Sprachentwicklungsstörungen und ihre Therapie Eine kritische Bestandsaufnahme Hannover - 12.07.2007
„Welche Rolle spielen soziale Defizite in Familien?“ Manfred Flöther
Fachberater für Hör- und Sprachgeschädigte im landesärztlichen Dienst
Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie
Sprache: das soziale Medium „Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig.“ (HERDER 1770)
Was ist „sozial“? • Das Wort sozial (von lat. socius = gemeinsam, verbunden, verbündet) bezeichnet wechselseitige Bezüge als eine Grundbedingtheit des Zusammenlebens, insbesondere des Menschseins (der Mensch als soziales Wesen). (…) • In der Umgangssprache bedeutet sozial der Bezug einer Person auf eine oder mehrere andere Personen; dies beinhaltet die Fähigkeit (zumeist) einer Person, sich für andere zu interessieren, sich einfühlen zu können, das Wohl Anderer im Auge zu behalten (Altruismus) oder fürsorglich auch an die Allgemeinheit zu denken. www.wikipedia.de (11.06.2007)
Persönliche Folgen von Kommunikationsstörungen • 44% SES-Kinder haben psychische Auffälligkeiten (SUCHODOLETZ 1998) • Erhöhte Quoten für Suizid und Psychiatrie bei Schwerhörigen (RICHTBERG 1982) • Abrutschender IQ um 10 – 20 Punkte (DANNENBAUER 2001 und 2002) • Störungen beim Schriftspracherwerb bei 40-70% (DANNENBAUER 2001)
Kommunikation im Beruf
Volkswirtschaftliche Folgen von Kommunikationsstörungen • Erhöhte Arbeitslosigkeit • Vermindertes Einkommen • Vermehrte Zugehörigkeit zu unteren Sozialklassen • Verminderung des BSP um 2,5 – 3%: – ca. 60 Milliarden € für Deutschland
Hören und Sprache Spracherwerb
Hörerwerb
• Angeborene genetische • Angeborene genetische Disposition: LAD = Disposition: HAD = Hearing Language Acquisition Acquisition Device Device (FOXP2 ?) • Mutter-Kind-Interaktion / • Mutter-Kind-Interaktion / Dialogik zur Aktivierung: Dialogik zur Aktivierung: LASS = Language HASS = Hearing Acquisition Acquisition Support Support System System
Gesundheitsamt
Zahlen aus den Einschulungsuntersuchungen der vergangen Jahre (Gesundheitsamt Leer 2007)
Sprachstörungen bei Einschulungsuntersuchungen (ESU) im Vergleich der Jahre 2004-2006 im Landkreis Leer (Quelle: Gesundheitsamt Leer 2007) 50 45 40 35 30 in %25 20 15 10 5 0
43,8
45,9
38,4
21,9
43,9
2004
38,8
2005
36,8
2006
25,6 19,7
5,9 7,1 5,9
Sprachstörungen gesamt
davon in Behandlung
davon sprachbehindert
11,7 10,3 11,4
davon zur Logopädie empfohlen
davon mit Restsymptomatik
ESU 2006: Anteil sprachgestörter Kinder nach Ausbildungsstand der Mütter (Quelle: Gesundheitsamt Leer 2007)
Kinder gesamt
davon Kinder ohne Sprachstörungen
90
82,4 77
80
76,5 68,8
70 60
63,3
61,5
58,1
50 in % 40 30
davon Kinder mit Sprachstörungen
38,5
36,7 31,2
23,5
23
20
17,6 11
10
7,3
7,7
7,5
8,5
0 Lehre
Fachschule
Uni / Fachhochschule
kein Abschluß
Sonstiges
keine Angabe
ESU 2006: Anteil sprachgestörter Kinder bei Berufstätigkeit der Mütter (Quelle: Gesundheitsamt Leer 2007)
Kinder gesamt 100
davon Kinder ohne Sprachstörungen
davon Kinder mit Sprachstörungen
90
90
80,2
80
70,5
70,6
70 57,6
60 in % 50 40
30,7
29,5
30
19,8
20 10
29,4
4,8
10
6,8
0 ganztags
Teilzeit
Hausfrau
keine Angabe
KJPP
Quelle: W. v. Suchodoletz Was wird aus Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen?
Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Entwicklung sprachentwicklungsgestörter Kinder
•
sozioökonomische Einflussfaktoren Ungünstig: > niedriger Bildungsstand der Mutter, > ledige Mutter, > am Ende der Geschwisterreihe (Florida-Studie mit 6.000 SES-Kindern; Shanton-Chapman et al. 2002)
•
Zweisprachigkeit: > vermutlich ohne Einfluss auf die Sprachentwicklung von SESKindern (Paradis et al. 2003) (Vortrag im Sprachheilzentrum der AWO Weser-Ems in Bad Salzdetfurth 2005)
Intuitiver Lehr-Lern-Prozess (GRIMM 1999)
Bis 12 Monate
„Baby-talk“ (Ammensprache)
Spracherkennung, Prosodie, Phonologie
2. Lebensjahr Stützende Sprache Dialog, Wortschatz, („scaffolding“) Aufmerksamkeitsfokus 3. Lebensjahr Lehrende Sprache Modellierung, Fragen, („motherese“) Grammatik
Intuitive elterliche Didaktik I (PAPOUSEK)
• Interaktionskontext – Blickkontakt, Vokalisationen, Mimik, Musik – Fördern der Motorik, Monologisches Erzählen
• Gemeinsame Aufmerksamkeit – Folgen und Lenken des kindlichen Interesses – Kommunikative Routinen (Konventionen) – Spiel mit Objekten
Intuitive elterliche Didaktik II (PAPOUSEK)
• Interaktive Spielchen – Traditionell: „Hoppe-hoppe-Reiter“ etc. – Selbsterfundene Spielchen
• Sprachstrukturen – Deutliche Artikulation, Wiederholungen – Kindersprache je nach Entwicklung – Fragen, Aufforderungen, Lob, Verbote etc.
Intuitive elterliche Didaktik III (PAPOUSEK)
• Prosodie – Langsameres Tempo, Rhythmisierung – Erhöhte Stimmlage, Lautstärkenkontraste – Verstärkte Intonation, Melodik, Variationen
• Antworten auf kindliche Vokalisationen – Dialogartiges Abwechseln, Duettieren – Nachahmen mit Lauten und Worten
Intuitive elterliche Didaktik IV (PAPOUSEK)
• Verstehen kindlicher Vokalisationen – „Auffangen“ und Verstehen – „Als-ob-Konversation“ – Doppelrolle – Empathie
Entstehung von SES im sozialen Kontext Risiko Reaktion der Eltern Soziale Folgen
„Late-Talker“ (bei U7 13-20 %, 50% holen bis 3. Geb. auf: „Late bloomer“)
Verunsicherung, Sorge, Angst, negative Sicht des Kindes Änderungen in der Kommunikation (Verlust der elterlichen intuitiven Didaktik) und Interaktion Individuelle SES, Verhaltensprobleme, Folgen Schulprobleme etc.
Frühe Erkennung und Intervention vermeidet Behinderung! (WARD 1999) • Elternbefragung im Rahmen der Gesundheitsvorsorge: Erfassung von Risikokindern (29%) im 1. Lj. (Ø 9.3 Mon.) • 7 Fragen (6 zur Hörentwicklung, eine zur 2. Lallphase) • Risikokinder: 2 Monate Rückstand • • • •
Einsatz von Sprachtherapeuten in der Familie Ø 4 Besuche = ca. 280 Minuten Betreuung im 2. Lebensj. Elternaktivitäten: Ø 20 – 30 Minuten täglich Programmelemente: Hörspiele, Kinderreime und –lieder, Prosodie, Dialogik etc. (WILSTAAR-Programm)
Ungünstige Umgebungsvariabeln (WARD) • • • • • •
Ausgeprägter Hintergrundlärm Fluktuierende Hörprobleme Eltern-Kind-Sprache ungünstig Qualitativ armer bzw. reduzierter Input Reduzierte Umgebungsanreize Wahrnehmungsabwehr
Frühintervention vermeidet Behinderung! Untersuchung im 4. Lebensjahr
Therapiegruppe
Kontrollgruppe
Sprachentwicklungsrückstände
5%
85 %
Spezialkindergarten „Sprache„
5%
24 %
Sprachtherapie
0%
30 %
Summe Therapie / Spezialkindergarten
5%
54 %
Kein adäquater Input = Schädigung • Frühe Intervention bei Risikokindern: Anstöße für die linguistische Strukturanalyse im kindlichen Gehirn innerhalb des kritischen Zeitfensters • Inaktivierung = Schädigung
Prävention durch Vernetzung
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Prävention von SES im Landkreis Leer: „Baby-Talk“ Jugendamt
Hebamme
Risiko-Kind
Kinderarzt „Baby-Talk“ Logopädin
Bücherei
Kinderklinik
Sprachheilberatung Gesundheitsamt Fachberatung HuS
Hausarzt
Erfassung bei U 5 oder U6
Diskussion • Spracherwerb geschieht im sozialen Geschehen, im Dialog, in der Interaktion • Risiken für eine SES können durch Defizite in der sozialen Interaktion bereits im ersten Lebensjahr entstehen • Präventive Angebote können Risiken minimieren und SES vermeiden
Danke für‘s Zuhören!