Szenarien einer Gesellschaft im demografischen Wandel Der neue Lauf des Lebens

Wissen Szenarien einer Gesellschaft im demografischen Wandel Der neue Lauf des Lebens Leopold Rosenmayr em. Universitätsprofessor für Soziologie un...
Author: Karin Michel
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Szenarien einer Gesellschaft im demografischen Wandel

Der neue Lauf des Lebens

Leopold Rosenmayr em. Universitätsprofessor für Soziologie und Sozialphilosophie, Universität Wien

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Leopold Rosenmayr Donau-Universität Krems, photocase.com

„Den Kopf in den Sand zu stecken“, sagte Vladimir Spidla, EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit und früherer tschechischer Ministerpräsident, „das schädigt die Augen“. Er sagte dies vor mehr als 1000 geladenen Gästen am 14. September 2006 in Gütersloh auf der abschließenden Festversammlung der Tagung der deutschen Bertelsmannstiftung zum Thema „Älter werden − aktiv bleiben“. Wegen der starken Zunahme des Altenanteils, steigender Ausgaben für Bildung und Gesundheit bei gleichzeitigem Rückgang der jüngeren Bevölkerung, mahnte der Redner dringend anstehende Reformen der Rolle und Berufsfähigkeit Älterer in Wirtschaft und Gesellschaft Europas ein.

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In der Tat: Ein neues Szenario des Lebenslaufs, beruhend auf verstärkter Fortbildung und Umschulung, Teilzeitbeschäftigung und flexiblen Pensionszeiten, ist in einem notwendigerweise verlängerten Arbeitsleben eine Forderung aus der europäischen Forschung. Und die Gesundheitspolitik muss mit diesen Ansprüchen einhergehen und sie ergänzen. Mit der Umschichtung von der Frühpension auf die Invaliditätsrente werden keine Probleme gelöst. Natürlich: Änderungen machen Angst. Sie verscheuchen vielleicht Wähler. Allerdings: Wenn man den Kopf in den Sand steckt, wird man blind für Gegenwart und Zukunft. Deshalb die Devise: Kopf hoch, Augen auf! >> Mehr Selbstverantwortung Wie können die individuelle und die politische Kompetenz in der humanen Daseinsbewältigung mit der Lebensverlängerung Schritt halten? Änderung, „Verwandlung“, mehrere „Häutungen“ im Leben sind jetzt schon notwendig. So werden Jung und Alt die Quote von Selbstsorge und Selbstverantwortung erhöhen müssen. In Österreich, um ein Beispiel zu nennen, verdoppelt sich die Anzahl der allein lebenden Personen über 60 Jahre bis 2050 auf fast eine Million Menschen. Die

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>>Die Kapazität> Familie à la carte Innerhalb der Familien wächst das Bedürfnis nach individuellem Eigenleben und emotionaler Wahl der Beziehungen. Es verstärkt sich die Tendenz zur „Familie à la carte“. Es gab sie im Prinzip ja immer. Man hatte einen Lieblingsonkel oder eine Lieblingsgroßmutter. Im Zeitalter der Individualisierung wird eine solche Selektivität innerhalb der „Familie à la carte“ jedoch zur Lebensform. Die Kapazität der Familie, Hochbetagten Hilfe im Alltag zu leisten oder sie zu pflegen, wird künftig stark zurückgehen. Die Frauen, im mittleren Alter oder selber schon über 65 Jahre alt, werden durch ihre Identifizierung mit dem Beruf, oder überhaupt durch mehr Eigen-Sinn, nicht mehr so selbstverständlich und unbezahlt für soziale Dienstleistungen zur Verfügung stehen wie früher.

Auf den Punkt gebracht Wissenschaftler, Manager, Arbeitnehmervertreter, Politiker – alle sind gefragt, inklusive natürlich der Menschen, die die vorhersehbare demografische Entwicklung in Europa mit offenen Augen wahrnehmen. Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich, der Nachwuchs bleibt aus, die Gesellschaft muss sich neu strukturieren. Mehr Mut, mehr Gerechtigkeit für alle Generationen fordert der Autor ein, die Realität verbietet das Festhalten an alten Modellen. Ein Schritt, den künftigen Herausforderungen begegnen zu können: gezieltes Training für Kopf und Körper, um bis in die 70er im mittleren Altern zu bleiben.

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Generation Alter Ob in Wirtschaft, Gesellschaft, Familie oder Gesundheitswesen – die Zukunft verlangt nach Lösungen für die Integration der „aktiven Alten“, die alle Lebensbereiche einschließen.

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>> Gemeinschaft ist gefragt lntegrative Bemühungen von Gruppen, Religionsgemeinschaften, Vereinen und Nachbarschaften bedürfen der Hilfe und Förderung durch Gemeinden und Länder. Die Zivilgesellschaft ist herausgefordert. Nur dann kann man die Großheime mit Hunderten von Alten abbauen und vielleicht sogar auflösen. Neuerungen in der Forschungskooperation sind notwendig. Jedes europäische Land sollte über ein multidisziplinär besetztes nationales Forschungsinstitut zu „Altern, Generationen und Lebensentwicklung“ verfügen. Es kann von einer Stiftung oder von einer öffentlich geförderten aber unabhängigen Einrichtung getragen werden. In Deutschland gibt es vier solcher Institute, in Österreich keines.

>> Neue Ideen Es müsste politische Unabhängigkeit zur Gewinnung von Ergebnissen und zur Äußerung von Urteilen und Vorschlägen für ein solches Institut gewährleistet sein. Sie sollten von der Gesundheitspolitik zur Bildungs- und Fortbildungspolitik reichen und vor allem neue Ideen in die Welt setzen. Es genügt nicht mehr, dort oder da mehr Geld für Pensionen auszugeben. Das ist auf die Dauer nicht leistbar und belastet zu sehr die jüngeren Generationen. Die „Schlüssel-Variable“, der entscheidende Faktor in den Voraussetzungen für Altern und Lebensentwicklung, ist nach dem jetzigen Stand der Forschung die Bildung. Fast alles hängt von der Ermöglichung des Lernens ab. Die Prävention, die Rehabilitation, die Grundeinstellungen zum Körper, sie sind bedingt durch die Lernfähigkeit.

Leopold Rosenmayr ist emeritierter Universitätsprofessor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der gemeinsam mit Prim. Prof. Franz Böhmer herausgegebene multidisziplinäre Sammelband „Hoffnung Alter – Forschung, Theorie, Praxis“, Wiener Universitätsverlag, ist eben in 2. Auflage erschienen. Im Januar 2007 erscheint das kulturvergleichende Werk von Prof. Rosenmayr „Schöpferisch Altern – eine Philosophie des Lebens“, Lit-Verlag Berlin-Wien. >> mehr: http://gerda.univie.ac.at

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„Wenn man den Kopf in den Sand steckt, wird man blind für Gegenwart und Zukunft.“

Der Begriff „Altern“ wird aufgrund medizinischer aber auch anderer Formen von Intervention und Selbstintervention, durch „Lebensentwicklung“ und „alternsbegleitende Daseinsgestaltung“ zu ergänzen sein. Biologie und Kultur treten auseinander. Die Letztere formt die Erstere. Diese Entwicklung zog sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte.

Die Lebenschancen wachsen; nimmt auch unsere Intelligenz zu, unser Verständnis, sie zu nutzen?

>> Training für Kopf & Körper Die in die weiterhin weltweit zunehmende Lebenserwartung vorausschauenden Perspektiven werden mehr Raum gewinnen müssen. Wenn man mit 45 in den hoch entwickelten Ländern die Hälfte des Lebens noch vor sich hat, dann ist Umplanung, dann ist eine Neuplanung von eigenen Interessen und beruflichen oder persönlichen Bestrebungen realistisch. Man muss nur den eigenen „inneren Menschen“ für die Umstellungen gewinnen und den Körper wie einen Partner durch bewusste Ernährung, aktivierende Bewegung und ein gutes Quantum Training andauernd und regelmäßig umsorgen. Und den Kopf in das Training einbeziehen.

>> Frühestens mit 80 „alt“ Die neue innere Verteilung von Arbeit, Schulung, Weiterbildung, die Mentalitätsänderungen bei Firmen, Arbeitgeber- und ArbeitnehmerVertretungen sind bei der unvermindert wachsenden Langlebigkeit notwendige Prozesse. Sie sind erforderlich, um die Produktion zu stärken und um einen breiten Wohlstand zu ermöglichen. Durch Verbesserung der Gesundheit und zum Teil schon wirksam werdende Anhebung der Bildung kann man von einer Verlängerung des mittleren Alters und seiner Kompetenzen bis etwa zum Ende des siebten Lebensjahrzehnts sprechen.

Der Alternsbegriff wird sich aber auch insofern spalten, als der Anteil der Hoch- und Höchstbetagten überproportional zunehmen wird, in Österreich auf etwa eine Million über 80-Jährige 2050. Dadurch steigt auch enorm die Quote derer, die zwar im engeren Sinn des Wortes nicht wie Kranke „gepflegt“, aber bei ihrer Lebensführung im Alltag regelmäßig und oft in hohem Maße unterstützt werden müssen.

Der große Umdenkprozess wird auf dem Gebiet der Lebens-Arbeitszeit, nicht nur bezüglich ihrer Länge, sondern auch der Strukturveränderungen, einsetzen müssen.

Wie kann dem weiterhin anhaltenden Trend, so früh als möglich in Pension zu gehen, Einhalt geboten werden? Verschiedene drastische Formen von Begünstigungen bei langer Lebensarbeitszeit und Einschränkung bei verkürzter, also individuell steuerbare, Entscheidungen sind gefordert, wenn wir im Schnitt jedes Jahrzehnt zweieinhalb Jahre Lebenserwartung in Österreich hinzugewinnen. Auch die Republik Österreich hat die in Lissabon beschlossene Forderung

Gesundheitsmanagement Der Universitätslehrgang Gesundheitsmanagement (Abschluss: Master of Science, MSc, viersemestrig bzw. Akademischer Health and Social Services Manager, dreisemestrig, jeweils berufsbegleitend) bietet eine praxisnahe Ausbildung, die auf Führungspositionen im Gesundheitswesen vorbereitet. Neben Managementkompetenz werden Fachkompetenz, Soziale Kompetenz, Methodenkompetenz und Rechtskompetenz vermittelt. Lehrveranstaltungen auf einem international geforderten Ausbildungsniveau sollen zu unternehmerischem Denken anregen. Beginn: 17. Februar 2007.

Information

www.donau-uni.ac.at/de/studium/gesundheitsmanagement

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Jedes europäische Land sollte über ein multidisziplinär besetztes nationales Forschungsinstitut zu >>Altern, Generationen und Lebensentwicklung> Mehr Mut! Der deutsche SPD-Vizekanzler Franz Müntefering hat vor wenigen Wochen das Motto ausgegeben: „Mehr Beschäftigungschancen für Ältere, das ist eine der politischen Hauptaufgaben, die wir erfüllen müssen.“ Innovationskraft und Entwicklungsfähigkeit seien eine Frage der Kultur und nicht des Alters, fügte er hinzu. Welcher Politiker wird in Österreich solche Töne wagen?

>> Generationengerechtigkeit Die Bereitschaft der Sozialpartner zu einem Mentalitätswandel auf eine bildungsgestützte Anhebung des Pensionsalters hin – bei Berücksichtigung aller in der Tat kranken Menschen – wird ein zentrales soziales Programm für das 21. Jahrhundert sein müssen. Kann man auch steuerliche Anreize schaffen? Ist es „generationengerecht“, um einen neuen Terminus der Sozialwissenschaften zu verwenden, wenn über 75- oder 80-Jährige als so genannte „neue Selbständige“ denselben Steuersatz für ihre Einkünfte entrichten müssen wie 50-Jährige, bzw. die 50-Jährigen mit einem goldenen Handschlag in den vom Steuerzahler mitfinanzierten Ruhestand verschwinden? Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, den Markt differenziert zu beschicken, das Sozialsystem, die Pensionsregelungen und die Besteuerung hinken einer innovativen Lebensgestaltung nach. Neue Vorschläge tun not – hier sind Kooperationen zwischen Wissenschaftlern, Managern und Arbeitnehmervertretern im Interesse aller gefragt!

Literatur und Links Leopold Rosenmayr, Schöpferisch Altern: eine Philosophie des Lebens, Lit-Verlag, Berlin-Wien, 2006 Leopold Rosenmayr , Hoffnung Alter. Forschung – Theorie – Praxis, WUV Universitätsverlag, Wien, 2006 14

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