Welche Rolle spielt das kontinuierliche Glukosemonitoring?

Thomas et al.: Kontinuierliches Glukosemonitoring R E V I E W  /  Ü b er s i c h t Welche Rolle spielt das kontinuierliche Glukosemonitoring? Das Er...
Author: Pamela Haupt
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Thomas et al.: Kontinuierliches Glukosemonitoring

R E V I E W  /  Ü b er s i c h t

Welche Rolle spielt das kontinuierliche Glukosemonitoring? Das Erfassen nicht nur punktueller Glukosewerte zeigt positive Effekte in der Diabetestherapie. A. Thomas1, M. Schönauer2, R. Kolassa3, O. Hamann4 A. Thomas

Einleitung

Zusammenfassung

Das kontinuierliche Glukosemonitoring steht seit der Zulassung des ersten Glukosesensors CGMS® durch die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 1999 zur Verfügung. Damit führte eine über mehr als drei Jahrzehnte dauernde Entwicklung mit vielen Hoffnungen, Erfolgsmeldungen, aber auch Enttäuschungen zum vorerst angestrebten Ziel. Dabei erlebt das kontinuierliche Glukosemonitoring einen Prozess, der bei vielen neuartigen Entwicklungen zu beobachten ist: Mit dem Eintritt in den Markt beginnt ein umfassender Lernprozess in Bezug auf die Verbesserung des Produkts, den Umgang mit der Methode, deren sinnvollen Einsatz und deren grundsätzliche Einordnung. Dieser Prozess ist auch acht Jahre nach der Verfügbarkeit des ersten Glukosesensors keinesfalls abgeschlossen. Im Gegenteil – eigentlich hat er erst begonnen.

Das kontinuierliche Glukosemonitoring steht seit der Zulassung des ersten Glukosesensors CGMS im Mittelpunkt des Interesses. Auch wenn dieser nur retrospektive Daten lieferte, wurde damit der Glukoseverlauf erstmals lückenlos sichtbar. Dessen Einsatz ist nach wie vor für die Beurteilung der Wirksamkeit der Diabetestherapie von großer Bedeutung. Die neueren Systeme sind dagegen auch für den Einsatz im Alltag der Patienten konzipiert. Durch die Anzeige aktueller Glukosewerte wird nicht nur die Lücke zwischen den punktuellen Blutzuckermessungen geschlossen, sondern auch eine therapeutische Lücke. Das in der DCCT nachgewiesene Problem, dass sich mit niedrigeren HbA1c-Werten das Risiko für Hypoglykämien erhöht, kann damit gelöst werden. Die Patienten können beispielsweise auf sinkende Glukosewerte recht-

In Anbetracht der nach wie vor geringen Verbreitung des kontinuierlichen Glukosemonitorings stellt sich die Frage nach den Hemmnissen. Schließlich war in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die unblutige und kontinuierliche Glukosemessung einer der am häufigsten geäußerten Wünsche von Patienten

1) Institute for Clinical Research and Development, IKFE Mainz, Germany 2) University of Applied Sciences Rheinbach, Germany 3) University Hospital München Schwabing, München, Germany 4) Institute for Clinical Research and Development, IKFE, Rotenburg, Germany Diabetes, Stoffwechsel und Herz 

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Schlüsselwörter kontinuierliches Glukosemonitoring, Diabeteseinstellung, retrospektiv, aktuelle Glukosewerte

The Different Roles of Continuous Glucose Monitoring Summary

Wünsche

zeitig reagieren, bevor eine Hypoglykämie eintritt. Alarmmeldungen unterstützen den Anwender dabei. Die beiden Zugänge zum Glukosemonitoring, Aufzeichnung retrospektiver Glukoseprofile und Anzeige aktueller Glukosewerte, stellen vollkommen verschiedene Methoden dar. Retrospektive Daten unterliegen überwiegend der Beurteilung der Therapeuten. Die aktuellen Glukosewerte können dagegen unmittelbar für die tägliche Feineinstellung der Therapie auf die gegebenen Alltagsanforderungen genutzt werden. Natürlich setzt die Methode eine gute Selektion und Schulung der Patienten voraus, sie unterliegt aber auch dem Selbstlernprozess der Patienten.

Since the introduction of the first ­continuous glucose monitoring sensor (CGMS) onto the market, the method of continuous glucose monitoring has been the focus of much interest. Although the first CGMS only ­supplied ­retrospective ­data, the ­glucose profile became ­completely visible for the first time. The use of the system was to prove greatly ­important in the evaluation of the ­effectiveness of the diabetes therapy. The newer systems were designed to play an integral part in the daily life of diabetic patients. The display of on-the-spot glucose values not only closed the gap between blood sugar measurements, it also enabled the user to streamline therapy. The ­problem, revealed by the DCCT, of the association ­between a lower HbA1c level

and a higher risk of hypoglycaemia, could finally be solved using the CGMSs. The two ­different ­approaches of glucose monitoring, ie, the displaying of the retrospective data as ­opposed to the displaying of onthe-spot data, represent two completely different ­purposes. Retrospective data is ­predominantly useful for the evaluation of the doctors. On the other hand, the onthe-spot glucose values guide enable the user to make the necessary ­therapeutical ­adjustments according to the different ­requirements of everyday life. Although the newer method presupposes a good ­selection and training of the patients, it adds to the self-learning process. Key words continuous glucose monitoring, diabetes control, retrospective data, current glucose values



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Ein einzelner Messwert ist nur solange relevant, wie sich die Glukosekonzentration nicht wesentlich verändert. bei, dass zwischen zwei Messungen starke Glukosefluktuationen auftreten können, die nicht erfasst werden und damit unerkannt bleiben. Diese fallen nur auf, wenn sie für den Patienten spürbar sind, zum Beispiel bei einer Hypoglykämie. Folglich basiert die Diabeteseinstellung nach punktuell gemessenen Blutzuckerwerten auch bei großer therapeutischer Erfahrung auf einer starken nichtobjektiven Komponente: Der Wunsch nach dem vollständigen Bild des Glukoseverlaufs war also auch von Seiten der Therapeuten folgerichtig. 

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Glukose (mg/dl)

und Therapeuten, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: ⦁ Bei den Betroffenen war der Wunsch besonders durch die bei der Blutzuckerselbstkontrolle notwendige, mehrmals tägliche Selbstverletzung bedingt. Aber auch die Tatsache, dass ein punktuell gemessener Wert keine Aussage zulässt, wohin sich der Blutzucker bewegt, wurde von manchem Patienten als Problem dargestellt. Hier lag häufig die Erfahrung zugrunde, dass kurze Zeit nach einem gemessenen normoglykämischen Wert unerwartet eine schwere Hypoglykämie erlebt wurde. ⦁ Aus ärztlicher Sicht betraf das besonders den Wunsch nach einem vollständigen Bild über die Glykämie, denn selbst sechs oder acht Blutzuckerwerte pro Tag geben den Glukoseverlauf nur unvollständig wieder. Schließlich ist ein einzelner Messwert nur solange relevant, wie sich die Glukosekonzentration nicht wesentlich verändert. Im Fall eines Glukoseanstiegs oder -abfalls betrifft das nur einen Zeitrahmen von 10 bis 15 Minuten (in Abhängigkeit von der Glukoseänderungsgeschwindigkeit). Folglich repräsentieren sechs bis acht Glukosewerte am Tag schätzungsweise nur ein Achtel bis ein Zehntel des gesamten Tages. Das besondere Problem ist da-

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Tag 1 ■ Blutzuckermessung

Tag 2 ■ Sensor 1

Tag 3 ■ Sensor 2

Abb. 1: Glukoseprofile nach simultaner Messung mit zwei CGMS®-Sensoren im Gewebe eines Patienten mit Typ-1-Diabetes. Die mittlere Abweichung aller paarweise gemessenen Werte in Bezug auf das Blutzuckermessgerät betrug 13,8 % (2).

Die Hemmnisse bei der Verbreitung des kontinuierlichen Glukosemonitorings sind verschiedenartig. Einerseits begründen sie sich in der Abweichung der realen, verfügbaren Sensoren von der Vorstellung über einen idealen Glukosesensor. Alle verfügbaren Systeme, CGMS®Gold und Guardian®REALTime, beide von Medtronic, GlucoDay® von Menarini und – in den USA verfügbar – DexCom STS™ von DexCom (die Produktion des GlucoWatch®G2TM Bio­ grapher der früheren Firma Cygnus wurde eingestellt), sind minimal-invasiv und nur über einen Zeitraum von zwei bis sieben Tagen einsetzbar. Sie müssen mit Hilfe der herkömmlichen Blutzuckerselbstkontrolle kalibriert werden und sind nicht zugelassen als alleinige Methode zur Anpassung der Glykämie. Die Vorstellung der Betroffenen nach einer vollständigen Ablösung der Blutzuckerselbstkontrolle ist damit keinesfalls realisiert. Auch der bei diesen neuartigen Produkten notwendigerweise noch recht hohe Preis wirkt limitierend.

gen vermag als die punktuelle Blutzuckermessung. Das Monitoring zeigt den Verlauf über 24 Stunden eines Tages, unabhängig davon, ob der Patient schläft, sich für seinen Glukosespiegel interessiert oder dies aufgrund normaler alltäglicher Lebensaufgaben gerade nicht tun kann. Auf dieser Grundlage lässt sich die Diabeteseinstellung objektivieren. Diese Erfahrungen werden überwiegend in experimentellen, selten jedoch in randomisierten, kontrollierten Studien dargestellt, so dass die Beweislage im Sinne der Evidence based Medicine noch unvollständig ist. Ein weiteres Problem ist, dass die Methode noch keine umfassende Einordnung in den klinischen Alltag erfahren hat. Die ursprüngliche Ansicht, dass das kontinuierliche Glukosemonitoring nur die logische Fortsetzung der punktuellen Blutzuckerselbstkontrolle darstellt, ist jedenfalls nicht richtig. Vielmehr stellt das Glukosemonitoring eine eigenständige, neue Methode dar, die neben der Blutzuckermessung existiert und deren Möglichkeiten erst vollständig erfasst werden müssen.

Evidenz der Methode

Genauigkeit der Messung

Andererseits besteht die Frage nach der Evidenz der Methode in Bezug auf die glykämische Einstellung der Patienten. Unbestritten ist, dass der vollständige Überblick über die Glykämie wesentlich umfassendere Einblicke zu erbrin-

Zum detaillierten Verständnis soll kurz auf die Genauigkeit und Reproduzierbarkeit des kontinuierlichen Glukosemonitorings eingegangen werden, welche sich seit der Markteinführung fortlaufend verbessert haben. Ein solcher

Hemmnisse

Diabetes, Stoffwechsel und Herz 

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Prozess der Optimierung eines Systems ist bei allen technologischen Innovationen zu beobachten und kann als gesetzmäßig angesehen werden. Für die punktuelle Blutzuckermessung existieren beispielsweise in Deutschland die Richtlinien der Bundesärztekammer (RiliBÄK), welche Messwertabweichungen bis zu einem oberen Grenzwert von 16 % zulassen. Für das kontinuierliche Glukosemonitoring gibt es bisher keine solchen Normen. Als ein sinnvoller Parameter kann die mittlere absolute Abweichung (MAD) der Messungen angesehen werden, welche sich im Gegensatz zur Einzelmessung auf die Gesamtheit der erfassten Werte bezieht. Die in verschiedenen Studien gezeigten MAD-Werte liegen in einem Bereich zwischen 11 und 16 % und weisen einen akzeptablen Wert im Rahmen der in der Diabetesbehandlung sinnvollen Toleranzen auf (1, 2). Ein Vergleich der Genauigkeit des kontinuierlichen Glukosemonitorings mit der punktuellen Blutzuckermessung ist jedoch nur bedingt sinnvoll, weil die hier betrachteten Sensoren im Unterhautfettgewebe platziert sind und es sich damit um Messungen in unterschiedlichen Kompartimenten handelt. Folglich ist die unmittelbare Vergleichbarkeit nur im Fall der Glukosehomöostase gegeben. Beispielsweise ist bei einem Anstieg der Glukosekonzentration ein im Blut gemessener Glukosewert erst mit einer zeitlichen Verzögerung in der interstiti-

ellen Flüssigkeit zu erwarten. Hier ist in die Genauigkeitsbetrachtungen die zeitliche Dynamik einzubeziehen, was sich bei der üblichen Darstellung der Messqualität im Error-Grid-Plot nicht zeigen lässt und deshalb einen dynamischen Error-Grid-Plot erfordert (3, 4). Es liegt in der Natur der Dinge, dass es dafür keinen Vergleich in Bezug auf die punktuelle Blutglukosemessung gibt.

Höhere Fehlertoleranz

Nutzen der kontinuierlichen Glukose­ messung

Ein Vergleich der Genauigkeit

Die fortlaufende Messung der Glukose und die Aufzeichnung der Werte im Zeitraum weniger Minuten bedeuten einen erheblichen Nutzen über die Möglichkeiten der punktuell genaueren Blutzuckermessung hinaus. Dieser Nutzen hängt unter anderem davon ab, ob nur retrospektive Daten vorliegen oder ob die Glukosewerte aktuell sichtbar sind. Im ersten Fall werden die Lücken zwischen den Blutzuckereinzelmessungen geschlossen. Im zweiten Fall wird zusätzlich erkennbar, in welcher Weise sich der Glukosewert ändert. Auch das aktuelle Glukoseprofil ist auf dem Display des Monitors dargestellt. Es ergibt sich damit für den Anwender anhand der Kurve eine Plausibilitätskontrolle. Gegebenenfalls abweichende Einzelwerte werden in der Kurve zwar sichtbar, beeinflussen jedoch das Gesamtbild nur wenig.

Glukose im Blut

Glukose (mg/dl)

Glukosekonzentration

200

Glukose im Interstitium

-40

-20

0 

20

40

60

175

100

120

140

monitorings mit der Blutzuckermessung ist nur bedingt sinnvoll. zuckermessung. Diese Standards sind noch zu entwickeln und müssen sich stärker auf den sichtbaren Glukosetrend beziehen. Im Prinzip ist der Vergleich von Blutzuckermessung und kontinuierlichem Glukosemonitoring wie ein Vergleich zwischen einer Photographie und einem Film. Auch von einem Photo mit brillantester Bildqualität lässt sich nicht ableiten, was vor und nach der Aufnahme passierte. Im Gegensatz dazu wird in einem Film eine Handlung dargestellt. Die darin enthaltenen Einzelbilder treten dabei in den Hintergrund. In diesem Sinn ersetzt das kontinuierliche Glukosemonitoring die Blutzuckerselbst-

25 Min. „time lag“

150 Minimum Blutglukose

125

100 80

des kontinuierlichen Glukose-

interstitielle Glukose (Sensor)

Blutglukose (Labor)

Nahrungsaufnahme „time lag“

Auf jeden Fall toleriert das kontinuierliche Glukosemonitoring aufgrund der zusätzlichen Informationen über die Glukosedynamik höhere Grenzen für Glukosemessfehler, als dies die punktuelle Blutzuckerselbstkontrolle tut (6). In Bezug auf die Genauigkeit ist also für das Glukosemonitoring eine andere Beurteilung notwendig als für die Blut-

0

Minimum interstitielle Glukose

10 20  30 40 50 60 70 80

Zeit (min)

90 100 110 120

Zeit (min) ■ Blutglukose

■ interstitielle Glukose

Abb. 2: Beispiele für die Unterschiede zwischen Blutglukose und interstitieller Glukose. Links: Glukoseanstieg nach einer Mahlzeit (schematisch), rechts: Glukoseabfall bei sportlicher Aktivität mit durchschnittlicher Glukoseauslenkung bei 22 Kindern mit Typ-1-Diabetes (Alter 8 bis 17 Jahre) nach viermal jeweils 15 Min. „Walken“ (Herzrate

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