19.01.2017

Schleudertrauma – quo vadis

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DIE THESEN A. Vom Mythos des typischen Beschwerdebild B. Von der Harmlosigkeit des Delta-v C. «Post-hoc-ergo-propter-hoc de lege lata/Praxis D. Fixe Status quo sine-Regel

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A. Mythos Typisches Beschwerdebild Wegweisende Erwägung aus Salanitri-Entscheid 1991, Erw. 4.b: «….Ist ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule diagnostiziert und liegt ein für diese Verletzung typisches Beschwerdebild mit einer Häufung von Beschwerden wie diffuse Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rasche Ermüdbarkeit, Visusstörungen, Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression, Wesensveränderung usw. vor, so ist der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der danach eingetretenen Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit in der Regel anzunehmen. Es ist zu betonen, dass es gemäss obige Begriffsumschreibung für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs genügt, wenn der Unfall für eine bestimmte gesundheitliche Störung eine Teilursache darstellt.» 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Exkurs: Evidenz

Evidenz = Beste verfügbare medizinische (Er)Kenntnis, welche gewonnen wird durch systematische Forschungsergebnisse und individuelle klinische Erfahrung

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Hierarchie der Evidenz:

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Studiendesigns • Die beste Evidenz zum Nachweis eines kausalen Zusammenhanges liefern experimentelle Studien.  In vielen Fällen nicht vorhanden, weil unmöglich zu simulieren oder zu gefährlich und darum ethisch nicht zulässig.  Evidenz zu Zusammenhangsthesen i.d.R. aus beobachtenden Studien (Kohortenstudien; Bsp. Nachweis gesundheitliche Auswirkungen des Rauchens) 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Systematischer Review und MetaAnalyse  Problemstellung: Flut von – teilweise widersprüchlichen - Informationen in Datenbanken

Bsp: Kann man mit Vitamin C Erkältungen verhindern und verkürzen?  Methodik:   

Systematische Suche aller Studien mit dieser Fragestellung Bewertung und Einschluss der gefunden Arbeiten nach strengen, vorgegebenen Kriterien Zusammenfassung der Resultate (outcomes)

 Objektive Beurteilung vorhandener Evidenz Metaanalysen fassen Einzelergebnisse von verschiedenen Studien mit einem statistischen Verfahren zusammen (pooling); nur möglich bei qualitativ guter und quantitativ genügender Studien

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Systematische Evidenzsuche zu These 1: Hohe Evidenzklasse für Nachweis diverser (diffuser) beklagter Beschwerden, die initial nach einem Schleudertrauma auftreten Keine Evidenz für Kausalitätsvermutung eines typischen (chronifizierten) Beschwerdebildes nach Schleudertrauma

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Analyse Meta-Review Sarrami et al. = Systematische Zusammenfassung aller systematischen Reviewergebnissen verschiedener Datenbanken zur • Fragestellung:  Gibt es individuelle Faktoren/Ursachen, die einen Zusammenhang zur Chronifizierung von WAD aufweisen? 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Prognosefaktoren: • • • • • • • •

Posttraumatische hohes Schmerzniveau und Arbeitsunfähigkeit Grad der Verletzung (nach Quebec Task Force) Kälte(schmerz-)überempfindlichkeit (Hyperalgesie) Posttraumatische Angststörung Katastrophisierungstendenz Entschädigungszahlungen Frühe Inanspruchnahme des Gesundheitswesens

weisen einen relativ signifikanten - ungünstigen - Einfluss auf die Chronifizierung und Invalidität auf. 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Typizität (invaliditäts-)gefährdeter Schleudertraumapatient • • • • •

Initail hohes Schmerzniveau Ist (über-)ängstlich oder hat eine Angststörung Katastrophisierungstendenz Ist i.d.R. (früh) rechtsvertreten Nimmt medizinische und therapeutische Behandlungen in Anspruch • Entschädigungszahlungen 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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B. Von der Harmlosigkeit des Delta-V • Evidenzlage schwach; vorwiegend Expertenmeinungen. • Systematische Suche von ELBEL zur Frage: «Treten HWS-Beschwerden auch bei Delta-v unter 10 auf?» • Methodik: Systematische Literaturrecherche 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Resultate: • Autoscooter-Versuche sind kein Beweis für eine Harmlosigkeitsgrenze! • 13 Arbeiten zeigen HWS-Beschwerden auch unterhalb der propagierten Harmlosigkeitsgrenze! • Fehlerquote bei Delta-V Wert über 50% • Kein gesicherter Zusammenhang zwischen Delta-V und Verletzungsmöglichkeit oder Schwere einer HWSVerletzung bei Verkehrsunfall ausgewiesen • Kein tauglicher Prognosefaktor für eine Chronifizierung • Ergo: Es gibt keine Harmlosigkeitsgrenze 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Rechtsprechung • Keine CH-Harmlosigkeitsgrenze (hierzu Urteil vom 5.7.2013 Bger 1C_575/2012, Erw. 5.1.-5.2.): Rechtsprechungsgemäss Adäquanzfrage • Keine D-Harmlosigkeitsgrenze (z.B. LG Ravensburg, Urteil vom 12.10.2006 – 1 S 10/06): Delta-v als Indiz für die natürliche Kausalität 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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C. Post-hoc-ergo-propter-hoc de lege lata • Zeitliche Abfolge Unfall-Beschwerdeklagen reicht für Annahme der natürlichen Kausalität nicht aus • Teilursache genügt: Unfall kann zusammen mit anderen Faktoren zu (chronifizierten) WAD führen Beurteilung Kausalität nach naturgesetzlichen Kriterien 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Kein direkter Beweis von Invalidität durch Bildgebung •

• • • • • • (BODEN ET AL., J Bone Joint Surg Am. 1990 Sep; 72 (5): 1178-84)

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63 freiwillige beschwerdefreie Probanden im Alter von 20 bis 63 Jahren zeigten folgende MRIBefunde an der HWS: 6 x Diskushernie von beträchtlichem Ausmass 11x Diskushernie von geringem Ausmass 14x Foraminalstenose von beträchtlichem Ausmass 21x Foraminalstenose von geringem Ausmass 16x bedeutende Myelonbeeinträchtigung 32x geringe Myelonbeeinträchtigung

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Der Grundsatz der Normalverteilung •

Normalverteilungs-Annahme: Biostatistisch-theoretisch erholen sich rund 95% der Schleudertrauma-Fälle zwischen 6 Wochen und 6 Monate



CAVE: Viele aber nicht alle biologische Phänomene sind normalverteilt: Schleudertraumaheilung?

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Medizinische (epidemiologische) Kausalität   

Begriffsidentität medizinische und juristische Kausalität klinisch enge Definition: statistische Assoziation zwischen Erkrankung und Exposition Kausalität i.d.R. multifaktoriell insbesondere bei chronischen Zuständen

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Kausalfaktoren • • • •

Prädisponierende Faktoren Ermöglichende Faktoren Beschleunigende Faktoren Verstärkende Faktoren

Risikofaktoren (= positive Assoziation zum Risiko) 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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D. Fixer Status quo sine-Zeitpunkt

• Evidenzwidrig • Inhomogene Referenzklasse wird dem Einzelfall «übergestülpt».

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Empirischer Kausalzusammenhang • Wie?  durch eine abduktive Schlussfolgerung • Womit? • Prüfung und Wertung der einzelnen (medizinischen) Faktoren  Disposition  vorbestehende Belastungsfaktoren  nachfolgende Belastungsfaktoren  Verlaufsfaktoren 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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Resumee: Evidenzbasierte natürliche Kausalität  Kausalitätsvermutung bei Vorliegen initialer Beschwerden verschiedenster Art gemäss «Salanitri»-Entscheid evidenzbasiert vertretbar.  CAVE: Das kausale «typische (chronifizierte) Beschwerdebild» wurde normativ geschaffen!  Kein naturgesetzlicher Nachweis des Ursache-WirkungsZusammenhanges möglich. Verstösst gegen materielles Recht.  Fixer Status quo sine = Statistischer Fehlschluss!  Ausschluss nur bei alleiniger Ursächlichkeit nachgewiesener unfallfremder Faktoren

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Aus einem Prozess in Massachusetts «Ein ziemlich hartnäckiger Anwalt fragt im Kreuzverhör einen Pathologen, ob er absolut sicher sei, dass ein bestimmter Patient vor der Autopsie auch wirklich tot war. Der Pathologe sagt, er sei sich absolut sicher. Oh, aber wie können sie so sicher sein? Weil, sagt der Pathologe, sein Gehirn in einem Behälter auf meinem Schreibtisch stand. Aber, sagt der Anwalt, könnte der Patient nicht trotzdem noch am Leben gewesen sein? Nun, kommt die Antwort, es ist durchaus denkbar, dass er noch lebte und irgendwo als Anwalt tätig war» (IAN MC EWAN, Kindeswohl, Verlag Diogenes). 16. Personen-Schaden-Forum 2017

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