorstellungen bald nach der Wende wollten sich manche Gäste nicht einmal unterhalten lassen. „Die sind rausgerannt, weil sie die Show als eine Verarschung der D D R verstanden“, erinnert sich Peter Sodann, seit 1981 Schauspieldirektor in Halle. Inzwischen rennt niemand mehr heraus. „Das Interesse an der Vergangenheit ist gewaltig. Wir wollen wissen, wie es war. Und wie blöd waren wir eigentlich? Was haben wir uns alles bieten lassen?“

P. HIRTH / TRANSIT

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Theater-Intendant Sodann in Halle: „Wie blöd waren wir eigentlich?“ Doch als eine Distanzierung von der D D R will Sodann die „Revue 60“ auch nicht verstanden wissen. „Es ist doch so, daß wir verschiedene Dinge in unserem Leben auch als angenehm empfunden haben. Das Leben in der D D R war mühevoll, aber witzig, der Lebensweg hier war der interessantere. Ich hänge an nichts. Aber ich hänge an meinem Leben. Und hier hab’ ich gearbeitet, früher hätte man gesagt: gekämpft. Hier war ich eingesperrt, und daran hänge ich auch – irgendwie.“ 1961 saß Sodann neun Monate in Haft, nachdem er im Leipziger Kabarett

Schein zum Sein

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ünf Jahre nachdem die DDR als Staat verschwunden ist, halten zahlreiche ehemalige DDR-Bürger am Personalausweis oder Reisepaß der Deutschen Demokratischen Republik fest. Allein in Ost-Berlin haben 100 000 Einwohner noch immer keinen Antrag auf Ausstellung eines Personalausweises der Bundesrepublik eingereicht. Die alten Ausweise und Pässe werden am 1. Januar 1996 ungültig. Im März dieses Jahres brachte der Verlag des Eulenspiegel den Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik als Reprint heraus, ergänzt um einige Karikaturen von Heinz Jankofsky, einem bekannten Witze-Zeichner der DDR. Der originalgetreue „Schein zum Sein“ kostet 9,80 Mark, aufgelegt wurden 10 000 Stück, die in kurzer Zeit verkauft waren. Bis Ende Mai wurden 50 000 Exemplare abgesetzt, vor allem in der ehemaligen DDR. Den unerwarteten Erfolg des Pseudo-Dokuments erklärt ein Verlagssprecher mit einem Satz von Karl Marx: „Warum ist das so? Damit die Menschheit heiter von der Vergangenheit scheide . . .“

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„Rat der Spötter“ ein Programm mit dem Titel „Wo der Hund begraben liegt“ inszeniert hatte. War die D D R eine Art Abenteuerspielplatz für Intellektuelle? „Vielleicht. Aber einer, wo man sich sehr schnell verletzen konnte.“ Nun können die Abenteuer ohne Verletzungsrisiko noch einmal durchlebt werden. Sodann erzählt, wie er im Knast mit zwei weiteren Gefangenen eine Parteigruppe gründete, wie er nach dem 17. Juni aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft austrat und später wieder eintrat, weil er sonst nicht in der Gesellschaft für Sport und Technik Motorrad hätte fahren können. Und er erinnert sich, wie zu DDRZeiten junge Leute zu ihm kamen und sich über die Langeweile in der D D R beschwerten. „Denen hab’ ich gesagt: Geh zu deinem Parteisekretär und sag ihm, du möchtest in die Partei eintreten. Dann nehmen sie dich auf. Und anschließend sagst du alles, was du denkst. Dann schmeißen sie dich wieder raus. Und dann wird das Leben interessant.“ Erfahrungen, die kein Wessi nachvollziehen kann. Und auch ein echter Ossi wie Peter Sodann, 1936 in Meißen geboren, gelernter Werkzeugmacher, Absolvent der Dresdner Arbeiter-undBauern-Fakultät, Schüler von Helene Weigel am Berliner Ensemble, denkt an die vergangenen Zeiten mit einer Mischung aus Wehmut und Erleichterung zurück. „Ich bin froh, daß es so gekommen ist, daß die D D R inzwischen Geschichte ist.“ Und damit er „nicht falsch verstanden“ wird, macht er schnell noch was klar: „Niemand will die D D R wieder haben. Aber keiner will sie sich nehmen lassen.“ Y