WIRTSCHAFTSRAUM BODENSEE WUNSCH ODER WIRKLICHKEIT?

THESENPAPIER WIRTSCHAFTSRAUM BODENSEE – WUNSCH ODER WIRKLICHKEIT? Dr. Roland Scherer Dieses Thesenpapier dient als Diskussionsgrundlage für die Exper...
Author: Nicolas Klein
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THESENPAPIER

WIRTSCHAFTSRAUM BODENSEE – WUNSCH ODER WIRKLICHKEIT? Dr. Roland Scherer Dieses Thesenpapier dient als Diskussionsgrundlage für die Expertengespräche der Internationalen Bodenseekonferenz zum Thema „Wirtschaftsraum Bodensee“ am 4. November 2016 in Konstanz. Es gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und ist nicht als koordinierte Stellungnahme der IBK zum Thema Wirtschaftsraum Bodensee zu verstehen. Der Aufsatz basiert in Teilen auf Erkenntnissen, die im Rahmen der regionalen ForesightStudie „Bodensee 2030“ gewonnen wurden und Ende 2016 veröffentlicht werden.

DIE BODENSEEREGION – EIN UNDEFINIERTES RAUMKONSTRUKT Unter dem Begriff der internationalen Bodenseeregion wird gemeinhin der Grenzraum zwischen Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz mit dem Bodensee als gemeinsamem Gewässer im Zentrum verstanden. Ein Blick auf die heute verwendeten Raumabgrenzungen der Bodenseeregion zeigt allerdings keinen einheitlichen Raumbezug. Es ist deshalb schwierig zu sagen, was denn nun genau die Region Bodensee ist, wie sie sich abgrenzt, wo sie beginnt bzw. wo sie endet. Je nach institutionellem oder funktionalem Zusammenhang zeigen sich völlig unterschiedliche Raumgebilde: So reicht die Bodenseeregion aus Sicht der Gewässerschutzes bis weit in den Alpenraum hinein, aus Sicht der Touristiker nur direkt um den eigentlichen Bodensee herum und für die Hochschulkooperation umfasst sie grosse Gebiete Süddeutschlands und der Nordschweiz sowie Liechtenstein und Vorarlberg. Dem Begriff der Region wohnt – wie das Beispiel der Abgrenzung der Bodenseeregion deutlich zeigt – eine gewisse Diffusität inne. Dadurch findet er in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Medien auch in vielfältiger Weise Verwendung. Eine Analyse der wissenschaftlichen Diskussionen über Regionsabgrenzungen zeigt, dass jede Abgrenzung aus einer konkreten Zielvorstellung heraus formuliert und vorgenommen wird. Nach Fürst (1996a:41) ist damit jede Regionsabgrenzung abhängig vom jeweiligen Zweck. Ähnlich argumentiert Wiechmann (2000:174): „Die Region als identifizierbare Einheit ergibt sich primär aus der individuellen Perspektive des Betrachters, die Identifizierung einer regionalen Ebene hängt in höchstem Masse von der spezifischen Fragestellung ab.“ Eine fixe und verbindliche Abgrenzung der Bodenseeregion ist, aufgrund der unterschiedlichen Funktionen, die die Region gleichzeitig erfüllt, nur schwer möglich. Einen Rahmen für die verschiedenen funktionalen Raumabgrenzungen bildet aber sicherlich die politisch-administrative Abgrenzung des Mandatsgebiets der Internationalen Bodensee Konferenz. Daneben bestehen im Sinne einer variablen Geometrie andere Raumabgrenzungen, die sich eher an funktionalen Verflechtungen orientieren. Auch die Abgrenzung eines Wirtschaftsraumes Bodensee muss sich an unterschiedlichen Funktionen orientieren und kann damit variabel sein. Konkret wird sich die Tourismusregion Bodensee anders abgrenzen als z.B. die Arbeitsmarktregion Bodensee. Ebenso würde sich die Raumabgrenzung für ein „regionales Innovationssystem Bodensee“ an anderen Kriterien orientieren als etwa eine Region zur Vermarktung regionaler Produkte. Hierin zeigt sich das grundlegende Problem von Regionsabgrenzungen im Spannungsfeld zwischen funktionaler und territorialer Raumabgrenzung, für das es kaum die eine, richtige Lösung geben wird.

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DIE BODENSEEREGION – EINE GRENZRREGION ZWISCHEN METROPOLRÄUMEN Die Bodenseeregion zeichnet sich durch vielfältige Raumstrukturen aus. Einerseits befindet sich die Region in einer zentralen Lage in Europa, andererseits liegen ihre Teilräume fernab der nationalen Hauptstädte Berlin, Wien und Bern. Die Region liegt dabei zwischen den drei Metropolitanräumen Stuttgart, München und Zürich. Mit dem Kanton Zürich ist der Kernraum der Metropolregion Zürich sogar offiziell Teil der (politischen) Bodenseeregion. Zürich erfüllt jedoch nur für Teile der Bodenseeregion eine Zentrumsfunktion. Im Bodenseeraum gibt es sowohl urbane Räume und dynamische Wirtschaftsstandorte, die zu den wettbewerbsfähigsten Regionen ihrer jeweiligen Nationalstaaten gehören, als auch eher ländliche, vom Tourismus geprägte Räume. Zu den dynamischen Standorten gehören etwa das Schussental von Friedrichshafen über Ravensburg in Richtung Ulm, das Vorarlberger und das St. Galler Rheintal, der Raum Konstanz oder die Region St.Gallen. Das Allgäu, der Bregenzerwald und das Toggenburg sind Beispiele für Räume, die sowohl ländliche Gemeinden umfassen als auch Tourismuszentren und (alt-)industrialisierte Standorte. Im Bodenseeraum befinden sich somit urbane und „verstädterte“ Gebiete mit hohen Dichten und stark ländliche Gebiete in direkter Nachbarschaft zueinander. Erreichbarkeit Internationale Flughäfen

Stuttgart Nancy Strasbourg

Flughafen Ulm

PKW-Fahrtzeit in Minuten München

< 30 30 - 60

Freiburg

60 - 90 90 - 120

Ravensburg Mulhouse Konstanz

120 - 180

Friedrichshafen

Basel

180 - 240

Bregenz Zürich

> 240

St. Gallen

Innsbruck

Staatsgrenze

Vaduz

NUTS-3-Gebiet

Bern

See

Chur

Bolzano

Lausanne

Informationsgrundlagen: - EuroRegionalMap (ERM) v.4.0, 2011, © EuroGeographics - Relief basierend auf SRTM 90, © CC-BY-SA 2.0 Maßstab im Original 1: 2.000.000

Trento Lugano

0

12,5

25

50

75

Kilometer 100

April 2013

In der Bodenseeregion leben – je nach Abgrenzung der Region – derzeit 3-4 Millionen Menschen. Die mittlere Bevölkerungsdichte beträgt etwa 210 Einwohner pro km². Damit liegt der Bodenseeraum knapp unter dem Mittelwert für Deutschland (230), aber deutlich über der mittleren Bevölkerungsdichte der EU (116) und der Schweiz (173). Die Bevölkerungszahl in der Region ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. So weisen beispielsweise die Verdichtungsräume am nördlichen Bodenseeufer, im oberen Rheintal oder im Raum St.Gallen im Zeitraum 1992-2007 Wachstumsraten von bis zu 80 Prozent auf. Der Bevölkerungsanstieg der vergangenen Jahre ist im Wesentlichen auf Zuwanderung zurückzuführen, welche sich insbesondere auf Schweizer und deutscher Seite bemerkbar machte. Aktuelle Bevölkerungsprognosen sagen voraus, dass sich dieses Bevölkerungswachstum auch in den kommenden Jahren fast unvermindert fortsetzen wird. In Teilregionen wird für die Jahre 2015-2030 mit einem weiteren Anstieg der Bevölkerung um rund 15 % gerechnet (z.B. Vorarlberg, Zürich, Schussental, Konstanz).

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DIE BODENSEEREGION – EIN ERFOLGREICHER WIRTSCHAFTSSTANDORT Die Bodenseeregion zählt wirtschaftlich zu den dynamischsten Regionen in Europa und ist in zahlreichen Rankings in der Spitzengruppe zu finden. So zählt das Nordufer des Bodensees mit Friedrichshafen und Ravensburg zu den prosperierendsten Räumen in Deutschland, was Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsdynamik und den Arbeitsmarkt angeht. Dieser Raum nimmt in Regionsvergleichen immer wieder Spitzenplätze ein. So liegt der Bodenseekreis in dem von der Zeitschrift Focus Money 2014 durchgeführten Vergleich von 382 Landkreisen und kreisfreien Städten der Bundesrepublik Deutschland auf Rang 4, der Landkreis Lindau auf Rang 20 und der Landkreis Konstanz auf Rang 29. Alle Landkreise befinden sich im vorderen Drittel der Rangliste. Im Innovationsindex des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg lag der Bodenseekreis zwischen 2004 und 2015 stets unter den ersten 5 Rängen. Der Prognos Zukunftsatlas 2016 klassiert den Bodenseekreis auf Rang 19 aller deutschen Landkreise und bescheinigt ihm sehr hohe Zukunftschancen sowie eine hohe Konzentration von Unternehmen aus Branchen, welche für Deutschlands Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung sind. Der Landkreis Lindau liegt auf Rang 25 der 402 betrachteten Landkreise. Trotz aller Kritikpunkte an derartigen Rankings, wie sie z.B. von Klüter (2012) formuliert wurden, zeigen diese Einstufungen der Region, dass sie im aktuellen raumordnungspolitischen Leitbild der Bundesrepublik Deutschland zu Recht als „Wachstumsraum außerhalb einer Metropolregion“ erkannt wird (vgl. Ministerkonferenz für Raumordnung, 2016). Diese positive Bewertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zeigt sich nicht nur für den deutschen Teil der Bodenseeregion, sondern auch für andere Teilräume. So ist das Land Vorarlberg eines der wirtschaftlich stärksten und dynamischsten Bundesländer in Österreich. Und der Metropolraum Zürich, dem grosse Teile der Schweizer Gebiete im westlichen Bodenseegebiet zugerechnet werden müssen, ist unbestritten eines der drei Wirtschaftszentren der Schweiz. Darüber hinaus gehört das Rheintal mit seinen Gebieten im Kanton St.Gallen, dem Fürstentum Liechtenstein und dem Land Vorarlberg zu den wichtigsten Industriestandorten und nimmt innerhalb der Schweiz immer wieder Spitzenplätze ein, wenn es um die Höhe der Exportleistungen geht. Auch im Hinblick auf ihre Innovationsfähigkeit kann die Wirtschaft der Bodenseeregion positiv bewertet werden. So befinden sich mit dem Land Vorarlberg, dem Kanton Zürich und der Region Bodensee-Oberschwaben drei Regionen unter den 20 leistungsstärksten Regionen in Europa, was die Zahl der Patentanmeldungen (bezogen auf die Bevölkerungsanzahl) angeht. Auch bei den jährlichen nationalen Erhebungen des European Innovation Scoreboard finden sich die Teilregionen des Bodenseeraums immer auf den vorderen Plätzen. Die Bodenseeregion verfügt nicht nur über eine innovative, sondern auch über eine höchst dynamische Wirtschaftsstruktur. Insgesamt konnte die Beschäftigung zwischen 1995 und 2014 um 5,6% gesteigert werden. In der Bodenseeregion gemäss Abgrenzung der Internationalen Bodensee Konferenz sind ca. 1,9 Mio. Beschäftigte im produzierenden (sekundären) und im Dienstleistungssektor (tertiären Sektor) tätig. Einen Schwerpunkt bildet dabei sicherlich der Kanton Zürich mit seinen rund 730.000 Beschäftigten. Fast alle Teilregionen am Bodensee weisen einen höheren Anteil an Beschäftigten im sekundären Sektor auf als der jeweilige Nationalstaat. Industrie und Gewerbe stellen damit die Grundlage für die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der Bodenseeregion dar. Doch auch hier setzt sich, wie fast überall in Europa, der Trend zu einer Verlagerung vom sekundären zum tertiären Sektor fort. Bereits heute zählen Dienstleistungen für Unternehmen, Banken und Versicherungen, Unterricht und Forschung sowie die öffentliche Verwaltung zu wichtigen Branchen. Doch auch die Tertiärisierung der Industrie selbst, u.a. durch Ausgliederung bestimmter Unternehmensfunktionen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen und erschwert die traditionelle Sektorbetrachtung. Gleichwohl bleibt die produzierende, exportorientierte Industrie immer noch der stärkste Treiber der Wirtschaftsentwicklung in der Bodenseeregion. Zahlreiche global tätige Unternehmen haben ihren Sitz – und teilweise auch ihre Wurzeln – im Bodenseeraum. Grössere Unternehmen wie ZF, MTU, Airbus, Zeppelin, Liebherr, Doppelmayr, Zumtobel, Hilti, Bühler, Georg Fischer oder Leica, um nur einige zu nennen, zählen in ihren Bereichen zu den Weltmarktführern. Gleiches gilt für etliche KMU, die als „hidden champions“ ihre internationalen Märkte dominieren.

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VIELE WIRTSCHAFTSRÄUME, ABER KEIN EINHEITLICHER WIRTSCHAFTSRAUM Trotz ihrer Stärken kann die Bodenseeregion weder als einheitlicher, noch als gemeinsamer Wirtschaftsraum bezeichnet werden. Die nationalen Grenzen, insbesondere die EU-Außengrenze zur Schweiz, erschweren die grenzüberschreitende Kooperation im Wirtschaftsbereich. Dies war nicht immer so: In der Vergangenheit, vor allem Ende des 19. Jahrhunderts, fand eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg statt. Schweizer Unternehmen leisteten einen wichtigen Beitrag zur Industrialisierung der deutschen Gebiete am westlichen Bodensee, am Hochrhein und im Alpenrheintal. Selbst heute, im Zeitalter der Globalisierung, wird der Industriesektor in diesen Räumen noch stark von solchen 'Schweizer' Unternehmen geprägt. Sie spielen als regional verankerte Unternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung und für den Erhalt von Arbeitskräften im produzierenden Gewerbe. Die Wirtschaftsstrukturen im Bodenseeraum zeigen zudem ein eher uneinheitliches Bild. So gibt es vor allem in der Bedeutung des produzierenden Sektors extreme Unterschiede zwischen den Teilregionen. “Industrielle Zentren“ am Bodensee wie das Schussental, das Alpenrheintal oder Schaffhausen/Singen weisen über die Hälfte aller Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe aus. So lassen sich innerhalb der Bodenseeregion einige sektorale Wirtschafts- und regional unterschiedliche Branchenschwerpunkte beziehungsweise industrielle Milieus oder Cluster identifizieren (z.B. Feinmechanik im Rheintal, Maschinenbau im Schussental oder Banken, Versicherungen in der Stadt St.Gallen). Eine detaillierte Betrachtung der Wirtschaftsstruktur zeigt, dass diese Konzentrationen meist einen hohen Anteil an stark wissensbasierten Unternehmen aufweisen. Dies gilt selbst für Unternehmen aus Branchen, die in der Regel eine geringe Wissensbasierung zeigen, aber deren Betriebsteile in der Region jeweils stark wissensbasierte Elemente, wie z.B. zentrale FuE-Abteilungen, umfassen. Eine längerfristige Betrachtung der Wirtschaft am Bodensee weist auf weitere heterogene Entwicklungen hin. So war in den vergangenen 30 Jahren in der ganzen Region ein starkes Anwachsen der absoluten Zahl an Arbeitsplätzen im produzierenden Sektor zu verzeichnen. Mitverantwortlich für diese Entwicklung waren verschiedene global agierende Unternehmen, die ihre Hauptsitze innerhalb der Bodenseeregion hatten und haben. Bis zu Beginn der 1990er Jahre expandierten diese Betriebe stark und es kam in einigen Teilregionen zu einem starken Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte. Die Folge dieser Expansion zeigt sich deutlich in der Siedlungsentwicklung der davon betroffenen Räume. Gleichzeitig fand in anderen Teilregionen ein massiver Strukturwandel statt, dem einige Wirtschaftsbranchen fast gänzlich zum Opfer fielen. Dieser Strukturwandel hält immer noch an. Einige Gebiete haben den Strukturwandel bereits relativ erfolgreich bewältigt. Dort konnten zahlreiche neue Betriebe gegründet und neue Arbeitsplätze in so genannten Zukunfts-Branchen geschaffen werden, z.B. im Vorarlberger Rheintal mit dem Wegbrechen der dortigen Textilindustrie. Die zukünftigen Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung werden in der gesamten Bodenseeregion trotz der zahlreichen Unterschiede - positiv eingeschätzt. Eine aktuelle Umfrage bei rund 1’000 Entscheidungsträgern aus der Region zeigt deutlich, dass diese die mittel- und langfristigen Wirtschaftsentwicklung der Bodenseeregion sehr positiv sehen und auch für die Zukunft ein weiteres Wachstum erwarten. In der Befragung angesprochen waren die Bereiche Unternehmens- und Arbeitsplatzbesatz, Technologiekompetenz und Weltmarktorientierung sowie Forschung. Vor allem für den Bereich „Technologiekompetenz und Weltmarktorientierung“ sehen die regionalen Experten ein weitere positive bzw. sehr positive Entwicklung (60%). Ähnlich werden die Zukunftsperspektiven für den Bereich „Vielfalt und Qualität der öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen“ bewertet, wo über die Hälfte eine weitere positive bzw. sehr positive Entwicklung erwarten. Etwas weniger positiv wird die Entwicklung der Industrieunternehmen und ihrer Arbeitsplätze in der Bodenseeregion beurteilt, wobei auch hier 38% positiv bzw. sehr positiv in die Zukunft schauen und nur 23% tendenziell hier einen Rückgang erwarten (vgl. Bodensee 2030).

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DIE BODENSEEREGION ALS POTENZIALRAUM DER WISSENSÖKONOMIE Eine wichtige Grundlage für die positive Wirtschaftsentwicklung ist die hohe Innovationsfähigkeit der regionalen Wirtschaft, die sich sowohl durch eine hohe F&E-Tätigkeit in den Betrieben als auch durch eine hohe Umsetzungskompetenz von neuem Wissen in konkrete Produkte und Prozesse auszeichnet. Diese hohe Wissens- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft in Teilräumen des Bodenseeraumes spiegelt sich in der bereits erwähnten überdurchschnittlichen Anzahl von Patentanmeldungen wider. In der gesamten Bodenseeregion kann eine im interregionalen Vergleich hohe Konzentration an Unternehmen der Hoch- und Spitzentechnologie festgestellt werden. Die Innovations- und Technologieorientierung dieser Unternehmen ist dabei überdurchschnittlich hoch, was sich in einer sehr hohe Forschungsintensität innerhalb der Unternehmen, einem hohen Anteil an FuE-Beschäftigten in der Privatwirtschaft und der bereits genannten hohen Patentdichte zeigt. Es sind dabei vor allem die betrieblichen Innovationsaktivitäten, die sehr stark ausgeprägt sind. Innerhalb der regionalen Unternehmen befinden sich wichtige FuE-Standorte in der Region. Die vorhandenen Stärken im Bereich der FuE und der Innovationsfähigkeit der regional ansässigen Betriebe stellt auch für die Zukunft einen zentralen Erfolgsfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Bodenseeregion dar. Gleichzeitig sind aber im Bereich der regionalen Innovationsfähigkeit auch einige Defizite festzustellen: So ist die regionale Innovationskraft auf wenige Unternehmen zurückzuführen, die Innovationskraft in der Breite der KMU dagegen ist gering. Dies zeigt sich auch darin, dass die regionale Innovationsfähigkeit in grossen Teilen der Bodenseeregion einen vergleichsweise sehr niedrigen Dynamikindex aufweist. Ebenso sind die regionalen Innovationssysteme und das Clustermanagement zur Verbindung zwischen (öffentlicher) Forschung und der Tätigkeit der Unternehmen bis auf wenige erfolgreiche Beispiele (z.B. BioLAGO, Smart Textiles Cluster) noch nicht sehr stark ausgebaut bzw. fokussieren sich auf einzelne Teilräume in der Bodenseeregion. Auf der anderen Seite verfügt die Bodenseeregion über eine Vielzahl an Universitäten, Hochschulen und anderen öffentlichen Forschungseinrichtungen. Diese arbeiten grösstenteils in der Internationalen Bodensee Hochschule IBH auch grenzüberschreitend zusammen. Die Herkunft der Hochschulen in diesem Verbund geht aber deutlich über die Grenzen des IBK Gebietes hinaus und umfasst z.B. weitere Standorte in Baden-Württemberg. Der Aufbau der IBH und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Hochschulen werden seit 15 Jahren von der IBK und vom INTERREG-Programm mit namhaften Mitteln gefördert. Zahlreiche Kooperationsprojekte zwischen den Hochschulen konnten dadurch erfolgreich umgesetzt werden. Trotz des vielfältigen Hochschulangebotes wird für die Bodenseeregion aber immer wieder das Fehlen einer Technischen Universität kritisiert, die als Wissensknoten eine zentrale Funktion für die stark technologieorientierte Wirtschaft in der grösseren Bodenseeregion wahrnehmen könnte. Neben der öffentlich finanzierten Forschung, die über die IBH grenzüberschreitend vernetzt wird, sind natürlich auch die Vernetzungen zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen von Interesse. Hier stellt sich die Frage, wie stark Unternehmen mit FuE-Einrichtungen nicht nur aus der eigenen Region, sondern auch aus dem benachbarten Grenzraum kooperieren. Hierzu liegen keine statistischen Daten vor. Nach Einschätzung regionaler WTT-Experten kooperieren aber nur einzelne Unternehmen mit „ausländischen“ Forschungseinrichtungen, die im Grenzraum vorhandenen Potenziale für den Wissens- und Innovationstransfer werden bislang noch nicht im vollen Umfang genutzt. Dies liegt unter anderem daran, dass die bestehenden regionalen Wissenssysteme noch stark national ausgerichtet sind und dass dabei vor allem (persönliche) Beziehungen der Forschenden in den Hochschulen, der Entscheidungsträger in den Unternehmen, aber auch der WTT-Transferstellen eine Rolle spielen. Mit aus diesem Grund wurde etwa von den Industrie- und Handelskammern und der IBH die Initiative zum grenzüberschreitenden „Team Wissenstransfer“ gestartet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die einzelnen Teilräume bislang noch nicht in dem Umfang von den vielfältigen Wissensangeboten, die in der Bodenseeregion existieren, profitieren, wie dies grundsätzlich möglich wäre.

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ZUKÜNFTIGE HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE WIRTSCHAFT Auch in der Bodenseeregion sind die Unternehmen mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die sich langfristig auf den Wirtschaftsraum Bodensee auswirken werden. Diese Herausforderungen ergeben sich aus den vielfältigen (globalen) Trends, die starken Einfluss auf die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung haben können. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sich im Zuge dieser Trends auch die Art und Weise des Wettbewerbs ändert. So spricht man heute von einem hyperdynamischen Wettbewerb, in dem sich Unternehmen und ihre Standorte weltweit befinden. Dieser ist durch ständige Veränderungen gekennzeichnet, die nicht nur Produkte und Produktionsprozesse betreffen, sondern vor allem auch die jeweiligen Produktionsstandorte. Konstituierendes Element des hyperdynamischen Wettbewerbs sind dabei die „Sprünge“ in der Entwicklung, die oft durch disruptive Innovationen ausgelöst werden. Beispiele für solche Innovationssprünge sind z.B. das Smartphone, der Tablet-Computer oder auch neue Geschäftsmodelle wie UBER oder AIRBNB. Es zeigt sich bei diesen Innovationen, dass sie in wenigen Jahren oftmals grundsätzliche Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft verursachen können. Zur Erinnerung: Das erste iPhone wurde 2007 auf den Markt gebracht. Welches sind nun die relevanten übergeordneten Trends, die für die Bodenseeregion von Bedeutung sind und dort mittel- und langfristig die Entwicklung beeinflussen können? Eine systematische Auswertung vorhandener Studien der wissenschaftlichen Zukunftsforschung und der Trendforschung zeigt eine schier unüberschaubare Vielfalt unterschiedlicher Trends. Kaum ein Begriff, der heute nicht als neuer „Megatrend“ in der Öffentlichkeit diskutiert bzw. positioniert wird. Die Auswertung bestätigt in Teilen aber auch den von Rust (2009, S. 11) geäusserten Vorwurf, dass kommerzielle Trendforscher neue – oder vermeintlich neue – Entwicklungen im Sinne eines „Naming“ verschieden etikettieren und öffentlich bekannt machen. Im Rahmen der regionalen Foresight-Studie „Bodensee 2030“ wurden vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Zukunftsforschung und aufgrund des Erfahrungswissens regionaler Stakeholder der Bodenseeregion eine Reihe von übergeordneten Trends identifiziert, die für die Zukunft der Region von besonderer Bedeutung sind. Folgende sechs Themenfelder können hier unterschieden werden: •

Bevölkerungsentwicklung und demografischer Wandel: Wachstum der Weltbevölkerung, Schrumpfung der Bevölkerung in den westlichen Industrienationen, Alterung der Bevölkerung und demografische Verwerfungen, anwachsende Migrationsströme, weltweite Urbanisierung, Suburbanisierung und „Reurbanisierung“, Landflucht und Metropolisierung;



Globalisierung und Regionalisierung: Internationalisierung der gesamten Wirtschaft über alle Unternehmensfunktionen, Anfälligkeit für globale Dominoeffekte, Internationalisierung der Eigentümerstrukturen, Verlagerung der Entscheidungskompetenz und konzerninterner Standortwettbewerb, Verlust der regionalen Einbettung der Betriebe, Internationalisierung der Belegschaften;



Wissensbasierte Ökonomie: Zusammenwachsen von Produktion und Dienstleistungen, hybride Wertschöpfungssysteme entlang des Lebenszyklus als Geschäftsmodell, offene Innovationsprozesse, steigender Anteil wissensintensiver Tätigkeiten, Lebenslanges Lernen;



Digitalisierung: Internet der Dinge, digitale Produktion, neue Geschäftsmodelle, Industrie 4.0, Risikoschutz;



Wertewandel und gesellschaftliches Engagement: Wertewandel hin zu postmaterialistischen Werten (z.B. sinnstiftende Arbeit, Balance Beruf-Freizeit), Vielfalt von Milieus und Lebensstilen, Veränderungen des gesellschaftlichen Engagements und der politischen Partizipation, sinkende gesellschaftliche Akzeptanz für wirtschaftliche Aktivitäten, Sharing Economy;



Ressourcen und Klimaschutz: Energiewende, Dekarbonisierung, Nachhaltigkeit.

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MÖGLICHE HANDLUNGSFELDER EINER BODENSEE WIRTSCHAFTSPOLITIK Ausgehend von den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen ergibt sich für eine grenzüberschreitende Wirtschaftspolitik am Bodensee eine Reihe möglicher Handlungsfelder. Dabei ist grundsätzlich anzumerken, dass nicht alle Themen zwingend auch grenzüberschreitend gelöst werden müssen bzw. können oder für den gesamten Raum gleichermassen relevant sind. Nichtsdestotrotz können für den Wirtschaftsstandort Bodensee mit all seinen unterschiedlichen Teilräumen einige Handlungsfelder identifiziert werden, in denen durch grenzüberschreitende Kooperation auch Mehrwert für den Gesamtraum geschaffen werden kann. Folgende Themenfelder erscheinen hier für die Zukunft relevant: •

• • •

Positionierung der Bodenseeregion als leistungsfähiger wissensbasierter Wirtschafts- und Industriestandort zur Schaffung eines entsprechenden Images nach aussen und zur Förderung einer entsprechenden regionalen Identität. Mit dem Projekt Vierländerregion wurde hier ein erster, breit getragener, grenzüberschreitender Ansatz geschaffen. Politische Vertretung des Wirtschaftsraumes Bodensee gegenüber den Entscheidungszentren der beteiligten Nationalstaaten. Optimierung der harten Standortfaktoren der Bodenseeregion, vor allem bei der überregionalen Anbindung der Region an die globalen Infrastrukturnetzte und auch bei innerregionalen Verbindungen. Aufbau eines grenzüberschreitenden Regionalen Innovationssystems, das auf den bestehenden F&EPotenzialen der Bodenseeregion aufbaut und diese optimal grenzüberschreitend vernetzt.

Neben diesen Themenfeldern, die m.E. zwingend auf einer gesamtregionalen Ebene grenzüberschreitend koordiniert und bearbeitet werden müssen, gibt es noch weitere Themenfelder, die eine gemeinsame Bearbeitung nahelegen. Dies betrifft vor allem den grenzüberschreitenden Wissens- und Innovationsaustausch. Das Voneinander-Lernen ist insbesondere in jenen Themenfeldern relevant, bei denen die einzelnen Teilräume der Bodenseeregion mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert sind. Ebenso können durch grenzüberschreitende Kooperationen wirtschaftliche Entwicklungspotenziale besser genutzt werden, indem z.B. Hochschulen und Unternehmen über die Grenzen hinweg in konkreten Projekten zusammenarbeiten. Eine grenzüberschreitende Wirtschaftspolitik kann hierzu die entsprechenden Impulse geben oder die notwendigen Plattformen bieten. Dies muss nicht zwingend für den politisch-administrativen Gesamtraum, sondern kann auch in funktionalen (Teil-)räumen erfolgen. Die von verschiedenen Initianten aus der Bodenseeregion derzeit geplante Wirtschafskonferenz wäre eine mögliche Plattform, die sich klar auf den engeren Bodenseeraum fokussieren könnte. Wichtig ist dabei, dass weiterhin auch enge Kooperationen und Abstimmungen zwischen den wirtschaftspolitischen Akteuren in der gesamten Grenzregion bestehen. In einzelnen wirtschaftlich eng verflochtenen Teilräumen, wie z.B. im Rheintal oder im Raum Singen/Schaffhausen, zeigt sich Bedarf, konkrete Einzelthemen grenzüberschreitend zu bearbeiten. Auch dies muss nicht zwingend auf Ebene des Gesamtraumes erfolgen, eine variable Geometrie spielt auch hier eine zentrale Rolle. In anderen wirtschaftlichen Themen ist eine grenzüberschreitende Kooperation nicht notwendig, führt möglicherweise gar zu suboptimalen Lösungen. Dies gilt für Themenfelder, wo zwischen den einzelnen Teilräumen – nicht nur über die Grenzen hinweg – Konkurrenzen bestehen. Vor allem das Themenfeld der „klassischen“ Standortpromotion scheint ungeeignet für grenzüberschreitende Kooperation. Zum einen zeigen sich hier zwischen den Teilräumen klare Konkurrenzsituationen, zum anderen folgen entsprechende Standortentscheide primär einer nationalstaatlichen, dann erst einer regionalen Logik. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Wirtschaftspolitik für die Bodenseeregion zwingend notwendig ist. Diese sollte aber immer auf der jeweils funktional geeigneten Ebene erfolgen und kann im Sinne einer variablen Geometrie auf unterschiedlichen Raumabgrenzungen oder unterschiedlichen Akteuren beruhen. Wichtig ist dabei, dass sie dem Grundsatz der „Koopetition“ folgt: Kooperation nach aussen und gegebenenfalls Konkurrenz nach innen.

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