Erich Honecker als biographische Herausforderung

Martin Sabrow Erich Honecker als biographische Herausforderung Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Prof...
Author: Julius Hauer
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Martin Sabrow

Erich Honecker als biographische Herausforderung Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Prof. Dr. Ulrich Herbert Oberseminar, Mittwoch, 8.5.2013, 18.-20 Uhr, Rempartstraße 15, 0761-203 3439 , KG IV, Übungsraum 2

I. Die Magie der Teleologie ______________________________________________________________________ 3 II. Die Kontrollkraft des Parteigedächtnisses _______________________________________________________ 6 III. Der Glaube an die eigene Ich-Kontinuität _______________________________________________________ 8 IV. Arbeit gegen den Widerspruch _______________________________________________________________ 10 V. Honeckers Wunschbiographie als Beitrag zur DDR-Erklärung _____________________________________ 14

Liebe Kommilitonen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, , Abbildung 1 Vortragstitel

wo ich mit meinem Honecker-Thema auftauche, habe ich ein Akzeptanzproblem. Immer habe ich mit der allgemein vorherrschenden und eigentlich geradezu banalen Annahme zu tun, dass

Honecker aus verschiedenen Gründen eine

biographisch denkbar reizlose Figur ist:  Erstens stellt er das Gegenteil von dem dar, was ein Sturm-und-DrangDichter

ein

„Originalgenie“

genannt

hätte:

nirgendwo

individuelle

Schöpferkraft, mitreißende Umprägung der Verhältnisse, Vision der Umgestaltung, sondern papierner Bürokratenhabitus ohne intellektuelle Strahlkraft.  Zweitens verschmelzen in Honecker Amt und Person in einer Weise, die eine Biographie von vornherein vor das Dilemma stellt, entweder eine Lebensgeschichte der gesamten DDR zu schreiben oder gar keine. Denn es gibt keine anderen Quellen als die in den Staats- und Parteiarchiven zugänglichen –keinen privaten Nachlass, keine persönlichen Dokumente, keine überraschenden Funde, die von einem Gegensatz zwischen dem privaten und dem politischen Honecker künden könnten. Noch sein

1

Arbeitszimmer im ZK-Gebäude atmete „eine gewollte architektonische Monotonie“, wie Besucher bemerkten: „Seltsam,

daß

Persönlichkeit

auch des

dieses

Mannes,

Arbeitszimmer von

seinem

Honeckers Geschmack

von

der

oder

von

künstlerischen Neigungen nichts, aber auch gar nichts ahnen läßt. (...) Wenn Honecker diesen Raum eines Tages verläßt, wird ein Nachfolger nichts umzustellen brauchen.“1  Drittens: Alles, was über Honecker gesagt werden kann, ist in den Jahren zwischen dem Erscheinen seiner Autobiographie 1980 und den Jahren nach 1989 gesagt worden: Sein Lebenslauf ist in dem gegen ihn geführten Prozess ausgiebig beleuchtet worden, und wer immer wo immer einmal mit Honecker etwas zu tun gehabt hatte, hat dies mittlerweile im Genre der Butlerberichte auch veröffentlicht. An Honeckers Leben gibt es wenig Neues mehr zu entdecken, was nicht schon anderenorts berichtet worden ist.  Viertens gibt das Leben Honeckers auch in seinen bekannten Facetten wenig her, was den Reiz der Biographie als Gattung ausmacht: die Reifung

und

Entfaltung

durch

Erfahrungen,

Irrtümer,

Einschnitte,

Richtungswechsel. Honeckers Leben ist der förmliche Gegenentwurf zum bürgerlichen Bildungsroman.  Wilhelm Meisters Lebenssinn, auszubilden“2,

setzte

„…mich selbst, ganz wie ich da bin,

Honecker

das

kommunistische

Credo

der

unwandelbaren Parteitreue von der Geburt bis zum Tode entgegen und ließ seinen Untersuchungsarzt in der Haft 1990 wissen: „Ich war Kommunist, bin Kommunist und werde Kommunist bleiben.“3 Das ist die Ausgangslage. Ich habe am FRIAS vor wenigen Wochen einen Angriff auf diese abweisende Wand versucht, in dem ich auf hinter der glatten Fassade 1

Bölling, Die fernen Nachbarn, S. 72.

2

Daß ich dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“ Wilhelm Meister an seinen Schwager Werner, in: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), Kapitel 68. 3

Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 7, K.-J. Neumärker/J. Morgner/G. Schott, Nervenfachärztliches Gutachten Erich Honecker, 2.9.1990, S. 43.

2

verborgenen Untiefen im Leben Erich Honeckers zu sprechen gekommen bin: seine eben nicht rein proletarische Herkunft, seine bis nach Pommern in die Landwirtschaft ausbrechende Jugendzeit, sein mögliches politisches Versagen vor der NS-Justiz, seine Isolierung in der Zuchthaushaft, seine seltsame Flucht, seine verschwiegene Ehe mit der eigenen Gefängnisaufseherin Ich habe an anderer Stelle gegen ein gewisses Aufstöhnen in den Medien behauptet, dass unser teleologisch gefärbtes Bild von dem störrischen Greis korrekturbedürftig ist und Honecker bis in die letzten Jahre seiner SEDHerrschaft stalinistische Härte mit pragmatischer Elastizität vereinte, die ihn am Ende sogar mit der Idee einer deutsch-deutschen Konföderation unter zwei Saarländern namens Honecker und Lafontaine spielen ließ. Heute möchte ich einen dritten Anlauf skizzieren, an dem ich in diesen Wochen im FRIAS sitze und der das Problem einfach umstülpt, indem er die Reizlosigkeit der Honeckerschen Lebensgeschichte nicht zum vorgegebenen Ausgangspunkt macht, sondern zum erklärungsbedürftigem Phänomen. Ich nehme damit einen Punkt aus der Diskussion am FRIAS auf, in dem uns das Problem beschäftigt hat, dass ich eigentlich nicht an einer Biographie arbeite, sondern an der Biographie der Biographie. Genau dem will ich heute nachgehen. Und die Frage heißt: Wer und was machte Honeckers Biographie so reizlos und unattraktiv?

I. Die Magie der Teleologie Wer heute Honeckers Namen nennt, hat das Bild eines monotonen Silbenverschluckers vor Augen, der nie eine historische Tat vollbrachte, aber auch nie einen theoretischen Gedanken äußerte, der anders als Lenin, Stalin, selbst Ulbricht und Grotewohl nie „Erich Honecker-Werke“ hervorbrachte und dessen intellektuelle Strahlkraft sich in schlichten Weisheiten wie dem Bebelsatz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ erschöpfte. Richard von Weizsäcker, der ihm zweimal begegnete, hielt als seinen beherrschenden Eindruck fest: „Kurzweilig war das Gespräch mit ihm nicht.“ v.

3

Entsprechend statten die vorliegenden Biographien das Bild Erich Honeckers bevorzugt mit den lebensgeschichtlich gleichbleibenden Zügen eines emotional verarmten, intellektuell zurückgebliebenen Kümmerlings aus: „ein zu hoch gestiegener Apparatschik, ideenlos, irgendwie peinlich und vor allem eins: mittelmäßig. Das Talent zur Selbstdarstellung fehlte ihm fast völlig.“ 4 Ebenso wunderte sich Helmut Schmidt nach dem Tod seines innerdeutschen Gegenspielers „Mir ist nie klar geworden, wie dieser mittelmäßige Mann sich an der Spitze des Politbüros so lange hat halten können“.5 Schmidt formulierte damit einen eigentümlichen Widerspruch, den schon zahlreiche Biographen in den letzten fünfzehn Jahren als das „im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon“6 zu entschlüsseln versucht haben: „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“7 Diese Sicht nach 1989 kontrastiert allerdings stark mit der zeitgenössischen. Klaus Bölling erinnerte sich in seinem Memoiren, dass der ihm vorgesetzte FDJChef Honecker im Sommer 1946 zwar nicht zu begeistern vermochte; „seine rednerischen Talente sind recht karg. Und doch schien er einen Teil seiner Zuhörer durch die eindringliche Art seiner Argumente zu beeindrucken.“8 Bölling selbst, als jahrelanger Leiter der Ständigen Vertreter in Ost-Berlin ein besonders ausgewiesener Beobachter, rühmte an Honecker „sein Talent zu strategischem Denken“ und stellte 1983 seine „Bürgernähe“ heraus: „Gäbe es in der DDR so etwas wie einen Popularitätsindex, könnte er seinen Namen an der Spitze der Politbüromitglieder finden“.9 Das war damals offenbar nicht nur sein Eindruck: 4

Lorenzen, 9.

5

Helmut Schmidt, Weggefährten, Berlin 1996, S. 505. Ebenso „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“ Pötzl, Erich Honecker, S. 7. 6

„Es ist dieses im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon, das seine Biographie so spannend macht.“ Lorenzen, Erich Honecker, S. 1 7

Pötzl, Erich Honecker, S. 7.

8

Klaus Bölling, Die fernen Nachbarn. Erfahrungen in der DDR, Hamburg 1983, S. 16.

9

Auch Bundespräsident Karl Carstens habe an Honecker „jene intelligente Nüchternheit, ja Rechtschaffenheit“ festgestellt, die aus ihm „unter anderen Umständen womöglich einen saarländischen Arbeitsdirektor und einen zuverlässigen Funktionär der IG Metall hätte werden lassen.“Ebd., S. 64 u. 69.

4

„Mit dem Eindruck, einen Mann getroffen zu haben, der scharfen Verstand, politischen Instinkt und obendrein eine sehr deutsche Mentalität hat, ist auch Franz Josef Strauß von seinem Besuch bei Honecker in der Schorfheide im Juli 1983 zurückgekehrt. Seinen Vertrauten entwarf einer ein Bild des Generalsekretärs, das Helmut Schmidt kaum anders gezeichnet hätte.“10 Derselben Magie der Teleologie unterlag auch der „Spiegel“, der den DDRBürger A 000 000 im Februar 1990 als einen zur Kenntlichkeit entstellten Kümmerling und „weinerlicher Greis“ porträtierte11, während die Charakterisierung desselben Menschen anlässlich des Vorabdrucks seiner Memoiren im „Spiegel“ 1980 noch ganz anders ausgefallen war: „Über 507 Seiten entsteht das Bild eines ehrlichen, ideologisch überzeugten deutschen Kommunisten“, dessen „für einen Ostblockführer entwaffnende Offenheit“ nachvollziehbare Grenzen habe: „Manchmal verlangt die Rolle des Staatsmannes Diskretion“12 Mit diesem Urteil stand die westlichen Medien nicht allein; auch die DDR-Bevölkerung empfand die Ablösung des Spitzbarts Ulbricht durch Honecker ganz überwiegend als wohltuende Erleichterung und versagte dem neuen Mann an der Spitze mehrheitlich den Respekt nicht, bekundete vielfach sogar distanzierte Sympathie. Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass das Bild des störrischen Greises die Lebensgeschichte eines Mannes perspektivisch verzerren muss, der sich zielstrebig zu einem überregional bekannten Jugendfunktionär hochgearbeitet hatte, drei Jahre den Nationalsozialismus in der Illegalität bekämpfte, zehn Jahre Zuchthaus überstand, bei Kriegsende eine im wörtlichen Sinne halsbrecherische Flucht wagte, die ihn in äußerster Kaltblütigkeit als Vogelfreien durch das in eine Festung verwandelte Berlin mit seinen unzähligen Kontrollen und SD-Streifen schlängeln ließ;

10

Ebd., S. 183.

11

#

12

„Es gibt keine glatte Straße in die Zukunft“. Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, veröffentlicht seine Memoiren“, in: Der Spiegel 35/1980, 25.8.1980, S. 36-41, hier S. 37.

5

eines Mannes, der als FDJ-Gründungsvorsitzender die überparteiliche Jugendarbeit unter SED-Kuratel stellte, in den fünfziger Jahren Zaisser, Herrnstadt, Schirdewan auszuschalten vermochte, 1961 den Mauerbau organisierte, 1971 Ulbricht von der Macht verdrängte und anschließend völlig seinen Platz als Machthaber 18 Jahre zu behaupten wusste und das Leben der SED-Diktatur ungeachtet der fehlenden Nationalstaatlichkeit und im Angesicht des übermächtigen Bruderfeindes im Westen länger zu konservieren wusste als alle anderen Länder des sowjetischen Machtbereichs.

II. Die Kontrollkraft des Parteigedächtnisses Eine zweite Erklärung für die Uniformität und Einsträngigkeit der DDRAutobiographik liegt in der rigiden Kontrolle des eigenen Lebenslaufs durch die Parteikader selbst, die sich immer wieder in Fragebogen detailliert über ihre Lebensgeschichte auslassen mussten. Im Fall der obersten Repräsentanten aber wandelten sich Kaderabteilung und Staatssicherheit von parteiamtlichen Widersachern zu biographischen Unterstützern, die die führenden Genossen mit Hilfe ihrer eigenen Biographiepolitik gegen gegnerische Angriffe zu schützen versuchten. In den siebziger Jahren geriet besonders Honeckers Biographie durch westliche Veröffentlichungen, aber auch durch die in der DDR publizierten Erinnerungen in das Zwielicht der Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit. Die in Berlin aufgewachsene Wera Küchenmeister hatte Honecker in den Tagen der Kapitulation als Wohnungsnachbarn in einem Berliner Mietshaus erlebt und davon in einem knappen Porträt berichtet, das 1969 erschien. Die Geschichte passte aber nicht zu Honeckers verschiedentlich geäußerter Behauptung, Ende April 1945 von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden zu sein, in dem er eine zehnjährige Haft wegen Hochverrats absaß. Die Geschichte wurde noch mysteriöser, als ein anderer Zeitzeuge namens Erich Hanke in seinen Ausführlichkeit den Ausbruch

1974 erschienenen Erinnerungen in aller aus dem Frauenjugendgefängnis in Berlin-

Lichtenberg schilderte, den er am 6. März 1945 mit Erich Honecker zusammen unternommen haben wollte und an dessen Ende sein glückloser Kamerad

6

Honecker wieder in die Fänge der NS-Justiz geraten sein sollte. „Diese Version ist völlig neu“, hakte die FAZ nach. „Sie widerspricht der glaubhaften Darstellung Wera Küchenmeisters, sie klingt aber auch wenig glaubhaft. Und schließlich sind bisher keinerlei Dokumente bekannt geworden, die diese Geschichte belegen könnten.“ Um die schwindende Herrschaft der Partei über Honeckers Biographie neu zu festigen, griff das MfS in großem Stile ein. Im Januar 1978 legte die für die „Aufklärung und Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen“ zuständige Hauptabteilung IX/11 einen „Maßnahmeplan“ vor, die sich auf die „Aufklärung feindlicher Pläne und Absichten gegen die Partei- und Staatsführung (...) durch auftragsgemäße Presseveröffentlichungen in der BRD“ richtete und unter Wahrung der Konspiration nicht weniger als die „Erfassung und Aufbereitung sämtlicher verfügbarer Materialien“ und „vorhandene(r) Erkenntnisse, auch aus anderen Diensteinheiten des MfS (...) und Forschungseinrichtungen des Parteiund Staatsapparates der DDR“ anstrebte.13 Mit Hilfe dieses gigantischen Aufwandes glaubte die Staatssicherheit aus der Kakophonie der umlaufenden Quellen und Zeugnisse so etwas wie eine auf Problemzonen fokussierte Gesamtbiographie der führenden Genossen mit Honecker an der Spitze gewinnen zu können: „In einer Analyse sind sämtliche zusammengetragenen Veröffentlichungen, Dokumente und Erkenntnisse zu bestimmten Zeitabschnitten im persönlichen Werdegang

der

vorgegebenen

Personen

zu

erfassen

mit

dem

Ziel,

Widersprüche darin auszuweisen, die tatsächlichen Quellen erkennbar zu machen und feindliche Absichten zu dokumentieren.“14 Was das bedeutete, lässt sich am anschaulichsten an Erich Hanke veranschaulichen. In einem am 24. Februar 1978 bestätigten Maßnahmeplan setzte sich die Abteilung 11 das „Ziel der lückenlosen Ermittlung und Aufklärung der tatsächlichen persönlichen, beruflichen und politischen Entwicklung und Betätigung“ Hankes. Der dazu ausgearbeitete

und

in

nicht

weniger

als

24

Teilaufgaben

13

BStU HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1978.

14

Ebd.

7

gegliederte

Fragenkatalog umfasste neben der „Auswertung der verfügbaren GestapoVorgänge, der Akten des Oberreichsanwalts mit seinen Vernehmungen“ auch die „exakte Feststellung seiner tatsächlichen illegalen Tätigkeit von Juni 1933 bis August 1935 in Berlin und Beschaffung von Beweisen dazu“

sowie

die

„Aufklärung und Dokumentierung der Umstände seiner Verhaftung“.15 Nimmt man noch hinzu, dass das MfS sich auch die Beschaffung von Hankes Kaderakte und seiner Personalunterlagen bei der Humboldt-Universität Berlin sowie eine Einschätzung seiner bewiesenen Schwäche

oder Standhaftigkeit

vornahm16, werden die Dimensionen des Vorhabens erkennbar: Das MfS ging 1978 daran, Honeckers lebensgeschichtliches Umfeld in einer solchen Lustrationstiefe zu durchdringen, dass alle potentiellen Quellen von Parallel- und Gegenerinnerungen identifiziert und notfalls auch durch gezielte Desavouierung neutralisiert werden konnten, bevor sie die Deutungshoheit der parteioffiziellen Lebensgeschichte des Staatschefs gefährlich zu werden vermochten. Die Hauptabteilung IX/11 entwickelte sich auf diese Weise zu einem Institut des sozialistischen

Gedächtnisses,

das

ohne

Bedenken

juristische

und

historiorgraphische Verfahren ebenso zusammenführte wie den Blickwinkel der nationalsozialistischen Verfolgungsbehörden mit dem ihrer kommunistischen Gegenspieler. Die einzige Instanz, die das MfS an der schrankenlosen Verfügung über die NS-Akten Honeckers hinderte, war der Parteiapparat selbst, der die wichtigsten NS-Unterlagen selbst sekretierte und über den Zugang zu ihnen wachte.

III. Der Glaube an die eigene Ich-Kontinuität Auch Honecker selbst fand in der über alle Zeitenwenden des 20. Jahrhunderts hinweg reichenden Konstanz seiner Haltung und Denkweise den Kern seiner IchIdentität. Über seinen Lebensweg gab er auch nach dem Untergang des 15

Ebd.

16

„Tiefgründige Auswertung und Analysierung der faschistischen Prozeßunterlagen, um die Ursachen seine Verhaftung und der der anderen Personen festzustellen. (Welche Angaben belastenden Charakters zu welcher Zeit zu welchen Personen getätigt?).“ Ebd.

8

beschützenden und sinngebenden Parteigedächtnisses gleich nach seinem Sturz

bereitwillig

Auskunft17,

und

er

beschäftigte

sich

noch

in

der

Untersuchungshaft 1992 mit neuen autobiographischen Schreibplänen: „Auf die Frage, ob er, Herr Honecker, beabsichtige, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, gibt er an, daß er schon dabei sei. Er habe damit in Moskau begonnen.“18 Von

einem

erkennbaren

Stolz

auf

die

Vorbildhaftigkeit

der

eigenen

Kontinuitätsbiographie war ebenso schon Honeckers erste, 1980 erschienene Lebensgeschichte durchzogen, und ihr Kernsatz lautete: „Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, da ich an unserer Sache gezweifelt hätte – weder in der Kindheit noch in der Jugendzeit, den Jahren des Eintritts in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und des Eintritts in die Kommunistische Partei Deutschlands, weder im antifaschistischen Widerstandskampf 1933 bis 1935 noch im faschistischen Zuchthaus 1937 bis 1945, weder in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, dem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), im Dezember 1935 noch vor dem „Volksgerichtshof“ im Juni 1937, weder in der Kaserne der „Leibstandarte Adolf Hitler“ der faschistischen „Schutzstaffel“ (SS) Ende 1935 noch im Angesicht des Henkers, der während der anderthalb Jahre Untersuchungshaft mein ständiger Begleiter war.“19 An der Wahrheit seiner so auf ihren Kern reduzierten Lebensgeschichte hegte Honecker auch nach dem Untergang der DDR keinen Zweifel:„Ich brauche mein Buch ‚Aus meinem Leben‘ nicht umzuschreiben und auch nicht meine Kaderakten im Zentralkomitee der SED“20, gab er 1992 zu Protokoll und hatte 17

Zwischen Februar und Mai 1990 wurden nach Auskunft der Herausgeber die Interviews geführt, die Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg unter dem Titel „Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör“ (Berlin 1990) publizierten. 18

Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 28, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S. 23. 19

Erich Honecker, Aus meinem Leben, S. 9.

20

Erich Honecker, Zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992, S. 67.

9

schon unmittelbar nach seinem Sturz Besuchern wie Reinhold Andert den Eindruck vermittelt, mit seiner Lebensgeschichte ebenso ungebrochen wie unbefangen umzugehen.21 Der über 1989 hinwegreichende Glaube an seine unbedingte Ich-Kontinuität lässt die Bindungskraft der kommunistischen Sinnwelt fassbar werden, die zumindest die Machthaber keine Konfrontation mit Zensur und Tabu mit sich brachte, sondern offenbar unbefangen gelebtes Leben darstellte. Die

Einsträngigkeit seiner Biographie

wurde

Honecker nicht

aufgedrängt; sie war sein eigener Identitätskern.

IV. Arbeit gegen den Widerspruch Abbildung 2 Arbeit gegen den Widerspruch

Um diese identitätsverbürgende Kraft zu wahren, bedurfte freilich auch Honeckers Lebensgeschichte einer gelegentlich behutsamen, zuweilen auch kraftvollen Glättung. Über sie ist 1990 vielfach gehandelt worden, nachdem der „Stern“ unter dem Stichwort „Die Lebenslüge Erich Honeckers“ und ein aus dem DDR-Fernsehen bekannter Staatsanwalt die „Akte Honecker“ publiziert hatte, in der festgestellt wurde: Es ist Honecker zum Vorwurf zu machen, „daß er mit Beschönigungen, Auslassungen und Lügen eine Legende um diesen Teil seines Lebens wob, um mit dem Mythos vom aufrechten Antifaschisten den Anspruch auf die Macht im sozialistischen DDR-Staat zu legitimieren.“22 Offenkundiger Stilisierung unterlag vor allem das Bild von Honeckers persönlicher und familiärer Standhaftigkeit gegenüber dem NSRegime. Seine Autobiographie umging die mehrere Mitangeklagte belastenden Aussagen, die er im ersten Schock der Verhaftung 1935 gemacht hatte, und sie streifte nur knapp das familiäre Sakrileg des jüngsten Bruders, der sich auf die Seite der Nationalsozialisten geschlagen hatte. Sie unterdrückte die zeitweilige Hoffnung auf Begnadigung zur Frontbewährung, die Honeckers Vater mit Reinhold Andert registrierte bei seinen ausführlichen Gesprächen mit Honecker in Lobetal: „Ich merkte aber bald, daß ich von Honecker ehrliche Antworten bekam, wenn ich Fragen persönlich, mit der eigenen Biographie verwoben, stellte.“ Andert, Nach dem Sturz, S. 116. 21

22

Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 36.

10

Unterstützung

des

Brandenburger

Zuchthausdirektors

durch

zwei

Gnadengesuche unter Beteuerung der erfolgreichen Läuterung seines Sohnes zum regimeloyalen Volksgenossen zu befördern gesucht hatte. Honeckers Memoiren gaben keinen Aufschluss über die einzelgängerische Verschlossenheit und manchen Mitgefangenen befremdende Büttelhaltung, in der Honecker seine verschiedenen Kalfaktorenposten während der Haftzeit in augenscheinlicher Distanz zum kommunistischen Netzwerk seines Zuchthauses verbracht hatte.23 Sie verschwiegen die näheren Umstände seiner Befreiung 1945 ebenso wie seine

erste

Eheschließung

mit

einer

Aufseherin

des

Berliner

Frauengefängnisses, in dem er selbst viele Monate inhaftiert war und von dem aus regelmäßig weibliche Opfer des NS-Regimes zur Hinrichtung nach Plötzensee überstellt wurden. Doch bemerkenswert ist nicht so sehr der Umstand, dass Honecker seinen Lebenslauf im Rahmen der für kommunistische Regime charakteristischen „politics

of

biography“24

redigierte,

sondern

vielmehr,

wie

er

die

kohärenzbedrohenden Aspekte seines Lebens in seine Kontinuitätsbiographie integrierte: In keinem der genannten Fälle hieß simples Verschweigen sein Rezept, sondern Einpassung. Dazu nutzte Honecker zwei Verfahren. Das eine lässt sich als Dekontextualisierung und Neuarrangement beschreiben. So unterdrückte Honecker den die Familientradtion befleckenden Seitenwechsel seines Bruders zu den Nazis nicht, sondern erzählte ihn als Geschichte einer gescheiterten Bemächtigung durch das NS-Regime. Nicht anders fand seine nach dem Krieg geehelichte Gefängnisaufseherin als „gute Bekannte“ und heimliche Unterschlupfgeberin in ihren verschiedenen Rollen ungehinderten Eingang in seine Autobiographie – ohne allerdings als ein und dieselbe Person oder gar spätere Gattin identifizierbar zu werden. Das zweite Verfahren setzte auf etwas, das sich als zirkuläre Intertextualität beschreiben lässt: Honecker schrieb sich in seinem Memoiren mit Vorliebe an schon vorliegende Äußerungen heran. So schildert er seine immer strittige Flucht 23

Epstein, The Last Revolutionaries (Anm. 8), S. 80f.

24

Ebd., S. 9.

11

fast ausschließlich, indem er bereits veröffentlichte Erinnerungen ausdrücklich zitierte oder stillschweigend paraphrasierte. Für beides ein Beispiel: „Am 4. Mai 1945 war ich wieder in der Landsberger Straße 37, in dem Haus, in dem ich damals Unterschlupf gefunden hatte, vielmehr in dem, was – wie Wera Küchenmeister in ihren Erinnerungen schreibt – ‚von der muffigen Mietskaserne übriggeblieben war, in mühselig zusammengehaltenen Mauern, hinter Bergen von geborstenen, rauchgeschwärzten Steinen‘.“25 Neben dem ausgewiesenen Zitat stand der Schulterschluss durch Übernahme: „Als der Februar des Jahres 1945 seinem Ende zuging, erwogen Erich Hanke und ich immer ernsthafter, das Arbeitskommando zu verlassen. Den Ausschlag gab

schließlich

Kammergericht

eine Berlin,

Information, dem

das

daß

der

Generalstaatsanwalt

Arbeitskommando

beim

unterstand,

im

Zusammenhang mit unserer geplanten Entlassung vom SS-Kommandoführer [recte: Oberwachtmeister] Seraphin [recte: Seraphim] eine Bürgschaft über unsere politische ‚Zuverlässigkeit‘ verlangt hatte. Dieser lehnte ab. Als Erich Hanke mich davon unterrichtete, stand für mich fest: Jetzt ist jede Diskussion überflüssig! Wir müssen hier ´raus!“26 Sechs Jahre vorher hatte Hanke in seinen eigenen Memoiren geschrieben: „Da teilte mir die stellvertretende Anstaltsleiterin des Frauengefängnisses Barnimstraße mit, der Generalstaatsanwalt, dem unser Kommando unterstellt war, habe von SS-Hauptsturmführer [recte: Oberwachtmeister] Seraphin [recte: Seraphim] eine Bürgschaft über unsere politische Zuverlässigkeit verlangt. Seraphin habe jedoch eine Zuverlässigkeitserklärung abgelehnt. Als ich Erich davon in Kenntnis setzte, meinte er: ‚Jetzt ist jede Diskussion überflüssig! Wir müssen hier ´raus!‘“27 Die Bezugnahme war zirkulär, weil Hanke seine Erinnerungen vor der Freigabe Honecker zur Begutachtung vorgelegt hatte. In der Sache hatte Seraphim übrigens mit der Angelegenheit wenig zu tun. Hanke wie Honecker

25

Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1980, S. 107.

26

Erich Honecker, Aus meinem Leben, S. 103.

27

Erich Hanke, Erinnerungen eines Illegalen, Berlin (O) 1974, S. 178.

12

hatten

vielmehr ihre jeweiligen Gnadengesuchen mit der Bitte um Frontbewährung verknüpft, und ihnen war vermutlich bedeutet worden, dass der Berliner Generalstaatsanwalt dieser Bitte noch im März zu entsprechen beabsichtigte. Mit anderen Worten: Sie flohen nicht, weil sie in der Haft umzukommen fürchteten, sondern um nicht durch Freilassung in Hitlers letztes Aufgebot zu geraten. Noch aufschlussreicher wird das Verfahren der zirkulären Intertextualität in einer anderen Episode, die nicht undelikat war: Honecker war nämlich nicht mit den anderen politischen Gefangenen als geschlossener Trupp von Brandenburg nach Berlin gezogen, wo die meisten dann von Ulbricht aufgesucht und mit politischen Aufgaben versehen wurden. Vielmehr hatte er sich auf eigene Faust gleich nach der Befreiung mit einem Haftkameraden Alfred Perl auf den Weg gemacht, was seine völlige Isolierung im Zuchthaus unterstreicht. Gegen Perls Zeugnis schreibt er aber, am selben Tag wie die befreiten Kameraden losmarschiert zu sein, und belegt diese Falschbehauptung mit einem Zitat aus den Erinnerungen von Wilhelm Thiele: Zuvor nahm ich meine persönlichen Sachen in Empfang und verabschiedete mich von Wilhelm Thiele. ‚Als wir uns trennten‘, erinnerte er sich später, ‚hatten wir gerade unsere Kleidersäcke aus der Effektenkammer geholt. Dabei fiel mir ein, dass ich ja ohne Mantel ins Zuchthaus eingeliefert worden war. Als Erich das hörte, holte er aus seinem Kleidersack einen schönen, fas neuen Covaercoat und – hilfsbereit, wie er immer war – schenkte ihn mir.“28 So steht es auch in Thieles publizierten Erinnerungen. Aber es steht nicht in seinem Manuskript, dass er vor Freigabe Honecker zur Einsichtnahme übergeben hatte. Honecker selbst hatte die Episode, die Thiele gar nicht mehr präsent war, in Thieles Erinnerungen hineingebracht, um sich später auf sie zu berufen. In diesen biographischen Einpassungsverfahren kommt das erstaunliche Vermögen der vor 1933 sozialisierten Gründergeneration zum Ausdruck, die versicherte Wahrhaftigkeit

28

der

eigenen

Kontinuitätsbiographie

auch

Erich Honecker, Aus meinem Leben, S. 112.

13

gegenüber

widerstrebenden Aspekten der Lebensgeschichte zu bewahren, ohne sich selbst der Lüge überführen zu müssen.

V. Honeckers Wunschbiographie als Beitrag zur DDR-Erklärung Zum Schluss zu der Frage, wohin eine solche Biographie der Biographie überhaupt führt, was sie zu erklären hilft. Ich sehe ihre Erklärungskraft in vornehmlich drei Aspekten, die ich zum Schluss kurz anreißen möchte.

a) Legitimatorische Bindungskraft So deutlich in den vorgestellten Beispielen der glättende Eingriff fassbar wird, mit dem Erich Honecker – wie viele andere Vertreter der kommunistischen Herrschaftselite auch – seine Lebensgeschichte fugenlos in das Format der kommunistischen Kontinuitätsbiographie einpasste, so stark tritt zugleich das Bemühen hervor, dennoch die persönliche Glaubwürdigkeit zu wahren. Auch die Lebenslehre von Erich Honecker konnte in ihrer Vorbildlichkeit nur allmächtig sein, weil sie im Selbstverständnis des Autors in jeder Hinsicht wahr blieb. Aus der Biographie der Honecker-Biographie lässt sich eine Schicht der inneren Bindungskräfte der DDR erschließen, die über die Treue gegenüber der Ideologie und die Achtung vor dem antifaschistischen Kämpferschicksal hinausgeht und die sozialistische Ordnung als eigenständige Sinnwelt fassbar macht.

b)Zäsurennegierung und Realitätsverlust Honecker und die ostdeutsche Gründergeneration insgesamt war als Wir-Schicht habituell nicht in der Lage, historische Brüche anders denn als politischen Verrat zu verarbeiten. Im Gegenteil gab gerade die Kontinuität einer ungebrochenen Wir-Biographie Honecker den mentalen Halt, um seinen Sturz aus der Macht in die Obdachlosigkeit zu verarbeiten. In dieser Denkwelt ging die Zäsur des Herbstes 1989 auf in der überwölbenden Gleichförmigkeit der

14

Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die noch Honeckers Denken auf dem Weg in das Untersuchungsgefängnis bestimmte: „So wie ich am 4. Dezember 1935 von der Gestapo in der Klosterstraße in die Mitte genommen wurde im Auto, so ging auch diese Fahrt von der Charité bis nach Rummelsburg.“29 Es war Honecker als Gefangenem seiner eigenen geglaubten Lebensgeschichte offenbar unmöglich, die Zäsur von 1989 in ihrer Tragweite zu ermessen und auf sie im Sinne der kommunistischen Herrschaftssicherung adäquat umzugehen. So lässt sich besser erklären, warum das immer noch von ihm beherrschte Regime Anfang Oktober auf die Krise mit ideologischen Versatzformeln reagierte, deren Irrealität außerhalb des generationellen Führungszirkels jedermann aufstieß und zur weiteren Delegitimierung es Regimes beitrug: "Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete ,Heim-ins-Reich -Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat. (...) Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen."30

c) Honeckers Politikstil als Einheit von Starrheit und Elastizität Die „Ära Honecker“ hebt sich als bürokratisierte Routineherrschaft von der dezidiert konfliktbetonten Selbstlegitimierung der Jahre unter Ulbricht ab. Sie durchzog eine auffallende Gemengelage von Liberalisierung und Repression, von kultureller Lockerung und politischer Verhärtung. Ich behaupte, dass es einen biographischen Zugang zu dieser Gemengelage von starrem Festhalten an 29

Andert/Herzberg, Der Sturz, S. 44.

30

In: Neues Deutschland, 2.10.1989. Am 17.1 1990 erklärte Joachim Herrmann im Untersuchungsausschuss der Volkskammer, dass Honecker den Kommentar nach Lektüre gebilligt und um den letzten Satz ergänzt habe..

15

ideologischen Normen und elastischer Unbefangenheit gibt, die sich in der seltsamen Doppelung von nie aufgegebener Stalin-Verehrung und nahezu freundschaftlichem Umgang mit Politikern wie Herbert Wehner, Walter Leisler Kiep und selbst Franz Josef Strauß zeigt. Honeckers politische Vision zielte schlicht darauf, „ein besseres Leben sichern“ zu wollen,31 und sie war pragmatisch genug, auf dem Wege dahin nach allen Seiten bündnisoffen und undogmatisch zu bleiben – beides Erfahrungen, die Honecker nach dem Ende der kommunistischen Fortschrittshoffnung zum geeigneten Prätendenten einer Herrschaft machten, die auf Machtsicherung statt Welteroberung ausgelegt war. Die lebensgeschichtliche Kontinuitätsfixierung erleichterte ihm die milieugeprägte Identifizierung mit dem kommunistischen Paradigmenwechsel von der politischen Erlösungshoffnung zur materiellen Bedürfnisbefriedigung, die alle Länder des sowjetischen Machtblocks in ihrer „realsozialistischen“

Phase

erfasste.32

Sie

erschwerte

andererseits

ein

Umsteuern in der finalen Krise. Die Strategie sozialer Gratifikationsgewährung, die Honecker auf dem VIII. Parteitag in die Formel der Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik

goss,

fußte

Opportunitätserwägung, Sozialisationserfahrung,

für

Honecker

sondern die

zu

auf

missachten

nicht

auf

einer einen

einer

taktischen

lebensleitenden Grundpfeiler

seiner

Kontinuitätsbiographie angriff. Nicht mangelndes Wissen um die ökonomische Verfassung der DDR, sondern sein lebensgeschichtlich verankertes Credo guter Politik ließ Honecker an der ruinösen Wirtschafts- und Sozialpolitik bis zum Schluss festhalten und hilft so den fast widerstandslosen Zerfall des „sozialistischen Experiments“ zu erklären. Vor allem aber: Als Biograph muss ich methodisch reflektieren, dass Erich Honeckers Lebensgeschichte nicht allein aus den überlieferten Zeugnissen und Fakten zu gewinnen ist; sie muss sich zugleich mit den unterschiedlichen Narrativen auseinandersetzen, in denen die einzelnen fassbaren Umstände 31

Ebd., S. 13.

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Herrmann bilanziert den Übergang von Ulbricht zu Honeckers so: „Bis dahin hatte im Vordergrund gestanden, was der einzelne für den Sozialismus tun sollte. Künftig sollte es vor allem darum gehen, was er vom Sozialismus hätte“. Herrmann, Der Sekretär, S. 28.

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dieses Lebens überliefert und gedeutet wurden. Ich kann die Biographie Erich Honeckers nur zugleich auch als Biographie seiner Biographie angehen, weil schon die reizlose Blässe seiner Lebensgeschichte nicht in Honeckers gelebtem Leben gründet, sondern in seiner erzählten Geschichte.

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