Kultureller Pluralismus als Herausforderung an liberale Demokratietheorie

Barbara Herzog-Punzenberger (Wien) Kultureller Pluralismus als Herausforderung an liberale Demokratietheorie Reflexive Heterogenität als mögliche Ant...
Author: Johannes Meyer
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Barbara Herzog-Punzenberger (Wien)

Kultureller Pluralismus als Herausforderung an liberale Demokratietheorie Reflexive Heterogenität als mögliche Antwort Um eine nachhaltige Entwicklung von Demokratie zu sichern, sollten politische Antworten auf den anhaltenden Pluralismus der Ethnien, Kulturen und Lebensstile entlang demokratischer Grundwerte wie Gleichheit und Gerechtigkeit entwickelt werden. Neue Antworten brauchen eine veränderte Begrifflichkeit. Deshalb müssen die Grundbegriffe der Vergesellschaftung, insbesondere der Begriff der Ethnizität, hinterfragt werden. In der Folge wird gezeigt, daß besonders ein relationaler Ethnizitätsbegriff geeignet ist, kollektive und individuelle Positionierungen in den ineinander verknüpften Differenzsystemen (Kultur, gender, soziale Schicht) verständlich zu machen. Daran anschließend wird eine neue Antwort auf kulturellen Pluralismus in demokratischen Staaten vorgeschlagen: das Konzept „Reflexiver Heterogenität”. Es soll einen Raum eröffnen, der verschiedene Identitätsverständnisse nicht als Abweichungen von einer monistischen Norm, sondern als balancierbare Varianten beinhaltet.

1 Einleitung1 Der vorliegende Artikel handelt vom Umgang mit kultureller Vielfalt in demokratischen Nationalstaaten der Gegenwart und diskutiert eine mögliche visionäre Antwort. Für die Grobgliederung bietet sich eine Dreiteilung an. Zuerst sollen der von Pluralismusfeindlichkeit gekennzeichnete Status quo und seine ideengeschichtlichen Wurzeln skizziert werden. Darauf folgt die Analyse gängiger Argumentationen und etablierter Dichotomien der politischen Theorie, die sich mit Ethnizität, Kultur und Identität beschäftigt. Im dritten Teil geht es um mögliche Antworten. Hier wird eine neue Variante pluralismusfreundlicher politischer Theorie zur Diskussion gestellt, die ich Reflexive Heterogenität nenne. Der Argumentationsstrang soll nun überblicksmäßig zusammengefaßt werden. Die hier vorgebrachte Kritik an gängigen Demokratieformen wendet sich vor allem an den zugrunde gelegten Liberalismus. Zuerst aber möchte ich mein Verständnis liberaler DemoÖZP, 28 (1999) 2

kratie kurz darlegen. Die Mischung der beiden Begriffe kann wie eine Arbeitsteilung beschrieben werden: Der Liberalismus bestimmt die Form des Zusammenlebens, die Demokratie bestimmt die Form der Regierung. Der Liberalismus ist zumeist der dominante Partner der beiden. Er bestimmt die Beschaffenheit des Staates (formal und abstrakt), seine Struktur (getrennt von der autonomen Zivilgesellschaft, sowie eine klare Trennung zwischen öffentlich und privat), sein Ziel (Schutz der Grundrechte der StaatsbürgerInnen) und seine Einheiten (Individuen und nicht Gruppen oder Gemeinschaften). Die Demokratie bestimmt, wie die legitime Regierung konstitutiert wird (freie Wahlen und Mehrparteiensystem) und wie die ihr übertragene Autorität exekutiert werden darf (in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung) (vgl. Parekh 1992). Im Rahmen politischer Theorien wurden Erklärungsweisen für und Antworten auf kulturellen Pluralismus entwickelt, die von einer lange währenden Pluralismusfeindlichkeit in der 141

westlichen Philosophie zeugen. Diese Ideengebäude hatten natürlich Auswirkungen auf die politische Praxis. Kombiniert mit der nach Homogenität verlangenden wirtschaftlichen Entwicklung in Richtung Industrialisierung (Austauschbarkeit und Mobilität der Arbeitskräfte) fand diese Haltung einen Höhepunkt in der politischen Form des modernen Nationalstaates. Universalistische Versprechungen, daß ökonomische und politische Modernisierung soziale Differenzierung entlang kultureller „marker” zum Verschwinden bringen werde, haben sich nicht bewahrheitet. Kultureller Pluralismus bleibt auch im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Herausforderung an demokratische Staaten – und an die politische Theorie. Um eine nachhaltige Entwicklung von Demokratie zu sichern, sollten politische Antworten auf den anhaltenden Pluralismus der Ethnien, Kulturen und Lebensstile entlang demokratischer Grundwerte wie Gleichheit und Gerechtigkeit entwickelt werden. Neue Antworten brauchen eine veränderte Begrifflichkeit. Deshalb müssen die Grundbegriffe der Vergesellschaftung, insbesondere der Begriff der Ethnizität, hinterfragt werden. Es soll in der Folge gezeigt werden, daß besonders ein relationaler Ethnizitätsbegriff geeignet ist, kollektive und individuelle Positionierungen in den ineinander verknüpften Differenzsystemen (Kultur, gender, soziale Schicht) verständlich zu machen. Sowohl im Diskurs der politischen TheoretikerInnen als auch in dem der PraktikerInnen wird die Polarisierung von Identitätsverständnissen vorangetrieben. Durch das von mir als Antwort auf kulturellen Pluralismus vorgeschlagene Konzept Reflexiver Heterogenität soll ein Raum eröffnet werden, der verschiedene Identitätsverständnisse nicht als Abweichungen von einer monistischen Norm, sondern als balancierbare Varianten beinhaltet. Eine nachhaltige Neuorientierung müßte dem kulturellen Pluralismus den gleichen moralischen Stellenwert wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit im universalistischen Sinne einräumen. In diesem Artikel soll gezeigt werden, daß das Konzept der Reflexiven Heterogenität mehr Chancen als Gefahren beinhaltet und wert ist, weiter entwickelt zu werden. 142

2 Kultureller Pluralismus 2.1 Das Konzept und die politische Ideengeschichte Kultureller Pluralismus ist ein empirisches Faktum menschlichen Lebens, das sich auf verschiedene Ebenen beziehen läßt. Kulturellen Pluralismus gibt es einerseits auf der ordnungspolitischen Ebene, sei es zwischen- oder innerstaatlich, und andererseits auf einer sozialpsychologischen Ebene der Identitätsprozesse individueller und kollektiver Natur, die staatliche Grenzen transzendieren. Auf beiden Ebenen spielen ethnische und kulturelle Gruppen eine wichtige Rolle. Kultureller Pluralismus bezieht sich sowohl auf die globale, internationale Ebene als auch auf die innerstaatliche und schließlich individuelle Ebene. Anders als bei der vorherrschenden Verwendung des Begriffes „Multikulturalismus” soll beim kulturellen Pluralismus das Individuum mit seiner Wahlfreiheit stärkere Beachtung finden (siehe auch Begriffsdiskussion im 4. Kapitel). Einerseits ist es augenscheinlich, daß sich menschliches Leben in kulturell sehr unterschiedlichen Formen entwickelt hat – also daß es kulturellen Pluralismus auf der globalen Ebene gibt. Gesellschaften unterscheiden sich durch Sprachen, Glaubensvorstellungen, Wertesysteme und äußerlich sichtbare Merkmale. Diese Gesellschaften haben sich nunmehr flächendeckend in verschiedensten Formationen und Kombinationen in staatliche Einheiten organisiert. Andererseits ist es trotz der zum Teil über mehrere Jahrhunderte andauernden Homogenisierungsbestrebungen des Nationalstaates noch immer2 so, daß auch innerhalb der Grenzen fast aller Staaten kulturell unterschiedliche Gruppen existieren, die sich graduell abgestuft3 voneinander unterscheiden. Wirtschaftliche und politische Verhältnisse, wie der Imperialismus, die Weltkriege oder die Industrialisierung, induzierten internationale Migrationsbewegungen, die besonders in den städtischen Ballungszentren eine zusätzliche Qualität von kultureller Vielfalt entstehen ließen. Die empirische Feststellung kultureller Vielfalt wirft die Frage nach Grund und Ursache

derselben auf. Kulturelle Vielfalt wurde von TheoretikerInnen ganz unterschiedlich erklärt und bewertet. Bhikhu Parekh (1996) zählt innerhalb der westlichen Diskurse drei Strömungen auf: die naturalistische, die romantische und die rationalistische Antwort. Letztere wird als Grundlage für die kosmopolitische4 Spielart liberaler Demokratie noch genauere Beachtung erfahren. a) Naturalistische Antworten wie die von Montesquieu sehen die Differenzen zwischen menschlichen Lebensweisen in geographischen und klimatischen Bedingungen, im Temperament von Menschen und in ihrer Geschichte begründet. Dieses unausweichliche Faktum ist für sie weder ein Grund zum Bedauern noch zum Feiern. b) Die Romantiker wie Herder argumentieren, daß Unterschiede zwischen den Menschen in ihrer kreativen Natur begründet seien, daß Menschen freie und phantasiebegabte Wesen sind, die unterschiedlich denken und unterschiedliche Ziele verfolgen können. Da sie die Mannigfaltigkeit der Lebensweisen willkommen heißen, ist jede Vereinheitlichung für sie ein Verlust. c) Rationalisten wie etwa Kant begründen die Unterschiede in den Lebensweisen innerhalb einer evolutionären Logik. Sie sehen die verschiedenen kulturellen Gruppen auf unterschiedlichen Stufen der intellektuellen und moralischen Entwicklung des Menschen. Die Annahme dabei ist, daß bei gleicher Entwicklung ihrer intellektuellen und moralischen Fähigkeiten sie bei denselben Werten und Idealen ankommen würden. Pluralismus wird bedauert und als Faktum des Lebens unterschiedlich vernunftbegabter Menschen gesehen. Das rationalistische Kalkül vieler TheoretikerInnen5 des Liberalismus führt zu der zuletzt beschriebenen Sichtweise von Pluralität. Sie beurteilen eine – nämlich ihre eigene – Konzeption des Guten Lebens als die beste, verwenden diese, um andere zu beurteilen, und betrachten Pluralität als Form der moralischen Verfehlung, weshalb sie die Betroffenen bedauern. Diese paradigmatische Überhöhung des Eigenen re-

sultiert aus einer tiefen anti-pluralistischen Voreingenommenheit der westlichen6 Philosophie, und soll, Bhikhu Parekhs (1996) Terminologie folgend, „moralischer Monismus” genannt werden. 2.2 Moralischer Monismus als Pluralismusfeindlichkeit Obwohl durch die Globalisierungsprozesse in den Hintergrund gedrängt, ist es noch immer ein offensichtliches Faktum, daß menschliche Lebensweisen sowohl individuell als auch kollektiv unterschiedliche Konzeptionen des Guten Lebens7 verfolgen und verfolgt haben. Es galt lange Zeit als unausgesprochener Konsens in den kritischen Sozialwissenschaften, daß den Differenzen der Menschen weniger Beachtung gebührt als ihrer Gleichheit. Letztere allein würde Anlaß zur Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit unter den Menschen geben. Liberale TheoretikerInnen weigern sich deshalb, eine inhaltliche Vision des Guten Lebens zu formulieren, da ihre Gesellschaftstheorie dem eigenen Anspruch nach gegenüber den verschiedenen Konzeptionen des Guten Lebens neutral sein sollte. Sie limitieren aber die Konzeptionen des Guten Lebens durch ihre formalen Prinzipien. Auch Jürgen Habermas (1996, 370) schlägt vor, daß das Gute gegenüber dem Zweckmäßigen und das Gerechte gegenüber dem Guten privilegiert wird. Da der Ansicht liberaler TheoretikerInnen zufolge das Gute unter das Gerechte subsumiert werden könne und letzteres eine liberale Konzeption beinhaltet, können die von ihnen als „vernünftig” bewerteten Konzeptionen des Guten Lebens nicht sehr viel mehr als Variationen einer liberalen Konzeption sein. Wie ist aber Pluralismusfeindlichkeit in Theorien wie den liberalen faßbar, die sich selbst als neutral gegenüber kultureller Vielfalt darstellen? Welche sind die zumeist nicht explizierten Grundannahmen des moralischen Monismus (siehe Parekh 1996, 130–132)? a) Moralischer Monismus geht von der Uniformität menschlicher Natur aus. Da alle Menschen dieser Ansicht zufolge nach denselben Mechanismen und Strukturen funktionieren, 143

gehören die Unterschiede zwischen den Menschen nicht zu den Definitionskriterien menschlicher Natur. b) Moralischer Monismus geht von einem moralischen und ontologischen Primat von Gleichheit über Differenz aus. Alle menschlichen Wesen sind dieser Ansicht nach menschlich in genau derselben Art und Weise und nicht jedes in seiner eigenen Art und Weise. c) Moralischer Monismus stellt den sozial transzendierenden Charakter der menschlichen Natur heraus. Obwohl sich der Mensch nur in Gesellschaft entwickeln kann, füge die Gesellschaft keine neuen Elemente hinzu oder rekonstituiere das menschliche Wesen nicht in einer neuen Weise. d) Das gesicherte Wissen über die menschliche Natur gehört zu den Voraussetzungen des moralischen Monismus. Manche stellen sie sich einfach vor, manche kompliziert, aber im Prinzip wird angenommen, daß die menschliche Natur durch fundierte philosophische, theologische oder wissenschaftliche Untersuchungen entdeckt werden kann. e) Die menschliche Natur ist die Basis des Guten Lebens bzw. sie stellt die Einheit von dem Guten und dem Wahren dar, das bedeutet, daß das Gute definiert wird im Lichte der zentralen Wahrheiten über die menschliche Natur. Diese Hierarchisierung impliziert, daß die endgültige Wahrheit darüber, wie menschliche Wesen leben sollten, bereits gefunden wäre. Eine Konzeption des Guten Lebens als endgültig beste herauszustellen, ist ein inhärent unplausibler und inakzeptabler Anspruch. Das ist ein für Religionen typischer Anspruch, der bei allfälliger Beweisführung zirkulär oder dogmatisch wird. Trotzdem finden sich immer wieder Sätze, die den Wunsch nach einer einzigen Wahrheit offensichtlich werden lassen auch bei Theoretikern, die sich von einem gleichberechtigten Austausch beseelt zeigen. Jürgen Habermas (1996) etwa schreibt in seinem Buch mit dem programmatischen Titel „Die Einbeziehung des Anderen” unter dem Kapitel „Vernünftig versus wahr – oder die Moral der Weltbilder”: „Hier haben wir es mit einem anhaltenden Pluralis144

mus von Anschauungen zu tun, die im Kreise ihrer Anhänger für wahr gehalten werden, obgleich alle wissen, daß nur eine von ihnen wahr sein kann.” (kursiv BHP) Die Kritik am moralischen Monismus geht offensichtlich über eine Kritik an konkreten Varianten von Demokratietheorie hinaus. Sie zielt auf eine grundlegendere Form von Reflexivität, die kulturelle Vielfalt und damit eine Pluralität von Konzeptionen des Guten Lebens als notwendigen Bestandteil von Demokratie sieht. Gerade um die Verbesserungsdynamik eines ernstgemeinten selbstkritischen Anspruchs erhalten zu können, braucht auch die liberale Konzeption des Guten Lebens andere sich von ihr unterscheidende Konzeptionen, die Schwächen und Nachteile der liberalen Konzeption aufzeigen helfen. Das in liberalen Demokratien vorherrschende Werteset stellt nicht das Ende der Geschichte dar, auch wenn das einige Theoretiker so formuliert haben. 2.3 Demokratiediskurse in Afrika Um ein Beispiel auf der internationalen Ebene vorzustellen, das nicht den liberalen Kategorien gängiger westlicher Demokratiemodelle entspricht, möchte ich hier Auszüge aus innerafrikanischen Demokratiediskursen vorstellen. Sie hinterfragen das vorherrschende liberale Verständnis von Demokratie kritisch. So beurteilt der politische Philosoph Kwasi Wiredu8 (1998) das derzeitige Regime in Ghana als dysfunktional, da es sich immer mehr vom Volk entfremdet, obwohl es sich formell den Prinzipien von Demokratie annähert, so wie es „der Westen” akzeptieren würde. Wiredu schlägt nun vor, anstelle der Parteien-Demokratie ein Nichtparteien-System anzuvisieren, das auf politischen Vereinigungen und einem Konsensmodell beruht. Gail M. Presbey (1998) zeigt in ihrem Artikel „Akan-Chiefs und Königsmütter im heutigen Ghana. Beispiele für Demokratie und verantwortliche Autoritäten”, daß es gangbare und nutzbare Modelle wirklich partizipatorischer Prozesse in afrikanischen Regierungssystemen gibt, die oft als altmodisch oder autoritär betrachtet werden. Diese unseren vertrauten

Kategorisierungen nicht unmittelbar zugänglichen Sachverhalte sind erst auf den zweiten Blick und zwar durch intensive Auseinandersetzung zu verstehen und in ihren Qualitäten und Schwächen zu beurteilen. Jede oberflächliche Ferndiagnose erübrigt sich als Fehldiagnose und die dazugehörenden Therapievorschläge, die durch bestehende internationale Machtgefälle (etwa durch den Internationalen Währungsfonds) oft mit Zwangsgewalt aufoktroyiert werden konnten, lassen die Betroffenen in einem drastisch unbefriedigenderen Zustand zurück als vor der Zwangstherapie9. 3 Ethnizität in den Sozialwissenschaften In den gängigen sozialwissenschaftlichen Theorien wird Ethnizität oft nicht näher definiert10 oder in einer Weise unterkomplex verwendet, daß sie Beziehungen und Grenzziehungen zwischen Gruppen irreführend konzeptionalisiert, wie ich an beispielhaften Zitaten von Jeremy Waldron (1996) zeigen werde. Es ergeben sich daraus Dichotomien, die auf der Ebene sozialwissenschaftlicher Theorien und daraus folgender Politikempfehlungen „entweder-oder”-Entscheidungen im Kontext kultureller und ethnischer Heterogenität aufdrängen. Sie werden der Komplexität des Phänomens „Ethnizität” nicht gerecht. Waldron (1996, 1995) etwa sieht die wesentliche Entscheidung im Kontext ethnischer Pluralität zwischen zwei Modellen, die die Art der Beziehung zwischen Kultur und Identität betreffen. Das eine nennt er „Eine Person: Eine Kultur”Modell11 und diagnostiziert, daß es bei den meisten MultikulturalistInnen in den USA als oft unausgesprochene Annahme den Hintergrund ihrer Argumentation abgibt. Die zu bevorzugende Alternative ist seiner Meinung nach das „Eine Person: Viele Fragmente”-Modell12. Waldron nimmt an, daß jedes Individuum seine Identität in der weiteren Gesellschaft, in der es lebt, konstruiert. So enthalte in einer kulturell heterogenen Gesellschaft die Identität jedes Individuums eine Vielfalt kultureller Fragmente, kleine Stükke und größere Teile verschiedener Kulturen von da und dort. Dieses Modell nimmt an, daß in

der modernen Welt – im Kielwasser des Imperialismus, der globalen Kommunikation, der Weltkriege, der Massenmigration und des häufigen Fliegens – die Menschen nicht in der Position sind, ihre Kulturen ganz und rein zu absorbieren. Waldron (1996, 106) sieht die Menschen vor einem ohrenbetäubenden Babel kulturellen Materials. Er beschreibt die Situation als Bazar, in dem für die unglaubliche Vielfalt, die offeriert wird, keine Preise fixiert13 und keine Übereinstimmungen etabliert wurden. Er hält das „Eine Person: Viele Fragmente”-Modell im Kontext ethnischer Pluralität sowohl für realistischer als auch für attraktiver (Waldron 1996, 91). Ich glaube aber wie Tariq Modood (1999), daß diese zwei Idealtypen eine irreführende Dichotomie nahelegen und so wie Waldron selbst sagt, die Wahrheit für viele von uns irgendwo dazwischen liegt. Es gibt m.E. jenseits dieser Polarisierung einen dritten Weg, darüber nachzudenken. Dieser dritte Weg, den ich im vierten Kapitel mit Reflexiver Heterogenität bezeichnen werde, beruht auf einem spezifischen Ethnizitätsverständnis, das eine Balance zwischen Beliebigkeit und starrer Fixierung herstellt. 3.1 Relationale Ethnizität14 Im Unterschied zu den oben beschriebenen Verwendungsweisen von Ethnizität hat sich in der Sozialanthropologie seit Fredrik Barths (1969) „Ethnic Groups and Boundaries” ein Ethnizitätsbegriff durchzusetzen begonnen, den ich relational nennen möchte, da sein Hauptgewicht auf dem Beziehungsaspekt zwischen Gruppen beruht. Thomas Hylland Eriksen (1993, 58) beschreibt dieses Grundverständnis folgendermaßen: “There is a general agreement concerning the relativity and relational character of ethnic identity, and it has been well documented that there is no simple relationship between cultural variation and the formation of ethnic groups. There is also widespread agreement that notions of cultural differences and processes of boundary maintenance arise from aspects of social organisation, not from ‘objective cultural differences’.”

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Die Bestimmung des Ethnizitätsbegriffes als „relationalen” schulde ich aber auch dem Bourdieu’schen Verständnis eines methodologischen Relationalismus15, der sich gegen ein Primat von Kollektivem oder Individuellem, von Struktur oder AkteurIn wendet. Das daraus resultierende Ethnizitätsverständnis legt das Hauptgewicht auf die stattfindenden Grenzziehungsprozesse zwischen Gruppen und deutet Ethnizität als eine Form sozialer Beziehung. Ethnizität bezeichnet also die soziale Beziehung zwischen Gruppen, die meinen, daß sie sich kulturell voneinander unterscheiden und durch intergenerationelle Kontinuität gekennzeichnet sind. Ethnizität findet also statt, ist ein gegenseitiger Prozeß in einer kulturell heterogenen Gesellschaft, in dem Selbst- und Fremdzuschreibungen etabliert und somit Ordnungsmuster geschaffen werden. 3.2 Eine Kultur versus Viele Fragmente An dieser Stelle möchte ich die zwei von Waldron (1996) vorgestellten Modelle und ihre konstruktiven und normativen Charakteristika wieder aufgreifen. Er schreibt dem Eine Kultur-Modell als normativen Ausgangspunkt zu, daß die verschiedenen Kulturen als getrennt voneinander (obwohl unter der gleichen staatlichen Autorität) konstruiert werden. Sie werden in vielen wichtigen Aspekten als qualitativ unterschiedlich angesehen, darunter Sprache, Glaubensvorstellungen, Familienstrukturen, Geschlechterrollen und Übergangsrituale von Lebenszyklen. Jede für sich wird laut Waldron als homogen und rein vorgestellt. Ebenso wird die Integrität der jeweiligen kulturellen Struktur betont. Im Gegensatz dazu behauptet Waldron als Vertreter des Viele FragmenteModells, daß Kulturen immer schon verschwommen und ineinander übergehend waren, daß Grenzen nur in Ausnahmefällen mit rein geographischen Erklärungen existierten. Waldron verknüpft nämlich die Ansicht, daß es Grenzen zwischen Gruppen gäbe, mit der Ansicht, daß Kulturen homogen und rein seien. Umgekehrt folgert er aus der Annahme, daß Reinheit und kulturelle Homogenität immer 146

Mythen und nicht Realitäten waren, die Ansicht, daß es deshalb nur in (geographisch begründeten) Ausnahmefällen16 Grenzen zwischen Gruppen gegeben hätte. Die Wahrnehmung von Kulturen und ethnischen Gruppen als abgegrenzte Einheiten hätte sich vielmehr erst durch VertreterInnen des Eine Kultur-Modells etablieren können. So weit Waldron. Die nun aufgezeigten Verknüpfungen sind keineswegs zwingend und widersprechen dem relationalen Ethnizitätsverständnis, insbesondere dessen differenzierter Betrachtungsweise von Gruppengrenzen. Waldrons Aussagen stützen sich auf vier unausgesprochene Thesen, die ich folgendermaßen formulieren möchte: These 1: Kontakt zwischen Gruppen würde Grenzen auflösen – die Auflösungsthese; These 2: Gruppengrenzen seien im Normalfall undurchlässig. Sie würden Kontakt bzw. Beziehungen über die Grenzen hinweg verhindern – die Undurchlässigkeitsthese; These 3: Grenzen seien klar definiert. So wie Linien könnten sie überschritten werden. Deshalb wären Individuen, wenn es Grenzen gäbe, entlang dieser Grenzlinien unzweideutig zuordenbar – die Eindeutigkeitsthese; These 4: In der heutigen Wirklichkeit einer kulturell pluralistischen Gesellschaft seien Individuen immer Mischlinge aus verschiedenen Kulturen. Die Identität eines jeden Individuums sei eine hybride und deshalb sollen Individuen nicht als einer „community” zugehörig verstanden werden – die Mélangethese. Ich habe diese vier Thesen als unausgesprochene, aber wesentliche Annahmen, die Waldrons Dichotomie zwischen Multikulturalismus und mélange zugrunde liegen, gewählt. Sie geben die Möglichkeit, im Lichte eines differenzierteren Verständnisses von Grenzziehung und Kategorisierung die vorgeschlagene Dichotomie zu hinterfragen. Die Auflösungsthese: Waldron beschreibt ethnische Gruppen als getrennt voneinander funktionierende Einheiten, die beziehungslos nebeneinander existieren. In Wirklichkeit aber wäre Gesellschaft ein unbe-

stimmbares Gemisch von kulturellen Stilelementen, ein „mélange”, wie er es nennt, der keine Grenzziehungen kennt. Relationale Ethnizität ist konträr zu dieser Gegenüberstellung konzipiert. Das heißt, sie verbindet bestimmte Merkmale der von Waldron als Gegensätze beschriebenen Positionen und weist andere zurück. Ganz grundlegend ist festzustellen, daß Ethnizität – relational verstanden – in einem monoethnischen Setting nicht möglich ist. Ethnizität ist ohne Beziehung zu anderen Gruppen nicht vorhanden. Ethnizität ist die Beziehung zwischen Gruppen, die sich als kulturell unterschiedlich sehen. Beziehung findet durch Kommunikation statt. Kulturelle Unterschiede werden kommuniziert. In der Kommunikation wird dann eine systematische Unterscheidung zwischen Insidern und Outsidern, zwischen Wir und Ihr angewendet. Die daraus sich ergebende Frage ist, wie Grenzen zwischen Gruppen funktionieren. Welche sind die Mechanismen, die diese systematische Unterscheidung aufrecht erhalten? Grenzen zwischen dem Wir und dem Ihr entstehen, indem bestimmte Merkmale, genannt „marker”, die Bedeutung erlangen, eine relevante Unterscheidung zu sein. Zu den häufigsten markern zählen Sprache und Religion. Es können aber ebenso äußere Merkmale des Körpers und der Kleidung, wie auch Siedlungsformen, Verwandtschaftsverhältnisse oder Geschlechterrollen bis zu grundlegendsten Wertorientierungen als Markierungen dienen. Es kann also allem die Bedeutung gegeben werden, eine wesentliche Unterscheidung in bezug auf die ethnische Gruppenbildung zu sein und diese Bedeutung auch wieder verlieren (wie Hobsbawm/ Ranger 1983 an zahlreichen Beispielen gezeigt haben). Es gibt allerdings auch marker mit einer langen Geschichte, die in Zusammenhang mit Braudels (1992) „structures de longue durée” zu sehen sind und über Jahrhunderte tradiert werden. Die Grenzziehungen sind also keineswegs starr, sondern verändern sich im historischen Prozeß und das mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit. Es gibt über Generationen gesehen Verschmelzungen von Gruppen, deren Sprachen und Kulturen, sowie die vollständige Auf-

lösung von Gruppengrenzen, und es gibt eben solche Differenzierungen. Das heißt, daß innerhalb einer Gruppe neue Grenzen entstehen und sich über lange Zeiträume gesehen eigenständige ethnische Gruppen etablieren können. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen und ist immer eine politische Frage, in der es um Machtverhältnisse geht17. Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen über die Dynamik von Grenzziehungen auch unter Berücksichtigung geographischer Bedingungen widersprechen Waldrons (1996, 107) „geographischer” Annahme. Sowohl linguistische als auch archäologische Untersuchungen in Papua-Neuguinea wiesen Theorien, wonach die große sprachliche Vielfalt in diesem Territorium durch die räumliche Isolation der einzelnen Ethnien zustande gekommen wäre, als überholt aus. Gerade dort, wo einfache topographische Bedingungen vorherrschen und ausgedehnte Handelsbeziehungen (wie an der Nordküste Papua-Neuguineas und Insel-Melanesiens) bestehen, kann die größte linguistische und kulturelle Varietät beobachtet werden18 (Otto 1994, 4). Die Undurchlässigkeitsthese: Waldron impliziert in seiner Gegenüberstellung der abgegrenzten ethnischen Gruppen und des grenzenlosen mélange, daß nur bei letzterem Kulturen miteinander in intensivem Austausch seien. Dieser mélange ohne Grenzen hätte auch in der Vergangenheit durch Handel, Krieg, Neugierde und andere Formen der Beziehung zwischen den „communities” bestanden. Wie aber schon im Zuge der Widerlegung der ersten These besprochen, ist Ethnizität Beziehung. Ethnische Grenzen sind keine territorialen, sondern soziale. Diese sozialen Grenzen sind in den allermeisten Fällen durchlässig und haben über lange Zeit Bestand, obwohl sie durchlässig sind. Zumeist gibt es einen kontinuierlichen Fluß von Informationen und Interaktionen, Austausch von Gütern oder auch Wechsel der Mitgliedschaft von Personen, wie an Beispielen aus der ethnologischen Forschung (Barth 1956, Haaland 1969) gezeigt werden kann. Obwohl sich viele Ethnizitätsstudien auf die Mechanismen konzentrieren, die gewährleisten, 147

daß die verschiedenen Gruppen voneinander getrennt und unterschiedlich bleiben, können sie gleichwohl auf Gegenseitigkeit und integrative Aspekte abzielen. Diese beiden unterschiedlichen Gewichtungen können mit den Begriffen Dichotomisierung (für das, was uns trennt) und Komplementarisierung (für das, was uns vereint) benannt werden. Diese Unterscheidung soll auch hervorheben, daß interethnische Beziehungen nicht notwendigerweise konflikthaft verlaufen müssen, sondern wesentlich auf Kooperation und gegenseitiger Anerkennung fußen können, ohne daß diese Nähe gleichzeitig die Auflösung der ethnischen Gruppen zur Folge hätte. Die Eindeutigkeitsthese: Waldron unterstellt dem Konzept einer ethnischen Gruppe, eine klare Grenze zu haben, ansonsten gelte die Gruppe als aufgelöst. Daran anschließend meint er, daß dort, wo Gruppen existieren, Individuen ihnen eindeutig zugeordnet werden können. Ist diese Eindeutigkeit nicht vorhanden, existieren keine Gruppen, sondern ein mélange. Diese Verknüpfung von eindeutiger Zuordenbarkeit mit Grenzziehung hat mit den Eigenschaften zu tun, die man einer Grenze zuschreibt19. Waldrons Vorstellung von Grenze und Grenzziehung ist eng an die gegenwärtig für uns sichtbarsten und wichtigsten Grenzen angelehnt, und zwar die nationalstaatlichen, die genau ausgemessen und kontrolliert werden können. Diese Vorstellung von Eindeutigkeit schuldet aber auch, wie Zygmunt Baumann (1991) expliziert, der Moderne, ihrem Wunsch nach wissenschaftlicher Exaktheit und absoluter Kontrollierbarkeit, dem Wunsch nach Auslöschung von Ambiguität und Ambivalenzen ihre Selbstverständlichkeit. Das Hadern mit einem Konzept, das eine Kategorie benennt, aber keine klaren Grenzen, sondern Grenzbereiche aufweist, in denen Zugehörigkeiten und Loyalitäten nicht genau definierbar sind, hat auch mit dem in der Wissenschaft bis vor kurzem üblichen Verständnis von Kategorie zu tun. Einen neuen Blick auf Kategorisierung ergeben die rezenten Ergebnisse kognitionswissenschaftlicher Forschung. 148

Kategorisierung ist ein Schlüsselelement der kognitiven Prozesse des Menschen und Grundlage für die Einteilung von Menschen in Gruppen, entlang welcher Unterscheidungen auch immer. Das traditionelle Verständnis von Kategorie datiert zurück bis Aristoteles. Eine Kategorie wurde als ein Set von Merkmalen verstanden. Alle diese Merkmale mußte ein Ding, ein Wesen oder ein Prozeß aufweisen, um als Bestandteil einer Kategorie zu gelten. Ebenso mußte für das wissenschaftliche Verständnis ein Mitglied einer kulturellen Gruppe alle beschriebenen Merkmale aufweisen, um als solches qualifiziert werden zu können. Dieser Auffassung wurde seit den 50er Jahren auf der Basis unterschiedlicher wissenschaftlicher Herangehensweisen widersprochen. In der Philosophie etwa war es Ludwig Wittgenstein (1953), der feststellte, daß viele Kategorien auf der Basis von „Familienähnlichkeiten” funktionieren. Wittgenstein argumentierte, daß es kein einziges Attribut geben müsse, das von allen Mitgliedern einer solchen Familie geteilt werde, so lange jedes Mitglied einige Merkmale mit einigen anderen Mitgliedern teile. Damit in Einklang steht die Prototypen-Theorie, die sich aus Forschungen über Körperwahrnehmung, Farb- und Zahlensysteme, Ethnobotanik etc. in der kognitiven Psychologie entwickelt hat. Sie besagt, daß ein Konzept im Rahmen prototypischer Merkmale funktioniert. Diese Merkmale werden nicht notwendigerweise von allen Mitgliedern geteilt, aber von einer substantiellen Anzahl von Mitgliedern, und sie werden bewertet in Relation dazu, wie sehr sie geteilte sind. Ein Mitglied der Kategorie, das alle gewichtigen Merkmale verkörpert, wird als prototypisches Mitglied betrachtet. Mitgliedschaft im allgemeinen wird festgelegt durch das Ausmaß, in dem Mitglieder die prototypischen Merkmale verkörpern. Dem Verständnis von zentraleren und periphereren Bespielen einer Kategorie entspricht auch die Idee, daß Kategorien keine klaren, starren Grenzen haben, sondern verschwommene. Das heißt, daß der Punkt, an dem etwas oder jemand eine Kategorie verläßt und in eine andere eintritt, nie ganz klar gekennzeichnet werden kann. Obwohl in der Anthropologie das Faktum der Verschwommenheit in der Grenz-

ziehung zwischen ethnischen Gruppen zum Zweifel über die Brauchbarkeit ethnischer Kategorien geführt hat, wird die Verschwommenheit als Charakteristikum vieler Konzepte in den Kognitionswissenschaften akzeptiert und stellt die andauernde Brauchbarkeit dieser Konzepte im menschlichen Diskurs in keiner Weise in Frage. Waldrons Eindeutigkeitsthese betrifft also nicht nur die Grenzziehung zwischen Gruppen, sondern auch die Zuordenbarkeit von Individuen zu Gruppen. Im Sinne der kognitionswissenschaftlichen Prototypen-Theorie kann ethnische Zugehörigkeit als eine Serie konzentrischer Kreise beschrieben werden, mit immer weiteren Ebenen von Inklusion und Exklusion. Da kulturelle Gruppen, je nach Struktur und Anzahl ihrer Mitglieder, in sich sehr heterogen sein können, bilden sich meist verschiedene (Macht)Zentren heraus. In diesem Sinne kann von einem plurizentrischen20 Modell gesprochen werden. Wie Cynthia Mahmood und Sharon Armstrong (1992) feststellten, widerspricht die Kategorisierung der Menschen in kulturelle Gruppen vom kognitionswissenschaftlichen Standpunkt keineswegs den Forderungen nach Mehrstimmigkeit.

Die Mélangethese: Diese Begriffsklärungen auf der Ebene von Kollektiven soll nun in Verbindung gesetzt werden mit der individuellen Ebene. Waldron sieht im wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder versteht sich das Individuum als Mitglied der herkunftsmäßigen ethnischen Gruppe und bezieht seine Identität hauptsächlich aus dieser Zugehörigkeit. Oder das Individuum sieht sich keiner ethnischen Gruppe zugehörig und verwendet Teile verschiedenster Kulturen, die zufällig in seinem Leben auftauchen. Dieses Verständnis erfaßt aber nur die äußeren Enden eines Spektrums von Möglichkeiten. Um dieses Spektrum erfassen zu können, hat Daniel Weinstock (1998) eine dreiteilige Stufenabfolge vorgeschlagen. Es zeigt die unterschiedliche Wichtigkeit, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe für das Individuum haben kann:

a) kontingent: Die Gemeinschaft bestätigt uns in unserem Empfinden, daß unsere Ziele wert sind, verfolgt zu werden. Sie stützt uns, wenn wir bezüglich unserer Fähigkeiten, diese Ziele zu realisieren, unsicher sind; b) teilweise konstitutiv: Die Gemeinschaft veranschaulicht und bietet uns Möglichkeiten, wie wir diese Ziele verwirklichen können; c) voll konstitutiv: Das Bestehen der Gemeinschaft wird zu einem zentralen Element unserer persönlichen Ziele. 4 Reflexive Heterogenität als Antwort auf Kulturellen Pluralismus Wie schon weiter vorne erläutert, stellt kultureller Pluralismus eine Herausforderung an Demokratietheorie dar und hinterfragt die Grenzen eines liberalen Weltbildes. Ungerechtigkeiten zwischen ethnischen und kulturellen Gruppen bzw. deren Mitgliedern, die aus einer spezifisch liberalen und rein gegenwartsorientierten Interpretation von Gleichheits- und Gerechtigkeitsgrundsätzen resultieren, machen klar, daß es konzeptionelle Weiterentwicklungen von Demokratietheorie geben muß. Einen solchen Versuch möchte ich hier vorstellen und führe dazu den Begriff der Reflexiven Heterogenität21 ein. Reflexive Heterogenität bezeichnet eine Haltung, die mit kultureller Vielfalt in der eigenen Gesellschaft pluralismusfreundlich umgeht. Dies bezieht sich sowohl auf eine Pluralität der Kulturen auf der kollektiven Ebene als auch auf eine Pluralität der Lebensstile auf der individuellen Ebene. Reflexive Heterogenität sucht auf diese Weise der Demokratie langfristig Stabilität zu verleihen und sie abzusichern. Obwohl sich die von mir vorgestellte Reflexive Heterogenität sehr wesentlich auf das von Parekh vorgeschlagene Konzept des Kulturellen Pluralismus bezieht, geht es in zwei Aspekten darüber hinaus. Erstens thematisiert es Ethnizität als Grenzziehungsprozeß in einer Weise, die situativen Spielraum und individuelle Wahlmöglichkeiten in Selbst- und Fremdzuschreibungen, also die Positionierungsmöglichkeiten für das einzelne Individuum deut149

lich macht. Reflexive Heterogenität gibt nicht nur kulturellem Pluralismus einen moralischen Stellenwert, sondern versucht den verschiedenen Arten der Lebensführung (von gemeinschaftsorientierter bis autonom-individualistischer) gleiche Chancen zu ihrer Entfaltung einzuräumen. Zweitens beinhaltet der von mir gewählte Begriff die Konnotation der Aktivität, nämlich der bewußten Entscheidung der Sprecherin/des Sprechers für eine Zugangsweise, die Reflexion beinhaltet. Dies ist deshalb gerade im deutschen Sprachraum wichtig, da Begriffe wie Multikulturalismus auch auf reine Zustandsbeschreibungen oder naiven Traditionalismus gegenüber Minderheiten reduziert worden sind. Im englischen Sprachraum wurde Multikulturalismus als eine Spezies des Kulturellen Pluralismus beschrieben. Letzterer fungiert als eine Gattung, die sich nicht nur auf kulturelle Gruppen, sondern auch auf die individuelle Ebene ohne spezifische Annahmen über Entitäten beziehen kann. „Multiculturalism” beschränke sich, so Waldron (1996, 96) auf Kulturen als Entitäten22. Die Vorstellung von säuberlich getrennten kulturellen Gruppen in einer Gesellschaft ist, wie im vorigen Kapitel anhand des relationalen Ethnizitätsverständnisses ausgeführt, im Begriff der Reflexiven Heterogenität nicht enthalten, sondern Reflexive Heterogenität konzipiert ein plurizentrisches Modell von Gesellschaft, deren Netzwerkcharakter verstärkt wahrgenommen und gefördert wird. Nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die verschiedenen ethnischen Gruppen weisen Zentren und Peripherien auf. Peripherie ist hier im Sinne des Prototypen-Modells beschreibend und nicht bewertend gemeint. In den peripheren Bereichen von ethnischen Gruppen und kulturellen Gemeinschaften verorten sich die mélangeIndividualistInnen. Diese können auch verstärkt eine Funktion als transkulturelle KommunikatorInnen übernehmen und entwerfen so ihre Subzentren und dazugehörige Infrastruktur. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „reflexiv”? Die Reflexivität umfaßt hier ein sozial konstruktivistisch und somit anti-essentialistisches Verständnis von menschlichen Gruppen, kollektiven Identitäten und damit ver150

bunden sozialen Beziehungen zwischen diesen Gruppen. Die Reflexivität soll auch anzeigen, daß die ganze Bandbreite der Instrumentalisierungsweisen von Gruppenidentitäten mitgedacht wird. Die Entwicklung von Konzepten und Strategien zur Vorbeugung aggressiver und gewaltvoller Auseinandersetzungen erhält eben so viel Aufmerksamkeit wie die Weitererhaltung und –entwicklung der verschiedenen kulturellen Gruppen. Reflexive Heterogenität zeichnet sich aber vor allem durch eine bewußte Wertschätzung kultureller Vielfalt in einem gemeinsamen Nationalstaat aus. Sie geht von einer grundsätzlichen und kontextbezogenen Verhandelbarkeit von Interessen-, Ideologie- und Identitätskonflikten aus23. Ein Staat zeichnet sich durch die Haltung Reflexiver Heterogenität aus, wenn er verschiedenen Formen von Mitgliedschaft (nicht nur der Staatsbürgerschaft, sondern auch der Zivilgesellschaft und der ethnischen Gruppen) Bedeutung zugesteht. Der Staat sollte Formen der Anerkennung kultureller Gruppen etablieren und ihre weitere Entwicklung ermöglichen. Dafür ist eine differenzierte Rechtsdiskussion notwendig. Rainer Bauböck (1999) etwa zeigt, daß liberale Argumentationen gegen jede Form von Kollektivrechten die Tatsache negieren, daß in liberalen Demokratien sowohl gruppendifferenzierte als auch kollektive Rechte unbemerkt, weil selbstverständlich existieren. Das betrifft etwa Altersgruppen beim Wahlrecht, körperliche/geistige Beschaffenheit bei sozialer Unterstützung, Verbandsmitgliedschaft bei Lohnverhandlungen, territoriale Zugehörigkeit bei der Selbstverwaltung. Jacob Levy (1997) versuchte durch eine Klassifikation kultureller Rechte eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, die allzu groben Vereinfachungen vorbeugt, sich aber auch nicht in der Spezifik jedes einzelnen Falles verliert. 4.1 Pluralismus der Lebensführungen Die genannten Möglichkeiten der Verortung des Individuums können auch als Pluralismus benannt werden, nämlich ein Pluralismus der Lebensführungen. Ein Pluralismus, der die von

Waldron angesprochenen Varianten enthält, ohne einer den Vorzug geben zu wollen. Eine politische Haltung sollte meiner Meinung nach Raum für Möglichkeiten öffnen und nicht schließen. Waldrons Vorschlag, das Viele Fragmente-Modell als normativen Ausgangspunkt zu nehmen, führt zu einer Schließung des Raumes für gemeinschaftsorientierte Lebensführungen, etwa solche, die sich im Rahmen ethnischer Gruppen entwickeln. Die politische Haltung, die ich mit Reflexiver Heterogenität bezeichne, möchte Raum für Pluralismus schaffen und nicht nur einen Pluralismus verschiedener Kulturen, sondern auch einen Pluralismus der Lebensführungen, von gemeinschaftsorientiert bis hin zu autonom-individualistisch. Ich glaube nicht, daß dieser Pluralismus zu einem konfliktfreien Zusammenleben führt, sondern daß die Konflikte auf einer gerechteren Basis gelöst werden können.

flikte zwischen kulturellen Gruppen dar und nicht als Extremfall, was einer klaren argumentatorischen Agitation gleichkommt. Andererseits ignoriert er die Tatsache, daß solche Identitätskonflikte in den meisten konstitutionellen Demokratien seit Jahrzehnten andauern, ohne zu eskalieren. Dies liegt vor allem daran, daß die kulturellen Minderheiten immer wieder verhandlungsbereit sind und das, obwohl ihnen – wie in Österreich den Kärntner SlowenInnen – staatsvertraglich zugesicherte Rechte von der durch die kulturelle Mehrheit dominierten Bürokratie vorenthalten werden. Ich schließe mich, wie im letzten Absatz bereits angedeutet und im Gegensatz zu Offes Pessimismus, einer optimistischen Einschätzung der langfristigen Wirkung von reflektiert ausgetragenen Konflikten an. Rainer Bauböck (1996, 100) schreibt unter der Überschrift „Integration durch Konflikt”:

4.2 Die Un/Verhandelbarkeit von Konflikten

“Finally, the multiplicity of conflicts of all different kinds will foster the search for procedurally neutral ways of handling them. Learning by conflict may thus lead to greater stability over time.”

Für die Situation des kulturellen Pluralismus im Nationalstaat bedeutet dies jedenfalls, daß sich so manche politikwissenschaftliche Einschätzung über Beziehungen zwischen kulturellen Gruppen bei genauerer Betrachtungsweise als undifferenziert entpuppt. 24 Claus Offe (1998,120) etwa beschreibt Identitätskonflikte zwischen kulturellen Gruppen im Gegensatz zu Interessen- und Ideologiekonflikten als unverhandelbar und glaubt, daß sie nur durch die Abwesenheit, Isolation oder vollständige Assimilation einer der in den Konflikt verwickelten Gruppen gelöst werden könnten: “Finally, identity conflict poses the most difficult type of conflict, in that the bearers and proponents of one identity make the absence or isolation of the bearers of other identities the benchmark of their well-being (as in ‘ethnic cleansing’) or else they demand the full assimilation of (linguistic, religious, ethnic) minorities to their own identity.”

Er begründet mit einer solchen Einschätzung die Ablehnung von Gruppenrechten in konstitutionellen Demokratien. Einerseits stellt Offe ethnische „Säuberungen” als Prototyp für Kon-

Es geht also nicht darum, Konflikte aus der Welt zu schaffen, sondern neutrale Prozeduren zu entwickeln, um mit diesen Konflikten umgehen zu lernen. 4.3 Balance zwischen Partikularismus und Universalismus Reflexive Heterogenität bedeutet eine Balance zwischen Partikularismus und Universalismus herzustellen, ohne einem von beiden seine Bedeutung abzusprechen. Die Betonung liegt darauf, daß jedes ohne das andere in einer von sozialer und räumlicher Mobilität gekennzeichneten Industriegesellschaft nicht wünschbar ist. Dieser Streit zwischen Partikularismus und Universalismus wird auch als Konflikt zwischen den Loyalitätsformen Patriotismus versus Kosmopolitismus benannt. Polarisierung (wie bei Nussbaum 1996) ist aber nicht die einzige Möglichkeit, mit diesen sich nur in Extremvarianten ausschließenden Bezugsgrößen umzugehen. In 151

einer moderaten Variante ist es durchaus möglich, beides in sich ergänzender, weil begrenzender Weise zusammenzudenken. Da beide Loyalitätsformen mehr mit Gefühlen als mit Ideologien zu tun haben, sind sie mit unterschiedlichen politischen Ideologien kompatibel. Ein kosmopolitischer Patriot25 kann sowohl konservativ, religiös als auch sozialistisch und säkular sein. Wie Arjun Appadurai (1999) herausstellte, werden bestimmte Identitätsaspekte dann vorwiegend destruktiv und aggressiv, wenn sie die Wichtigkeit aller anderer Identitätsaspekte abstreiten oder für sich vereinnahmen. Patriotismus, Nationalismus oder religiöser Fundamentalismus können eine solche räuberische („predatory” im engl. Original) Identitätsform annehmen. Gerade die oftmals konfligierende Qualität verschiedener wertgeschätzter Identitätsanteile verhindert aber, daß eine einzige Identität zur Projektionsfläche des mysteriösen Gefühlssurplus wird, das wir von nationalistischen oder fundamentalistischen Bewegungen kennen. Soziale Schicht und „gender” sind weitere Parameter der Unterscheidung und Ungleichheit, die innerhalb ihrer Kategorie auch zu Solidarisierungen (über ethnische, nationale, religiöse Grenzen hinweg) führen und einer „räuberischen” Form von Identitätsaspekten entgegenwirken. Die verschiedenen Unterscheidungen addieren sich aber nicht bloß, sondern sind miteinander verknüpft. Die Verknüpfung bewirkt, daß sie in der Erfahrung der Individuen nicht trennbar sind. Diese sich überschneidenden Differenzsysteme geben vielmehr die Orte vor, von denen aus sie erfahren und in beschränktem Maße verändert werden können. 5 Schlußfolgerung und offene Fragen Eine der wichtigsten Fragen, die in diesem Artikel nicht angesprochen werden konnten, betrifft die Konstruktion der kollektiven Identität des gemeinsamen demokratischen (Modell)Staates, von dessen kulturellem Pluralismus hier die Rede war. Ich hege große Zweifel an der Reichweite des vernunftzentrierten Verfassungspatriotismus, wie ihn Jürgen Habermas 152

(1996) vorschlägt. Um die emotionale Solidarisierungsressource in einem gemeinsamen Staat abzusichern, waren bisher immer Prozesse notwendig, die den Konstruktionscharakter der kollektiven Identität unsichtbar machten – die Latenzbedingung. 26 Ob das mit der Essentialisierung von „Vernunft” gelingen wird, ist eine spannende und wenig reflektierte Frage. Ebenso konnte ich nicht auf die Frage eingehen, wie mit jenen Gruppen zu verfahren ist, die kulturellen Pluralismus eben nicht als Wert anerkennen wollen. Wie ist mit denen umzugehen, die nicht gewillt sind, mit den aus kultureller Vielfalt resultierenden Problemen und Konflikten reflexiv umzugehen? Ansprüche, die absolute Wahrheit und Vorherrschaft politisch durchsetzen zu wollen, stellen ein noch zu bearbeitendes Problem im Modell Reflexiver Heterogenität dar. Es ist letztendlich eine Frage der Einschätzung, inwiefern die irrationalen und kontingenten Anteile menschlichen Zusammenlebens dieses Modell aushebeln können. Abgesehen von den vielen Fragen, die nicht nur unbeantwortet, sondern auch unangesprochen bleiben mußten, hoffe ich, daß es mir gelungen ist, zu zeigen, inwiefern kultureller Pluralismus eine neue Herausforderung an die Konzeptionierung liberaler Demokratie darstellt. Lange Zeit war der Glaube an das Verschwinden ethnischer Gruppen und damit verbundener grundsätzlich unterschiedlicher Konzeptionen des Guten Lebens in politischen Theorien verschiedenster Provenienz vorherrschend. Diese Vorhersage hat sich nicht bestätigt. Machtprozesse zwischen ethnischen und kulturellen Gruppen sind ungelöste Konfliktfelder, da sie in individuenzentrierten Kategorien schwer faßbar sind und deshalb in liberaler Demokratietheorie tendenziell unbenannt bleiben. Erst wenn liberale Demokratietheorie ihre bisherige Pluralismusfeindlichkeit thematisiert und über die durch den Liberalismus gesteckten Grenzen hinausgeht, werden neue Antworten möglich. Eine mögliche Antwort ist die von mir vorgestellte Reflexive Heterogenität, die kulturellem Pluralismus einen moralischen Wert einräumt und von der grundsätzlichen Verhandelbarkeit von Interessen-, Ideologie- und Identitätskonflikten ausgeht. Reflexive Heterogenität be-

zieht sich aber nicht nur auf ethnischen Pluralismus, sondern auch auf den Pluralismus der Lebensweisen, in den möglichen Abstufungen von gemeinschaftsorientiert bis autonom-individualistisch. Da Reflexive Heterogenität von einem relationalen Ethnizitätsverständnis ausgeht, werden verschiedene Konzeptionen des Guten Lebens weder essentialistisch gefaßt, noch gelten sie als beliebig veränderbar. Reflexive Heterogenität steuert eine Balance zwischen Partikularismus und Universalismus an. Obwohl dieses Konzept Mehrheiten gleichermaßen betrifft, liegt doch besonderes Augenmerk auf der Situation der Minderheiten, die in einem demokratischen Staat all zu leicht der Tyrannei der Mehrheit ausgesetzt sein können. Die Wertschätzung der Mitgliedschaft, die Akzeptanz der Verpflichtungen und das Gefühl der Zugehörigkeit wird für kulturelle Minderheiten umso plausibler, je mehr die demokratischen Werte der Gleichheit und Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit, Respekt und Anerkennung, ja die gleichwertige Möglichkeit kultureller Reproduktion interpretiert werden. Dies soll das Konzept der Reflexiven Heterogenität absichern helfen.

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ANMERKUNGEN 1 Ich möchte mich gleich zu Beginn bei den Herausgebern dieser ÖZP-Nummer für die Zusammenarbeit bedanken, insbesondere aber bei Christian Schaller, der sich mit den verschiedenen Fassungen dieses Artikels besonders intensiv auseinandergesetzt hat. 2 Diese Feststellung bezieht sich vor allem auf die als autochthon bezeichneten Minderheiten, die das von ihnen besiedelte Territorium bereits vor der Festlegung nationalstaatlicher Grenzen bewohnten. 3 Sei es bei einigen im wesentlichen nur die Sprache und bei anderen hauptsächlich die Religion als unterscheidendes Merkmal, so kann die Unterschiedlichkeit bei den sogenannten Indigenen Gesellschaften das gesamte Weltbild betreffen. 4 Waldron (1995), Nussbaum (1996) 5 Parekh (1996, 123–124) zeigt dies für Kant, Locke, Tocqueville, Hobbes, Rawls. Kymlicka (1995, 5) zeigt dies für J.S. Mill und Engels. 6 Wenn die Tendenz zum moralischen Monismus auch nicht auf die westliche Philosophie beschränkt ist,

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so ist es doch besonders interessant, sie hier an der Wiege der Demokratie zu untersuchen. Konzeptionen des Guten Lebens werden Gerechtigkeitskonzeptionen gegenübergestellt, so wie das Persönliche/Private dem Öffentlichen gegenübergestellt wird. Ich meine hier mit einer „Konzeption des Guten Lebens” die wohlüberlegten Vorstellungen einer Person darüber, was sie in ihrem Leben als wertvoll betrachtet und wie diese Werte verwirklichbar sind. Ich möchte auf „polylog”, die neue Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren hinweisen, aus der ich die hier vorgestellte Demokratiediskussion entnommen habe. So wird auch von Kofi A. Busia (1995, 209) die Möglichkeit, daß afrikanische Formen von Demokratie von den Europäern zerstört worden seien, in Betracht gezogen. Ernest Gellner (1995, 8) etwa spricht vom Nationalismus als „Theorie der politischen Legitimität, der zufolge sich die ethnischen (sic!) Grenzen nicht mit den politischen überschneiden dürfen”. Obwohl Ausgangspunkt dieser Definition ethnische Grenzen sind, wird von ihm nicht näher erläutert, was „ethnisch” bedeuten soll. Die alltagssprachliche Verwendung der Termini „Ethnizität” sowie „ethnisch” ist aber meiner Erfahrung nach alles andere als eindeutig, um sie in dieser Weise voraussetzen zu können. Als Beispiel für einen Theoretiker zieht er Will Kymlicka heran. Als Beispiel für einen Künstler, der ein solches Modell in seinen Werken literarisch veranschaulicht, zieht er Salman Rushdie heran. Die Feststellung, daß für die kulturellen „Materialien” keine Preise fixiert wurden, suggeriert, daß die Wertigkeiten individuell verhandelbar wären. Es ist aber ganz im Gegenteil so, daß es sehr klare Hierarchien gibt unter den kulturellen Praktiken, die nicht nur für heute und morgen gelten. Ich schließe mich hier Pierre Bourdieu (1992, 27) an: „Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht.” Diese Hierarchien und Wertigkeiten sind so wie alle anderen in Machtverhältnisse eingeschriebenen Dimensionen weder individuell, noch leicht und schon gar nicht kurzfristig veränderbar und haben deshalb auch performativen Charakter für Selbstwert und Fremdzuschreibungen. Es sei hier angemerkt, daß auch von juristischer Seite (Keller 1998) auf ein sozialanthropologisches Verständnis von Ethnizität und Kultur hingewiesen wird, das einen differenzierteren Blick auf und angemessenere Lösungsmöglichkeiten für die Frage ethnischer und kultureller Rechte ermöglicht. „Allen Formen des methodologischen Monismus, der das ontologische Primat der Struktur oder des Akteurs behauptet, des Systems oder des handelnden Subjekts, des Kollektiven oder des Individuellen, setzt

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Bourdieu das Primat der Relationen entgegen. Seiner Meinung nach spiegeln solche dualistischen Alternativen eine Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit wider, die dem common sense angehört und von der sich die Soziologie befreien muß. Diese Wahrnehmung ist sogar in die Sprache eingegangen, die wir benutzen und die sich besser zum Ausdruck von Sachen als von Verhältnissen, von Zuständen als von Prozessen eignet.”(Bourdieu/Wacquant 1996, 34) Über die Angst vor Grenzen bei SozialwissenschafterInnen siehe Herzog-Punzenberger (1995, 58– 59). Besonders während des Prozesses des nation-building geht es um die Frage, welche kulturelle Gruppe sich durchsetzt, welche Gruppen assimiliert und welche marginalisiert werden. Sowohl den Hinweis auf diese Literaturstelle als auch deren Übersetzung aus dem Niederländischen verdanke ich meiner Kollegin Renate Korber. Anthony Cohen (1994, 63) etwa diskutiert den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt von boundary, border und frontier in Zusammenhang mit Ethnizität. Angelehnt an die Linguistik, die Sprachen mit mehreren Standardvarianten als plurizentrisch benennt. Dieser Terminus enthält eine Anspielung auf Claus Offes (1998) Darstellung, daß die Stabilität konstitutioneller Demokratie auf der reflexiven Homogenität der politischen Gemeinschaft beruhe. “To say that a society is pluralistic is not the same as saying it is multicultural: pluralism may relate to individual lifestyle, vocations, religious faiths, ethics, politics and experiences, with no assumption that these differences coalesce into the shared and abiding entities we call ‘cultures’. Pluralism is the genus; cultural diversity is a species of it.” Waldron (1996, 96) Offe (1998, 119–121) bezeichnet als wesentlichen Unterschied zwischen Interessen- und Ideologiekonflikten auf der einen Seite und Identitätskonflikten auf der anderen Seite, die Verhandelbarkeit der beiden ersteren und die Unverhandelbarkeit der Identitätskonflikte. Diese Konzeption halte ich für pluralismusfeindlich. Frank-Olaf Radtke (1991, 94): „Es entsteht ein Pluralismus der Herkünfte, der sich von dem ,Pluralismus der Interessen’ dadurch unterscheidet, daß eine Kompromißbildung zwischen den aufeinander treffenden Normen immer schwieriger wird.” Kwame Anthony Appiah (1996, 22) schrieb: „The cosmopolitan patriot can entertain the possibility of a world in which everyone is a rooted cosmopolitan, attached to a home of his or her own, with its own cultural particularities, but taking pleasure from the presence of other, different, places that are home to other, different, people. The cosmopolitan also imagines that in such a world not everyone will find it best to stay in their natal patria, so that the circulation of people between different localities will involve not only cultural tourism (...) but migration, nomadism, diaspora.”

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26 Eisenstadt/Giesen (1995, 73): „Like religion, collective identity can also fulfill its ‘function’ only if the social processes constructing it are kept latent.”

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AUTORIN Barbara HERZOG-PUNZENBERGER, geb. 1967, studierte an der Uni Wien Ethnologie und Politikwissenschaften, 1995 Diplomarbeit zu Ethnizitätstheorien, 1996–98 Scholarin am Institut für Höhere Studien, Abt. Politikwissenschaft. Zur Zeit BMWVForschungsprojekt zu Identitätsprozessen von Jugendlichen im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Fremdenfeindlichkeit” Adresse: Matznergasse 8/55, A-1140 Wien Email: [email protected]

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