Stadtentwicklung Segregationsforschung – quo vadis?

Prof. Dr. Jens S. Dangschat

Segregation(sforschung) – quo vadis?

Warum eigentlich Segregationsforschung? Seit Beginn der Soziologie waren Sozialwissenschaftler daran interessiert zu analysieren, wie sich der Zusammenhalt von (Stadt-)Gesellschaften im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung entwickelt. Städte wuchsen vor allem durch Zuwanderungen von Menschen unterschiedlicher sozialer Lagen, Kulturen und Mentalitäten. Wichtig hierbei, so schien es den Klassikern Max Weber und Georg Simmel, ist die Gruppenbildung, die Identifikation mit dem „Wir“ und die Abgrenzung zu dem und den „Anderen“, was in den rasch wachsenden Industriestädten vor allem dadurch sichtbar wurde, wo und in welcher Nähe von wem man wohnte. Die räumlichen Schwerpunkte von Menschen ähnlicher Herkunft, sozialer Lage und von Wertvorstellungen wurden daher als soziale Schließungsprozesse gegenüber „den Anderen“ interpretiert.

Dieses Phänomen stand im Mittelpunkt der Überlegungen von Robert E. Park, der als Begründer der Stadtsoziologie und des Segregationskonzepts gilt (Chicagoer Schule). Er ging davon aus, dass sich die Ungleichheit und Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre Gruppenbildungen, Öffnungs- und Abschließungsprozesse darin zum Ausdruck kommen, wie der städtische Raum genutzt wird. Aus der Vielfalt der Aspekte der Raumnutzung wurde aus zwei Gründen der Wohnstandort gewählt: Erstens – ganz pragmatisch – verfügte die Stadtverwaltung von Chicago über entsprechende kleinräumig aufbereitete Statistiken und war selbst daran interessiert, die Stadtentwicklung und die Integration der Stadtbevölkerung zu steuern. Zweitens war damals das Wohnquartier der wichtigste Bezugspunkt des Lebens; in der Nachbarschaft wurden die Regeln des Zusammenlebens „in der Fremde“ aufgestellt und überwacht (moral order). Hier waren also die Schließungsprozesse unmittelbar abzulesen, womit einerseits die Herkunftswerte abgesichert, andererseits die Öffnungsprozesse zur Gesamtstadt geregelt wurden. So konnte sowohl das „Innenleben“ der communities (natural area) vor Ort analysiert als auch die gesellschaftliche Position der jeweiligen Gruppe in der jeweiligen Standort- und Ausstattungsqualität der Wohngebiete abgelesen werden. So entstanden das Segregations- und das Konzentrationskonzept. Das Ausmaß der residenziellen Segregation, d.h. der ungleichen Verteilung der Wohnstandorte sozialer Gruppen in einer Stadt, gab Hinweise auf das Ausmaß der gesellschaftlichen 126

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Integration, indem die räumliche Distanz zwischen den Wohnstandorten der sozialen Gruppen als soziale Distanz interpretiert wurde. Dieses wurde seit dem Ende der 1940er Jahre mit verschiedenen Segregationsindices quantitativ als städtischer Durchschnittswert berechnet (vgl. Blasius 1988). Die räumlichen Konzentrationen der Wohnstandorte einzelner sozialer Gruppen in den ‚natural areas‘ wurden überwiegend im Rahmen qualitativer Fallstudien analysiert. Hierbei wurde nach der „inneren Logik des Zusammenhalts“ gesucht, der jeweiligen ‚moral order‘ – in den 1930er Jahren wurden hieraus die methodischen Zugänge der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus entwickelt. In diesen Studien ging es um das Verstehen der kulturellen Codes, der Wertvorstellungen und Zielsetzungen der sozialen Gruppen – zum einen dahingehend, wie das Leben im Quartier organisiert wird, zum anderen aber auch hinsichtlich der Aufstiegs- und Integrationserwartungen und -haltungen. In diesem Zusammenhang hat Robert E. Park mit dem ‚race-relation-cycle‘ auch die sozialen Aufstiegs- und Integrationsmöglichkeiten der Zuwanderungsgruppen entwickelt. Danach dauere es etwa zwei bis drei Generationen, bis die Zugewanderten über den Arbeitsmarkt Ein- und Aufstiegschancen genutzt haben, was die Voraussetzung dafür ist, die sozial homogenen Viertel zu verlassen und in gemischtere und vielfältigere Viertel umzuziehen. Das bedeutet, dass er – wie auch andere – eine Konzentration unter Gleichen und damit eine segregierte Stadt zumindest dann für sinnvoll hielt, wenn diese ethnischen Quartiere als „Trainingslager“ für die Aufnahmegesellschaft und als Durchgangsstationen fungieren.

Das (notwendige) Ende der Segregationsforschung Die Debatte um „Segregation“ ist in den bundesdeutschen Städten vor dem Hintergrund einer nicht zu übersehenden neuen Spreizung der Einkommen und Vermögen sowie der ungleichen Entwicklung städtischer Teilgebiete wieder sehr viel intensiver, aber eben auch normativer aufgeladen geworden. Während kommunale Politik und Verwaltung nahezu durchgängig Segregation als integrationsfeindlich ansehen und stattdessen eine „soziale Mischung“ propagieren, sind die sozialwissenschaftlichen Positionen – die bis vor circa zehn Jahren in die gleiche Richtung wiesen – anfangs heterogener, mittlerweile jedoch eindeutiger geworden: Die Segregation, genauer: Die räumliche Konzentration der Wohnstandorte von sozialen Gruppen hat nur

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unter sehr spezifischen Bedingungen einen integrationshemmenden Einfluss.1 Erst wenn ❏ eine statusniedrige soziale Lage (keinen oder einen niedrigen Bildungsabschluss, mangelnde Kenntnis der Landessprache, Arbeitslosigkeit, niedriges und unregelmäßiges Einkommen) ❏ mit einem fremden ethnischen Status (fremde Kultur, andere religiöse Praktiken, andere Rollen und soziale Umgangsformen) ❏ in einem zusätzlich benachteiligenden Wohngebiet (schlechte Wohnungsausstattung, fehlende oder schlechte Infrastruktur – insbesondere Sozialisationsinstanzen wie Kindergärten, Schulen, Volkshoch- und Elternschulen, Bibliotheken –, schlechte Erreichbarkeit, hohe Immissionen, schlechtes Image etc.) zusammentreffen, wirken sich solche Gebiete als „Sackgasse“ und damit als „Falle“ aus (vgl. Dangschat 2008). Ob eine räumliche Konzentration sozialer Gruppen in diesem Sinne „problematisch“ ist, lässt sich aus Anteilswerten beispielsweise der Menschen mit Migrationshintergrund allein nicht ablesen. Die wissenschaftlichen Versuche, die Effekte der Nachbarschaft auf (des)integratives Verhalten zu ermitteln, kommen eher zu ernüchternden Ergebnissen: Die negativen Einflüsse sind sehr gering, wenn sie sich überhaupt nachweisen lassen; mehr noch, Atkinson & Kintrea (2004) kommen nach einer Analyse unterschiedlicher Studien im angelsächsischen Sprachraum zu dem Schluss, dass die Tatsache, ob (negativ wirkende) Nachbarschaftseffekte ermittelt werden können, von den theoretischen Annahmen, den vorhandenen Daten und den gewählten Methoden abhängen (vgl. zu weiteren Beispielen aus Deutschland den Beitrag von Häußermann in diesem Heft). Es kommt daher weniger auf die strukturelle Zusammensetzung von Bewohnern an (Kompositionseffekt), sondern vor allem darauf, wie die unterschiedlichen Gruppen vor Ort agieren, wie sie sich wechselseitig anerkennen, ob sie das Gefühl haben, in den wesentlichen Bereichen des Alltags integriert zu sein etc.

❏ die Werte sind stark abhängig von der Größe der Teilgebiete und der Größe der betrachteten sozialen Gruppe, was eine vergleichende Segregationsforschung unsinnig macht, ❏ die Segregationswerte werden häufig mathematisch falsch (Wert ist eine Aussage für den Anteil der Gruppe A, die umziehen müsste …) und hochgradig normativ interpretiert (… damit eine Gleichverteilung erreicht wird), ❏ im Mittelpunkt stehen die relativen Lagen der Wohnstandorte als Interpretation der sozialen Distanz sozialer Gruppen, was voraussetzt, dass der Wohnstandort die zentrale räumliche Integrations- und Distinktionseinheit ist; das wird in dem Maße fragwürdig, wie Informationen, soziale Netze und Aktionsräume nicht (mehr) an das Wohnquartier gebunden sind. ❏ Schließlich nimmt diese Art von Segregationsforschung Erkenntnisse der Ungleichheitsforschung und Handlungstheorie nicht wahr: Erstere geht hinsichtlich der sozialen Positionierungen längst nicht mehr von einzelnen Merkmalen sozialer Ungleichheit aus (wie Schicht, Alter oder Geschlecht), sondern von Syndromen mehrerer Merkmalsausprägungen sozialer Ungleichheit. In der Handlungstheorie hat sich längst die Vorstellung von mehreren relevanten Ebenen durchgesetzt, die vermittelnd zwischen den Struktur- und Handlungsmerkmalen stehen (s. Abbildung 2). So haben Heitmeyer & Anhut (2000) deutlich herausgearbeitet, dass es bei der Auswirkung der Ausländeranteile auf die (Des-) Integration von anderen Ethnien auf die vermittelnden Faktoren des politischen und sozialen Klimas, der IntergruppenKontakte sowie der gegenseitigen Anerkennungsmuster in unterschiedlich gelagerten Konflikten ankommt. Der aus der Marktwirtschaft stammende Ansatz von Sinus Sociovision2 (s. den Beitrag von Beck und Perry in diesem Heft)

Damit ist eindeutig: Auf die traditionelle Segregationsforschung kann verzichtet werden, weil sie fragwürdige Ergebnisse liefert und keine Handlungsrelevanz hat. An der traditionellen Segregationsforschung, die sich im Übrigen von den ursprünglichen Annahmen Parks deutlich entfernt hat, gibt es eine Reihe von Kritikpunkten: ❏ der gemessene Indexwert ist eine Mittelwertaussage, die nichts über die Art der Abweichung einzelner Quartiere vom städtischen Durchschnitt aussagt,

Abb. 1: Segregationsforschung – quo vadis? (Quelle: www.flickr.com)

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Spätestens an dieser Stelle müsste eine Aussage stehen, was mit „Integration“ in diesem Fall überhaupt gemeint ist. Ich denke, dass damit vor allem gemeint ist, dass die Gruppen sich in der Lage fühlen, in zivilen Parallelgesellschaften zu leben, sich zumindest vorübergehend einen gemeinsamen Ort teilen und sich in ihrem So-Sein gegenseitig weder erschrecken und verängstigen noch diskriminieren. Das ist sicherlich eine sehr reduzierte Sichtweise, erscheint mir aber hierfür dennoch ausreichend, da die sozial-räumlichen Phänomene der Segregation lediglich sichtbare Erscheinungsformen von (Des-)Integration in anderen Dimensionen sind, resp. die Ursachen und ‚driving forces‘ für (Des-)Integration auf der Makro-Ebene und daher eher außerhalb des Quartiers liegen.

Dieser Ansatz blendet jedoch sowohl die Ober- als auch die Unterschicht aus, gibt also nur einen Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Realität wieder. Weiterhin wird bei der Milieu-Konstruktion der traditionelle und den Strukturmerkmalen zuzuordnende Schichtungsaspekt definitorisch einem bestimmten Abschnitt in der Werte-/ Modernisierungsskala zugeordnet; eine Unabhängigkeit von sozialer Schicht und sozialem Milieu würde bedeuten, dass man den statistischen Zusammenhang und dessen Wandel – der an verschiedenen Teilen der Gesellschaft enger oder weiter sein resp. unterschiedlich dynamisch sein dürfte – ermitteln könnte. Schließlich stellt die Ermittlung der Milieustruktur ein lang erarbeitetes Betriebskapital des Unternehmens dar, entsprechend „undurchsichtig“ ist der Zugang für die Anwender in Wissenschaft und Praxis.

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setzt sich damit auseinander, dass analytisch zwischen den Strukturdaten und den (des)integrativen Handlungsweisen eine soziokulturelle Ebene der tiefer sitzenden Wertvorstellungen und Lebensentwürfe notwendig ist, um „statistische Zwillinge“ sinnvoll zu bewerten, d.h. Menschen, die trotz gemeinsamer Ausprägungen von Strukturdaten unterschiedliche Einstellungsund Wertemuster und daher unterschiedliche Wahrnehmungen, Bewertungen konkreter sozial-räumlicher Settings und daher auch unterschiedliche Handlungsweisen in ihnen haben. Dieser Ansatz entspricht der Theorie des französischen Soziologen Bourdieu und wurde mehrfach auf Segregationsanalysen angewendet (vgl. Bourdieu 1991, Dangschat 2004, 2007a, 2007b). Im Ergebnis steht, dass die Analysen zum Zusammenhang aus (des)integrativem Verhalten und Nachbarschaftseffekten (Kompositionseffekte, Struktureffekte der Nachbarschaft wie Bau- und Infrastruktur, Lage und Erreichbarkeit sowie lokal gebundene Kulturen und feststehende Imagebilder – „Habitus des Ortes“) vorerst nur in Fallstudien, d.h. anhand von Konzentrationen ermittelt werden können, wobei eine Triangulation von Daten vorzunehmen ist.

Von der Notwendigkeit von Sozialraumanalysen Um also der Frage nachgehen zu können, wie unterschiedliche Elemente sozialer Ungleichheit miteinander verwoben sind (die überwiegende Aufmerksamkeit gilt bei Segregationsüberlegungen nahezu ausschließlich dem Status der Migration/des Migrationshintergrundes3) und wie diese sich möglicherweise im Zusammenleben in spezifischen sozial-räumlichen Settings (des)integrationsfördernd auswirken, setzt auch einen veränderten Blick auf „den Raum“ voraus, der nicht länger administrativ begrenzt sowie mit Objekten und Personen „angefüllt“ als Container verstanden werden kann, sondern als ein relationaler Raum, den soziale Gruppen als Ressource nutzen und in Wechselwirkung zueinander (re)konstruieren und entsprechend handeln (‚spacing‘, vgl. Löw 2000). Der Raum wird aber auch hergestellt, materiell (Wohnbau- und Infrastruktur, städtebauliche und architektonische Qualität, Erreichbarkeiten – mehr oder weniger belastet) und ideologisch (Images von Großsiedlungen oder innerstädtischem Altbaubestand, Normen des sozial geförderten Wohnungsbaus und der infrastrukturellen Ausstattung, des „guten Wohnens“ und der sozialen Mischung). Das bedeutet, dass den Stadtvierteln Funktionen zugeschrieben werden, hinter welchen mächtige Wirkungsgefüge stecken, die Orte zu Durchgangs- oder Auffangstationen resp. zu Orten städtischer sozialer Vielfalt oder einer sozialen Einfalt machen (gated communities, ‚gentrified areas‘ oder „Themenwohnen“ wie autofreie Siedlungen, Frauenwerkstätten und Integrationswohnen). 3

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Dieser Begriff klingt enorm ‚political correct‘, bringt jedoch eher Hilflosigkeit zum Ausdruck. Man reagiert letztlich darauf, dass aufgrund von Einbürgerungen selektive Sozialisationseffekte resp. Diskriminierungsformen nicht unwirksam werden; da aber die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in relevanten Fragestellungen eine enorme Binnen-Heterogenität aufweisen dürften, ist mit der Verwendung des neuen Begriffes kaum ein analytischer Fortschritt zu erzielen.

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Entsprechend der Mehrebenen-Analysen geht man in der sozialwissenschaftlichen Raumtheorie auch von drei Ebenen aus: ❏ Die Makroebene, von der aus der physische Raum materiell und ideologisch hergestellt wird und in welcher Gruppenzuweisungen beispielsweise in Wohnungsmarktsegmente erfolgen (Grundlage von Segregations- und Konzentrationsmustern), ❏ die Mesoebene, auf der die Gruppenschließungsprozesse ablaufen, d.h. die Ebene konkreter Orte (am ehesten noch kombinierbar mit den traditionellen Raumvorstellungen) in ihrer materiell-physischen Erscheinungsform, die Komposition der sozialen Akteure sowie die übergreifende, länger andauernde Symbolik, die dem Ort zugeschrieben wird, und ❏ die Mikroebene als der raumbezogenen Handlungsebene, wobei orts- und zeitabhängige Konstruktionen der sich jeweils rasch ändernden Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster einzelner Menschen stattfinden (vgl. Dangschat 2007c). Begreift man nun die (Des-)Integration als an jeweils spezifische Orte gebundene relationale und reflexive soziale Prozesse zwischen unterschiedlichen Menschen, die einander zu sozialen Gruppen des „Wir“ und „die Anderen“ zusammenfügen, dann kann mit einem solchen Ansatz das komplexe Gefüge sozialer Prozesse an Orten auf ihre (Des-)Integrationskraft untersucht werden, die aufgrund der dortigen Konzentration von Wohnstandorten von Menschen mit spezifischen Ausprägungen von Strukturmerkmalen als „problematisch“ eingestuft werden. Das allerdings setzt voraus – was mittlerweile aus der aktuellen Stadtsoziologie bezweifelt wird – dass der Wohnstandort immer noch der entscheidende Ort für Sozialisationsleistungen ist, an dem Toleranz und Offenheit als Voraussetzung für das Ertragen resp. das Lieben gesellschaftlicher Heterogenität eingeübt wird. Aus der Stadtsoziologie kommen hier eher Bedenken, ob der Wohnort von (homogenen) Gruppen überhaupt noch relevant ist, da sich die Mobilitätsmuster von Informationen und Menschen und damit die Muster der sozialen Kontakte erheblich ausgeweitet haben.

Nicht die Lage der Wohnung, sondern der Öffentliche Raum entscheidet über Integration Ob und welche relative Bedeutung die Wohnung und ihr unmittelbares Wohnumfeld für die Rekonstruktion des Alltages hat, unterscheidet sich zwischen sozialen Gruppen nach ihrer sozialen Lage (Status und Lebenszyklus) und ihrem sozialen Milieu (was zusammengenommen den Lebensstil prägt). Für die „neuen kreativen Milieus“ gibt es schon erste Ansätze, den Arbeitsort als Lebensmittelpunkt zu betrachten. Dahinter steht die These, dass die „kreative Arbeit“ aufgrund ihrer Dauer und des häufigen Überlagerns und Verschmelzens mit Freizeit identitätsstiftend ist (culturepreneur, Lange 2005). Weiter wird davon ausgegangen, dass diese Milieus spezifische Orte aufsuchen und formen, um ihre spezifischen Lebensgewohnheiten auszuleben, aber auch,

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Abb. 2: Ebenen zwischen Struktur- und Handlungsmerkmalen

um innovative Produkte zu erzeugen. Das ist insofern segregationsrelevant, weil in diesen Gruppen die Kreativität durch das Zusammenspiel möglichst unterschiedlicher Denktraditionen erzeugt wird (diversity management). Die Frage ist, welche Bedingungen solche Orte erfüllen müssen, wie diese Orte weiter entwickelt werden und wie eine neue „Kultur des Vertrauens“ entstehen kann, aus der heraus nicht nur ‚creative industries‘, sondern auch eine kreative Zivilgesellschaft entstehen kann (vgl. Frey 2008). Es ist zudem überraschend, dass dem Öffentlichen Raum in der Segregations-/Integrationsforschung bislang so wenig Beachtung geschenkt wurde4, ist doch der Öffentliche Raum der Ort, an dem die Sichtbarkeit des Fremden in besonderer Weise wahrgenommen wird, ist er doch zudem die Bühne, auf der sich die sozialen Gruppen zeigen; es ist der Raum, der besetzt und eingenommen wird, ohne einen Eigentumstitel zu haben. Gerade in gemischten Gebieten zeigen sich die sozialen Gruppen, nehmen einander wahr und schließen sich nicht hinter den Wohnungstüren ein. Ein großer Teil der Menschen mit Zuwanderungshintergrund ist es gewohnt, den Öffentlichen Raum viel selbstverständlicher zu besetzen, sich dort zu treffen 4

Natürlich ist dieser Umstand pragmatisch erklärbar, so lange man kleinräumige Statistiken über die Belegung und die Ausstattung von Wohnungen hat und kräftig an die Erklärungskraft der wenigen Strukturdaten über die Wohnbevölkerung glaubt.

und zu verabreden, einen Teil des „privaten Wohnens“ nach draußen zu verlagern – das gilt insbesondere dann, wenn die Wohnungen überbelegt und schlecht ausgestattet sind, wenn die Menschen viel freie Zeit haben und wenn sie männlich sind. Ihre Wahrnehmbarkeit über äußere Merkmale und expressiveren Verhaltensweisen führt jedoch zu Verunsicherungen und Ängsten in den eher konservativen Milieus der Aufnahmegesellschaft (einschließlich bereits recht gut integrierter Menschen mit Zuwanderungshintergrund). Dies führt zum einen dazu, dass die Zahl und der Anteil der Fremden überschätzt werden („angstgeweitete Pupillen“) und sehr häufig zu Abwehr-Reaktionen einer „überforderten Nachbarschaft“. Betrachtet man die Optionen der verunsicherten Alteingesessenen, so bleiben entweder ❏ Ausweich-Strategien [Fortzug (1a) und Rückzug in die eigene Lebenswelt (1b)], ❏ Protest-Strategien [mehr oder weniger geäußerte Fremdenfeindlichkeit (2a), die Suche nach Sündenböcken, denen die Schuld an allgemeiner Verschlechterung zugeschrieben werden kann (2b)], oder aber ❏ Arrangements mit „den Fremden“ in (nahezu) berührungslosen, aber zivilisierten Parallelwelten (3a) und das Lernen voneinander (3b).

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In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass es noch immer einige Sozialwissenschaftler gibt, welche die Meinung der Mehrzahl der Kommunalpolitiker und Verwaltungsbeschäftigten teilen, dass die Kontakte unter Fremden nur nach dem Muster 3b bearbeitet werden. Integration im Öffentlichen Raum soll hier heißen, dass alle Gruppen die Möglichkeit haben, den Öffentlichen Raum – betrachtet als System von Plätzen, Parks, Höfen und Straßen – in einer Weise zu nutzen, dass sie das Gefühl haben, den Abstand zu „den Anderen“ weitgehend selbst steuern können (vgl. Breitfuss et al. 2004). Wie Beobachtungen im Öffentlichen Raum Wiens gezeigt haben, weichen sich potenziell störende soziale Gruppen im Tagesverlauf in der Regel durch eine flexible Nutzung der Raumsysteme eher aus, als konfrontativ und demonstrativ Orte zu besetzen.

Was ist zu tun? Segregationsforschung sollte also nicht mehr in traditioneller Weise fortgeführt werden. Aus Anteilen von Bevölkerungsgruppen kann weder eine gelingende Integration erwartet resp. eine misslingende Integration befürchtet werden. Zweitens ist die ausschließliche Orientierung am Wohnort zur Beschreibung sozial-räumlicher Integration/Desintegration zumindest fragwürdiger geworden. Stattdessen bietet sich der Öffentliche Raum mit den dort gegebenen flexiblen Formen der Raumnutzung und -aneignungen an. Diesen Raum gilt es, als komplexes relationales soziales Gefüge zu verstehen sowie die Interessen und Handlungsweisen sozialer Gruppen im Raum, deren Symbolik und die des gebauten Raumes zu deuten. Will man die soziale Integration unterstützen, sollte es das Ziel sein, das lokale, politische und soziale Klima hinsichtlich der Toleranz von Vielfalt zu stärken – gegenwärtig geschieht jedoch eher das Gegenteil aufgrund kommunaler Entscheidungen resp. der Präferenzen des Immobiliensektors. Eine Stärkung erreicht man durch quartiersbezogene Diskurse und Maßnahmen, welche die unterschiedlichen Gruppen einbeziehen; die Sozialwissenschaft nennt dies die „schwachen Verbindungen“ stärken und „Brücken zu bauen“ zwischen den sozialen Gruppen (vgl. Madanipour 2005). Da sowohl den Kommunen als auch dem Immobiliensektor ansonsten wenige Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Kohäsion der Stadtgesellschaften zu stärken, sollten sie dies wenigstens bewusst und intensiv tun.

Blasius, Jörg (1988): Indizes der Segregation. In: J. Friedrichs (Hrsg.): Soziologische Stadtforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 29/1988: 410-431. Breitfuss, Andrea/Dangschat, Jens S./Gruber, Sabine/Gstöttner, Sabine/ Witthöft, Gesa (2006): Integration im öffentlichen Raum. Stadt Wien, Magistratsabteilung 18 (Hrsg.): Werkstattbericht 82. Dangschat, Jens S. (2004): Segregation – Indikator für Desintegration? In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 6 (2004), Heft 2: 6-31. Dangschat, Jens S. (2007a): Wohnquartiere als Ausgangspunkt sozialer Integrationsprozesse. In: Kessel, F./Otto, H.-O. (Hrsg.): Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich Verlag: 255-272. Dangschat, Jens S. (2007b): Segregation und Sicherheitsaspekte in Städten. In: Der Städtetag 2/2007. 12-16. Dangschat, Jens S. (2007c): Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstruktion. In: Ethnoscripts 9, Heft 1: 24-44. Dangschat, Jens S. 2008: Räumliche Aspekte der Armut. In: Dimmel, N./ Heitzmann, K./Schenk (Hrsg.): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck: Innsbrucker Studienverlag: im Druck. Frey, Oliver (2008): Orte.Netze.Milieus – Zur kommunalen Steuerung kreativer Milieus in einer „amalgamen Stadt“. Unveröff. Diss., TU Wien. Heitmeyer, Wilhelm/Anhut, Reimund (Hrsg.) (2000): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim & München: Juventa. Lange, Sebastian (2005): Sociospatial Strategies of Culturepreneurs. The Example of Berlin and Its New Professional Scenes. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 49(2): 79-96. Löw, Martina (2000): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Madanipour, Ali (2005): Public Space and Social Integration. In: Schader Stiftung; Deutscher Städtetag; GdW Bundesverband deutscher Wohnungsund Immobilienunternehmen; Deutsches Institut für Urbanistik & Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung (Hrsg.): Zuwanderer in der Stadt – Expertisen zum Projekt. Darmstadt, Schader Stiftung: 349-382.

vhw-Fortbildung ■ Stadtplanung ■ Städtebaurecht

Prof. Dr. phil. Jens S. Dangschat Professor für Siedlungssoziologie an der Technischen Universität Wien, Fachbereich Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung, Leiter des Fachbereichs Soziologie und des Arbeitsbereichs Urbanistik

Quellen: Atkinson, Rowland/Kintrea, Keith (2004): ‚Opportunities and Despair, It’s All in There’ Practitioner Experiences and Explanations of Area Effects and Life Chances. Sociology, 38, No. 3, 2004: 437-455.

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