Es ist genug für alle da. Welternährung und nach - haltige Landwirtschaft

Lesebuch Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema „Es ist genug für alle ...
Author: Sigrid Koch
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Lesebuch

Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema

„Es ist genug für alle da“ Welternährung und nach­haltige Landwirtschaft 6. Tagung der 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 10. bis 13. November 2013 in Düsseldorf

Impressum Herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Herrenhäuser Straße 12 30419 Hannover www.ekd.de Redaktion: Klaus J. Burckhardt, Renate Knüppel, Gudrun Kordecki, Claudia Warning, Klaus Seitz Layout: Jutta Herden Titelfoto: Frank Schultze, Brot für die Welt Fotos: Brot für die Welt Gesamtherstellung: Geschäftsstelle der Synode der EKD Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover www.ekd.de Kooperationspartner: Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. Caroline-Michaelis-Straße 1 10115 Berlin, Germany www.brot-fuer-die-welt.de Oktober 2013

Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema

„Es ist genug für alle da“ Welternährung und nach­­haltige Landwirtschaft 6. Tagung der 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 10. bis 13. November 2013 in Düsseldorf

Mitglieder des Vorbereitungsausschusses Maike Axenkopf, Trier Heinrich Kemper, Lage Viola Kennert, Berlin (Vorsitzende) Dr. Gudrun Kordecki, Schwerte Dr. Monika Lengelsen, Wuppertal Uwe Meinhold, Berlin Henning Schulze-Drude, Wittingen Dr. Viva-Katharina Volkmann, Verden (Aller) Prof. Dr. Claudia Warning, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Harald von Witzke, Berlin Weitere Mitarbeit: Dr. Martin Heimbucher, Hannover (UEK) Florian Hübner, Hannover (Entsandt durch VELKD als Ref. des DNK-LWB) Dr. Renate Knüppel, Hannover (EKD) Dr. Klaus Seitz, Berlin Geschäftsführung: Klaus J. Burckhardt, Hannover (EKD) Martin Schindehütte, Hannover (EKD)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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1 Theologische Grundlegung Nahrungsgerechtigkeit und Christliche Ethik Heinrich Bedford-Strohm

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Brot für die Welt-Projekt Indonesien: Im Einklang mit der Natur

2 EKD-Texte zur Thematik 2.1 Klärung der Begriffe 2.2 Ethische Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft 2.3 „Es genug sein lassen“: Von der Effizienz zur Suffizienz 2.4 Konziliarer Prozess und Option für die Armen 2.5 Empfehlungen der Kammer für nachhaltige Entwicklung für den weiteren Reformprozess der Europäischen Agrarpolitik Brot für die Welt-Projekt Bangladesch: Gebt uns unser Land!

3 Strategien im Kampf gegen den Hunger Dialogprozess zwischen den Kirchen und dem BMELV Brot für die Welt-Projekt Peru: Das Comeback der tollen Knolle

4 Brich mit den Hungrigen Dein Brot! Uwe Meinhold Brot für die Welt-Projekt Argentinien: Mutig gegen Landraub

5 Ausländische Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen und die globalen Preisentwicklungen bei Agrargütern Hans Diefenbacher

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Inhaltsverzeichnis

6 Landwirtschaft. Ein Thema der Kirche Clemens Dirscherl Brot für die Welt-Projekt Kenia: Der ewigen Dürre trotzen

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7 Geschlechtergleichstellung und Ernährungssicherheit Olivier De Schutter

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8 Die Welt nachhaltig ernähren – Agrarökologie fördern Ecumenical Advocay Alliance

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Brot für die Welt-Projekt Guatemala: Mit dem Mut der Verzweiflung

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9 Gesundheit und Fehlernährung Olivier De Schutter

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10 Soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung Olivier De Schutter / Magdalena Sepulveda

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Brot für die Welt Projekt Burkina Faso: Überleben im Klimawandel

11 Internationaler Agrarhandel und Entwicklungsländer Harald von Witzke

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12 UN-Report: Eine neue globale Partnerschaft – Armut beseitigen und Volkswirtschaften transformieren durch nachhaltige Entwicklung 102

Vorwort Als Christinnen und Christen wissen wir, wie zentral Geschichten ums Essen und Sattwerden in der Bibel sind. Die Vater-Unser-Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ gehört zum Grundvollzug unseres Glaubens. Diese Bitte, mit der uns Jesus selbst beten lehrt, weist weit über das bloße Lebensmittel hinaus. Luthers Er­k lä­ rung im Kleinen Katechismus sagt: Brot ist „alles, was not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Ehe­ leute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherrn, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nach­ barn und desgleichen.“ Brot steht damit letztlich für alles, was für menschliches Leben notwendig ist und also unsere Not wenden kann. Im Abendmahl feiern wir Gottes Gabe des Lebens und seine Gemeinschaft mit uns. Es begründet unsere christ­ liche Gemeinschaft und stillt den Hunger der Seele nach Gott. Christliche Gemeinschaft ist so Gabe und Auf­ gabe: Wir sind befreit zu solidarischem Teilen. Denn eine grundlegende Herausforderung für unseren Glau­ ben ist, dass immer noch etwa eine Milliarde Menschen extreme Armut und Hunger leiden! Darum ist es so wichtig, dass sich die Synode der EKD auf dieser Grundlage intensiv mit den Fragen von Welt­ er­nährung und nachhaltiger Landwirtschaft beschäftigt,

Dr. Günther Beckstein Vizepräses der Synode der EKD

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nach Wegen nachhaltiger Wirtschaftsformen fragt und auf gerechte Teilhabe drängt. Dieses Lesebuch bietet da­ zu Fakten und Perspektiven für unsere synodale Debatte und daraus zu ziehende Folgerungen. Unsere Aufgabe ist es, angesichts krisenhafter Ent­w ick­ lungen Raum zu schaffen für neues Denken, für Um­kehr und transformatives Handeln. Wir selbst können dafür eine Menge tun – bei unseren eigenen Ernäh­rungs­ge­ wohnheiten, unserem persönlichen Lebens­ stil, aber auch in beispielhaftem Handeln in unseren Ge­mein­ den, in kirchlichen Einrichtungen und im gesellschaftlichen Dialog. Vom fairen Einkauf bis hin zu nachhaltiger Landwirtschaftspolitik. Eine „Ethik des Genug“ ist dabei Gewinn und nicht Verlust von Lebens­qualität! Sie ist ein Zeichen des Vertrauens auf Gott, ein Zeichen der Dankbarkeit für seine wunderbare Schöpfung. Schon lange ist uns bewusst, dass Nachhaltigkeit, Ge­ rechtigkeit und Partizipation wesentliche Aspekte der Zukunftsfähigkeit unserer Erde sind. Weil der Skandal des weltweiten Hungers zum Himmel schreit, gibt es in der Perspektive des Glaubens einen Vorrang für die Armen, einen Vorrang für die Hungernden. Für die Debatten unserer Synodaltagung wünschen wir uns, dass es im Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln gelingt, Welternährung und nachhaltige Land­w irtschaft so zu bedenken, dass darüber deutlich wird: Die Evan­ ge­lische Kirche in Deutschland ist den Ärmsten ein Anwalt ihrer Hoffnung. Denn: „Es ist genug für alle da!“

Klaus Eberl Vizepräses der Synode der EKD

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

Feldarbeit, Angola. Foto: Jörg Böthling.

1. Theologische Grundlegung Nahrungsgerechtigkeit und Christliche Ethik Heinrich Bedford-Strohm 1. Einleitung Lassen Sie mich den Vortrag 1 mit einem Blick vom nächsten Jahrhundert in unsere Zeit zurück beginnen. Stellen wir uns folgende Pressemeldung im „Global Electronic Observer“, dem mit 2 Milliarden Abonnenten weltweit größten Nachrichtenmedium, vom 15. Januar 2100 vor: Aufarbeitung der Geschichte gefordert Bei einer internationalen Milleniums-Konferenz im süd­­afrikanischen Cape Town haben führende Histori­ ker gestern eine neue Anstrengung zur Aufarbeitung der Geschichte des 21. Jahrhunderts gefordert. Der weit renommierte deutsche Historiker Michael welt­­­ Misakwani erinnerte an die massive Verletzung der Menschen­ rechte, die die ganze erste Hälfte des 21.  Jahr­ hundert gekennzeichnet hätten. Misakwani, der selbst afrikanische familiäre Wurzeln hat, wies insbesondere auf das unsägliche Leid hin, das der Mangel an Nahrung und medizinischer Grundversorgung in vielen Ländern Afrikas gefordert habe. Heute unvor-

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Vortrag auf dem Symposium „Wir haben genug!“ im An­ schluss an die 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im Juli 2010; abgedruckt in: blick in die Welt (2010), Nr. 4, S. 1-8.

stellbare 25 000 Tote seien damals aus Armutsgründen jeden Tag zu beklagen gewesen. Schon damals sei klar gewesen, dass es auf der Welt genug Nahrungsmittel gebe, um jedem Menschen ein Existenzminimum zu garantieren. Ins­ be­ sondere im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sei der Reichtum in Teilen der Welt sprunghaft angestiegen, ohne dass die Ressourcen zur wirksamen Be­kämpfung der Armut genutzt worden seien. Auch die Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008 habe nur für ein vorübergehendes Nachdenken gesorgt. Das garantierte weltweite Grundeinkommen, auf das heute jeder Erden­bürger und jede Erden­bür­ gerin Anspruch habe, sei damals von vielen noch als illusionäre Idee gesehen worden, obwohl die Ressour­ cen dafür schon damals dagewesen sei7 en. Die Religionsgemeinschaften hätten zwar immer wieder die weltweiten Ungerechtigkeiten angeprangert. Viele ihrer Mitglieder hätten aber damals an den Schaltstellen der Macht gesessen, ohne dass sie die durch Armut bedingten massiven Menschen­ rechts­ verletzungen gestoppt hätten. Bis heute, so Misak­ wani, habe die historische Wissenschaft noch nicht wirklich aufgearbeitet, wie es dazu kommen konnte. Der Harvard-Historiker John Obama, ein Nachfahre des ersten schwarzen Präsidenten der USA, wies auf die Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge in den damaligen ersten Jahrzehnten der Globalisierung hin. Die wirtschaftliche Dynamik sei so groß gewesen, dass die humanitäre Dynamik damit nicht Schritt gehalten habe. Viele der damals führenden Ökonomen und Politiker seien ernsthaft davon überzeugt gewesen, dass sich die Überwindung der Armut von selbst ein-

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stellen werde, wenn wirtschaftlichen Aktivitäten möglichst wenig Grenzen auferlegt würden. Sie seien sich deswegen der moralischen Fragwürdigkeit des herrschenden Wirtschaftssystems gar nicht bewusst gewesen. Einen besonderen Akzent setzte die chinesische Kirch­en­geschichtlerin Ka Wee Yan. Yan, die bei der Kon­ ferenz die OECC (One Ecumenical Church of Christ) vertrat, analysierte in ihrem Vortrag die Rolle der Kirchen. Die damals noch in verschiedenen Kon­ fes­sionen getrennten Kirchen – so Yan – seien zum einen häufig so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie die moralische Brisanz der existierenden Zustände unterschätzt hätten. Zum anderen habe trotz der schon damals vorhandenen Medien die unmittelbare Konfrontation mit dem täglichen Elend und Tod gefehlt. Viele Christinnen und Christen hätten schon damals engagiert geholfen, wenn sie persönlich mit Leid konfrontiert gewesen seien. Die welt­weiten Un­ge­rechtigkeiten hätten sie aber für unüberwindbar ge­­ halten, so wenig das im Rückblick nach­vollzieh­bar sei. Yan plädierte dafür, sich nicht auf dem Erreich­ten auszuruhen. Man habe zwar in den letzten Jahr­zehnten die Voraussetzung dafür geschaffen, dass jeder Mensch auf Erden ein materiell sorgenfreies Leben führen könne. Die vollständige Integration der Technik in das menschliche Leben im 21. Jahrhundert habe aber neue Herausforderungen liche Zusammenleben gefür das zwischenmensch­ schaffen. Die australische Historikerin Irabinna Ngurruwutthun sprach über die ökologische Umorientierung im 21. Jahrhundert. Man könne sich heute gar nicht mehr vor­stellen, welch massive Gewalt die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Erde gegenüber geübt hätten. Man habe damals im Hinblick auf viele im täglichen Leben benutzte Güter von „Abfall“ gesprochen. Man habe diese Stoffe vergraben oder verbrannt. Man habe zwar bei einigen Stoffen wie Glas und Papier schon mit Recycling begonnen. Die heute übliche komplette Wiederverwendung gebrauchter Güter habe man damals aber noch für zu teuer gehalten. In wenigen Jahr­zehnten habe man damals Wertstoffe aus der

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Erde geholt, die in vielen Millionen Jahren gewachsen seien. Die großen Umsiedlungsprogramme der letzten Jahrzehnte, bei denen Australien die Hauptlast getragen habe, seien durch die Klimaveränderungen nötig geworden, die sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch weithin ungebremst entwickelt hätten und den Meeresspiegel deutlich hätten ansteigen lassen. Viele hätten die vollständige Umstellung auf regenerative Energien, die Mitte des 21. Jahrhunderts weltweit abgeschlossen worden sei, damals noch für illusionär gehalten. Man habe einen Lebensstil gepflegt, der von Wasser- und Energieverschwendung geprägt gewesen sei. Erst durch die weltweit gut organisierten zivilgesellschaftlichen Bewegungen des frühen 21. Jahrhunderts habe sich ein grundlegender Bewusstseinswandel vollzogen. Heute könne sich kaum jemand mehr vorstellen, warum die Menschen damals ein Leben mit immer mehr Konsum für erstrebenswert gehalten hätten. Das müsse auch der heutigen Generation eine Lehre sein, um Trägheit im Denken zu überwinden. Auch verschiedene andere Diskussionsbeiträge der Tagung plädierten dafür, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Achtung vor dem Menschen und Achtung vor der Natur könnten heute besser miteinander verbunden werden als je zuvor in den letzten Jahrhunderten. Das 21. Jahrhundert habe in der neueren Geschichte eine besondere Stellung, nur zu vergleichen mit dem Zeitalter der Reformation in Europa. Damals seien politische und religiöse Konstellationen entstanden, die Jahrhunderte nachgewirkt hätten. Das 21. Jahrhundert könne als Zeitalter der weltweiten „Transformation“ bezeichnet werden, das den Durchbruch zu einer echten Weltgesellschaft gebracht habe.“ Soweit die Pressemeldung aus dem „Global Electronic Observer“ des Jahres 2100. Manchmal können wir ver­ erst durch Distanz zum Gewohnten und Selbst­ ständlichen die Unselbstverständlichkeit, in der wir leben, verstehen. Als Deutsche haben wir diesbezüglich schmerzhafte Erfahrungen gemacht; nach Ende des Dritten Reiches fragten viele: Wie haben wir nur untätig zusehen können, wie Jüdinnen und Juden deportiert wurden?

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Wie wird wohl die Frage lauten, die wir uns in 50 Jahren stellen? Die globale Nahrungsungerechtigkeit kann zwar nicht mit den Massenmorden der Nazis verglichen werden, denn sie basiert nicht auf der gewollten und systematisch verfolgten Absicht, Menschen umzubringen. Trotzdem ist sie ein moralischer Skandal. Die Opfer der gegenwärtigen globalen ökonomischen Strukturen – so wenig sie auch beabsichtigt sein mögen – lassen keinen moralisch sensiblen Menschen kalt. Das gilt erst recht, da wir als Christinnen und Christen sprechen, denn als solche bezeugen wir einen Gott, der nach Aussage der Bibel untrennbar mit der Option für die Armen verbunden ist. Diese Option ist kennzeichnend für alle biblischen Traditionen, angefangen beim Glauben Israels bis zum Neuen Testament und der Charakterisierung Jesu. Der Gott Israels, der sich und das, was für ihn charakteristisch ist, im brennenden Dornbusch offenbart, definiert sich selbst als der, der sein Volk aus der Unterdrückung in die Freiheit führen wird. Daher schützt das Gesetz, das Israel von Gott erhält, in besonderer Weise die Schwachen: Sorgt euch um die Sklaven, denn auch ihr seid Sklaven gewesen und ich habe euch in die Freiheit hinaus geführt! Die Propheten kämpfen mit Leidenschaft für Gerechtigkeit und üben Kritik an einem religiösen Kult, der die Gerechtigkeit nicht achtet: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5, 21-24). Jesus schließlich präsentiert die Bibel als den, der kam, um den Armen das Evangelium zu verkündigen, und der sich mit denen identifiziert, die hungrig, nackt, krank, gefangen und fremd sind: „Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem von diesen, meinen Brüdern, getan habt, das habt ihr mir getan” (Mt. 25, 40).

Ich möchte in drei Schritten die theologischen Vorar­ beiten leisten, um mit diesen Problemen umzugehen: Zuerst möchte ich das Profil der Option für die Armen schärfen, indem ich vier wichtige Charakteristika beschreibe. Ich werde unter Berufung auf Martin Luther die Bedeutung dieser Option unterstreichen. Danach will ich mehrere ökonomische Modelle vorstellen, die sich auf verschiedene Weise zu einem theologischen Ansatz verhalten, der auf der Option für die Armen basiert. Schließlich will ich sieben Herausforderungen der internationalen Ernährungsgerechtigkeit skizzieren und ein paar Gedanken darüber entwickeln, welche Rolle die Kirchen darin spielen können.

2. Theologische Klärung – die Option für die Armen Ich will das Profil der Option für die Armen als ein grundlegendes Prinzip des christlichen Verständnisses von Gerechtigkeit schärfen, indem ich vier Aspekte darstelle, die seinen Inhalt und seine Funktion definieren.2 Die erste und fundamentale Klärung behandelt die Frage, was Armut denn überhaupt sei. Materielle Armut ist nur eine der Bedingungen, die gemeint sind, wenn wir von der Option für die Armen sprechen. Es gibt auch eine Form der Armut, die „sozio-kulturelle Armut” genannt wurde.3 Sie beinhaltet unterschiedliche Formen der Diskriminierung, wie Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht oder sexueller Vorliebe. Es ist wichtig zu sagen, dass das Konzept der sozio-kulturellen Armut nicht dazu benutzt werden sollte, die Grausamkeit des täglichen Kampfes ums Überleben zu mystifizieren, den materielle Armut bedeutet. Materielle Armut – und das bedeutet insbesondere Mangel an Nahrung – bleibt die zentrale Form der Armut, und sie ist gewöhnlich eine Dimension der sozio-kulturellen Armut. Der Kern dessen, was Armut bedeutet, wird am besten verstanden, wenn wir sie als Mangel an Teilhabe 2

Für eine tiefer gehende Diskussion cf. H. Bedford-Strohm: Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 166-203.

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Boff/Pixley, 25.

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definieren. Es gibt immer einen Mangel an Teilhabe, wenn Menschen national wie international ausgeschlossen werden von den ökonomischen und sozialen Prozessen der Gesellschaft. Materielle Armut und besonders Mangel an Nahrung muss als Mangel an Teil­ habe auf mehrfache Art gesehen werden, da sie für gewöhnlich den Ausschluss vom ökonomischen und sozia­len Prozess bedeutet. Die Tatsache, dass politische Ämter beinahe nie von Menschen bekleidet werden, die an Armut gelitten haben, ist nur einer der Hinweise auf diese Tatsache. Die Wichtigkeit von Teilhabe ist auch der Fokus meiner zweiten Klärung. Meine zweite Klärung bestätigt den universalen Hori­ zont der Option für die Armen. Diese Option wurde oft als exklusiv und spaltend kritisiert. Und es ist sicherlich wahr: Die Tatsache, dass sie eine vorrangige Option ist, bedeutet, sie ist eine konfliktträchtige Option. Sie unterstützt bestimmte Interessen im Gegensatz zu anderen Interessen. Letztlich ist sie aber keine parteiliche, sondern eine universale Option. Sie zielt auf Gerechtigkeit für alle. Sie ist parteilich nur so lange, wie diese universale Absicht blockiert wird durch die Verfolgung illegitimer Interessen einiger auf Kosten der anderen. Vor­ rang für die Armen zielt nicht auf den Ausschluss der Reichen, aber er will diejenigen einschließen, die derzeit von den Vorteilen der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Dieser Vorrang ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Beteiligung aller am Vorteil der gegen­sei­t igen Zusammenarbeit. Lassen sie mich den Zu­sammen­hang zwischen dem universalen und dem Vor­rang gebenden Sinn der Option für die Armen mit der so ge­nannten Goldenen Regel veranschaulichen, wie sie im Neuen Tes­­tament als Zusammenfassung der christ­lichen Ethik vorgestellt wird: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!” (Mt. 7, 12). Die goldene Regel ist eine universale Option, die auf Ge­gen­ seitigkeit basiert. Wenn wir sie auf unsere Frage nach Gerechtigkeit anwenden, kommen wir kaum an dem Schluss vorbei, dass sie direkt zur Option für die Armen führt: Lebe in Solidarität mit dem Kampf der Ar­men um ein würdiges Leben, genau wie du selbst ja auch ein würdiges Leben führen willst. Die vorrangige Op­t ion ist lediglich eine logische Folge der universalen Option, angewandt auf eine bestimmte politische Situa­t ion.

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Meine dritte Klärung führt meine Interpretation der goldenen Regel einen Schritt weiter über die Schwelle der Theologie hinaus. Die Option für die Armen ist nicht nur fest verwurzelt in einer auf der Bibel basierenden theologischen Ethik, sondern sie ist auch zentraler Be­standteil einer philosophischen Annäherung an Ge­rech­t igkeit. Wie einige von ihnen vielleicht merken, beziehe ich mich auf John Rawls‘ berühmte Theorie der Gerech­t ig­keit. Ich glaube nicht nur, dass deren zentrale Bestandteile der Kritik von verschiedenen Seiten stand halten konnten, sondern ich denke auch, dass sie in hohem Maße kompatibel sind mit christlicher Ethik. Das Differenz-Prinzip, das eines der zwei Haupt­prin­zipien ist, für die Rawls philosophisch argumentiert, steht der Option für die Armen recht nahe: Differenzen in Wohl­ stand, Ein­kommen und Macht sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie „(a) dem größten Nutzen der am meisten Benach­tei­lig­ten dienen und (b) gebunden sind an Ämter und Posi­tionen, die allen unter den Be­din­g un­ gen der Chancen­g leichheit offen stehen.“ 4 Die Verbin­ dung des Vorzugs für die am meisten Benach­teiligten und die Zugäng­lich­keit sozialer Positionen für alle ist eine enge philosophische Analogie zu dem teilhabeorientierten Ver­ständ­n is der Option für die Armen, wie ich es interpretiert habe.5 Die Goldene Regel hat eine Brücken­f unk­t ion zwischen biblisch begründeter, theologischer Ethik einerseits und philosophischer Ethik andererseits. Beide führen von einer universalen Ethik der Gegenseitigkeit zur Option für die Armen als dem zentralen Kriterium für Gerechtigkeit. Diese Rolle als Kriterium für Gerechtigkeit muss auf ganz besondere Weise verstanden werden – und dies ist meine vierte und letzte Klärung. Die Option für die Armen ist ein kritischer Maßstab zur Beurteilung der gegenwärtigen Situation im nationalen oder internationalen Kontext. Jeder Gebrauch dieses Kriteriums zur schlichten Legitimation einer unabhängig davon gewonnenen Präferenz für eine gewisse Wirt­schafts­ord­ nung, welche auch immer es sei, ist gegen seine bibli4

J. Rawls: A Theory of Justice, Cambridge 1971, 83.

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Es ist auch bemerkenswert, dass Rawls ausdrücklich argumentiert, „dass das Differenz-Prinzip ein Verständnis von Gegenseitigkeit ausdrückt.” (Rawls, 102).

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sche Bestimmung. Biblisch begründete christliche Ethik ist immer kritische Ethik. Jesu Verkündigung des Reiches Gottes war der eschatologische Ruf zu einem neuen Leben. Sie war der Aufruf, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Es war der Aufruf, nicht auf den Splitter im Auge des Nächsten zu sehen, sondern auf den Balken in unserem eigenen Auge. Die Option für die Armen ruft uns in den mächtigen Ländern der westlichen Welt dazu auf, nicht auf andere und deren Verantwortlichkeiten zu deuten, sondern als erstes auf uns selbst zu schauen und darauf, wie wir zu weltweiter Ungerechtigkeit beitragen. Diese Option muss als kritisches Kriterium verwendet werden bei unserer Erwägung der angemessenen ökonomischen Strategien, die zu mehr Gerechtigkeit führen. Ich will das Ergebnis meiner vier Klärungen so zusammenfassen: Erstens: Die Situation, der die Option für die Armen sich widmet, ist Mangel an Teilhabe. Zweitens: Der exklusive Vorrang für die Armen ist eine logische Folge ihrer inklusiven Universalität. Drittens: Sie ist auf philosophischer Basis eben so plausibel, wie auf biblischer. Viertens: Sie wird nur dann angemessen als Kern christlicher Ethik verstanden, wenn sie als kritisches Kriterium benutzt wird. Ich glaube, dass diese vier Klärungen, die ich vorgeschlagen habe, notwendig sind, um der Option für die Armen ein Profil zu geben, das sie davor schützt, nur ein Schlagwort ohne jeden Orientierungswert zu sein. Bevor ich mich der Wirtschaft zuwende, lassen Sie mich ein paar Minuten lang das Augenmerk auf den Vater des Luthertums richten, Martin Luther selbst. Nur wenige Menschen denken an die Option für die Armen, wenn sie seinen Namen hören. Das ist ein Fehler, wie ich versuchen werde, aufzuzeigen.

3. Martin Luthers Leidenschaft für Gerechtigkeit Luthers zahlreiche Werke zur Wirtschaftsethik bilden den weniger bekannten Teil seiner Arbeit. Dies ist umso

überraschender, da sein leidenschaftliches Ein­t re­ten für soziale Gerechtigkeit und für die Armen nichts an Aktualität verloren hat. In diesen Werken kann Luther wirklich als „öffentlicher Theologe” erkannt werden. Selbst wenn er nicht die theoretische oder politisch-intellektuelle Bandbreite von heute zur Verfügung hatte, mischte er sich, oft mit beißender Kritik, in öffentliche Angelegenheiten ein. In seinen Werken zur Wirtschafts­ ethik spricht er von dem christlich-ethisch begründeten Vorrang, der in den sozialen Umwälzungen des aufkeimenden Frühkapitalismus den Schwachen zukomme. Der zeitgenössische Hintergrund seiner Bemerkungen kann nicht direkt übertragen werden auf die heutige nomische und soziale Situation. Doch trotz der öko­ Grenzen von Luthers traditionsorientierter Mentalität sind seine ethischen Grundaussagen, stark von der Bibel beeinflusst, in hohem Maße relevant für die heutige Wirtschaft. Die weltweite Verteilung des Wohl­ stands ist heute wahrscheinlich noch ungleicher, als sie in der völlig anderen Weltwirtschaft seiner Tage war. Es geht nicht zu weit, zu sagen, dass das HauptCharakteristikum in Luthers Grund-Orientierung der Wirtschafts-Ethik der „Vorrang für die Armen“ sei. Ein Beispiel ist Luthers scharfe Kritik an der Art, wie der Preis für Güter am Gesetz von Angebot und Nachfrage ausgerichtet wird. „Erstens haben die Kaufleute unter sich eine allgemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe, daß sie sagen: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann. Das halten sie für ein Recht, da ist dem Geiz der Raum gemacht und der Hölle alle Tür und Fenster aufgetan. Was ist das denn anders gesagt als soviel: Ich frage nichts nach meinem Nächsten? Hätte ich nur meinen Gewinn und Geiz voll, was geht’s mich an, daß es meinem Nächsten zehn Schaden auf einmal täte? Da siehst du, wie dieser Spruch so stracks unverschämt nicht allein gegen die christliche Liebe, sondern auch gegen das natürliche Gesetz geht.”  6 6

Martin Luther, ‘Von Kaufshandlung und Wucher (1524)’, in „Luther Deutsch“ hgg. v. Kurt Aland , 2. Auflage 1967, Bd. 7, S. 265.

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Luther kämpft gegen die Ausrichtung der Preise am Markt, da dies die Bedürfnisse der Schwachen außer Acht lässt. Seine Alternative ist die Ausrichtung an einem fairen Preis: „Es sollte nicht so heißen: ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann oder will, sondern so: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich soll, oder wie es recht und billig ist.“ 7 Dann fährt er fort, zehn Praktiken der multinationalen Firmen seiner Zeit zu beschreiben, die ihren Vorteil ziehen aus der Not der Armen, indem sie ihrer eigenen Gier folgen, wie zum Beispiel Preissteigerung durch Monopolbildung.8 Auffallend ist auch Luthers Beharren darauf, dass Politiker eine aktive Rolle bei der Eindämmung ungezügelter Wirtschaftsmacht spielen sollten: „… die beste und sicherste Weise (wäre), daß die weltliche Obrigkeit hier vernünftige, redliche Leute einsetzte und verordnete, die alle Ware mit ihren Kosten überschlügen und danach das Maß und Ziel festsetzten, was sie gelten sollte, daß der Kaufmann zurechtkommen und seine ausreichende Nahrung davon haben könnte“. 9 Dieser Abschnitt lässt keinen Zweifel daran, dass – für Luther – die Regierung die Aufgabe hat, den notwendigen Rahmen für wirtschaftliche Aktivität vorzugeben, wenn wir auch seine Lösung der Preiskontrolle durch die Regierung heute nicht mehr vertreten können. Luther greift Politiker an, da sie der Wirtschaft zu nahe stehen. Seine Skepsis im Hinblick auf die Unab­ hängigkeit von Politikern und seine Forderung nach dem Primat der Politik spricht in mancher Weise zu uns heute. Was die ökonomische Praxis der multinationalen Firmen, wie etwa der Fugger betrifft, die zu seiner Zeit immer mächtiger wurden, sagt Luther: „Könige und Fürsten sollten hier drein sehen und dem nach strengem Recht wehren. Aber ich höre, sie haben Anteil daran und es geht nach dem Spruch

Jes. 1, 23: ‚Deine Fürsten sind der Diebe Gesellen geworden.’ Dieweil lassen sie Diebe hängen, die einen Gulden oder einen halben gestohlen haben, und machen Geschäfte mit denen, die alle Welt berauben und mehr stehlen, als alle anderen, damit ja das Sprichwort wahr bleibe: Große Diebe hängen die kleinen Diebe, und wie der römische Ratsherr Cato sprach: Kleine Diebe liegen im (Schuld)Turm und Stock, aber öffentliche Diebe gehen in Gold und Seide.” 10 Diese Worte bringen einen Protest gegen die Allianz von Macht und Geld zum Ausdruck, welche die Interessen und Rechte der Armen leugnet. Luthers Kritik am frühen Kapitalismus, für deren radikale Leidenschaft viele weitere Beispiele angeführt werden könnten, kann nicht einfach auf unsere Zeit übertragen werden. Dahinter steht ein konservatives Festhalten am alten Feudalsystem, das sicher nicht die Lösung für uns heute sein kann. Der Hintergrund für Luthers moralische Entrüstung hat jedoch nichts von seiner Aktualität verloren. Es ist die „Freiheit eines Christenmenschen”, die die Reformation in den Mittelpunkt stellte, die Mitgefühl hat für das Schicksal des Nächsten, insbesondere des von der Armut geplagten Nächsten und die nach Wegen sucht, seine Situation zu verbessern. Wie Klaus Nürnberger in seiner großartigen Studie über Luthers Werke aus der Perspektive des südafrikanischen Kontexts festhält, „betont Luther die öffentliche Verantwortung der Kirche. Kirchenführer müssen sich mit einer klaren Botschaft an die Öffentlichkeit wenden; Gemeinden müssen Anteil nehmende Gemeinschaften werden und einzelne Mitglieder müssen in ihren säkularen Kontexten als Christen handeln.“ 11 Von daher dürfen wir mit einiger Sicherheit annehmen, dass Luther, wenn er in unserer Zeit mit ihrem globalen Horizont lebte, ein leidenschaftlicher Anwalt der internationalen Ernährungsgerechtigkeit wäre. Wir haben deutliche Hinweise dafür gefunden, dass die Option für die Armen, die wir als charakteristisches Merkmal des

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Ibid., S. 266.

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Ibid., S. 275ff.

10 Ibid., 282.

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Ibid., S. 267.

11 Nürnberger, Luther’s message for us today, p. 298.

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biblischen Gottesverständnisses erkannt haben, sich auch als ein zentraler Aspekt der Theologie Luthers herausstellt. Es ist ein seltsames Phänomen, dass lutherische Kirchen und die Theologie im Norden weithin Luthers Rechtfertigungslehre gewürdigt und reflektiert haben, seine leidenschaftliche Option für die Armen aber beinahe außer Acht ließen. Wie können wir aber die Option für die Armen mit konkreten Regelungen für die Wirtschaft verbinden? Dies ist eine Schlüsselfrage, wenn wir versuchen, Wege zur internationalen Ernährungsgerechtigkeit zu finden. Es gibt da beachtliche Meinungsverschiedenheiten über den Ort und die Bedeutung ethischer Überlegungen für Fragen der Ernährungsgerechtigkeit. Das hat mit dem Wirtschaftsverständnis zu tun. Ich sehe drei verschiedene Modelle des Wirt­schafts­ verständnisses, die ökonomische und ethische Über­ legungen auf sehr unterschiedliche Weise verbinden.

4. Drei Modelle der christlichen Wirtschaftsethik Das technische Wirtschaftsmodell kann sehr kurz abgehandelt werden. Man muss es aus theologischer Sicht ernsthaft in Frage stellen. In seiner stärksten Form lehnt es alle Überlegungen ab, die über Fragen der rein in­ stru­mentellen Vernunft hinaus gehen, so zum Beispiel die nach der besten Strategie zur Maximierung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. In seiner milderen Form setzt es voraus, dass über ein menschliches Grund­ verständnis von Werten wie der Bekämpfung menschlichen Leidens hinaus weitere ethische Reflexio­ nen unnötig sind. Da nahezu alle Menschen sich auf diese Grundwerte einigen können, gibt es keinen Bedarf an ethischem Eingreifen im Bereich der Wirtschaft. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, wie man zu den rechten ökonomischen Strategien findet, um die ethischen Ziele zu erreichen, über die sich alle mehr oder weniger einig sind. Wer von diesem Modell ausgeht, ist normalerweise skeptisch oder gar feindselig gegenüber religiös begründeten

Eingriffen in die Wirtschaftsdebatte. Zumal in seiner schwächeren Form kann dieses Modell wertvoll sein und sollte nicht einfach verworfen werden. Wo theologisch begründete Wirtschaftsethik die Schwierigkeit unterschätzt, tatsächlich wirksame Strategien zu finden, da können Beiträge vom Standpunkt dieses Modells aus einen gesunden Ernüchterungseffekt haben. Genau so klar muss jedoch zur Sprache gebracht werden, dass dieses Modell, gerade in seiner stärkeren Form, zur Ideologie neigt, da ihm das Bewusstsein seiner eigenen, vorausgesetzten Ziele und Werte fehlt. Die Ziele und Werte können als Antrieb eines zweiten Modells gesehen werden, das ich das utopische Wirtschaftsmodell nenne. Das utopische Modell kritisiert grundlegend die existierende soziale und ökonomische Ordnung mit all ihrer Akzeptanz von Gier und Egoismus und versucht, Alternativen zu dieser Ordnung zu beschreiben, die auf gleicher Verteilung von Ressourcen beruhen. Der Kapitalismus wird grundsätzlich verurteilt, da er auf der Basis des Profitstrebens funktioniert, einer Haltung, die in grundsätzlichem Wider­ spruch zum christlichen Gebot gesehen wird, den Nächsten zu lieben und ihm zu dienen.12 Das Versagen des Kapitalismus wird als erwiesen angesehen durch die Tatsache, dass er nicht dazu in der Lage ist, die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln für alle Menschen sicher zu stellen. In seiner schärfsten Version dämonisiert es den Kapitalismus sogar als die Quelle allen Übels. In seiner milderen Version konzentriert es sich auf die Alternativen. Die mit diesem Modell gegebene Beschreibung einer Wirtschaft, die von gegenseitigem Respekt und Solidarität unter den Menschen und dazu noch von einem Bewusstsein für die Würde der außermenschli-

12 Vgl. z.B. Ulrich Duchrow, Alternatives to Global Capitalism. Drawn from Biblical History, Designed for Political Action, Utrecht 1995. Obwohl Duchrow nicht nur alternative Visionen einer „Wirtschaft des Lebens” präsentiert, sondern auch in vielfach wertvoller, scharfer, politischer und ökonomischer Analyse, würde ich seinen Ansatz dem utopischen Modell nahe sehen. Sein pragmatischer Nutzen leidet unter einer unzureichenden Reflexion über die Rolle des Eigeninteresses bei wirtschaftlichen Transaktionen.

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chen Natur angetrieben wird, kann sehr inspirierend sein und kann kreative Vorstellungskraft wecken für ein neues wirtschaftliches Denken über den Horizont traditioneller Konzepte hinaus. Diese sind manchmal viel enger, als uns klar ist, wenn wir mit ihnen groß geworden sind. Und es gibt eine offensichtliche Nähe zwischen diesem Modell und biblischen Visionen, die ebenso neue Werte und neue Beziehungen des Schalom im Reich Gottes beschreiben.13 Die Schwäche dieses Modells liegt in seiner primären Abhängigkeit von Inspiration. Grundlegende Alter­na­ti­ ven in der Organisation der Wirtschaft in Bezug auf Ver­teilung der Ressourcen können nur gelebt werden, wenn Menschen sich in hohem Maße mit ihren Zielen und Werten identifizieren. Wo Inte­ressens­kon­flikte und das Ringen um knappe Roh­stoffe nicht im Wege stehen, können alternative Modelle funktionieren und andere inspirieren. Sie können aber nicht die Hauptgrundlage für die öffentliche Stimme der Kirche in WirtschaftsAngelegenheiten sein, solange nicht die allgemeine Be­ kehrung aller zu diesen neuen Werten bevorsteht. Die Organisation der Wirtschaft auf die allgemeine Bereit­ schaft zum freiwilligen Teilen der Ressourcen aufzubauen, ist von daher problematisch. Wenn die politische Umsetzung utopischer Modelle zu Konsequenzen führen, die deren ursprünglichen guten Intentionen genau entgegenlaufen, also etwa zu einem starken Rückgang in der Wohlstands-Erzeugung führen, dann können sie sogar ethisch zutiefst fragwürdig sein. Die Stärke des utopischen Wirtschaftsmodells ist seine inspirierende Botschaft von der Möglichkeit einer anderen Welt. Seine Gefahr liegt in seiner Ratlosigkeit gegenüber einer Situation, in der die Wirtschaft immer noch auf eine Weise organisiert werden muss, die existierende Eigen­ interessen und die damit verbundenen Vertei­lungs­kämpfe in Betracht zieht. Wenn die Menschen nicht spontan teilen, braucht man Regeln und Anreize, die sowohl zur Produktion von Reichtum als auch zu einer gerechten Verteilung ermutigen. Das utopische Modell lässt diejeni13 Siehe F. Segbers, Die Hausordnung der Tora. Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, 3. Auflage 2002; U. Duchrow, Alternatives, 142-202.

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gen im Stich, welche – zum Beispiel als PolitikerInnen – die Macht zur Gestaltung solcher Regeln haben. Das ist der Grund, weshalb wir ein drittes Modell brauchen, das ich das öffentlich-theologische Wirt­ schafts­modell nenne. Das öffentlich-theologische Modell schätzt das Inspirationspotential des utopischen Modells. Aber es geht über dieses Modell hinaus, indem es ausdrücklich über die konkreten Auswirkungen gewisser möglicher Mechanismen nachdenkt, wobei es mögliche, unbeabsichtigte, kontraproduktive Aus­w ir­ kun­gen von Mecha­n ismen berücksichtigt, die auf den ersten Blick ethisch besonders wertvoll erscheinen. Das öffentlich-theologische Modell hat eine natürliche Nähe zu einer Ver­a nt­wortungsethik, da es das Nachdenken über die Kon­se­quen­zen seiner in Erwägung gezogenen Hand­lungs-Alternativen als integralen Bestandteil seiner ethischen Argumentation ansieht. Nur wenn theologisch be­g ründete, ethische Ziele sowohl auf eine sorgfältige Reflexion politischer und ökonomischer Stra­­te­­­­ gien als auch auf deren erwartete Konsequenzen bezogen werden, kann theologische Ethik tatsächlich Richtlinien geben für Politik und Wirtschaft und die zivilgesellschaftliche Debatte darüber.14 Dieses Modell hilft jedoch auch Ökonomen, ihr eigenes Denken kritisch zu reflektieren. Welches sind die impliziten Ziele und Werte ökonomischer Strategien, und wie werden die Prioritäten festgelegt? Und woran messen wir den Erfolg ökonomischer Bestrebungen? Derlei Erfolg einfach an der weltweiten Nahrungsmittel-Pro­­ duk­tion zu messen impliziert andere Ziele, als Instru­ mente zu entwickeln, mit denen man die Ver­bes­serung der Lebensumstände der Armen messen und den Fort­ schritt im ökologischen Umbau beurteilen kann. Gute Wirtschaftstheorie beinhaltet eine solche Rechen­schaft über ihre Ziele und Absichten in ihren Überlegungen. 14 Für meine früheren Ausführungen zur öffentlichen Theologie siehe H. Bedford-Strohm, Nurturing Reason. The Public Role of Religion in the Liberal State, in: NGTT 48 (2007), 25-41; Public Theology and the Global Economy. Ecumenical Social Thinking between Fundamental Criticism and Reform, in: NGTT 48 (2007), 8-24; und „Tilling and Caring for the Earth”. Public Theology and Ecology, in: International Journal of Public Theology 1 (2007), 230-248.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

Was folgt aus dieser Reflexion über Theologie und Ökonomie für unsere Frage nach der internationalen Ernährungsgerechtigkeit? Ich möchte auf sieben As­ pek­te hinweisen:

5. Sieben Herausforderungen für die internationale Ernährungs­gerechtigkeit Erstens. Nach dem zur partizipatorischen Dimension der Option für die Armen Gesagten ist klar, dass internationale Ernährungsgerechtigkeit nicht nur die Ver­ sorgung aller Menschen mit ausreichend Nahrung bedeutet. Sie bedeutet mehr. Sie bedeutet die Befähigung dazu, sich selbst aktiv mit Nahrung zu versorgen. Sie bedeutet die gerechte Teilhabe an sozialen und wirtschaftlichen Prozessen, die den Lebensunterhalt für alle gewährleisten. Wenn also diejenigen Recht haben sollten, die sagen, die gegenwärtige Form des Kapitalismus mit mächtigen Firmen und den neuesten Technologien sei am besten dazu in der Lage, die höchst mögliche Nahrungsmittelproduktion zu gewährleisten, die dann nur noch auf faire Weise weltweit zu verteilen sei, dann könnte dieser Ansatz dennoch nicht als ein mit der Option für die Armen vereinbarer Ansatz angesehen werden. Die Armen bleiben abhängig, statt aktiv an der Nahrungsmittel-Produktion teilzunehmen. Wenn die Nahrungsmittel-Produktion immer mehr auf genetisch modifizierte Organismen (GMO) setzt, werden die Bauern zunehmend abhängig von den Saaten der Firma Monsanto und anderer. Mehr noch, wenn das Land im Besitz mächtiger Firmen ist, die ihre Entscheidungen am Ziel des höchstmöglichen Profits ausrichten, gibt es keinerlei Basis für eine gerechte Teilhabe aller. Effektive Landwirtschaft muss daher Hand in Hand gehen mit einer breiten Verteilung des Eigentums an Ackerland. Zweitens. Vorschläge, die Globalisierung als die Hauptoder Einzelursache des Problems sehen und die sich auf Subsistenz lokaler Kleinbauern konzentrieren, müssen die Folgen dieses Ansatzes sorgfältig analysieren. Wird dieser Ansatz ausreichend gegen die wetterbedingten Schwankungen der Ernteerträge schützen? Ist es wirklich im Interesse der Armen, wenn man das Ausnutzen der wechselseitigen Kostenvorteile ablehnt, die der glo-

bale Handel ermöglicht? Wenn landwirtschaftliche Koope­rativen in Südafrika guten Wein herstellen und in Europa verkaufen, kann das nicht ein Weg sein, die Teilhabe der Armen zu stärken? Daher gibt es drittens guten Grund, die Globalisierung nicht abzulehnen, sondern sie neu auszurichten auf eine Weise, die die Macht transnationaler, den Markt kontrollierender Akteure einschränkt und die jene Mit­ bewerber schützt und befähigt, die klein sind und daher wenig Macht auf dem Markt haben. Viertens. Ernährungsgerechtigkeit zu schaffen ist nicht eine Frage des Jas oder Neins zur Liberalisierung des Marktes. Liberalisierung des Marktes ist ethisch wünschenswert, wenn es die Chancen jener kleinen Mit­be­ wer­ber auf Ent­w icklung ihres eigenen Wir­tschafts­po­ tentials erhöht. Libe­ralisierung ist ethisch frag­­würdig, wo sie nur ein ideologisches Schlagwort zum Schutz der mächtigen Nationen im Norden ist. Wenn in Süd­ afrika die aus Dänemark importierte Milch billiger ist, als die von lokalen Bauern in Johannesburg produzierte und somit deren Bankrott verursacht, ist es wesentlich sinnvoller, den südafrikanischen Markt vor solcher europäischer Milch zu schützen und die südafrikanischen Bauern ihre eigene Milch produzieren zu lassen, als ihre Betriebe zu zerstören und dann Geld für Ent­w ick­ lungshilfe zugunsten südafrikanischer Farmer auszugeben. Fünftens. Ernährungsgerechtigkeit und ökologische An­ liegen können nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. Im Zeitalter des Klimawandels ist es offensichtlich, dass der Mangel an Maßnahmen gegen die globale Erwärmung seitens der Haupt-Verschmutzer in den Industrienationen die schlimmsten Folgen hat für jene, die eine solche Situation am wenigsten mit verursachen. Da die durch globale Erwärmung verursachten Dürren hauptsächlich den Süden der Welt und namentlich Afrika betreffen werden, ist alles außer einer massiven Reduktion des CO2-Ausstosses im Norden ein massiver Angriff auf die Ernährungsgerechtigkeit in der Zukunft. Sechstens. Ökologische Überlegungen haben zur massiven Werbung für die Option Biosprit geführt. Schon

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damals gab es Stimmen, die vor den Folgen für die Nahrungsversorgung warnten. Heute müssen wir sagen, dass diese Stimmen Recht hatten. Es wäre besser gewesen, auf unsere menschliche Intuition zu hören, dass Nahrung vor allem dazu da ist, in den Mund der Menschen anstatt in Motoren gesteckt zu werden. Wir müssen die Prioritäten ändern. Die Werbung für Biosprit muss gestoppt werden, bis jeder Mensch auf dieser Welt ausreichend zu essen hat. Siebtens. Wenn wir ernst nehmen, dass die Option für die Armen eine selbstkritische Option ist, dann müssen wir damit aufhören, die Schuld „den anderen“ zu geben. Regierungen im Norden müssen die Verantwortung für die Geschichte der Ungerechtigkeit während der Kolonialzeit übernehmen. Sie müssen ihre Rolle bei der Steigerung des eigenen Wohlstands durch Gebrauch der Ressourcen südlicher Länder ohne angemessene Entschädigung anerkennen. Sie müssen damit aufhören, ihre immense, historisch gewachsene Wirt­ schaftsmacht exklusiv in ihrem eigenen Interesse einzusetzen, anstatt im gegenseitigen Interesse. Regierungen und Aktivisten im Süden sind dazu aufgerufen, die Punkte zu benennen, an denen Defizite in gutem Regierungshandeln in ihren eigenen Ländern zum Mangel an Nahrung beiträgt, statt alles Übel der Kolonialgeschichte zuzuschreiben. Sie sollten neue An­ strengungen zum Aufbau einer Zivilgesellschaft und einer öffentlichen Verwaltung unternehmen, die sich mehr am Gemeinwohl orientiert, statt ein Ort der persönlichen Bereicherung zu sein.

6. Gerechtigkeit und öffentliche Theologie – die Rolle der Kirche Was bedeuten diese Herausforderungen für die Kirche? Die Kirche muss eine öffentliche, von öffentlicher Theo­ logie inspirierte Kirche sein. Im Licht der öffentlichen Theologie führt die Option für die Armen zu Fürsprache und Rat. Im Unterschied zu den meisten Formen des utopischen Modells bindet sie die Option für die Armen nicht an eine spezifische, politische Option, sondern sieht diese Option als die Basis für einen politischen

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Diskurs, der zu politischen Strategien führt, die auch für die Machthabenden anwendbar sind. Um aber keine Missverständnisse zu erzeugen: Die Kirche ist bei aller Offenheit im Diskurs in der politischen Debatte nicht neutral, sondern versteht sich als Anwältin der Armen. Ausdrücklich schließt die Kirche die Wert­di­ men­sion in ihre Beiträge zur politischen Debatte ein. Die Formen dieser Beiträge reichen von öffentlichen Bekanntmachungen, wo immer sich eine Gelegenheit ergibt, gehört zu werden, über Demonstrationen bis hin zu begrenzten Akten des zivilen Ungehorsams, wenn dies der einzige Weg ist, um auf schwere Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Anders als beim utopischen Modell werden diese Aktionen aber nicht primär verstanden als Aktionen des Bekennens und des Widerstandes gegen „das System“ (was auch immer dieses System genau ist), sondern als integraler Bestandteil einer Strategie der öffentlichen Kommunikation innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, mit dem Ziel, politische Schritte zur Überwindung der Armut voran zu treiben. In seinen öffentlichen Erklärungen – dies ist ein weiterer, wichtiger Punkt – ist das öffentlich-theologische Modell ein zweisprachiges.15 Einerseits gibt es Rechenschaft über seine biblischen und theologischen Wurzeln, indem es biblische Texte und Metaphern verwendet, und andererseits zeigt es auf, warum seine Vorschläge und Feststellungen plausibel sind und allen Menschen guten Willens einleuchten, indem es die Sprache des säkularen Diskurses benutzt.16 Dadurch wird es der Tatsache gerecht, dass Glaube und Vernunft komplementär sind und keine Widersprüche. Die öffentliche Theologie ist von vielen Impulsen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspiriert, 15 Wie die deutsche Theologin Eva Harasta in einem Artikel im International Journal for Public Theology gezeigt hat, war eine solche Zweisprachigkeit schon integraler Bestandteil von Karl Barths berühmtem Traktat von „Christengemeinde und Bürgergemeinde”. E. Harasta, Karl Barth, a Public Theologian? The One Word and Theological ‘Bilinguality’, in: International Journal of Public Theology 3.2 (2009) 184–199. 16 Weitere Charakteristika der öffentlichen Theologie siehe unter: H. Bedford-Strohm, ‘Nurturing Reason. The Public Role of Religion in the Liberal State’, in Ned Geref Theologiese Tydskrif 48 (2007), 25-41.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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die in mehreren anderen Befreiungstheologien weiter entwickelt wurde. Da sie jedoch aus einer demokratischen Gesellschaft erwachsen ist, arbeitet sie mit der Prämisse einer Öffentlichkeit, die Raum gibt für das stetige Bemühen darum, das Bewusstsein für politische Optionen zugunsten der Armen wachsen zu lassen. Anders als in den Militärdiktaturen, in denen die Befreiungstheologie sich ursprünglich entwickelte, versucht die öffentliche Theologie politische Optionen nicht nur für die Opposition zu entwickeln, sondern auch für Situationen politischer Macht. Jacob Zuma in Südafrika und Lula da Silva in Brasilien brauchen bei ihren An­ strengungen zur Überwindung von Armut gleichermaßen Kirchen, die von Befreiungstheologie zur öffent­ lichen Theologie übergehen. Das ist der Grund, warum ich sage: „Öffentliche Theologie ist Befreiungstheologie für eine demokratische Gesellschaft“.17 Eine öffentliche Kirche muss die Impulse der Befreiungstheologie in plausible Beiträge zur öffentlichen Debatte in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften übersetzen.

7. Fazit: Öffentliches Engagement für Ernährungsgerechtigkeit Lassen Sie mich mit einem Gedanken Dietrich Bon­ hoeffers schließen, der die öffentliche Verantwortung jedes Christenmenschen betont. Oftmals wird bislang der privaten Moralität der Vorrang gegeben, wenn wir auf unsere moralische Verantwortung blicken. Dietrich Bonhoeffers Leben und Theologie war ein kontinuierlicher Protest gegen eine solche Prioritäten-Setzung. In einem Abschnitt seiner Ethik, die auch Teil seines berühmten Aufsatzes Nach zehn Jahren in den Briefen und Schriften aus dem Gefängnis ist, schreibt er: 17 Für eine Feststellung der fortwährenden Bedeutung schwarzer Befreiungstheologie in Südafrika siehe die Dissertation des südafrikanischen Theologen Vuyani S. Vellem, The Symbol of Liberation in South African Public Life. A Black Theological perspective (Dissertation University of Pretoria, 2007), pp. 128-237. Eine Diskussion darüber, was öffentliche Theologie in Südafrika bedeutet, bietet John de Gruchy, ‘Public Theology as Christian Witness: Exploring the Genre’, in IJPT 1 (2007), 26-41; und Nico Koopman, ‘Public Theology in South Africa: A Trinitarian Approach’, in IJPT 1 (2007), 188-209.

„Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinanderset­ zung erreicht diese oder jener die Freistatt der privaten Tugendhaftigkeit. Sie stehlen nicht, sie morden nicht, sie tun nach Kräften Gutes. Aber in ihrem freiwilligen Verzicht auf Öffentlichkeit wissen sie die erlaubten Grenzen, die sie vor diesem Konflikt bewahren, genau einzuhalten. So müssen sie Auge und Ohr verschließen vor dem Unrecht um sie herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges können sie ihre private Untadelhaftigkeit vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln in der Welt erhalten.” 18 Ein dringenderes Plädoyer dafür, den Problemen der Ernährungsgerechtigkeit einen zentralen Platz in unserem Nachdenken über das gute christliche Leben einzuräumen, könnte es nicht geben. Sowohl aufgrund der scheinbaren Abgelegenheit dieser Probleme als auch wegen ihrer Unlösbarkeit gibt es eine besondere Versuchung, sie unserem Leben fern zu halten und nach privater Tugendhaftigkeit zu streben. Bonhoeffer ermutigt uns dazu, einen deutlichen Anteil der uns zur Verfügung stehenden Zeit den Dingen zu widmen, die national wie international um uns herum geschehen. Er ermutigt uns dazu, die Bibel und die Zeitung zu lesen, wie Karl Barth das ausgedrückt hat. Nur so werden Fragen der internationalen Ernährungsgerechtigkeit Teil unseres Lebens, obwohl wir für uns selbst reichlich zu essen haben. Eine Kirche, die ehrlich betet: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ muss eine öffentliche Kirche werden, die sich im Kampf für eine Welt engagiert, in der Gottes Gabe des täglichen Brotes jeden Menschen auf dieser Erde erreicht. Das ist unsere Berufung und unsere Verheißung.

18 D. Bonhoeffer : Ethik, 6. Auflage München 1963, herausgegeben von Eberhard Bethge, S. 71 (Angleichung an gerechte Sprache durch Übersetzer).

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Brot für die Welt-Projekt Indonesien: Im Einklang mit der Natur

Bauer Alman Simbolon, Indonesien. Foto: Carsten Stormer.

In Nordsumatra leidet die Landbevölkerung zuneh­ mend unter der ungebremsten Ausbeutung von Roh­stoffen. Immer mehr Menschen werden von ihrem Land vertrieben. Die Organisation KSPPM klärt Kleinbauernfamilien über ihre Rechte auf und hilft ihnen bei der Umstellung auf ökologische An­bau­me­ tho­den. Das Bergdorf Marom, ein bezaubernder Ort mit 1.100 Einwohnern, umgeben von Mango- und Avocado­ bäumen. Alman Simbolon, 37 Jahre, bestellt eine kleine Kaffeeplantage am Rande des Dorfes Marom. Er ist Vorsitzender der Kaffeebauern des Dorfes, einer Gruppe von 134 Bäuerinnen und Bauern, die durch ökologischen Anbau versuchen, ihre Lebenssituation zu verbessern. Fehlende Landtitel Das Land, auf dem Simbalon seinen Kaffee anbaut, haben schon seine Vorfahren bearbeitet. Es gibt genug her, um die Familie zu ernähren und etwas Geld zurückzulegen: für die Schuluniformen der Kinder oder Repara­

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turen an seinem Motorrad. Die Familie kommt zurecht, nicht mehr, nicht weniger. Doch weil er für das Land, auf dem seine Kaffeebäume stehen und das seine Familie seit Generationen bebaut, keine Besitzurkunde hat, könnte Alman Simbolon schon bald Probleme bekommen. Denn die indonesische Zentralregierung sieht Land wie seines als öffentliches Land an. Sie vergibt Konzessionen an Bergbau- und Papierfirmen, öffnet die Märkte für private und ausländische Investoren. Für Kleinbauern wie Alman Simbalon hat dies oft verheerende Auswirkungen. Dass die Regierung sein Land wegnehmen könnte, um es an große Konzerne zu vergeben, versteht er nicht. „Es ist doch genug Land für alle da“, sagt der Kleinbauer, während er die roten Kaffeebohnen von den Bäumen pflückt und in einen Weidenkorb wirft. Die Zivilgesellschaft stärken Unterstützung erhält Alman Simbalon von der indone­ sischen Hilfsorganisation KSPPM. Sie ist bereits seit 16 Jahren in der Region rund um den Tobasee aktiv und arbeitet dort mit 45 Bauernverbänden zusammen. Mit­ ar­beitende der Organisation veranstal­ten regelmäßig Work­­shops, in denen sie sowohl über nach­haltige An­ baumethoden als auch über politische Zusammenhänge informieren. Außerdem organisiert KSPPM öffentliche Diskussionsforen und Demon­strationen, macht Presseund Lobbyarbeit, um auf die prekäre Situation der Kleinbauern und -bäuerinnen aufmerksam zu machen. Dank der Unterstützung von KSPPM konnten Alman Simbalon und die meisten Kaffeebäuerinnen und -bauern des Dorfes Marom aus dem Teufelskreis der Armut ausbrechen. Sie stellten auf ökologischen Anbau um und erschlossen sich dadurch neue Einkommensquellen. Stolz erzählt Simbalon, dass er jetzt auch Honigbienen züchtet. Der Verkauf des Biohonigs bringt der Familie ein willkommenes Zusatzeinkommen.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Frauen bei der Reisernte, Niger. Foto: Christoph Püschner

2. EKD-Texte zur Thematik Die EKD und die Kammer der EKD für nachhaltige Ent­ wicklung haben in den letzten Jahren eine Reihe von Texten zur Thematik der Ernährungssicherung und Land­­wirtschaft veröffentlicht. Im Folgenden werden einige Passagen zu verschiedenen Aspekten der Thema­ tik aus den verschiedenen Texten dargestellt. Die Num­ me­rierung folgt dem zitierten Original.

2.1 Klärung der Begriffe Aus: Ernährungssicherung und Nachhaltige Ent­wick­ lung. Eine Studie der Kammer der EKD für Entwicklung und Umwelt, EKD-Texte 67, 2000, S. 11-20; http:// www.ekd.de/EKD-Texte/59646.html 2.  Was bedeutet Nachhaltige Entwicklung? Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit, dauerhaft umweltgerechte Entwicklung – gleichgültig, wie der englische Ausdruck „sustainable development“ übersetzt wird, die Bezeichnungen haben sich im politischen Alltag etabliert. Die Begriffe sind positiv besetzt, und sofern sie abstrakt verwendet werden, ist ihnen allgemeine Zu­ stimmung sicher. Das gilt etwa für die Definition der Brundtland-Kommission, die nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung beschreibt, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Diese Begriffsbestimmung findet sich in

ähnlicher Weise auch in der Agenda 21, die als Aktions­ programm für das 21. Jahrhundert von mehr als 170 Staaten akzeptiert wurde. In der Präambel der Agen­da 21 aus dem Jahre 1992 heißt es: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt in ihrer Ge­schichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analpha­ betentum sowie eine fortschreitende Schä­digung der Öko-Systeme, von denen unser Wohlergehen abhängt.“ Damit die Menschen und die Umwelt besser geschützt werden, plädiert die Agenda 21 für eine „globale Part­ nerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist“. Diese Definition ist jedoch sehr weit und allgemein gefasst. Der Begriff Nachhaltigkeit enthält zumindest die folgenden ethisch-normativen Aspekte: „„ Die ökologische Dimension im Begriff der Nach­ hal­tigkeit bezeichnet die Notwendigkeit der weltweiten Be­­ achtung von Rückkopplungen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen an die natür­lichen Lebens­ grund­­ lagen, die erhalten werden sollen. Ressourcen­ scho­nung und Prävention sind zukunftsbezogene Teil­ aspekte von Nachhaltigkeit und bezeichnen die Sorge für menschenwürdige Lebens­bedingungen für zukünftige Generationen. „„ Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als Gegen­ wartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die Sich­erung der Grundversorgung für alle Menschen und die Teilhabe aller an den Gütern der Erde in der Gegenwart mit ein.

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„„ Die politische beziehungsweise entwicklungspo­ litische Dimension von Nachhaltigkeit meint ein welt­ weites Entwicklungskonzept für alle Staaten und Länder, insbesondere auch zugunsten von Ent­ w ick­ lungsländern, das dem internationalen und interkulturellen Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem Frieden dient. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung verknüpft also ethische Anliegen des Umweltschutzes und der Entwicklungspolitik. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und damit auch landwirtschaftliche Strukturen sollen in der Weise zukunftsfähig gestaltet werden, dass künftigen Generationen keine Hypotheken hinterlassen werden, die ihre Existenzbedingungen unzumutbar oder gar irreversibel belasten. Der Begriff der Nachhaltigkeit schließt damit den Gedanken der Vorsorge und den Versuch mit ein, Handlungsspielräume für zukünftige Generationen offen zu halten. Der Dissens beginnt, wenn man versucht, den Begriff nun inhaltlich zu füllen, denn wenn das Leitbild der Nachhaltigkeit in konkrete politische Maßnahmen übersetzt werden soll, müssen zuvor Teil-Ziele definiert und beschlossen werden. Es gibt eine außerordentlich große Spannbreite bereits hinsichtlich der Frage, auf welche Gegenstandsbereiche sich der Begriff beziehen soll. Ein „enges“ Verständnis will den Begriff der Nachhaltigkeit ausschließlich im Bereich der Ökologie verortet wissen. Im anderen Extrem erscheint Nachhaltigkeit als umfassende regulative Idee, an der alle globalen und innergesellschaftlichen Entwicklungen geprüft werden können. Es hat sich jedoch ein gewisser Konsens herausgebildet, dass sich das Leitbild der Nachhaltigkeit zumindest auf die drei Ziel-Dimensionen von Schutz der Umwelt, Effizienz der Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit beziehen muss. Eine nachhaltige Entwicklung – ob einer Nation als Ganze oder eines kleineren Gemeinwesens – ist nur dann möglich, wenn die einseitige Ausrichtung auf eines der drei Ziele vermieden wird. So bedeutsam die Erhaltung unserer Umwelt ist, sie muss letztlich doch in Einklang mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen gebracht werden. Gleichermaßen darf aber auch die Erreichung wirtschaftlicher Ziele nicht

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auf Kosten der ökologischen Zustände und des sozialen Ausgleichs gehen. Ein solch neuer Konsens über die Notwendigkeit, sich um nachhaltige Entwicklung zu bemühen, ist um so wichtiger, weil bisher nicht thematisierte Teile des ethischen Grundkonsens, auf den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind, in den letzten Jahren schleichend verloren gehen und unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu gefunden werden müssen. Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz und durch wirtschaftliche Globalisierung und neue Kom­ munikationstechniken werden die Rolle der Politik und des Staates, die Bedeutung der Wirtschaft und der Indus­ trie, die Bedeutung von Arbeit und schließlich auch die Verantwortung des Einzelnen für das Ge­meinwesen neu diskutiert und sind neu zu bestimmen. Dem Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern kommt hier eine Schlüsselfunktion zu. Der Begriff der nachhaltigen Ent­ wicklung hat gerade deshalb eine Chance, Teil eines neuen gesellschaftlichen Grund­kon­senses zu werden, weil er Interpretationsspielräume zu seiner Umsetzung bietet und somit erst einmal eine breite Plattform für viele Interessengruppen in der Gesell­schaft darstellt. Gleichzeitig kann der Begriff der Nachhaltigkeit auf eine Weise eingeführt werden, dass er ethische Werte ergänzt, die in Politik und Gesellschaft allgemein akzeptiert sind. Das heißt aber auch, dass der Begriff ein Minimum an Inhalten mit sich trägt, die nicht aufgegeben werden dürfen. Im Bereich der Umwelt geht es dabei zunächst um die Erhaltung der Ökosysteme und der Artenvielfalt. Erneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße verbraucht werden, in dem sie sich neu bilden; nicht erneuerbare Ressourcen nur in dem Maße, in dem in Zukunft die so erzielten Dienstleistungen oder das entsprechende Produkt durch erneuerbare Ressourcen erstellt werden können. Auch darf die Aufnahmekapazität der Umwelt­ medien – Wasser, Boden, Luft – für Abfälle jeglicher Art nicht überschritten werden. Die Zeitmaßstäbe menschlicher Eingriffe müssen denen der Natur angepasst sein. Gefahren und Risiken für die menschliche Gesundheit sind zu vermeiden. Schließlich müssen Mittel zur Besei­ tigung vieler Altlasten bereitgestellt werden.

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„Nachhaltige Entwicklung“ darf jedoch, wie bereits gesagt, nicht auf ökologische Ziele verkürzt werden. Ein unverzichtbarer Punkt ist die intergenerationelle und die intragenerationelle Gerechtigkeit und Solidarität. Ohne Gerechtigkeit und Solidarität kann es keine nachhaltige Entwicklung geben. Die Armut von morgen und die Gefährdung menschenwürdigen Lebens in der Zu­ kunft durch ökologische Schäden darf nicht gegen die Armut und Marginalisierung von heute ausgespielt werden, und umgekehrt. Damit ist auch deutlich, dass es bei nachhaltiger Entwicklung nicht nur um ökologische Scha­dens­begrenzung geht. Wir sollten es unserer Gesell­ schaft zumuten, Konsum- und Lebens­stile kritisch zu reflektieren. Wir müssen über die Frage nachdenken, ob es nicht besser sein könnte, Pro­duktion und Konsum bestimmter Güter und Dienst­leistungen wieder vorrangig lokal oder regio­nal und nicht global zu organisieren. Wir müssen darüber nachdenken, was die derzeitige glo­bale Ein­kommens- und Vermögens­ver­tei­lung, die geo­g rafische Aufteilung der Welt in Gläubiger und Schuld­ner für die Möglichkeit der Verwirklichung einer nach­haltigen Ent­­w icklung bedeutet. Nach­hal­t ig­keit für den Bereich der Land­w irt­schaft könnte dann gegeben sein, wenn sie um­weltfreundlich, ökonomisch tragfähig, sozial gerecht und kulturell angepasst ist sowie von einem ganzheitlichen Verständnis ausgeht. Außerdem müsste sie einen deutlichen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers in der Welt leisten. Mit anderen Worten: Bei „nachhaltiger Entwicklung“ geht es um weitreide­ run­ gen von Politik, Wirt­ schaft und chende Verän­ Konsumstilen, für die es allerdings bisher kaum einen ernsthaften Willen zur Um­setzung gibt. Dies bedeutet, dass der Gedanke der nach­haltigen Ent­w icklung vor allem auch Eingang in Bildungsprogramme und Ausbildungspläne finden muss. Viele der zu hinterfragenden Parameter für Politik, Wirt­­ schaft und Kultur haben den europäischen Wohl­stand, die weitgehende Überwindung der Armut in den reichen Ländern des Nordens und die weitreichende soziale und rechtliche Absicherung erst ermöglicht. Es sind gerade einige dieser Errungenschaften westlicher Zivilisation und bestimmte wirtschaftliche Paradigmen von Markt und Wachstum, die unter den Bedingungen der Globalisierung und mit dem ethischen Postulat einer

globalen und intergenerationellen Gerechtigkeit nicht mehr ohne weiteres vereinbar sind. Die Forderung nach Nachhaltigkeit kommt daher einer „Quadratur des Kreises“ nahe. Zwischen den drei ZielDimensionen besteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Keines der drei Ziele kann verfolgt werden, ohne die beiden anderen ebenfalls zu beachten. Dabei wird es immer wieder zu Zielkonflikten kommen – gerade dann, wenn die Landwirtschaft angesprochen wird, die wie kaum ein anderer Bereich im Zentrum widersprüchlicher Interessen steht. 3.  Was bedeutet Ernährungssicherung? Die Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln und vor allem auch die Befriedigung der wachsenden Ernährungsansprüche konnte in der Vergangenheit noch relativ einfach bewerkstelligt werden, weil ein großer Teil der Produktionszuwächse durch Ausdehnung der Anbauflächen, Bewässerungs­ flächen und Verbreitung von Hochertragssorten mit dem dazu­ gehörigen Technologiepaket erfolgte. Doch diese Möglichkeiten der Ertragssteigerung sind weitgehend ausgeschöpft: „„ Weitere Bodenreserven für den Ackerbau sind nur noch in Einzelfällen vorhanden; die letzten Reste des nicht genutzten Landes werden dringend für den Natur­ schutz benötigt. „„ Die leicht zu erschließenden Süßwasserreserven sind voll genutzt; die weitere Ausdehnung der Be­wäs­ serungslandwirtschaft geht mit einer exponentiellen Stei­ gerung der Investitionskosten für die Wasser­ be­ schaffung einher und führt aufgrund der Nutzung immer tieferer Grundwasserschichten zu einer erheblichen Schädigung der Ressourcen. „„ Die Hochertragssorten sind in ihrer weiteren Er­ tragsfähigkeit durch die von ihnen selbst hervorgerufenen Krankheitsprobleme begrenzt und zum großen Teil durch die Einkreuzung mit robusteren lokalen Sorten auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten. Die Wachs­­tumsraten der Ertragssteige­rungen bei den

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Hauptnahrungsmittelkulturen vor allem in den Ent­ wicklungsländern sind von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurückgegangen. Auch bei intensiver Düngung und chemischem Pflanzen­schutz nehmen die Erträge oftmals nicht mehr sonderlich zu. Der Begriff der „Ernährungssicherung“ oder -sicherheit – im englischen Sprachraum „food security“ – ist genauso ungeklärt, wie er weit verbreitet und beliebt ist, denn seine schwer zu bestimmende Definition ermöglicht es ähnlich wie bei der Nachhaltigkeit, dass jeder den Begriff nutzt, um seine eigenen Interessen zu verschleiern. In dem Augenblick jedoch, wo man versucht, in die einzelnen Aspekte dieses Begriffes einzudringen, offenbaren sich schnell die unterschiedlichen Vor­stel­lungen. Die einen zum Beispiel verstehen unter Ernäh­ rungssicherung nationale Selbstversorgung mit Nah­rungsmitteln aller Art und Qualität, während die ande­ren diesen Begriff in einem weltmarktintegrierten Sinne verstehen, wonach eine mangelnde nationale Selbst­versorgung ohne Probleme durch reichlich vor­ han­ dene ausländische Devisen oder Handelsbilanz­ über­­­schüsse durch Zukäufe auf den Weltmärkten ausgeglichen werden kann. Die einen verstehen unter Er­­­näh­­­rungssicherung die Anfachung der landwirtschaft­ lichen Produktion in jeder beliebigen Höhe; die anderen möchten den Begriff auf die Sicherheit bestimmter gefährdeter sozialer Gruppen reduzieren und verbinden damit eine armutsorientierte, zielgruppenge­rechte Agrar- und Ernährungspolitik. Dritte packen in den Begriff der Ernährungssicherung auch noch die langfristige Siche­ rung der Ressourcen. Für sie ist Er­nährungs­sicherung dann identisch mit dem Umwelt- und Ressourcenschutz. Verwechselt wird Ernährungs­ sicherung oft zusätzlich mit dem Konzept der Nah­rungs­­mittelsicherheit, die sich ausschließlich auf die Qualität von Nahrungsmitteln beschränkt und sich auf deren gesundheitliche Un­ be­ denklichkeit bezieht. Auch die Sicherheit von Nahrungsmitteln ist häufig nicht gewährleistet, wie Lebensmittelskandale in Europa zeigen – etwa BSE bei Rindern und Dioxine in Geflügelprodukten. Insbesondere wurde durch die BSE-Seuche deutlich, dass die Abkehr von natür­lich­ en Ernährungsprozessen – hier die Fütterung von

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Pflanzenfressern mit Tierkadavern – zu schwerwie­gen­ den Erkrankungen führen kann. Eine solche „Kreis­ laufwirtschaft“ ist jedoch keine einmalige Entgleisung: So werden im Süden der USA Rinder mit nahrhaftem Hühnerdung, die Hühner wiederum mit Tiermehl aus der Rinderschlachtung gefüttert. Politisch ist das Konzept der Ernährungssicherung dadurch in Verruf gekommen, dass vor allem die sogenannten „protektionistischen Agrarstaaten“, wie die EU und Japan, die Produktion ihrer Überschüsse und die starke Förderung ihrer Landwirtschaft sowie den Außenschutz einzelner Agrarmärkte pauschal damit gerechtfertigt haben, dass sie angeblich der Ernäh­ rungssicherung dienen. Darunter wurden dann Sicher­ heitsreserven an nationaler Vorratshaltung verstanden, um eine gewisse Zeit der Krise im Falle von Krieg oder anderen einschneidenden Ereignissen zu überstehen. Diese Politik der EU hat wegen ihrer riesigen Agrarüberschüsse durch die Subventionierung ihrer Agrarexporte andere Märkte gezielt erobert und so den Begriff der Ernährungssicherung als Grundlage ihrer Überschusspolitik in Verruf gebracht. Eine große Rolle spielte das Konzept hingegen in der Entwicklungsländerdiskussion. Hier geht es um die Sich­ erung der Ernährung sowohl auf individueller Ebene, auf der Haushaltsebene, auf der Ebene der Be­ziehungen der verschiedenen Mitglieder unterschied­lichen Alters und Geschlechts innerhalb des Haushaltes sowie auf der regionalen, der nationalen und der internationalen Ebene. Bei der Food and Agricultural Orga­n isation (FAO) existiert eine Kommission zur Welter­nährungssicherung, die den Begriff definiert als „phy­sischen und wirtschaftlichen Zugang zu Nah­rungsmitteln in angemessener Menge für alle Mitglieder eines Haushalts, ohne dass das Risiko besteht, dass dieser Zugang verloren geht“. Dieses Konzept umfasst insbesondere die Beurteilung der Verwundbarkeit des Zugangs zu Nahrungsmitteln. Dabei wird zwischen chronischer und vorübergehender Ernährungs­unsicher­heit unterschieden. Die Analyse und die Ernährungssicherungspolitik, die auf einer solchen Begriffsfassung aufbaut, gründen zunächst vor allem in einer soziologischen Auseinan­der­

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setzung mit den verschiedenen Armutsgruppen, ihrer ökonomischen und sozialen Rolle in der Gesellschaft, und der Verteilung der physischen Produktion und der Geldmittel. Mit einer grundlegenden Arbeit von Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie aus dem Jahre 1998, der eine umfassende Analyse zu Hunger und Politik durchgeführt hat, verbindet sich das Konzept der Ernährungssicherung heute zunehmend mit der Katego­ rie der „Entitlements“ (Anspruchsrechte). Amartya Sen definiert diese Anspruchsrechte als die Gesamtheit der Rechte und Möglichkeiten einer Person, die unterschied­ lichen Güter, über die sie verfügt, in der Gesellschaft einzusetzen. Mit anderen Worten: Anspruchs­rechte beziehen sich auf das, was eine Person produzieren, kaufen oder leihen kann, was sie besitzt oder was die sozialen und staatlichen Regeln ihr erlauben, damit zu tun. In dieser Betrachtungsweise gibt es im Wesentlichen vier unterschiedliche Anspruchsrechte auf Nahrungs­mittel: „„ handelsbezogene Anspruchsrechte: was ein Indi­v i­ duum an Nahrungsmitteln kaufen kann, mit den Waren und dem Bargeld, das es besitzt; „„ produktbezogene Anspruchsrechte: das Recht, das zu besitzen, was man mit den eigenen Ressourcen produziert; „„ eigenarbeitbezogene Anspruchsrechte: die aus dem Einkommen der eigenen Arbeitskraft bezogenen An­ spruchs­rechte, um auf dem Markt einzukaufen; „„ vererbte oder übertragene Anspruchsrechte: das Recht, das zu besitzen, was einem freiwillig gegeben wird durch Übertragungen, Geschenke oder Spenden durch andere, inklusive dem Transfer des Staates für soziale Sicherheit, Nahrungsmittelhilfe und Pensionen. Die Stärke dieser Definition von Ernährungssicherung besteht in der Integration der drei Konzepte: Verfüg­bar­ keit von, Zugang zu und Stabilität der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Damit kann Ernährungssicherung ver­standen werden als die Fähigkeit, sich vor schockartigen Unterbrechungen normaler Anspruchsrechte auf Nahrungsmittel zu schützen. Die Definition hat eine makro­ökonomische Dimension. Als Quer­schnitts­auf­

gabe aller Politik­be­reiche geht sie weit über die Frage nach der angepassten landwirtschaftlichen Entwick­ lungsstrategie oder gar der ländlichen Entwicklung hinaus. Das gesamte Entwicklungsmodell muss unter der Frage gesehen werden, inwieweit es der Absicherung der Armen gegen Hunger dient. Wirtschaftliches Wachs­ tum per se wird nach diesem Ansatz zwar ebenso wenig verworfen wie eine zunehmende Weltmarkt­inte­ gra­ t ion. Beide haben sich jedoch hinsichtlich ihrer ver­ teilungspolitischen Wirkung für die hungeranfälligen Gruppen der Gesell­schaft zu rechtfertigen. Die Subsistenz­land­w irtschaft kann eine ebenso sinnvolle Option sein wie Kommerzialisierung und Exportorien­ tierung, sofern die Marktentwicklung staatlich überwacht und im Hinblick auf ihre sozialpolitischen Aus­ wirkungen begleitet wird. Amartya Sen hat mit diesem Ansatz einen Beitrag zur Überwindung der jahrzehntelang herrschenden Paradigmen des neoklassischen Denkens geleistet. Der Mangel dieses Ansatzes liegt allerdings darin, dass die Dimension der Umwelt und die Frage nach der angepassten technologischen Entwicklung ausgeklammert sind. Die Zerstörung der Fruchtbarkeit der Böden oder der natürlichen Balancen zwischen Schädlingen und Nützlingen kann die Ernährungs- und Erwerbs­g rund­ lage ganzer Gebiete und großer Bevölkerungs­schichten erheblich erschüttern. Das Gleiche gilt aber auch für globale technologische Entwicklungen, wie etwa die Verlagerung der Produktion von tropischen Rohstoffen, Früchten und Gewürzen in die Fermenter gentechnisch ken des Nor­ veränderter Mikroorganismen der Fabri­ dens. Die Gefährdungen, die von diesen Subs­ t i­ tuts­ entwicklungen für die Weltmärkte und Ab­satz­chancen der Länder des Südens ausgehen, vor allem für die Beschäftigungs- und Wachstumseffekte in den insgesamt noch stark exportorientierten Landwirt­ schaften vieler Entwicklungsländer, sind sehr groß. Hier zeigt sich, dass teilweise die Gefährdung der Er­näh­rungs­ sicherung sehr stark von globalen Trends ausgeht, die von guter Regierungsführung oder bewussten nationalen Politiken nur schwer ausgeglichen werden können. Technologien haben in sich schon Verteilungswirkungen, die sich nicht nur im Beschäftigungseffekt erschöpfen.

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Verschiedene Technologien eignen sich für unterschiedliche Betriebsgrößen und kommen daher den verschiedenen Produzentengruppen auf unterschied­liche Weise zugute. Hochertragssaatgut kann zwar betriebsgrößen­ neutral und auch beschäftigungswirksam sein, es ent­ wickelt aber seine volle Produktivität nur im Zu­sam­ men­­ hang mit dem vollständigen Paket begleitender Maß­­nahmen, wie zum Beispiel intensiver Düngung, Be­wässerung, Pflanzenschutz und großflächigem An­ bau. Diese Ausgaben bewegen sich vor allem im Bereich der variablen Kosten, doch bedingen sie zumindest einen Kapitalaufwand für den Ankauf der Inputs, der vorfinanziert werden muss; bis zur Ernte vergeht in der Regel ein Vierteljahr. Die Überbrückung dieses Vier­tel­ jahres und die hohe Anfälligkeit der Hoch­er­t ragssorten für Widrigkeiten bei Wetter und Schädlingen kann bedeuten, dass verwundbare soziale Gruppen schnell in unüberbrückbare und existenzgefährdende Verschul­ dungskreisläufe geraten. So suchen Kleinbauern in Asien, Afrika und Latein­ amerika intensiv nach Alternativen zu den anfälligen Hochertragssorten. Diese Programme werden z.B. im südlichen Afrika mit „Seed Security“ – Saatgut­sicher­ heit – bezeichnet. Darunter wird verstanden, dass nicht nur die Verfügbarkeit von Saatgut zum richtigen Zeit­ punkt, die Finanzierbarkeit und der Zugang zu den anderen Betriebsmitteln, die zu dem Saatgut konditioniert sind, gewährleistet sein muss, sondern es geht auch um die Angepasstheit des gesamten Technologiepakets, das in dem Saatgut selbst inkorporiert ist, in die sozialen und ökologischen Bedingungen vor Ort, in die bäuerlichen Betriebssysteme und ihre Vermarktungsformen. Wichtig ist auch die Stärkung der Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Denn häufig sind es die Frauen, die das Land bestellen, die Ernte einbringen und einen Teil der Ernte für die nächste Aussaat auswählen. Die Sicherung der Ernährung der Familie hängt daher elementar vom Wissen der Frauen über widerstandsfähiges Saatgut ab. Dennoch haben Frauen in vielen Kulturen keinen angemessenen Anteil an Entscheidungsprozessen. Vor allem im Blick auf die problematischen Trends zum gentechnisch veränderten Saatgut, auf das Patente be-

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stehen, so dass der Nachbau gebührenpflichtig wird, und das von multinationalen Konzernen weltweit vertrieben wird, bedeutet die Entwicklung einer eigenen Saatgutbasis Sicherheit vor Willkür. Auf der Grundlage von verbesserten alten Landsorten und mit der Fähigkeit der Bauern, solche bewährten Linien mit Hilfe von Züchtern und Wissenschaftlern, die ihnen beratend zur Seite stehen, zu robusten und einigermaßen ertragsfähigen anspruchslosen Hofsorten weiterzuentwickeln, kann ein großer Schritt vorwärts in Richtung Stabilität und Ernährungssicherung gemacht werden. In der Periode zwischen 1960 und 1990 haben die Ent­ wicklungsländer ihre Getreideproduktion um 100 Pro­ zent ausdehnen können, hauptsächlich auf der Grund­ lage der Anwendung von Wissenschaft und Technik im Rahmen der Entwicklung ganzer Tech­no­logiepakete. Mit dieser Entwicklung gingen aber auch Tendenzen der stärkeren Einseitigkeit der Anbaustruktur einher. Die Verbesserung der Erträge um 100 Prozent bedeutete in Asien eine Ausdehnung der Bewässe­rungs­ fläche um 60 Prozent und der synthetischen Düngung auf Stick­stoffbasis um 2000 Prozent. 33 Prozent der Produktionszuwächse können auf die verbesserten Sor­ ten und 66 Prozent auf den Einsatz von Betriebs­mitteln zurückgeführt werden, die die Umwelt verändern: ein Drittel auf die Intensivierung der Bewässerung, ein Drittel auf den Einsatz der Agrarchemie. Die Ausdehnung von Monokulturen, der Einsatz der Agrarchemie und die Intensivierung der Bewässerung führten zu enormen ökologischen Nebeneffekten, wie etwa die Eutrophierung und Verschmutzung des Süß­ wassers und der Meere, die Bodenerosion und die Ab­­ nahme der Agrobiodiversität. Ein Vergleich zwischen der Energieeffizienz in der Getreideproduktion von Agrar­­­ systemen mit intensivem externen Betriebs­ mittel­ ein­ satz und extensiver Betriebssysteme in Bangladesch, Kolumbien, China, Philippinen, USA und Großbritannien zeigt deutlich, dass im Durchschnitt die extensiven Agrar­systeme eine fünfmal höhere Energieeffizienz aufweisen (1,34 kg/MJ) als betriebsmittelintensive Be­ triebssysteme (0,28 kg/MJ). Auf den Philippinen ist aus­gerechnet worden, dass der Übergang von traditionellen Systemen der Reisproduktion zum modernen An­

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bau einen Energieaufwandszuwachs von 3000 Pro­zent benötigte, dem ein zusätzlicher Ertrag von 116 Prozent gegenübersteht. Schon vor über 15 Jahren wurde gezeigt, dass die gesamten bekannten Ressourcen fossiler Energie auf der Welt kaum ausreichen würden, um die bestehende Be­ völkerung mit dem gleichen Energieaufwand zu ernähren, den die Ernährungssysteme der Industriestaaten erfordern. Es ist eindeutig, dass die Entwicklung auf dem Pfad zu immer intensiveren Betriebsmitteleinsätzen so nicht weitergehen kann. Die Zukunft der Welter­ nährung kann auf diesem Weg nicht garantiert werden. In den letzten Jahrzehnten gab es unter dem Zwang der Strukturellen Anpassungsprogramme (SAP) von Welt­ bank und Internationalem Währungsfonds einen erheblichen Druck auf die Regierungen der Entwicklungs­län­ der, ihre Interventionen in die Wirtschaft zu redu­­zieren, selbst in den Gebieten, wo die Risiken des Marktver­ sagens groß sind oder wo eine Notwendigkeit für staatliches Handeln im Grunde vorlag. Im Streit darüber, wer effizienter sei, der Markt oder die Regierung, hat man sich bisher sehr stark in Richtung marktwirtschaftlicher Regelungen entschieden. Das Misstrauen in Re­ gie­rungen ist groß, denn ihre Marktinterventionen haben oft die Anreizstrukturen und Preise sehr stark ver­­zerrt, wovon die am meisten verwundbaren sozialen Gruppen oft am wenigsten profitiert haben. Neuerdings führen auch die Verträge der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation; WTO), die Liberalisierung der Kapital- und Produktmärkte, der Abbau der Agrar­ unterstützung und die Weltmarktintegration dazu, dass es für Regierungen immer schwieriger wird, als In­ teressen­­ vertreter für gefährdete Armutsgruppen ausgleichend tätig zu werden. Selbst die Rolle des Staates als Verteidiger der Eigen­ tums­rechte und als Garant für stabile Rahmen­bedin­ gungen der Produktion und des Austausches ist durch die Zwänge der Deregulierung in vielen Entwicklungs­ ländern gefährdet. Wenn effiziente rechtsstaatliche Be­ din­­ gungen fehlen, wird die Frage, ob jemand seine Ernährungsbedürfnisse stillen kann, oft eine Frage der Verteilung der Macht, sowohl innerhalb der Haushalte,

als auch der Gemeinschaft, der Region und der Nation. So wird Ernährungssicherung in Zeiten der globalen Liberalisierung zunehmend zu einem politisch sensiblen Konzept, mit dem der weiteren Aushöhlung der Rolle der Regierungen gegenübergetreten werden kann. Als sogenanntes „nicht handelsbezogenes Anliegen“ wird Ernährungssicherung in den kommenden WTOAgrarverhandlungen von vielen Entwicklungsländern vordringlich vorgetragen. Sie wollen verhindern, dass wichtige Programme, die der armutsorientierten ländlichen Entwicklung und der Ernährung der Armen dienen, unter „nicht-marktkonforme“ oder „protektionistische“ Maßnahmen fallen, die nach WTO-Regeln ab­zu­­schaffen sind, oder dass die Subventionen, die in diese Programme fließen, der Abbauverpflichtung für Unterstützungen anheim fallen.

Vorbereitung des Ackers für Pflanzung, Äthiopien. Foto: Helge Bendl

2.2 Ethische Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft Aus: Neuorientierung für eine nachhaltige Land­wirt­ schaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Lage der Landwirt­ schaft mit einem Wort des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der EKD, Gemeinsame Texte 18, Hannover / Bonn 2003, S. 28-37; http://www.ekd.de/EKD-Texte/44662.html 3.  Ethische Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft (40) Der Prozess einer Neuorientierung der Land­w irt­ schaft erfordert ein tiefgreifendes Umdenken auf allen Ebenen. Einiges konnte schon erreicht werden im Blick

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auf die Rückführung der Intensität landwirtschaftlicher Produktion und auf die Sensibilisierung für Fragen des Umwelt- und Tierschutzes. Der Weg zur Überwindung einseitiger Anklagen und eingefahrener Verhaltens­mus­ ter, die zu wechselseitigen Blockaden führen, ist jedoch noch weit. Es mangelt an ethischer Orientierung, internationaler Solidarität, verlässlichen Rahmen­bedin­g un­ gen, sektorübergreifenden Reformen, der Bereit­schaft zu kooperativem Handeln und dem Mut zur Innovation. Die Zukunft der Landwirtschaft hängt davon ab, ob der gegenwärtige Reformdruck in den kommenden Mona­ ten und Jahren als Chance für eine grundsätzliche Neuorientierung genutzt wird. Dafür wollen die folgenden Überlegungen aus christlicher Perspektive einige ethische Leitlinien beitragen. 3.1  Verantwortung für die Schöpfung durch nachhaltiges Wirtschaften (41) Ethische Leitperspektive für eine Reform der Land­ wirtschaft ist das Prinzip Nachhaltigkeit, dem sich die Kirchen aus christlicher Schöpfungsverantwortung verpflichtet haben.19 Es ist Wegweiser für eine Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Belange. Das bedeutet für die Landwirtschaft, dass die Produktions­ formen und betriebswirtschaftlichen Rahmenbe­ din­ gungen eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit einerseits und Umwelt-, Sozial- und Kulturverträglichkeit andererseits anstreben müssen. (42) Vom christlichen Schöpfungsglauben her lässt sich das Prinzip der Nachhaltigkeit ethisch vertiefen: Er fordert einen gärtnerischen Umgang mit der Natur (vgl. Gen 2, 15) und erkennt den Eigenwert der Tiere, Pflanzen und Landschaften an. Die Erhaltung der Schöpfung verlangt zugleich Solidarität über Generationen und Grenzen hinweg. Sie setzt eine umfassende Solidarität mit den Armen voraus. Denn im Umgang mit der Schöpfung ist die Menschheit eine globale Risikogemeinschaft. Das 19 Vgl. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1997, Textziffer 122 – 125; Deutsche Bischofskonferenz – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Bonn 1998.

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gilt zunehmend auch für landwirtschaftliche Produkte und Produktionsverfahren. (43) Eine nachhaltige Landwirtschaft ist nicht darauf ausgerichtet, das Letzte aus Boden und Tieren herauszuholen, sondern darauf, die Natur in ihrer ganzen Vielfalt als Nahrungsquelle und Lebensraum zu bewahren. Auch Wasser, Boden und Luft sind im ursprünglichen Wortsinn „Lebens-Mittel“. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, das heute als Überlebensprinzip der Menschheit eine globale Bedeutung erhalten hat, entspricht alten Erfahrungen bäuerlichen Wirtschaftens: Im Wald soll nicht mehr Holz geschlagen werden, als nachwächst. Dem Boden sollen nicht mehr Nährstoffe entnommen werden, als ihm zurückgegeben werden können. Das Vieh soll so gehalten werden, dass sein Wohlbefinden und Bestand auf Dauer gesichert bleibt. Der Hof soll in möglichst gutem Zustand als langfristige Produktionsgrundlage weitergegeben werden. Er ist mit seinen Menschen, seinem Boden, seinen Tieren und Pflanzen Bezugspunkt für ein Denken in langen Generationenketten. In der tiefen Verbundenheit mit ihm konkretisiert sich die Verantwortung für die Zukunft. Das Leitbild der Nachhaltigkeit verallgemeinert eine solche Haltung der inneren Verbundenheit mit der Schöpfung zum ethischen Leitprinzip für eine überlebensfähige Lebens- und Wirtschaftsweise. (44) Nachhaltigkeit erfordert einen Wandel der Werte und des Verständnisses von Lebensqualität. Sie basiert auf einer Kultur der Achtsamkeit und des rechten Maßes, in der die individuellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen des Lebens nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer wechselseitigen Be­dingtheit erkannt werden. Nachhaltigkeit ist also nicht nur ein ökologisches Prinzip, sondern vielmehr eine Grundeinstellung zum Leben, die darauf ausgerichtet ist, Ressourcen nicht auszubeuten, sondern so mit lebenden Systemen in Natur und Gesellschaft umzugehen, dass sie ihre Regenerationsfähigkeit behalten. Da die Rege­ne­rations- und Erneuerungsfähigkeit die grundlegende Eigenschaft des Lebendigen ist, kann man Nachhaltigkeit als Lebensprinzip definieren. Eine Kultur der Nachhal­tigkeit hat auch eine theologische Dimension, insofern der Mensch dabei durch die

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Achtung seiner Mitge­schöpfe den Schöpfer ehrt und so seinen angemessenen und zukunftsfähigen Ort in der Schöpfung wiederfindet. (45) Das Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft die Ziele einer umwelt- und generationenverträglichen sowie der internationalen Solidarität verpflichteten Lebens- und Wirt­­schaftsweise. Es betrachtet wirtschaftliches Han­deln nur dann als langfristig vernünftig, wenn es sich in die ökologischen Stoffkreisläufe, von denen der Mensch abhängt, einfügt und diese schützt. „Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft gilt es, den Ressour­cen­ver­ brauch und die Umweltbelastungen von der wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln, als dies bisher der Fall war, und die Pro­­duk­­­tionsprozesse von Anfang an in die natürlichen Kreisläufe einzu­bin­ den“.20 Nachhaltigkeit braucht Inno­vationen für eine Ent­koppelung von wirtschaftlicher Entwicklung und Um­weltverbrauch. Entscheidend hierfür ist die vorausschauende Berücksichtigung der vielfältigen Bezie­hungsund Vernetzungszusammenhänge ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwick­lun­gen. Im Agrarbereich weist das Prinzip der Nach­haltigkeit den Weg zu einer multifunktionalen Land­w irtschaft, die Lebensmittel­er­ zeugung, Land­schafts­pflege und Natur­schutz im Rah­ men integrierter Konzepte miteinander verbindet. Daran sollten sich sowohl das Berufsbild der Landwirte als auch die Agrarpolitik orientieren. (46) Gerade weil der Begriff der Nachhaltigkeit aus der bäuerlichen Lebenswirklichkeit kommt, kann die Landwirtschaft Vorreiter und Vorbild für eine dauerhaft naturverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise sein. Von der Naturnähe ihres Berufes her können die in der Landwirtschaft Tätigen eine besondere Sensibilität für ökologische Fragen entwickeln. Sie brauchen jedoch intensive Unterstützung von Politik und Gesellschaft, um diese Sensibilität im Ringen zwischen Tradition und Fortschritt angesichts der neuen ökonomischen Herausforderungen heute neu zur Geltung zu bringen.

20 Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn 1997, Textziffer 226.

3.2  Neuorientierung in Solidarität mit den Landwirtinnen und Landwirten (47) Nur mit neuen Perspektiven der ländlichen Ent­ wick­lung sowie entsprechenden Reformen der politischen Rahmenbedingungen haben die Landwirtinnen und Landwirte in Europa eine Zukunft. Dabei ist davon auszugehen, dass ein hinreichendes Auskommen bei der Vielzahl an Aufgaben nicht mehr allein über die Ver­marktung von Lebensmitteln möglich sein wird. Die finanzielle Anerkennung muss sich auf das gesamte Spektrum der Leistungen beziehen, die die Gesellschaft von ihnen erwartet. So verdienen insbesondere die Bei­ träge im Naturschutz, in der Landschaftspflege und in der ländlichen Kultur, die von den Landwirten erwartet und erbracht werden, angemessene Honorierung und gezielte Förderung. Es handelt sich um Güter, für die die Allgemeinheit als Nachfrager auftritt und zahlt und für die die gesamte Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Bereitstellung erneuerbarer Energieträger und Rohstoffe. Die wissenschaftliche Forschung ist herausgefordert, neue umweltverträgliche und marktfähige Produkte und Pro­ duk­t ionsverfahren zu erschließen. (48) Im Ringen um neue Perspektiven für eine naturund schöpfungsverträgliche Landwirtschaft sind die in der Landwirtschaft Tätigen auf eine kritische Solidarität und Unterstützung für die notwendigen Wandlungs­ prozesse angewiesen. Für die Kirchen ergibt sich eine besondere Solidarität mit ihnen nicht zuletzt aus einer tiefen Verbundenheit in historisch gewachsenen Tradi­ ti­onen, Festen und Bräuchen, die gerade auf dem Land eine lebendige Kultur des Glaubens bilden. Wir ermutigen und unterstützen die in der Landwirtschaft Tätigen, ihre Chancen des Aufbruchs in eine zukunftsfähige Ent­ wicklung wahrzunehmen und eine nachhaltig schöpfungsgerechte Wirtschaftsweise zu praktizieren. (49) Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft sind viel­­ fach das Ergebnis falsch gesetzter politischer Rah­men­ bedingungen. Die ethischen Fragen münden ein in ein Ringen um politische Lösungen, die verantwortliches Handeln der Individuen strukturell ermöglichen und sta­­bi­lisieren. Im Blick auf die europäische Landwirt­

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schaftspolitik ist dabei das vorrangige Ziel, die Anreiz­sys­ teme zu ändern: Die vielfältigen Subventionen sind häufig ökologisch und volkswirtschaftlich kontraproduk­t iv und sollten in Unterstützungen mit gesamtgesellschaftlich sinnvoller Lenkungswirkung umgewandelt werden. Eine neue gemeinwohlverträgliche Agrarpolitik kann keine isolierte Standespolitik mehr sein, sondern umfasst vielmehr eine integrierte Agrar-, Umwelt-, Sozial-, Wirtschafts-, Welternährungs- und Raumord­ nungs­poli­tik im ländlichen Raum. Nachhaltige Land­ wirt­schafts­po­litik ist eine Querschnittsaufgabe, die sich als wichtiges Bindeglied zwischen verschiedenen Poli­ tik­sektoren erweisen könnte. Im Prozess der Neu­orien­ tierung für eine nachhaltige Entwicklung brauchen die in der Land­w irtschaft Tätigen die kritische Solidarität einer Vielfalt unterschiedlicher Akteure in Politik und Gesellschaft. (50) Die Leistungen der Landwirtschaft für die Er­hal­ tung der Umwelt und für die Bewahrung der Schöpfung müssen entsprechend honoriert werden. Die Solidarität mit denjenigen, die sich in der Landwirtschaft um ein nachhaltiges Wirtschaften bemühen, fordert eine Ver­ stär­kung der Anreize hierfür. Ein Teil der Natur­schutz­ leistung in der Landwirtschaft kann jedoch von der Gesellschaft aufgrund der Gemeinwohl­pflich­t igkeit des Eigentums (in diesem Fall des Bodens) unentgeltlich erwartet werden. Unter Gemeinwohl­ pflich­ t igkeit fällt das, was die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als standort- und ordnungsgemäß definiert. Die in der Land­w irtschaft Tätigen haben ein Recht auf eine klare gesetzliche Regelung hierzu. 3.3  Tiere als Mitgeschöpfe achten (51) Tiere sind nach christlichem Schöpfungsverständnis Mitgeschöpfe des Menschen. Seit 1986 ist die Wert­ schätzung der Tiere als Mitgeschöpfe, deren Leben und Wohlbefinden zu schützen ist, auch im Tierschutzgesetz § 1 verankert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch gilt das Tier seit 1990 nicht mehr als bloße „Sache“, sondern hat einen eigenen rechtlichen Status. Nach biblischem Zeug­ nis sind auch die Tiere in den Bund mit Gott (Gen 9) und in die Erwartung einer endzeitlichen Vollendung der Schöpfung (Röm 8) eingeschlossen. Gott erlöst die

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Schöpfung, nicht nur den Menschen. Es geht dabei auch um ein „versöhntes Miteinander“ von Mensch und Tier. (52) Für Christinnen und Christen ist die Welt mit ihren Tieren und Pflanzen mehr als ein Rohstofflager, mehr als Material für menschliche Zwecke. Sie ist in ihrer Dynamik und Vielfalt Schöpfung Gottes und Ort seiner Gegenwart, die immer dann sichtbar wird, wenn der Mensch seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen in Achtung und Liebe begegnet. Diese Grundperspektive christlicher Schöpfungsverantwortung darf auch im landwirtschaftlichen Umgang mit Tieren nicht aus dem Blick geraten.21 (53) Die Tötung von Tieren ist in der von Konflikten geprägten Ordnung der Schöpfung unvermeidlich, ihre ethische Rechtfertigung unterliegt jedoch vielfältigen Grenzen und Bedingungen. Die europaweite Verbren­ nungs­a ktion im Jahr 2001 von Millionen von Rindern und Schafen im Zusammenhang mit BSE und MKS muss Anlass sein, grundsätzlich über unser Verhältnis zum Tier nachzudenken und es neu zu bestimmen. Wir müssen wieder lernen, allem Lebendigen mit der jedem Lebewesen gebührenden Ehrfurcht zu begegnen. Es ist an der Zeit, Tiere als Geschöpfe anstatt nur als „lebendige Ware“ zu behandeln und unser Konsumverhalten, die Landwirtschaft und die Agrarpolitik, aber auch den privaten Umgang mit Tieren, z. B. Haus- und Zootieren, an ethischen Kriterien, die den Eigenwert der Tiere achten, auszurichten. (54) Gemäß § 2 des Tierschutzgesetzes müssen diejenigen, die Tiere halten oder betreuen, diese ihrer Art und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen. Sie dürfen weiterhin die Möglichkeit der Tiere zu artgerechter Bewegung nicht so einschränken, dass ihnen Schmerzen, vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden. Damit sind aber einige der zur Zeit noch 21 Vgl. Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mit­ ge­schöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 19912; Die Verantwortung des Menschen für das Tier, Deutsche Bischofskonferenz, Bonn 1993.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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zugelassenen Haltungssysteme der landwirtschaftlichen Nutztiere nicht mehr vereinbar. Die herkömmliche Käfighaltung für Hühner ist ethisch ebenso problematisch wie Schweinemastbetriebe ohne Tageslicht und ohne hinreichende Bewegungsfreiheit oder Enten­ mastbetriebe ohne Licht und Bademöglichkeiten. (55) Mit dem Kriterium der Tiergerechtigkeit wird beschrieben, in welchem Maß bestimmte Haltungsbedin­ gungen dem Tier die Voraussetzungen zur Vermeidung von Schmerzen, Leiden oder Schäden sowie zur Siche­ rung von Wohlbefinden bieten. Anhaltspunkte hierzu könnten sein: Ruhe-, Ausscheidungs-, Ernährungs-, Fort­­­pflan­zungs-, Fortbewegungs-, Sozial-, Erkundungsund Spiel­verhalten. Kriterien, die sich auf diese Aspekte be­ziehen, muss in Zukunft bei Zertifizierungs- und Ge­ neh­­­mi­g ungsverfahren unbedingt Rechnung getragen werden. (56) In der Praxis gibt es allerdings vielfältige Schwierig­ keiten für eine Durchsetzung dieser Kriterien: So sind beispielsweise die gängigen Hybridhühner oder -schweine für andere Haltungsformen z. T. überhaupt nicht geeignet. Das genetische Material für robustere Tierrassen ist weitgehend verloren gegangen. Die einseitige Selek­ tion auf Hochleistung hat zu einer enormen Verengung der genetischen Basis von Hochleistungsrassen – bis hin zur Anhäufung von genetischen Defekten – geführt. Die Gen­technik und das Klonen von Tieren stellen die nächsten Beschleunigungsstufen der bisherigen Ent­ wick­­lung dar: Die Rassen werden genetisch besser an die Wirt­schaftlichkeit und Technologien angepasst, und leider nicht umgekehrt. Dem muss Einhalt geboten werden. 3.4  Globale Verantwortung und Welternährung (57) Weltweite Verantwortung ist eine unverzichtbare Dimension nachhaltiger Entwicklung. Ihre Basis ist das Prinzip der Solidarität, die nach Maßgabe christlicher Ethik unteilbar ist und folglich global auf die gesamte Menschheit angewendet werden muss. Für die Kirchen ist dabei die Solidarität mit den Schwächsten von zen­ traler Bedeutung. Christinnen und Christen können die weltweit wachsende Ungleichheit und die Elends­situa­

tion der über eine Milliarde Menschen, deren Ein­kom­ men unter einem Dollar pro Tag beträgt, die als absolut arm betrachtet werden und oft Hunger leiden,22 nicht schweigend hinnehmen. Die biblische Option für die Armen verpflichtet sie zur besonderen Solidarität mit den Kleinbauern in Entwicklungsländern. Diese muss sich nicht nur karitativ in unmittelbaren Hilfe­leistungen äußern, sondern vor allem in Strukturan­passungen für mehr Gerechtigkeit in den weltwirtschaftlichen Rah­ men­bedingungen. Die Landwirtschaft ist ein Schlüssel­ faktor für die Bekämpfung von Hunger und Armut. (58) Auf dieser Grundlage ist es ethisch nicht hinnehmbar, dass trotz der Überschüsse in der Agrarproduktion der Industrieländer immer mehr Menschen in Ent­w ick­ lungsländern an Hunger und Unterernährung leiden. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips geht es dabei vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich ist es von entscheidender Bedeu­ tung, die Chancen der Entwicklungsländer zur selbstän­ digen Versorgung zu verbessern. „Die Versorgungs­situ­ a­­tion der Entwicklungsländer muss vor allem durch den Ausbau ihrer Eigenproduktion verbessert werden. Dieser Prozess sollte weder durch Agrarexporte der Industrie­ staaten noch durch EG-Importe an Futter-Rohstoffen aus Entwicklungsländern gefährdet werden“.23 Wenn Ex­ port­dumping der Industriestaaten in Entwicklungs­län­ dern Märkte zerstört, widerspricht dies dem ethischen Prinzip der globalen Solidarität. (59) Das Ungleichgewicht zwischen den hohen Agrar­ subventionen in den Industrieländern und der geringen Unterstützung für die Landwirtschaft in Entwicklungs­ ländern muss durch eine teilweise Konversion der Agrar­­­­u n­terstützung zugunsten der Welternährung un­ be­dingt korrigiert werden. Auch die extreme Un­g leich­ be­hand­lung der Entwicklungsländer durch das WTOVer­t rags­werk muss korrigiert werden. Viele Ent ­­w ick­­­­ lungs­länder fordern eine sog. „Development Box“, mit

22 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe: Aktionsprogramm 2015, Bonn 2001. 23 Deutsche Bischofskonferenz, Zur Lage der Landwirtschaft, Bonn 1989, These 3.14.

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der Ausnahmeregeln für den Grund­ nah­ rungs­ m ittel­ bereich garantiert werden sollen. Eine Reform dieses Vertrages wäre ein wesentlicher Beitrag der Agrar­ politik zur globalen Friedens-, Umwelt- und Er­ näh­ rungsordnung. (60) Die tiefen Konflikte zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichen Erfordernissen und dem Weltgemein­ wohl können nur durch eine grundlegende Reform der Subventionssysteme und der internationalen Handelsbe­ dingungen aufgelöst werden. Folgt man dem Konzept einer an ökologischen und sozialen Kriterien orientierten Marktwirtschaft, ist die weitere marktwirtschaftliche Liberalisierung des internationalen Agrarmarktes nur in dem Maß verantwortbar, in dem gleichzeitig ein globales Ernährungssicherheitsnetz installiert wird und Mindeststandards des Umwelt-, Verbraucher- und Tier­ schutzes im WTO-Vertragswerk eingeführt werden. Diese sollten in Absprache mit den Entwicklungsländern definiert werden. Auch der Menschenrechtsausschuss der UN hat sich im Jahr 2002 dahingehend geäußert, dass er eine Umsetzung des „Rechts auf Nahrung“ in den Liberalisierungsverhandlungen darin verwirklicht sieht, dass die Agrarliberalisierung unbedingt mit sozialen Sicherungsnetzen einher gehen muss. (61) Die sich aus dem Prinzip der Solidarität ergebende Forderung nach echten Chancen für die Entwicklungs­ länder auf dem Weltmarkt heißt nicht, dass wir unsere Landwirtschaft einem radikalen Libe­ ralisierungs­ pro­ zess und der Streichung aller Agrarunterstützungen unterziehen sollen. Doch ist hier sehr viel mehr Augen­ maß als in der Vergangenheit geboten. Die reichen Gesell­schaften machen sich unglaubwürdig, wenn sie ihren Wohlstand lediglich dazu nutzen, im Alleingang und nur für sich selbst Inseln einer intakten Umwelt, einer fürsorglichen Behandlung der Tiere und einer guten sozialen Absicherung zu schaffen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass gleichzeitig viele Länder der Erde unter extremer Armut, Umweltzerstörung und gefährdung durch vergiftete Nahrungs­ Gesundheits­ mittel leiden. Neben unserem verstärkten finanziellen Engagement für die Welternährung ist ebenso eine weltoffene, entwicklungspolitisch kluge Standardent­ wicklung nötig.

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3.5  Subsidiarität und Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe (62) Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist für die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung. Gemeint ist der Vorrang für Selbständigkeit und Eigeninitiative kleinerer Einheiten. Was auf unterer Ebene zu leisten und zu gestalten ist, soll nicht von hierarchisch höheren Ebenen entschieden werden. Subsidiarität wendet sich gegen einseitige Zentralisierung, weil sie auf Dauer zu einer Ent­ mündigung der kleineren Einheiten und zu geringerer Flexibilität in der Anpassung an spezifische Stand­ ort­ voraussetzungen führt. Subsidiarität wurde 1992 mit dem Maastrichter Vertrag als ein Grundprinzip für den Aufbau der europäischen Einheit anerkannt. Sie befürwortet föderale Strukturen im Sinne von Einheit in Vielfalt. (63) Einheitliche Regeln, die zu sehr ins Detail gehen, verhindern diese Vielfalt, die gerade für die europäische Tradition ein wichtiges Strukturmerkmal ist. Die unterschiedlichen ökologischen und soziokulturellen Stand­ ort­bedingungen können in der Landwirtschaft oft besser in nationaler oder regionaler Eigenverantwortung berücksichtigt werden. Ein wichtiges Instrument zur subsidiären Dezentralisierung ist der weitere Ausbau einer Co-Finanzierung der Landwirtschaft durch einzelne Län­derprogramme. Unterschiedliche Programme der ein­zelnen Bundesländer haben gute Wirkungen gezeigt, z. B. der Marktentlastungs- und Kulturland­schafts­aus­ gleich MEKA in Baden-Württemberg, umwelt­gerechte Landwirtschaft in Sachsen oder das Kultur­land­schafts­ programm in Bayern. (64) Aus dem Prinzip der Subsidiarität ergibt sich eine Option für die Regionalisierung. Die Regionalisierung von staatlichen Programmen dürfte in der Regel kein Problem sein und wird auch von der EU-Agrarpolitik zunehmend anerkannt, indem zentral nur ein Rahmen vorgegeben wird, der dann regional angepasst in konkrete Programme umgesetzt wird. Der gemeinsame Rahmen ist notwendig, um es zu keinen Wettbewerbs­ verzerrungen kommen zu lassen. (65) Die Regionalisierung von Vermarktung und Ernäh­ rungsgewohnheiten innerhalb des gemeinsamen Rah­

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mens ist zwar wünschenswert, aber nicht einfach. Man kämpft dabei gegen die Marktmacht riesiger Konzerne an, deren ökonomische Überlegenheit die zentralisierte Logistik ist und für die ein kleinräumlicher Waren­k reis­ lauf schwer zu verkraften ist. Dabei würde die Ver­stär­ kung regionaler Wirtschaftskreisläufe zur Entwick­lung im ländlichen Raum sowie zum Schutz klein­bäuerlicher Strukturen und alternativer Vermarktungskanäle – jenseits des Wettbewerbs auf den Weltmärkten mit Massenprodukten – beitragen. Sie vermeidet Verkehr und Verpackungsaufwand durch eine umweltfreundliche „Wirtschaft der kurzen Wege“. Sie verbindet sich mit einer Aufwertung des Handwerks vor Ort, das Ressourcen schont, indem es nicht nur produziert, sondern auch repariert. Regionalisierung bindet Kaufkraft und Wertschöpfung an die Region und trägt so zum Erhalt von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum bei. (66) Regionalisierung hat auch eine kulturelle Dimensi­ on und leistet durch die Pflege der regionalen Traditionen und Bräuche einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung sozialer Bindungen, zum Heimatbewusstsein und zur Lebensqualität. Sie ermöglicht Lebensqualität durch Nähe von sozialen Kontakten, Einkaufs- und Arbeits­ möglichkeiten sowie von kulturellen Angeboten und Initiativen. So können regionale Angebote und Produkte zugleich ein Wir-Gefühl für Dorf und Region vermitteln. Manche regionale Produkte aus der Landwirtschaft genießen einen Vertrauensvorschuss, weil sie als frisch, gesund und ökologisch wertvoll gelten. (67) Seit einigen Jahren gibt es eine neue Neigung zur Regionalisierung. Die Lebensmittel verarbeitende In­ dus­­trie nutzt diese auf ihre Weise, indem sie bestimmte Anpassungen ihrer Produkte – z. B. an nationalen Ge­schmack, Sprache, Aufmachung oder Marketing – vornimmt. Moderne Informationstechniken machen solche industriellen Anpassungen der äußeren Gestalt von Lebensmitteln möglich. Ob sich die neue Wert­ schätzung regionaler Bezüge über solche Vermark­ tungsstrategien hinaus auch in dem oben beschriebenen Sinne für eine umfassende Stärkung kommunaler Eigenständigkeit in Kultur und Wirtschaft im Großen durchsetzen wird, ist schwer zu bemessen. Jedenfalls ist momentan deutlich, dass sich für regionalisierte

Produkte, Handelsstrukturen und Dienstleistungen Marktnischen auftun, die unbedingt genutzt werden sollten, um die Vorteile auszuschöpfen. In der Praxis zeigt sich, dass die Nachfrage nach regionalen Pro­ dukten und nach ökologischen Produkt- bzw. Pro­duk­ tionskriterien in einem engen Zusammenhang stehen. (68) Das Erwachen des regionalen Bewusstseins der Verbraucher und Produzenten kann eine Gegenreaktion auf Entfremdungen sein, die mit der Globalisierung unserer Lebensumstände einhergehen und von denen auch der Ernährungsbereich nicht ausgespart blieb. Gemäß der Maxime „Global denken – lokal handeln“, die dem Geist der Subsidiarität entspricht, geht es bei der Regio­nalisierung nicht um eine provinzielle Blockade der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik oder einen neuen protektionistischen Drang. Weltoffen und in der Region verhaftet zu sein sind keine unüberwindbaren Gegensätze. Regionalisierung nach Maßgabe der Sub­ sidi­ a rität meint ein differenziertes Mischungs­verhältnis. 3.6 Ernährungsethik (69) Die Ernährung ist heute den gleichen Ratio­na­li­ sierungstendenzen unterworfen wie die Landwirtschaft und andere Lebensbereiche. Ein breites Sortiment an stan­dardisierter, abgepackter und stark weiterverarbeiteter Ware, konsumfertig, haltbar, transportabel und leicht portionierbar, kommt diesem Bedürfnis der Ver­ braucherinnen und Verbraucher entgegen. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft reduzieren sich die gemeinsamen Mahlzeiten für viele Menschen auf wenige Anlässe. Häufig sind gravierende gesundheit­ liche Probleme wie Übergewichtigkeit in den Indus­t rie­ ländern eine Folge der Achtlosigkeit beim Essen. Das Innehalten, das Ge- und Bedenken des Wertes unseres täglichen Brotes zur Stärkung von Leib, Geist und Seele treten zusehends in den Hintergrund. Der Bedeutungs­ verlust des gemeinsamen Tischgebets ist deutlicher Aus­ druck hiervon. (70) Bezieht man ethische Grundsätze auf die Ernäh­ rung, so bedeutet dies, mit einem bewussteren und damit auch geplanteren Einkaufen zu beginnen. Bewusstes

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Einkaufen heißt: Vermeidung von aufwändigen Ver­ pack­ungen und weiten Transportwegen und Berück­ sich­t i­g ung jahreszeitlicher Warenangebote. Auf diesem Wege können die heimische Landwirtschaft unterstützt sowie das Ernährungshandwerk und die kleinen Händ­ ler gefördert werden. Frische und hochwertige Qualität von Lebensmitteln lässt sich häufig durch überschaubare, regional gebundene Erzeugungsprozesse erhalten. Damit werden Maßstäbe gesetzt, die für die Her­stel­lungs­prozesse insgesamt gelten. Landwirtschaft, Umwelt- und Tierschutz sind darauf angewiesen, dass die Ver­braucher ihrer Mitverantwortung für die Schöp­ fung durch eine „Politik mit dem Einkaufskorb“ gerecht werden. (71) Bewusstes Einkaufen, Zubereiten und Essen lohnen sich auch für die Verbraucher selbst. Denn eine ausgewogene Ernährung ist eine Basis der Gesundheitsvorsorge. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil eines eigenverantwortlichen Umgangs mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit. Gesunde Ernährung beinhaltet den Einkauf qualitativ hochwertiger und vielfältiger Lebensmittel, eine sorgfältige Zubereitung und genügend Zeit für den Verzehr. Echter Genuss setzt auch die Fähigkeit, Maß zu halten, voraus. (72) Ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung bei Nah­ rungsmitteln entfällt auf die Weiterverarbeitung und Zubereitung. Deswegen ist es wichtig, nicht nur die in der Landwirtschaft Tätigen anzusprechen, sondern alle Verbraucher, um auf möglichst breiter Basis einen achtsamen Umgang mit den Gütern der Schöpfung zu för-

Gemeinschaftliche Mahlzeit, Niger. Foto: Christoph Püschner

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dern. Es geht nicht um Verzicht als solchen, sondern um ein neues Qualitätsbewusstsein. Eine neue Kultur der Ernährung ist ein Beitrag zur Achtung vor der Schöpfung und zur eigenen Gesundheit, den jeder und jede bei entsprechender Willensanstrengung auch im Alltag leisten kann.

2.3 „Es genug sein lassen“: Von der Effizienz zur Suffizienz Aus: Ernährungssicherung vor Energieerzeugung. Kri­ te­rien für die nachhaltige Nutzung von Biomasse. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 95, Hannover 2008, S. 30-33; http://www.ekd.de/download/ekd_texte_95.pdf 4  „Es genug sein lassen“: Von der Effizienz zur Suffizienz Aus ökologischer Perspektive ist davon auszugehen, dass der Verbrauch natürlicher Ressourcen langfristig und in einem ausreichenden Maße nur gesenkt werden kann, wenn technologische Effizienz- mit verhaltenswirksamen Suffizienzstrategien zusammenwirken. Beide allein und isoliert voneinander sind unzureichend. Technologische Effizienz ist eine anerkannte Strategie der Umweltpolitik, die Idee einer suffizienten, das heißt genügsamen Lebensweise stößt hingegen oftmals auf Widerstand: Verzichten, so heißt es, wolle doch keiner. So gesehen, war und ist die Idee einer religiös oder moralisch („Was wäre, wenn jeder Mensch so viel verbrauchen würde?“) begründeten Umkehr hin zu einem weniger verbrauchs- und konsumintensiven Lebensstil eine Außenseiteridee, die konträr zur säkularen Zivilreligion des Konsumierens stand und steht. Jedoch ist auch die Verwirklichung von Effizienz­stra­ tegien nicht selbstverständlich. Unternehmen und Ver­ braucher halten nicht selten lange an gewohnten Pro­ dukten und Verfahrensweisen fest und scheuen den Wechsel zu neueren Techniken, selbst wenn Kosten­ein­ sparungen damit zu erzielen sind. In nicht wenigen Fällen scheitert effizientes Verhalten daran, dass das dafür nötige Wissen nicht vorhanden ist – etwa im Blick

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auf die Stand-by-Technologien. In wieder anderen Fällen fehlt das notwendige Kapital für Investitionen in neue Technologien: Auf diese Weise müssen häufig hohe laufende Energiekosten beglichen werden, ohne auf effiziente Techniken umsteigen zu können. Schließlich orientieren sich Forschung und Entwicklung nicht immer an der Steigerung der Energie-Effizienz, sondern an anderen Zielen, die „vom Markt“ vorgegeben werden. Genügsamkeit erscheint dagegen zunächst als ein individueller Lebensstil. Einzelne Menschen werben beiläufig für diese Idee, indem sie sie im je eigenen Lebens­ vollzug zum Ausdruck bringen. Diese Idee ist in allen Weltreligionen verbreitet: in äußerlichen Dingen arm, in spirituellen Angelegenheiten reich sein wollen. Man gibt A um B willen auf, weil man glaubt, dass sich beides miteinander nicht gut verträgt. Suffizienz ist dabei kein zwanghafter Verzicht, sondern beruht im Kern auf einer wohl überlegten Geringschätzung eines am Konsum orientierten Lebensstils. Wenn nun B aber wichtiger, kostbarer und schöner als A ist, dann gibt man A preis. Somit ist, recht betrachtet, die VerzichtsTerminologie einseitig und damit irreführend. Es geht nicht um ein freudloses Verzichten-Müssen, sondern um ein befreites und befreiendes Weglassen-Können. Ein mit dem Leitbild der Genügsamkeit verbundenes Denken ist auch im christlichen Denken zuhause: Es gibt das biblische Konzept der „Metanoia”, das mit „Sinnes­wandel“ übersetzt werden kann. In der christlichen Tugendlehre wird die Habgier von je her als Laster angesehen. Zwar darf man sich durchaus über äußere Glücksgüter freuen (und Gott dafür danken), aber man soll sein Herz nicht an Güter hängen, „die Motten und der Rost fressen“ (Mt. 6,19). Äußere Glücksgüter sollen nicht vom menschlichen Geist Besitz ergreifen, und wenn dies droht, so ist es besser, sich von ihnen zu trennen. Daher heißt es in der Bibel, dass ein weiser Mensch Gott darum bittet: „Armut und Reichtum gib mir nicht“ (Spr. 30, 8). Ein wesentlicher Punkt unterscheidet die umweltethische Idee der Suffizienz von der religiösen Idee der Metanoia. Die Metanoia ist theologisch immer die Ab­ kehr von der Sünde und die Hinwendung zu Gott. Ein

genügsamer Lebensstil einzelner Menschen liefert natürlich nur einen verschwindend kleinen Beitrag zur Lösung eines größeren Umweltproblems. Die Umkehr zu einem einfacheren Leben kann für viele Menschen befreiend, erleichternd, ja beglückend sein und anderen Menschen als Ermutigung, teilweise sogar als Vorbild dienen. Jedoch dürfen wir bei umweltpolitischen Ziel­ setzungen nicht aus den Augen verlieren, dass es gesamtgesellschaftlich wenig Sinn macht, wenn nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung versucht, einander in „Suffizienzrekorden“ zu überbieten – während die Mehr­­heit weiterhin „business as usual“ praktiziert. Eine Ökonomie der Genügsamkeit kann von den Beispie­ len Einzelner ausgehen. Sie darf sich aber, um in der Gesellschaft wirksam zu sein, nicht nur auf Appelle an das individuelle Konsumverhalten reduzieren, sondern muss grundlegende und strukturelle Verände­ run­ gen der Ökonomie nach sich ziehen. In den reichen Indus­ trieländern bedeutet dies, den Gedanken, dass auch der Konsum Grenzen des Wachstums erreichen kann, überhaupt erst einmal diskussionsfähig zu machen. Ein Wandel der Lebensstile kann, wenn er glaubwürdig gelebt wird, vertrauensbildend auf andere und verändernd auf die Regelwerke wirken, unter denen sich die ökonomische Globalisierung vollzieht. Nur wenn der Norden – oder wenigstens ein Akteur von weltwirtschaftlicher Bedeutung wie die EU – die Bereitschaft an den Tag legt, den bisherigen kollektiven „way of life“ zu verändern, können Erwartungen an die aufstrebenden Mittelschichten der Schwellenländer gerichtet werden, diesen vordergründig attraktiven, am Konsum orientierten Lebensstil nicht nachzuahmen. Dies würde auch die Kräfte derer stärken, die reiche kulturelle und religiöse Traditionen (etwa Indiens) nicht einem säkularen Konsumismus opfern wollen oder die, wie die aktiven Gruppen der „First Nations“,24 einen Rückweg zu gewaltsam zerstörten Traditionen suchen. Gerade in den reichen Industrieländern sind viele konkrete Schritte möglich, um eine Ökonomie der Genügs­ amkeit in unserem alltäglichen Leben zu verankern. 24 Als „First Nations“ werden indianische Völker in Kanada bezeichnet.

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Dabei müsste noch nicht einmal jeder Bürger und jede Bürgerin alle diese Schritte gleichzeitig verwirklichen – jede/r könnte mit dem anfangen, was ihm oder ihr am leichtesten fällt oder wo er/sie den größten Hand­lungs­ bedarf sieht. Eine hervorragende Orientierungs­mög­lich­ keit bietet dabei – neben vielen anderen einschlägigen Ratgebern – das Projekt des „Nachhaltigen Waren­korbs“ des bundesdeutschen Rates für Nachhaltige Ent­w ick­ lung.25 „Ökonomie der Genügsamkeit“ kann heißen: 26 1. Das eigene Mobilitätsverhalten zu verändern:  kurze Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen, keine Kurzzeit-Reisen mit dem Flug­ zeug zu unternehmen, nur Pkws mit niedrigem CO2-Ausstoß zu kaufen, freiwillig eine Höchst­ geschwindigkeit von 120 km/h einzuhalten;

2. die eigenen Ernährungsgewohnheiten zu verändern: Produkte aus der Region und „à la saison“ zu bevorzugen, wo immer möglich auf ökologisch erzeugte Lebensmittel zurückzugreifen, bei Produk­ ten aus Übersee konsequent nur fairtrade-Produkte einzukaufen, und vor allem: den Fleischkonsum so weit wie möglich einzuschränken; 3. sich den eigenen Umgang mit Energie bewusst zu machen und bewusst zu gestalten: nur energieverbrauchsoptimierte Geräte anschaffen, auf richtiges Lüften und Heizen achten, auf den Bezug von Ökostrom umstellen, alle Standby-Geräte komplett abschalten, wenn sie nicht in Betrieb sind, in Wärmedämmung und, sofern möglich, auch in Solarenergie investieren; 4. die eigenen Ersparnisse nach den Kriterien eines ethisch und ökologisch verantwortungsvollen Investments anzulegen, mit anderen Worten: die eigene Wirtschaftskraft, und sei sie auch noch

25 Als „First Nations“ werden indianische Völker in Kanada bezeichnet. 26 Vgl. Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der EKD: Verkehr (Reihe „Bewahrung der Schöpfung“ 5), Frankfurt 1992; Ökumenischer Rat der Kirchen: Mobilität. Perspektiven zukunftsfähiger Mobilität, Genf/Bad Boll 1998.

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so bescheiden, nutzen, um eine „Ökonomie der Genügsamkeit“ zu verwirklichen. Alle diese Punkte werden seit Jahren diskutiert. Nun, da die Klimaveränderungen zeigen, wie wichtig der ökologisch orientierte Umbau der Gesellschaft ist, ist noch einmal deutlicher geworden, dass diese Schritte auch in der Praxis gegangen werden müssen. Die energetische Nutzung von Biomasse ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Umbaus. Zu verantworten ist sie nur, wenn die Menschen so effizient und genügsam wie möglich mit Energie umgehen. Hierfür sind die Appelle an das individuelle Verhalten nicht ausreichend. Zur Erreichung des Ziels einer nachhaltigen Energiewirtschaft sind Veränderungen in den ökonomischen institutionellen Rahmenbedingungen erforderlich. Beispiele hierfür wären: 1. Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissions­ handel oder eine adäquate Besteuerung von Kerosin, 2. Tempolimit auf Autobahnen, was neben seinen direkten Effekten langfristig dazu beitragen würde, dass die Produktion von immer größeren und immer stärker motorisierten Kraftfahrzeugen sinnlos würde, 3. Reduktion des CO2-Ausstoßes von PKW auf 90-100 g/km durch einen Mix aus Ordnungsrecht und ökonomischen Instrumenten,27 4. keine weitere Privilegierung der Kohle im Nationa­ len Emissionshandel, Versteigerung der Emissions­ lizenzen zu 100%, 5. anspruchsvolle Standardisierung von Elektro­ge­rä­ ten (Top-Runner-Approach), 6. Anreize zur energetischen Modernisierung des Ge­ bäude­­bestandes. 27 Vgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Umweltgutachten 2008: Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels, Kap. 1.

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für sie die Gerechtigkeitsfrage und die Umweltfrage bar mit der Friedensfrage verbunden seien. untrenn­ Schließlich verpflichteten sich die Kirchen, die unter dem Dach des ÖRK zusammenarbeiteten, in Vancouver zu einem „Konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflich­ tung für Ge­rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“.28

Gemeinschaftliche Feldarbeit, Uganda. Foto: Christof Krackhardt

2.4 Konziliarer Prozess und Option für die Armen Aus: Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2009, S. 111-114; http://www. ekd.de/download/klimawandel.pdf 5.2  Konziliarer Prozess und Option für die Armen Als ethische Orientierung für eine Umkehr in Gesell­ schaft, Politik und Wirtschaft beziehen wir uns auch auf die Leitbilder, die im Konziliaren Prozess für Ge­ rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung entwickelt wurden. Der Konziliare Prozess entstand in den 1980er Jahren als Antwort der Kirchen und Gruppen im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) auf die globalen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen, die ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit sowie die Bewah­ rung der Schöpfung in Frage stellen. 1983 brachten bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver die Delegierten des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) einen Antrag ein, in dem sie bezugnehmend auf Dietrich Bonhoeffers Forderung aus dem Jahr 1934 die Einberufung eines gesamtchristlichen Friedenskonzils forderten. Aus kirchenrechtlichen Gründen verzichtete man in der weiteren Debatte auf den Begriff des Konzils. Außerdem wurde von den Kirchen aus dem Süden daran erinnert, dass

Es folgten 1985 in Westdeutschland der Aufruf Carl Friedrich von Weizsäckers auf dem Düsseldorfer Kirchentag, der dem Beschluss von Vancouver mehr Bekanntheit verschaffte, sowie eine Reihe von ökumenischen Versammlungen auf ostdeutscher (1988/89 in Magdeburg und Dresden), westdeutscher (1988 in Königstein und Stuttgart) sowie auf europäischer Ebene (1989 in Basel), die stark von kirchlichen Basisgruppen mitbestimmt und den inneren theologischen und politischen Zusammenhang der Fragen nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung reflektierten und konkrete Schritte der Umkehr forderten.29 Bei der Weltversammlung 1990 in Seoul bekannten die dort versammelten Kirchen: „Wir sind uns gegenseitig rechenschaftspflichtig, wir brauchen einander, um zu begreifen, wer wir vor Gott sind. Eine weltweite geschwisterliche Gemeinschaft wird erst wachsen, wenn wir gelernt haben, auf einander zu hören, uns mit den Augen der anderen zu sehen. ... Der Ruf Jesu zum Leben hat viele Ausdrucksformen: für die Reichen hieß er, befreit euch von der Macht des Geldes, ... die Verzweifelten rief er auf, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden, die Privilegierten ermahnte er, ihren Reichtum und ihre Macht zu teilen, ... die Schwachen, sich selbst mehr zuzutrauen.“  30 Ebenso aus der Ökumene kam der Impuls zur „Option für die Armen“, der auch in Deutschland z. B. im gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen

28 S. W. Muller-Romheld (Hrsg.): Bericht aus Vancouver 1983, Frankfurt 1983, S. 99. 29 Vgl. U. Schmitthenner (Hrsg.): Der konziliare Prozess. Gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Frankfurt 1998, S. 38-48. 30 http://oikoumene.net/home/global/seoul90/seoul.theo/ index.html

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Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage 1997 aufgenommen wurde und bis heute eine Orientierungsgröße für die christliche Weltver­a nt­wor­ tung ist. Es heißt dort: „In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entschei­ den in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden. ... Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstandes leben.“ 31 In diesem Sinne ist für ein Verständnis von Gerechtigkeit einzutreten, nach dem allen Völkern des Globus das gleiche Recht zu­ zugestehen ist, die Schöpfungsgüter zu nutzen. Durch den Klimawandel stellt sich die Frage „Wer ist mein Nächster?“ mit neuer Schärfe. Unser Leben ist endlich und die Güter der Erde sind begrenzt. Deshalb müssen wir sorgsam mit ihnen umgehen. Gott fordert uns heraus, uns auf unsere Grenzen zu besinnen. Daran erinnern uns biblische Traditionen, wie z. B. der von Gott geschaffene Ruhetag, der eine heilsame Unterbrechung des Arbeitslebens darstellt oder auch die Tradition des Erlassjahres, das Besitz­ver­ hältnisse in regelmäßigen Abständen neu ordnet und sowohl extremem Reichtum als auch extremer Armut Grenzen setzt. Von den Grenzsetzungen Gottes erzählen auch biblische Geschichten wie die des Turmbaus zu Babel oder des Gleichnisses vom reichen Kornbauern, in denen Gott Menschen in ihrem Streben nach unendlicher Macht und unendlichem Anhäufen von Reichtum in ihre Schranken weist. Eine Lebens- und Wirtschafts­ weise, die auf ständiges Wachstum setzt, ist nicht nur gefährlich und unverantwortlich, sondern leugnet auch die von Gott geschaffene heilsame Endlichkeit des Menschen. Letztlich geht es auch darum, dass wir als Menschen das für uns richtige Maß wieder finden und eine neue Ethik der Genügsamkeit einüben.

31 S. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Gemeinsame Texte 9, Hannover/Bonn 1997, S. 44f; www.ekd.de/ EKD-Texte/sozialwort/sozialinhalt.html

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Nicht erst seit der Finanzkrise, sondern schon lange zuvor gab es in den Kirchen daher den Ruf, Modelle einer „Ökonomie der Genügsamkeit“ zu entwickeln.32 Diesem Ruf hat sich die EKD-Synode 2008 auch in ihrer Erklärung zur Finanzkrise angeschlossen, indem sie fest­stellt, dass Maßlosigkeit in die Krise geführt hat, und die Wirtschafts- und Klimakrise uns zeigen, dass sich unser Wirtschafts- und Lebensstil ändern müssen.33 Die Kundgebung der EKD-Synode zum Thema Klimawandel 2008 erwartet diese Änderung des Lebensstils aus der Haltung der Dankbarkeit über die Schönheit der Schöp­ fung und der Demut, die die von Gott gesetzten Gren­ zen achtet. „Die Frage nach den Grenzen meiner Mög­ lich­ keiten begleitet mich täglich als eine Frage des Schöpfers an mich: Was erlaubst du dir? … Zu lange sind wir alle den Prinzipien der Machbarkeit und der Verwertbarkeit gefolgt. Jetzt bin ich … herausgefordert, mir Grenzen zu setzen; das Lassen zu lernen.“34 Auch wir in der Kirche haben uns zu lange von der Illusion des grenzenlosen Wachstums leiten lassen und sind deshalb auch Teil der problematischen Entwicklung, die wir heute beklagen. Ist der Ruf nach Umkehr ähnlich vermessen, wie das Be­schreiten des Weges, auf dem wir bisher gegangen sind? Gottes eigenes Handeln, das Recht schafft, erinnert uns daran, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht eine Utopie bleibt, sondern für diese Welt gilt: Friede auf Erden ist eine schon jetzt geltende Verheißung. Wir machen uns schuldig vor Gottes Augen und vor der Welt und leugnen seine befreiende und verändernde Macht, wenn wir als Christen trotz allen Wissens nicht den global und lokal herrschenden Ungerechtigkeiten, den Menschen verachtenden Kriegen und dem aus Maß­losig­keit geborenen Raubbau an seiner Schöpfung entgegentreten. 32 S. Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde, AGAPE-Dokument des ÖRK, 2005, S. 68. 33 S. Beschluss der EKD-Synode 2008: Verbindliche Regeln für die globalen Finanzmärkte; www.ekd.de/synode2008/beschluesse/beschluss_kapitalmarkt.html 34 Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel. 7. Tagung der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 2. bis 5. November 2008 – Bremen, hier: Kundgebung, epd-Dokumentation 52/2008, S. 8.

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„Kehret um, und ihr werdet leben“ – diesen prophetischen Ruf gilt es, zuerst für uns als Kirche zu hören, anzunehmen und ihn zu leben. Dann werden wir als Kirche auch eine Stimme werden, die sich in der Diskussion um die Suche nach neuen politischen und ökonomischen Leitbildern zu Wort melden kann, eine Stimme, auf die andere in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft hören können.

Leitbild für die Reform der Agrarpolitik sollte nach unserer Auffassung eine ökologisch nachhaltige, multifunktionale und vielfältige Landwirtschaft sein, die ihrer Verantwortung gegenüber den Erzeugerinnen/ Erzeugern und den Verbraucherinnen und Verbrauchern in der Europäischen Union, aber auch den Menschen in den Entwicklungsländern nachkommt. Zentrale Kriterien für mehr Nachhaltigkeit im Agrar­ sektor sind „„ die internationale Verantwortung der EU-Agrar­ politik für Folgewirkungen der eigenen Ent­scheidungen und des eigenen Handelns vor allem in den Ent­w ick­ lungsländern und für die Weiter­ent­w icklung internationaler Regelwerke,

Pestizide werden auf eine Monokultur ausgebracht, Brasilien. Foto: Florian Kopp

2.5 Empfehlungen der Kammer für nachhaltige Entwicklung für den weiteren Reformprozess der Europäischen Agrarpolitik Aus: Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft. Zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 114, 2011, S. 20-26; http:// www.ekd.de/download/ekd_texte_114.pdf Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD nimmt die aktuellen agrarpolitischen Diskussionen zum Anlass, vor dem Hintergrund des christlichen Schöp­fungsglaubens und des biblischen Verständnisses einer lebensdienlichen Ökonomie Grundzüge einer nach­­haltigeren EU-Agrarpolitik zu skizzieren. In diesem extrem komplexen Politikfeld können keine Patent­ rezepte zur Problemlösung angeboten, jedoch Kriterien benannt werden, die für eine Reform der neuen GAP handlungsleitend sein könnten.

„„ die Respektierung der Ernährungssouveränität von Drittstaaten – d. h. ihr Recht, ihre eigene Land­ wirtschafts- und Ernährungspolitik zu verwirklichen – und die Umsetzung des Menschen­rechts auf Nahrung, „„ der Beitrag zum Ressourcenschutz, zum Klima­ schutz, zum Tierschutz und zum Schutz der biologischen Vielfalt, „„ die Eröffnung positiver sozioökonomischer Perspek­ tiven für landwirtschaftliche Betriebe unterschiedlicher Strukturen durch verlässliche Rahmen­bedingungen und die Honorierung gesellschaftlich erwünschter Ge­ meinwohlleistungen, „„ Impulse für integrierte ländliche Entwicklungs­ prozesse, „„ eine Stärkung des Verbraucherschutzes und der Transparenz sowie der Verantwortung der Ver­ braucher für eine nachhaltige Landwirtschaft. 6.1  Internationale Verantwortung Die EU-Agrarpolitik sollte sich klar zu ihrer internationalen Verantwortung bekennen. Sie ist so zu gestalten, dass die Bemühungen anderer Länder, ihre Ernährungs­ sicherung durch eigene Agrarproduktion zu sichern,

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nicht behindert werden („do no harm“). Auch sollte die EU ihre Handelspolitik kontinuierlich auf die Folge­ wirkungen gegenüber den Entwicklungsländern ana­ lysieren und beobachten. Die EU-Agrarpolitik sollte weiter gefasst werden und stärker Klimapolitik, Seuch­en­ ­­politik, Lebensmittelpolitik, Agrarumwelt­poli­t ik, Agrar­­­ marktpolitik und Agrarhandelspolitik als Teil der EUAgrarpolitik verstehen. Dies sollte eingebunden sein in internationale Regelwerke und Leit­linien, wie z. B. den UN Millennium-Entwicklungs­ zielen, den verschiedenen Leitlinien der Welternährungs­ organisation FAO, den Dokumenten der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) und dem Pakt zu den wirtschaft­ lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Wir erwarten auch von den Institutionen der Agrarpolitik einen Ein­satz zum Aufbau weltweiter Entwicklungs­ part­ner­schaft als dezidiertes Teilziel der Gemeinsamen Agrar­politik mit entsprechenden Konsequenzen für die EU-Haushaltspolitik, EU-Handelspolitik und EU-Forsch­ ungspolitik. Eine Konsequenz daraus ist eine verstärkte Binnen­ markt­orientierung, die eine strukturell bedingte ständige Überproduktion verhindert. Gleichzeitig müssen gerechte Regeln für einen qualifizierten Marktzugang geschaffen werden. Der qualifizierte Marktzugang soll die europäische Landwirtschaft vor Umwelt- und Sozial­ dumping schützen, da sie innerhalb der EU im internationalen Vergleich tatsächlich höhere Produktions­ standards zu erfüllen haben. Bei der Eindämmung der Finanzspekulation mit Agrarerzeugnissen und des Land Grabbings sollte die EU eine internationale Vor­ reiterrolle übernehmen. In vielen Entwicklungsländern, in denen die Ernäh­ rungs­ sicherung noch immer nicht gewährleistet ist, nimmt der Anbau von Futtermitteln sowie Energie­ pflanzen für den Export dramatisch zu. Auch die Pro­ duktion von nachwachsenden Rohstoffen für die stoffliche Verwertung gewinnt an Bedeutung und verschärft die Flächenkonkurrenz in den Entwick­lungs­ländern. Die EU sollte die Zulassung von Agrarimporten an die Beachtung von Nachhaltigkeits- und Menschen­ rechtskriterien binden und darauf hinwirken, dass der Ernährungssicherung Vorrang gewährt wird.

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Auch sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten die Verabschiedung und Umsetzung der derzeit bei der Welternährungsorganisation FAO erarbeiteten Frei­ willigen Leitlinien zum Recht auf Zugang zu Land und anderen natürlichen Ressourcen nachdrücklich unterstützen. Besonders das europaweite Netz der öffentlichen Agrar­ forschung sollte wesentlich stärker als bisher Fragen zur nachhaltigen, multifunktionalen Landwirt­schaft im europäischen und internationalen Kontext bearbeiten und Forschungspartnerschaften mit Ent­w ick­lungsländern ausbauen. Eine verstärkte öffentliche Pflanzen- und Tier­züchtung, die sich an den zukünftigen Nach­hal­ tigkeitsherausforderungen und an einer erwei­ terten Agro­biodiversität ausrichtet, ist ebenfalls wünschenswert. 6.2  Welternährung und Ernährungssouveränität Die Europäische Union sollte die „Freiwilligen Leitlinien zur Implementierung des Rechts auf Nahrung“ zur Richtschnur ihres Agrarhandels mit Entwicklungs­ ländern machen und alles unterlassen, was die Er­näh­ rungssouveränität und die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung in den Entwicklungsländern behindert. Die EU-Agrarpolitik muss auf die langfristige Ernäh­ rungssicherung jener Entwicklungsländer, die NettoNahrungsmittelimporteure sind, mit hinarbeiten und die Fähigkeiten der Menschen in diesen Ländern, sich selbst zu ernähren, unterstützen. Die EU sollte ihre Mitarbeit in der Welternährungsorganisation FAO und in dem Committee for World Food Security als Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik begreifen und den Ent­w ick­ lungsländern uneigennützig helfen, ihren eigenen Weg der Agrarentwicklung zu gehen. Dabei sollte sie sich an dem Leitbild der multifunktionalen Land­w irt­schaft, wie im Bericht des Weltagrarrats empfohlen, orientieren. 6.3  Ressourcen-, Klima- und Umweltschutz Die EU sollte den Weg der konsequenten Ökologisierung der Landwirtschaft weiter beschreiten. Die zukünftige Landnutzung soll dazu beitragen, die Vielfalt der Land­ schaften zu erhalten, denn diese landschaftliche Vielfalt

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ist die Grundvoraussetzung für den Erhalt der Bio­ diversität. Wildpflanzen und -tiere müssen Lebensräume zugeteilt bekommen durch die verstärkte Ausweisung von ökologischen Vorrangflächen in Agrarlandschaften, was durch entsprechende Agrarumweltprogramme samt Fachberatung gefördert werden sollte. Insbesondere artenreiches Grünland sollte unter besonderen Schutz gestellt werden. Der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen sollte ausgeschlossen werden, weil damit ökologische Risiken einhergehen, deren Ausmaß und Folgen erst langfristig angemessen beurteilt werden können.35 Die Intensität des Landbaus darf den Wasserhaushalt und die Böden nicht langfristig beeinträchtigen. Nutztiere sollten möglichst tiergerecht und flächengebunden gehalten werden. Der Landwirtschaftssektor spielt in Bezug auf den Klima­ wandel eine wichtige Rolle. Einerseits ist die Landwirtschaft eine erhebliche Quelle für die Emission klimarelevanter Gase. Andererseits ist sie von den Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen, was weitreichende Anpassungsleistungen erforderlich macht. Die Landwirtschaft muss ihren Beitrag zur Vermeidung von Treibhausgasen leisten. Sie muss durch die intelligente Verwertung von „Reststoffen“ zur Pro­ duk­ t ion von nachwachsenden Rohstoffen beitragen. Schließlich muss die EU die Landwirte bei der An­ passung an die Auswirkungen des Klimawandels auf Pflanzen, Tiere und Ressourcen unterstützen. Bei der geplanten massiven Ausdehnung des Anbaus von nachwachsenden Rohstoffen als Energieträger im Rahmen der deutschen „Energiewende“ sind die langfristige Funktions- und Tragfähigkeit der Agraröko­ systeme sowie die Gesamtumweltbilanzen zu beachten. Zum einen ist eine Fokussierung auf die Verwendung von Reststoffen und Koppelprodukten aus der Landund Forstwirtschaft bei der energetischen Verwertung notwendig, um die Konkurrenz zur Nahrungsmittel­ 35 Texte zur grünen Gentechnik siehe: Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. 2., um einen Anhang erweiterte Auflage, Gütersloh 1997; http://www.ekd.de/ EKD-Texte/44607.html [14.9.2011]

produktion zu verringern. Zum anderen sind die Prin­ zipien einer erweiterten Fruchtfolge und des Erhalts des Humusspiegels zu berücksichtigen. Um Mono­kul­turen und zu starke regionale Konzentrationen von z. B. Bio­ gasanlagen zu vermeiden, sollte der großflächige Anbau von nachwachsenden Rohstoffen vorausschauend mit Elementen der Raum- und Regionalplanung verknüpft werden. Dies ist insofern relevant, da viele Auswirkungen nur indirekt erfolgen: beispielsweise die Effekte, die als indirekte Landnutzungsänderungen bekannt sind, bei denen der Anbau anderer Agrarprodukte durch die Aus­ weitung der Energiepflanzenproduktion in kohlenstoff­ reiche oder ökologisch sensible Flächen abgedrängt wird. Bei der öffentlichen Förderung der Produktion von nachwachsenden Rohstoffen müssen zudem Fragen der Über- und Unterförderung samt deren Auswirkungen auf andere Zweige der Landwirtschaft z. B. über die Höhe der Pachtpreise für Landwirtschaftsflächen kritisch überprüft werden. In diesem Zusammenhang muss bei Fragen der Flächenbelegung auch der deutliche Ausbau der einheimischen Eiweißfutterpflanzen wie Leguminosen einbezogen werden. Der starke Aus­ bau regenerativer Energieträger setzt in Deutschland einen tiefgehenden Transformationsprozess voraus. Die Möglichkeiten des Einsatzes von Biomasse für energetische Zwecke sind in den jeweiligen Naturräumen begrenzt. Der Ausbau sollte gut geplant erfolgen, um negative Nebeneffekte für Landwirtschaft, Umwelt und dort lebende Bevölkerung zu minimieren. Die Grenzlinie zwischen Fachrecht – also was gesetzlich zumutbar ist, und was als „Zusatzleistung“ der Landwirte über das gesetzliche Maß hinausgeht, ist im Rahmen des geplanten „Greenings“, d. h. der Bindung von Direktzahlungen an Umweltanforderungen, festzulegen. Für freiwillige Leistungen müssen die Landwirte honoriert werden, und zwar mit einer expliziten Anreizkomponente. 6.4  Eröffnung positiver sozioökonomischer Perspektiven Die Gesellschaft darf keine unzumutbaren Anfor­ de­ rungen an die Landwirtschaft und Lebensmittel­er­zeu­ gung stellen, die ganze Branchen oder Regionen der Landwirtschaft an den Rand der Existenz bringen. Auf die Verlässlichkeit der Unterstützung durch den Staat

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müssen die Landwirte der unterschiedlichsten Betriebs­ typen rechnen können. Alle Änderungsprozesse der Agrarpolitik müssen entsprechend vorbereitet und langfristig durch planbare Übergangszeiträume eingeleitet werden. Der Haupt-Begründungszusammenhang für eine öffentliche Förderung muss sich – entsprechend des Modells der multifunktionalen Landwirtschaft – an der Honorierung gesellschaftlich erwünschter, jedoch nicht marktfähiger Leistungen ausrichten. Allein die Agrarpreise ermöglichen es den Landwirten nicht, gewünschte öffentliche Güter ohne eine öffentliche För­ derung dieser Leistungen bereit zu stellen. Bei diesen Leistungen handelt es sich u. a. um „„ die quantitative und qualitative Versorgungs­sicher­ heit mit Lebensmitteln für die europäische Be­völ­ke­rung, „„ die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, „„ die Erhaltung von Artenvielfalt und Habitaten, „„ die Pflege der Kulturlandschaften und „„ die Gewährleistung von lebensfähigen regionalen Strukturen im Rahmen nachhaltiger ländlicher Ent­ wick­­lung. Dabei sollen auch innovative Betriebsumstellungen wei­ ­ter­hin förderungswürdig sein, die der Erschließung neuer innovativer Produkte, Vermarktungswege, Ver­mark­ tungs­formen und Produktstandards für Märkte dienen. Neben einer ökologischen Qualifizierung treten auch zunehmend soziale Gesichtspunkte, wie z. B. Klein­ erzeugerregelungen, Förderung von Jungland­ w irten, Be­g renzung der Zahlungen nur auf „aktive Landwirte“, und – besonders umstritten – eine pro Betrieb degressiv gestaffelte Kappung mit einer absoluten Obergrenze der Förderung. Dabei sollten die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze pro Betrieb berücksichtigt werden. Allerdings sind dabei die sehr großen Unterschiede unter den EU-Mitgliedsstaaten im Blick auf den allgemeinen Lebensstandard und die Lohnkosten einzubeziehen. Das langfristige Ziel der Teilhabe der in der Land­­wirt­schaft

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Tätigen an der allgemeinen Ein­kom­mens­ent­w ick­lung gilt nach wie vor. Derzeit decken die Erzeuger­preise häufig nicht die Produktionskosten. Die wesentlich stärker ökologisch und sozial qualifizierte öffentliche Förderung dient deshalb auch in Zukunft in Teilen der Einkommensstabilisierung. Mittelfristig sollte das Ziel die Zahlung fairer Erzeugerpreise sein, die den Betrieben ein ausreichendes Einkommen ermöglichen. 6.5  Integrierte ländliche Entwicklung Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD empfiehlt den vollumfänglichen Erhalt sowie die Wei­ ter­ entwicklung der Politik für den ländlichen Raum (sog. 2. Säule der GAP) mit dem Ziel, die dortigen Lebensund Arbeitsverhältnisse zu verbessern, um auch in entlegenen Räumen ein Verbleiben zu erleichtern. Ländliche Räume sind Wirtschaftsräume, die regionalspezifische Förderansätze benötigen. Entsprechend dem Subsi­dia­ri­ tätsprinzip sollte den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten und Regionen deshalb genügend Raum und Finanzmittel für eigenständige Regionalent­w ick­lungsprozesse gelassen werden. Die spezielle Förderung benachteiligter Gebiete sollte fortgeführt werden und bei der aktuellen Überprüfung der Gebietskulissen transparente und nach­vollziehbare Kriterien benannt werden. Der Bürokratie-Aufwand der Umsetzung und der Über­ prüfung (z. B. im Bereich der Erhaltung der Artenvielfalt) sollte auf der Grundlage zielführender und transparent überprüfbarer Kriterien deutlich reduziert werden. Viele der in der 2. Säule befindlichen einzelnen Förder­ maßnahmen bedürfen jedoch der kritischen Über­ prüfung, wie z. B. die Investitionsförderung, die dem Stallneubau mit reiner Aufstockung der Tierbestände dient. Anders zu beurteilen sind z. B. Maßnahmen des Stallneubaus, die eine Verbesserung und Ausdehnung der besonders tiergerechten Haltung bewirken. 6.6  Verbraucherschutz und Verbraucherverantwortung Das wachsende Qualitätsbewusstsein der Verbrauch­ e­rinnen und Verbraucher ist eine Chance für das Ge­

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lingen einer neuen Agrarpolitik. Sie sollte dem Wunsch vieler Bürger und Bürgerinnen entsprechen, in einen erweiterten Qualitätsbegriff auch Menschenrechts-, Tier­ schutz- und Nachhaltigkeitskriterien einzubeziehen. Es geht um einen Wettbewerb unter Berück­sich­t igung von sozialen und ökologischen Standards und nicht mehr nur um Kostenvorteile. Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD empfiehlt, dass in der Beratung, Förderung und Aus­bil­ dung der Landwirte ein innovatives Unter­neh­mertum noch stärker als bisher eingeübt wird. Es sollte u. a. darauf ausgerichtet sein, die zunehmende Nachfrage nach Agrarprodukten, die unter stärkerer Beachtung von Menschenrechts-, Tierschutz- und Nachhaltigkeits­k ri­ terien hergestellt werden, bedienen zu können. Aller­ dings dürfen die Augen auch nicht davor verschlossen werden, dass es sich hier immer noch um Nischenmärkte handelt und sich die Mehrheit der Verbraucher nach wie vor bei ihrem Lebensmitteleinkauf überwiegend von Preiserwägungen leiten lässt. Dies zu verändern ist unter anderem auch eine Aufgabe der entwicklungsund umweltpolitischen Bildungsarbeit. Die vorhandenen Lebensmittelkennzeichnungen müssen mit dem Ziel durchforstet werden, ihre Aussagekraft, Verständlichkeit, Verlässlichkeit und Glaubhaftigkeit zu erhöhen. Notwendig sind z. B. Angaben zur Herkunft eines Produktes, zur Wirtschafts- und Haltungsform sowie zu den Mengenanteilen einzelner Lebensmittel­ bestandteile. Wir brauchen aber auch ehrliche und transparente Verbraucherinformationen sowie wirksame wirtschaftliche Sanktionen, mit denen Ver­braucher­ täuschung und Verbraucherirreführung unterbunden werden können. Im Rahmen der Verbraucheraufklärung über Prozess- und Produktqualität von Lebensmitteln sollten gesundheitspolitische Aspekte einbezogen werden. Öffentliche Großküchen könnten dabei eine Vor­ reiterrolle übernehmen.

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Brot für die Welt-Projekt Bangladesch: Gebt uns unser Land!

Helferinnen bei der Reisernte, Bangladesch. Foto: Frank Schultze

Ein beträchtlicher Teil der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen ist in staatlichem Besitz. Laut Gesetz soll das Land an die Armen verteilt werden. Doch an der Umsetzung hapert es – auch wegen dem Widerstand der reichen Elite, die den knappen Boden selbst bean­ sprucht. Mit Unterstützung von Brot für die Welt hilft die Organisation CDA den Landlosen, ihre Rechte durchzusetzen. Es ist ein farbenfroher Zug, der sich an diesem Morgen auf schmalen Wegen durch die Reisfelder im Nordwesten Bangladeschs schlängelt: Die rund 50 Frauen, Männer und Kinder – Mitglieder einer Selbsthilfegruppe aus dem Dorf Madhobati – marschieren, gehüllt in farbige Stoffe und mit bunten Transparenten in der Hand, zum nächsten Landbüro. Dort haben sie vor einiger Zeit ihre Anträge auf Land abgegeben. Doch außer leeren Versprechungen ist nichts geschehen. Alima Khatun, die kleine, aber resolute Anführerin der Gruppe fordert: „Wir wollen jetzt endlich wissen, was mit unseren Anträgen geschehen ist!“ Kaum Platz für Millionen Menschen Ein Stück Land zu besitzen ist in Bangladesch keine

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Frage von Luxus, sondern eine Frage des Überlebens. Nur dort kann man selbst etwas Gemüse oder Obst anbauen und ein paar Hühner oder Enten halten. Doch Land ist ein knappes Gut in dem südasiatischen Staat, wo 160 Millionen Menschen auf einer Fläche leben, die nicht einmal halb so groß ist wie Deutschland. Hinzu kommt, dass der Landbesitz sehr ungleich verteilt ist. Während wenige reiche Bauern große Ackerflächen besitzen, haben die meisten Bangladescher nur wenig oder überhaupt kein Land. Um ihre schwierigen Lebensbedingungen zu verbessern, hat die Regierung vor einigen Jahren eine Landreform durchgeführt. Seitdem haben die Landlosen Anspruch auf so genanntes „Khas“-Land, Staatsland. Zuständig für dessen Verteilung sind die Landbüros. Korruption verhindert Entwicklung Von der Community Development Association (CDA), einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, haben Alima und ihre Mitstreiter von ihrem Recht auf Land erfahren. Darauf forderten sie Einblick in das Grundbuch und fanden so heraus, welche Grundstücke sich in staatlichem Besitz befinden. Dann bewarben sie sich darum – und warten seither vergeblich auf Antwort. Die Anträge der Gruppe seien verloren gegangen, wurde ihnen gesagt. Für CDA ist dies nichts Neues. Denn die Mitarbeitenden der Landbüros sind häufig korrupt. Sie lassen sich von den wenigen Reichen bestechen, denen es nicht passt, dass staatliches Land an die Armen verteilt wird, welches sie ansonsten stillschweigend für sich nutzen können. Im Ernstfall schrecken die herrschenden Eliten auch vor falschen Anschuldigungen nicht zurück, um die „Rädelsführer“, die Vorsitzenden der Selbsthilfegruppen, hinter Schloss und Riegel zu bringen. CDA engagiert dann Anwälte, die die Betroffenen verteidigen. Bisher konnten die Vorwürfe noch in jedem Fall widerlegt werden.

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Frauen bei der Reispflanzung, Indien. Foto: Jörg Böthling

3. Strategien im Kampf gegen den Hunger Dialogprozess zwischen den Kirchen und dem BMELV Im Kampf gegen den Hunger von mehr als 870 Mil­ lionen Menschen auf der Welt haben sich die evangelische und katholische Kirche und die Bundes­re­g ie­r ung für eine Stärkung der Landwirtschaft in Entwick­lungs­ ländern ausgesprochen. In einem Dialogprozess haben die Kirchenvertreter und das Bundesland­wirt­schafts­ ministerium (BMELV) im Dezember 2012 die wichtigsten Hand­­lungs­felder im Kampf gegen den Hunger ausgemacht: Dazu gehören vor allem die Verbesserung von Zugang zu Nah­rungs­mitteln, Land, Wasser sowie Saatgut, Rechts­ sicher­ heit als Grundlage für Handel und Inves­titionen, vor allem aber für die Bevölkerung, die Ver­ bin­ dung von modernen standortangepassten Techno­lo­g ien mit traditionellem Wissen sowie ein verantwortungsbewusstes Handeln an den Warentermin­ märkten. Die Ergebnisse des Dialogprozesses des Ministeriums und der Kirchen hier im Wortlaut: Herausforderungen Derzeit hungern weltweit fast 1 Mrd. Menschen. Das Recht auf Nahrung ist damit eines der am meisten verletzten Menschenrechte. Die Auswirkungen der Wirt­ schafts- und Finanzkrise auf die Anzahl der Hungernden spiegelt sich in den aktuellen Zahlen noch nicht wider.

Die Folgen des Klimawandels und die begrenzten landwirtschaftlich nutzbaren Boden- und Wasserressourcen werden die Situation künftig weiter verschärfen. Gleich­ zeitig reduziert der fortschreitende Verlust an Agrarund Biodiversität die Anpassungsmöglichkeiten an diesen. Bis 2050 wird die Weltbevölkerung von 7 Mrd. voraussichtlich auf über 9 Mrd. Menschen anwachsen und dies insbesondere in Schwellen- und Entwicklungs­ ländern. Gleichzeitig sind insbesondere in Schwellen­ län­ dern im Durchschnitt der Bevölkerung steigende Einkommen durch wirtschaftliches Wachstum zu erwarten, wodurch sich auch in diesen Ländern die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Damit steigt in diesen Ländern die Nachfrage pro Kopf der Be­völkerung insbesondere nach Fleisch und anderen tierischen Produkten. Darüber hinaus werden Agrar­pro­dukte in zunehmendem Maße als nachwachsende Roh­stoffe für den Einsatz für Energie und Industrie genutzt. Insge­ samt könnten die genannten Entwicklungen bis 2050 zu einer Verdoppelung des Bedarfs an Agrar­produkten führen (Wiss. Beirat BMELV 2012), wenn sich die Konsumtrends fortsetzen und Nachernteverluste sowie Verluste durch Abfälle nicht verringert werden. Die verfügbaren Ressourcen für die Deckung dieses wachsenden Bedarfs sind jedoch begrenzt. Derzeit werden weltweit 1,4 Mrd. Hektar als Ackerland genutzt. Immer noch gibt es eine große Anzahl von Flächen, die nicht oder nicht produktiv genutzt werden, z. B. in Südamerika, Osteuropa und Zentralasien aber auch in Afrika. Zusätzliches Land in Nutzung zu nehmen, ist jedoch nicht unbegrenzt und oft nicht ohne Nachteile für Umwelt, Natur und Klima möglich. Die Auswirkungen

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des Klimawandels verschärfen diese Problematik im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Boden- und Wasser­ ressourcen, mit negativen Folgen auf die Produktion vor allem in Entwicklungsländern. So gehen der Pflanzen­ pro­duktion weltweit jährlich ca. 5 Mio. ha durch Boden­ degradation wie z.B. Nährstoffverluste, Versalzung, Ero­ sion und Anreicherung toxischer Stoffe verloren. (UNEP 2007). Gleichzeitig nehmen auch die weltweit verfügbaren Wasserressourcen durch Übernutzung oder Ver­ schmutzung ab. Die Schere zwischen Nach­frage und Angebot öffnet sich zusehends. In mehr als 30 Ländern herrscht heute bereits akute Wasser­k napp­heit. Die verstärkten Nahrungsmittelpreisschwankungen der letzten Jahre lassen sich nicht allein durch das Zu­ sammenspiel von Angebot und Nachfrage auf den physischen Märkten erklären. Gerade weil das Auftreten dieser erhöhten Volatilität mit der Krise an den Finanz­ märkten einhergeht, werden Agrarrohstoff­spe­ku­latio­ nen als zusätzliche Ursache für diese Entwick­lung in Betracht gezogen. Der Einfluss von Finanzin­vestoren ohne geschäftlichen Bezug zu Nahrungsmitteln (Banken, Fonds etc.) hat in den vergangenen Jahren beträchtlich zugenommen. Gegenwärtig werden rechnerisch weltweit noch ausreichend Nahrungsmittel produziert (Qaim 2012). Es gelingt aus verschiedenen Gründen bisher nicht, die Nah­ rung weltweit so zu verteilen, dass niemand Hunger leiden müsste. Die Tatsache, dass dennoch so viele Menschen hungern, ist heute vor allem einem gravierenden Verteilungsproblem geschuldet. Armutsbe­ding­ ter mangelnder Zugang zu Nahrung ist heutzutage eine der Hauptursachen für Hunger. Armutsbekämpfung muss deshalb ein zentraler Ansatz für die Ernährungs­ sicherung sein. Die Stärkung von Ausbildung, Gesund­ heit, sozialen Sicherungssystemen und die Förderung der ländlichen Entwicklung und Landreformen (im Sinne der Freiwilligen Leitlinien zu Landnutzungs­rech­ ten) in Entwicklungsländern sind deshalb von hoher Bedeutung. Zum Verteilungsproblem wird jedoch künftig in zunehmendem Maße ein Mengenproblem treten. In den letzten 50 Jahren hat sich die weltweite Agrarproduktion

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verdreifacht (Wiss. Beirat BMELV 2012). Dieser Anstieg ist vor allem auf züchterischen Fortschritt und den vermehrten Einsatz von Agrartechnik, Wasser, Dünger, chemischem Pflanzenschutz und anderen Betriebs­mit­ teln zurück zu führen. Dies hat dazu beigetragen, dass weitere globale Produktionssteigerungen in der Öffent­ lichkeit häufig nicht mehr als prioritär bei der Ernäh­ rungs­ sicherung angesehen werden. Seit den 1990er Jahren haben sich die Produktionszuwächse verringert und das Wachstum der Produktion droht mittlerweile hinter der immer stärker steigenden Nachfrage zurück zu bleiben. Ursächlich dafür ist insbesondere eine deutliche Abschwächung der Ertragszuwächse in der pflanzlichen Erzeugung. Bei Getreide z. B. ist die jährliche Er­ trags­steigerung von 3 % p. a. in den 1960iger Jahren kon­t inuierlich auf 1,3 % p. a. in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts gesunken (Qaim, 2012). Gleichzeitig basieren die erwähnten Betriebsmittel auf fossilen Energie­ trägern wie z.B. Erdöl. Eben dieses wird zunehmend knapp und lässt die Preise für Betriebsmittel rapide steigen. Daher wird es für die Zukunft gerade für die armen Länder notwendig sein, eine nachhaltige und ressourceneffiziente Landwirtschaft zu betreiben. Dies ist auch angesichts des Beitrags der Landwirtschaft zum Klimaschutz notwendig. Sehr wichtig zu beachten sind der hohe Grad an Lebens­ mittelabfällen in den Industrieländern sowie der Nach­ ernte­verluste in Schwellen- und Entwicklungs­ländern, die z. T. bei 50 % liegen, so dass eigentlich vorhandene Nah­rungsmittel häufig nicht bei den Hungern­den ankommen können. Gleichzeitig schmälern die Nach­ernte­ verluste die Produktions- und Züchtungs­ ­ fort­ schritte. Ohne eine drastische Reduzierung der Nach­ernte­ver­ luste wird die Verbesserung der Ernährungs­situation erschwert. Hinzu kommt der massive Verlust an Bio­diver­ sität auch im agrarischen Sektor, vor allem der Ver­lust an Pflanzen, die eine gute Standortange­passt­­heit auf­ weisen und zwischenzeitlich verdrängt worden sind. Mit Bezug auf Pflanzenzüchtung muss daher ein stärkeres Augenmerk gerade auf diese Pflanzen gelegt werden, die an die Standortbedingungen in den Ent­w ick­­ lungsländern angepasst sind (z.B. Hirse, Maniok usw.) und bei denen noch ein großer Zucht­fortschritt zu erwarten ist, da sie in den letzten Jahr­zehnten nicht im

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Fokus der Züchter standen. Dies bedeutet unter anderem, traditionelles Wissen über Saat­gut und Anbau­ metho­den stärker anzuerkennen, zu erforschen und vor der Vereinnahmung durch Patente zu schützen. Wich­ tige Rollen spielen in diesem Zu­sammenhand die verschiedenen in den letzten Jahren aufgebauten Saat­ gutbanken mit ihrer gesammelten Vielfalt. Die Mengen- und Zugangsperspektiven greifen jedoch zu kurz, um das Welternährungsproblem zu erfassen, da die Qualität der Nahrungsmittel zu wenig Beachtung findet. „Zugang“ besagt lediglich, dass die jeweiligen Nah­­ rungsmittel besorgt werden können; aber weder welche Nahrungsmittel tatsächlich konsumiert werden noch durch welche Faktoren das individuelle Ernäh­ rungs­­ verhalten bestimmt wird. So ist auch das unzureichende Wissen über gesunde Ernährung und geeignete Zu­ bereitungsweisen für die zur Verfügung stehenden Nah­ rungsmittel eine weitere Facette der Ernährungs­sich­e­ rung. Hier muss darauf geachtet werden, dass nicht euro­ päische Ernährungsgewohnheiten exportiert werden. Ziele/Leitbild Die Steigerung der nachhaltigen Produktion, (insbesondere in den Entwicklungsländern), und die Verringerung von Verlusten und Verschwendung sind von zentraler Bedeutung, um den eingangs genannten, künftig stark steigenden Bedarf an Agrarprodukten zu decken. Dies muss einhergehen mit einer Stärkung bzw. einem Aus­ bau der für die regionale Landwirtschaft erforderlichen Infrastruktur wie Lagerung, regionale Märkte und Trans­portwege und -möglichkeiten. Neben der Armuts­ bekämpfung ist deshalb eine produktive und nachhal­ tige Landwirtschaft der Schlüssel für die Ernährungs­ sicherung. Hierbei spielt eine positive Entwicklung länd­licher Räume eine entscheidende Rolle. Die nationale Politik in den Entwicklungsländern wie auch die Entwicklungspolitik der Industrieländer haben dieser Erkenntnis aber über lange Zeit nicht ausreichend Rechnung getragen. Erst die seit Mitte des letzten Jahr­ zehnts zu beobachtende weltweite Verteuerung von Agrarprodukten hat die Bedeutung der Entwicklung

der Landwirtschaft für die Sicherung der Welternährung wieder deutlicher ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit gerückt. Welche Technologien am besten für eine nachhaltige Produktivitätssteigerung geeignet sind, kann nicht pauschal, sondern nur in Abhängigkeit vom Standort und der Verfügbarkeit bzw. Knappheit der jeweils vorhandenen Ressourcen wie Boden, Wasser, Arbeitskräfte, Ener­ gie und dem verfügbaren Kapital bestimmt werden. Hier ist zu beachten, dass sich die Situation in den Ent­ wicklungsländern stark von der in den Industrie­ na­ tionen unterscheidet. Gerade Kapital und Energie sind häufig sehr knapp, während Arbeitskräfte reichlich vorhanden sind. Zahlreiche Studien und Berichte, beispielsweise der IAASTD, haben deutlich gemacht, dass auch mit ökologischen, standortgerechten und bodenschonenden Methoden eine beträchtliche Produktions­stei­ gerung erreicht werden kann. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf die Unterstützung geeigneter standortangepasster Technologien für den Klein­ bauernsektor, da die Menschen hier besonders häufig von Hunger betroffen sind und gleichzeitig besonders große Reserven bei der Produktivitätssteigerung bestehen. Über zwei Milliarden Kleinbauern tragen trotz oft armseligster Ausgangsbedingungen zur Versor­ gung der Welt bei. Sie müssen verstärkt darin ausgebildet werden, wie sie die Bedingungen vor Ort am wirksamsten nutzen können, welche Anbaumethoden für ihren Boden am besten geeignet sind und wie sie Klima­ veränderungen Rechnung tragen, die Boden­frucht­bar­ keit erhalten und ihre Ernte länger lagern können, um sich besser selbst versorgen sowie besser auf Preis­ schwankungen auf dem Markt reagieren zu können. Hier ist insbesondere die Forschung gefragt, Ansätze zu entwickeln, die auf die Kleinbauern und ihre häufig marginalen Standorte eingehen sowie das vorhandene traditionelle Wissen mit den modernen Erkenntnissen der Agrarwissenschaft zu verknüpfen. Auch der kleinbäuerliche Sektor unterliegt dem Struk­ turwandel. Wichtig ist es, passgenaue Lösungen zu finden, die von den Strukturen vor Ort ausgehen und sicherstellen, dass die Steigerung der landwirtschaftli-

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chen Produktion durch eine nachhaltige Bewirt­schaf­ tung erfolgt. Gleichzeitig müssen integrierte ländliche Struk­ tu­ ren geschaffen werden, damit attraktive Be­ schäf ­­t i­g ungs­a lternativen jenseits der Landwirtschaft bestehen. Internationale Verantwortung der europäischen Landwirtschaft Europa als eine der reichsten Regionen der Erde sieht sich in besonderer Verantwortung, einen Beitrag zur globalen Ernährungssicherung zu leisten. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die EU ihre eigene Landwirtschaft finanziell unterstützt, stark subventioniert und die Wirkung dieser Unterstützung weiter umstritten ist. Die Herausforderungen der Welternährung stellen sich auch bei der Handels- und Agrarpolitik der Industrie­ länder. Der europäische Binnenmarkt ist für Exporte aus Entwicklungsländern bereits weit geöffnet (z.B. durch AKP/EPA-Abkommen und die EBA-Regelung). Gleiches gilt aber auch für die Entwicklungsländer. Für die Entwicklungsländer ist die gegenseitige Markt­ öffnung häufig Fluch und Segen zu gleich, werden sie so doch wesentlich stärker dem internationalen Wett­be­ werb ausgesetzt. Die Europäische Union hat ihre Exporterstattungen weitgehend abgebaut. Es bleibt von hoher Bedeutung, dass sich Deutschland dafür einsetzt, dass diese im Rahmen der GAP-Reform 2013 vollständig abgebaut werden. Zugleich wird die EU in den internationalen Han­delsvereinbarungen darauf drängen, ein gleichgerichtetes Verhalten von allen Industrieländern wie auch Schwellenländern einzufordern und damit Exporthilfen vollständig abzuschaffen. Insgesamt wirft die Ernährungskrise aber die Frage auf, wie viele Entwicklungsländer in Zeiten von weiter steigenden Preisen ihre Nahrungsmittelimportabhängigkeit reduzieren können und wie Europa im Rahmen seiner internationalen Verantwortung hier unterstützend wirken kann.

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Handlungsfelder Recht auf Nahrung Maßnahmen zur Bekämpfung von Hunger und Unter­ ernährung müssen mit einem verbesserten Zugang zu Nahrung und den Mitteln ihrer Erzeugung sowie besseren Einkommen verbunden sein. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung besteht die Heraus­ forderung, langfristig das Angebot von und den Zugang zu Nahrungsmitteln zu verbessern. Hierbei ist der Zu­ gang insbesondere der Kleinbauern und Frauen zu Boden, Wasser, Energie, Bildung und Kapital entscheidend. Zusätzliche öffentliche sowie private Investitionen sind prioritäre Aufgabe für die Ernährungssicherung. Gesicherte Eigentums- und Nutzungsrechte sind Vor­ aus­setzung für Investitionen. Die Investitionen dürfen aber nicht die Menschenrechte und Landrechte der lokalen Bevölkerung verletzen. Geeignete Richtschnur für verantwortliche und nachhaltige Investitionen in die Landwirtschaft sowie für den Zugang zu Land und natürlichen Ressourcen sind freiwillige Leitlinien wie die Leitlinien zur verantwortungsvollen Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, auf die sich nach langen internationalen Verhandlungen der Welter­ näh­rungs­ausschuss (CFS) der Vereinten Nationen am 9. März 2012 verständigt hat. Die freiwilligen Leitlinien geben eine Orientierung, um sicheren und fairen Zugang zu Land und anderen natürlichen Ressourcen wie Wald oder auch Fischbestände für die heimische Bevölkerung zu gewährleisten. Deutschland fühlt sich sam­ verpflichtet, insbesondere seine Entwicklungszu­ menarbeit und Agrarpolitik im Sinne dieser Leitlinien zu gestalten. Die Verantwortung für die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen liegt bei den Regierungen vor Ort. Good Governance in Schwellen- und Entwicklungs­ländern Wirtschaftliches Handeln und Investitionen bedürfen eines verlässlichen rechtlichen Rahmens und Planungs­ sicherheit. Investitionen in die Landwirtschaft wie in die übrige Wirtschaft, gleichgültig ob es sich um Klein­ kredite oder größere Entwicklungsschritte handelt,

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werden von den einheimischen Landwirten und kleinen und mittleren Unternehmen nur dann getätigt, wenn Eigentumsrechte gesichert, die landwirtschaftliche Infrastruktur ausreichend, der Rechtsfrieden gewahrt, ein funktionierendes Bankenwesen vorhanden ist sowie transparente Handelsabläufe gewährleistet werden. Die politischen Entscheidungsträger und gesellschaftlichen Eliten in den Entwicklungsländern sind gefordert, gleichwertige Lebensbedingungen im ländlichen Raum zu ermöglichen und damit das Recht auf Nahrung umzusetzen. Good Governance ist deshalb Grundvoraussetzung für das Angebot langfristiger entwicklungspolitischer Förderprogramme. Grundlage für Good Govenance im Landwirtschaftssektor ist, dass eine aktive und transparente Landwirtschaftspolitik betrieben wird. Good Governance bedeutet allerdings auch, dass die Industriestaaten ihre Agrar-, Handelsund Entwicklungspolitik kohärent gestalten. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Zusammen­ schlüsse von Produzentinnen und Produzenten zu fördern. Dies kann unter anderem in Genossenschaften oder Interessenverbänden erfolgen. Nur im Zusammen­ schluss können sie ihre Ziele einfordern und durchsetzen sowie ihre Regierungen verantwortlich halten. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen in ihren Zusammenschlüssen gestärkt werden, damit sie ihre Re­ gierungen verantwortlich halten können. Ohne Zivil­ge­ sellschaft ist Good Governance auf Dauer nicht möglich.

Art und Weise zu erzeugen und verfügbar zu machen. Ziel muss es sein, mehr Nahrungsmittel von qualitativ hoher Wer­tigkeit bereit zu stellen und dabei vor dem Hinter­g rund des Klimawandels und knapper werdender fossiler Ressourcen natürliche Ressourcen zu schonen und so effizient wie möglich zu nutzen. Investitionen Insbesondere in Entwicklungsländern, aber auch in Schwellenländern und in Ländern Osteuropas wird das Potential der Agrarproduktion derzeit nicht voll ausgeschöpft. Dazu sind zusätzliche Investitionen erforderlich. Die FAO geht von einem notwendigen Investitions­bedarf von 30 Mrd. US$ jährlich aus, um die Ernährung von zukünftig 9 Mrd. Menschen im Jahr 2050 zu sichern. Da die meisten betroffenen Länder diesen Investi­t ionsbedarf nicht alleine bereitstellen können, werden die zwischenstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit und ausländische Direktinvestitionen (FDI) eine Rolle spielen. Es wird darauf ankommen, dass diese Investitionen verantwortungsvoll und nachhaltig ausgestaltet sind. Hier­ bei kommt den Freiwilligen Leitlinien mit den Regeln zur verantwortungsvollen Gestaltung insbesondere von Landtransfer, einschließlich der Verantwortlichkeiten von Investoren, eine wichtige Rolle zu. Gefordert werden u.a. Vorabprüfungen der Auswirkungen von Investi­ tionen auf die existierenden Eigentums- und Nutzungs­ rechte sowie auf das Recht auf Nahrung.

Nachhaltige Produktivitätssteigerung Förderung der Agrarforschung Derzeit kann die Entwicklung der weltweiten Agrar­ produktion kaum mit dem Nachfragewachstum Schritt halten. Von weiter steigenden Agrarpreisen ist auszugehen, davon ist die Mehrheit der weltweiten Armuts­be­ völkerung betroffen, sodass Hunger und Mangeler­näh­ rung zunehmen werden. Um den längerfristig prognostizierten Preisanstieg in Grenzen zu halten, müssen die Agrarproduktion selbst gesteigert, die Preisvolatilität eingedämmt, die Verluste reduziert und die Verteilung verbessert werden. Dazu wird weltweit eine produktive multifunktionale, an die jeweiligen Standort­be­din­ gungen angepasste Landwirtschaft benötigt, die in der Lage ist, ein Mehr an Nahrungsmitteln auf nachhaltige

Unabdingbar für eine höhere und nachhaltige Produk­t i­ vität ist eine wesentlich verstärkte, nutzungsorientierte Agrarforschung. Sie muss die Basis legen für den notwendigen deutlichen, nachhaltigen und stetigen Pro­ duk­ tivitätsfortschritt, insbesondere unter den spezifischen Bedingungen in Entwicklungs- und Schwellen­ländern. Hier gilt es insbesondere die biologische Vielfalt und das traditionelle Wissen in den Entwicklungsländern besser in die Forschung einzubeziehen. Um Ertrags- und Produktivitätssteigerungen zu erreichen, sind Forschungsanstrengungen entlang der ge-

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samten Wertschöpfungskette erforderlich. Insbesondere müssen die Potenziale der Kulturpflanzen und Nutztiere verbessert bzw. besser genutzt werden. Daneben darf die Forschung zur Verbesserung der Ernährungsqualität und des Ernährungsverhaltens nicht vernachlässigt werden, da Mangel- und zunehmend auch Fehler­näh­ rung in Entwicklung- und Schwellenländern erhebliche (gesundheitliche) Probleme bereiten. Wissenstransfer Moderne nachhaltige Methoden der Landbewirt­schaf­ tung und Tierhaltung müssen beschleunigt und angepasst an die Gegebenheiten vor Ort in die Praxis der Ent­ wicklungs- und Schwellenländer eingeführt werden, um Produktion und Produktivität zu steigern. Allein 30 bis 40 % der potenziellen Pflanzenerträge fallen Krank­ heiten und Schädlingen zum Opfer. In Pflanzen­züch­ tung, Pflanzenbau, Düngung und Pflanzen­schutz sowie Tierzüchtung, Tierhaltung und Tiergesundheit müssen zusammen mit den Produzenten standortangepasste Lösungen entwickelt und den Produzenten vermittelt werden. Grundsätzlich sind dabei alle verantwortbaren Technologien zu nutzen, soweit es Risikobewertung und Akzeptanz gestatten. Bei der Risikobewertung kommt dem Vorsorgeprinzip eine besondere Bedeutung zu Der Schlüssel für Fortschritte sind berufliche Bil­ dung, Weiterbildung und Beratung unter Einbe­ziehung des tradierten und örtlichen Wissens.

gestützte Exporte auch aus der EU immer wieder negative Effekte für Ernährungssicherung und Wohlstand in den Entwicklungsländern hatten und haben. Dem weiteren Ausbau von multilateralen und bilateralen Handelsabkommen und der damit verbundenen Han­­delsliberalisierung und Marktöffnung kann deshalb auch in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen. Diese Marktöffnung soll aber nicht zu Lasten der ärmeren Länder und der Kleinbauern gehen. Entwicklungsländer müssen ggf. auch das Instrument einsetzen können, ihre Märkte durch Einfuhrquoten oder quantitative Schranken zu schützen, wenn sie nur so ihre landwirtschaftliche Produktion bewahren und ihre Ernährung sichern können. Zu prüfen ist auch, inwieweit das in der Doha-Runde der WTO vorgesehene Regelwerk zur direkten Unterstützung der Ent­ w ick­ lungsländer bereits umgesetzt werden kann, ohne dass es zu einem Abschluss der Handelsrunde auf absehbare Zeit kommt. Die handelspolitischen Ziele der EU finden außerdem in den bisherigen und weiterhin geplanten Reformschritten der Gemeinsamen Agrarpolitik ihre Entsprechung mit einem vollständigen Abbau handelsverzerrender Stüt­ zung und Exporterstattungen. Preisvolatilität bei Nahrungsmitteln und Spekulation

Welthandel/Handelspolitik Handel ermöglicht, knappe Ressourcen in einem globalen Kontext sinnvoll zu nutzen. Agrarprodukte, die nicht überall verfügbar sind oder deren Herstellung nur an bestimmten Orten möglich bzw. sinnvoll ist, können so global zugänglich gemacht werden. Handel kann damit eine wichtige Funktion bei der Ernährungssicherung haben. Viele Staaten können die Sicherung der Ernä­ hrung aufgrund ihrer natürlichen Gegebenheiten und ihrer wachsenden Bevölkerung ohne den Bezug von Agrarprodukten auf dem Weltmarkt nicht gewährleisten. Handel kann weltweit einen Beitrag zur Steigerung des Einkommens- und Wohlstandsniveaus leisten. Es ist aber auch zu beachten, dass durch Exporterstattungen

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Warenterminmärkte sind eigentlich dazu da, dass sich Hersteller, Händler und Verbraucher von Nahrungs­ mitteln gegen Preisschwankungen absichern können. In der öffentlichen Diskussion werden reine Finanzin­ vestoren immer wieder verdächtigt, diese Preissiche­ rungs­funktion der Warenterminmärkte durch Spekula­ tion zu untergraben und für die mit der Finanzkrise ein­ hergehenden extremen Schwankungen der Nah­ rungs­mittelpreise verantwortlich zu sein. Ziel ist es, die Funktionsweise der Warenterminmärkte sicherzustellen. Dabei muss erstens Transparenz an den Waren­ terminmärkten geschaffen werden. Es soll erfasst werden, welcher Akteur zu welchem Zeitpunkt welche Ge­schäfte an den Warenterminmärkten tätigt. Zweitens

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gilt es, Marktmanipulation und Marktmissbrauch durch angemessene Regulierungsmaßnahmen zu verhindern. Ein konkretes Mittel ist hier die Festsetzung von Ober­ grenzen für die Anzahl der Terminkontrakte, die ein Akteur halten darf (sog. Positionslimits). Dadurch soll ein möglicher negativer Einfluss von Finanzinvestoren ohne geschäftlichen Bezug zu Nahrungsmitteln auf die Preisentwicklung verringert werden. Transparenz und die angemessene Regulierung an den Finanzmärkten sind eine internationale Aufgabe, die nicht im nationalen Alleingang umgesetzt werden kann. Es ist zu begrüßen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft dieser Problematik angenommen hat und dass in den ein­ flussreichsten Staaten bereits die Umsetzung stattfindet. Tank versus Teller Durch die Verknappung fossiler Rohstoffe wird ein wachsender Teil der landwirtschaftlichen Erzeugung als Bioenergie oder als Grundstoff für die Industrie eingesetzt. Erzeugung und Nutzung nachwachsender Roh­ stoffe in einer biobasierten Wirtschaft bergen große Chancen, aber auch Risiken. Die Politik steht hierbei vor der Aufgabe, mögliche Konflikte mit den Zielen der globalen Ernährungssicherung und dem Menschenrecht auf Nahrung zu vermeiden. Hierbei muss die Sicherung der Ernährung Vorrang haben. So muss die Produktion von Biomasse zur energetischen Verwertung im Hin­ blick auf die Ernährungssicherung ständig überprüft werden. Die Entwicklung und Nutzung effizienter Tech­ nologien und die bessere Verwertung von Abfällen und Nebenprodukten, insbesondere zur Energie­ge­w innung, sind Ansatzpunkte, um Nutzungskonflikte zu verringern. Ziel muss es weiter sein, die Land­w irt­schaft selbst unabhängiger von fossilen Energieträgern zu machen, um damit auch einen Beitrag zum Klima­schutz zu leisten. Nahrungsmittelverluste/ Wegwerfproblematik Ein beträchtlicher Teil der weltweit erzeugten Nah­ rungs­mittel geht auf dem Weg von der Erzeugung zum Verbraucher verloren. Vermeidbare Abfälle entstehen überall entlang der Wertschöpfungskette in unterschied­ lichen Dimensionen – von der landwirtschaftlichen Er­

zeugung, der Lebensmittelverarbeitung bis hin zum Handel, und am Ende der Kette in der Gastronomie und den privaten Haushalten. Besonders stark sind jedoch Entwicklungsländer betroffen. 40 Prozent und mehr der Ernte gehen in diesen Ländern verloren, weil Lage­ rungssysteme, Erntetechnik und Transportinfrastruktur unzureichend sind. Dieses Problem muss primär angegangen werden, denn es trifft die Menschen vor allem in solchen Regionen besonders hart, wo sie ohnehin schon von Hunger bedroht sind. Mancherorts dürfte es effizienter sein, die Verluste zu reduzieren als primär auf die positiven Effekte einer Produktionssteigerung zu bauen. Die Eindämmung der Verluste in Entwicklungs- wie Industrieländern ist deshalb von zentraler Bedeutung. Ansatzpunkte sind z.B. verbesserte Techniken und logistische Vorkehrungen wie Lagerung, Trocknung, Ver­ packung, Kühlung sowie Transport. Eine leistungsfähige Vermarktungs-Infrastruktur muss etabliert werden. Nahrungsmittelverluste müssen auf allen Ebenen des wirtschaftlichen Handelns reduziert werden. Dies gilt auch für die Industrieländer. Gleichzeitig müssen hier aber vor allem die Verbraucher veranlasst werden, ihren Umgang mit Lebensmitteln zu überdenken. Wichtig ist aber auch, Ernährungsindustrie, Handel und Groß­ verbraucher nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Mangelndes Wissen über die gesamte Erzeugungskette führen zu einer verminderten Wertschätzung der Arbeit der Produzenten und Lebensmitteln und zu einem leichtfertigen Umgang mit diesen. Nachhaltiger Konsum National wie international gewinnt die Diskussion über nachhaltige Produktions- und Konsummuster an Be­ deutung. Ökologische und soziale Standards können in der globalisierten Wirtschaft nicht nur einen wesent­ lichen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung und Frieden leisten, sondern sind auch für die Ernährungssicherung von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (CSR) in Entwicklungs- und Schwellenländern stärker zu verankern. Die Einhaltung sozialer und ökologischer Stand­­ ards, die Achtung von Menschenrechten, die Armuts­ bekämpfung, aber auch der Klimaschutz tragen zur

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Verwirklichung der Millenniumsziele bei. Leider sind Informationen, die über die konkreten Gebrauchs­ei­gen­ schaften oder Inhaltsstoffe eines Produktes hinausgehen (z.B. zu Umweltwirkungen oder Arbeits­be­din­g un­ gen im Herstellungsprozess), für Verbraucher bislang nur vereinzelt verfügbar; dies gilt es in Zukunft zu ändern. Für Verbraucher wird oft nicht deutlich, ob ein Angebot den Kriterien der ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit genügt. Die Ver­ brauch­ erinnen und Verbraucher sollen deshalb besser in die Lage versetzt werden, sich für einen nachhaltigen Kon­ sum entscheiden zu können. Unternehmen und Ver­ braucher tragen gleichermaßen Verantwortung. Unternehmen sollten sich verpflichten, ihre Lieferkette transparent zu machen und regelmäßig über die Ein­ haltung von Menschenrechten, Sozial- und Umwelt­ stan­dards bei ihren Zulieferern und Tochterunternehmen zu berichten. Moralisch orientierter Konsum hilft, schwierige Verhältnisse in Produktionsländern zu verbessern. Deshalb sind auch Verbraucher aufgefordert, nachhaltige und faire Produktion in der ganzen Wert­ schöpfungskette bei ihren Kaufentscheidungen angemessen zu berücksichtigen und damit ihren Teil zum Wandel hin zu einer Nachhaltigkeitskultur und zu besseren Lebensverhältnissen beizutragen.

Fazit Die Landwirtschaft stellt einen ökonomischen Schlüssel­ sektor für die Gestaltung einer umweltverträglichen Wirtschaft dar, der dazu beiträgt, das gemeinsame Ziel einer nachhaltigen Entwicklung national, regional und global zu erreichen. Die Stärkung von Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung ist wiederum ein zentrales Element der Ernährungssicherung und Armuts­be­kämp­ fung für die wachsende Weltbevölkerung. Menschen produzieren jedoch nur nachhaltig, wenn ihre Rechte auf Zugang und Nutzung der natürlichen Ressourcen gesichert sind.

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Brot für die Welt-Projekt Peru: Das Comeback der tollen Knolle

Verschiedene Kartoffelsorten, Peru. Foto: Christoph Krackhardt

Pachacútec war die Region Vilcashuamán, „die Erde des heiligen Falken“, einst reich. Im Unterschied dazu ist sie heute bettelarm. „Es gibt viele unterernährte Kinder“, klagt Hugo Salvatierra, Leiter von CHIRAPAQ in Vilcashuamán. Mehr als ein Drittel der Familien dort lebt in extremer Armut. Grund für die desolate Lage ist laut Salvatierra zum Teil die verfehlte Agrarpolitik Perus. Denn die Regierung fördert lediglich die industrialisierte Landwirtschaft. In Vergessenheit gerät dabei die Mehrheit der Kleinbauern, die mehr schlecht als recht von ihren ein bis drei Hektar kleinen Feldern leben. Bunte Mischung

Schon vor Urzeiten wurden in dem Andenstaat Kar­ toffeln angebaut. Rund 3.800 verschiedene Sorten gibt es – die jedoch kaum noch jemand kennt. Mit Unter­ stützung von Brot für die Welt hilft die Bauern­ organisation CHIRAPAQ, diese einzigartige Vielfalt zu bewahren und die Ernährung der Bevölkerung zu sichern. Lächelnd hält Raúl Inostroza die dunkle, knollige Kar­ toffel in die Höhe, die er soeben aus dem Acker gegraben hat. „Das ist die Schwarze, die die Schwiegertochter zum Weinen bringt“, sagt der Agraringenieur auf Quechua, der heute noch gebräuchlichen Indiosprache in Perus Andenhochland. Der Ausbilder der Bauernorganisation CHIRAPAQ erläutert die Herkunft des eigenartigen Namens: Nur diejenigen jungen Frauen, die die stark gefurchte Knolle sauber schälen konnten, kamen früher als Ehefrau in Frage. So jedenfalls will es die Sage. Mehr als 100 traditionelle Kartoffelsorten hat CHIRAPAQ mit Unterstützung von Brot für die Welt in der Region um das Andenstädtchen Vilcashuamán in den letzten Jahren wieder heimisch gemacht. Verfehlte Reformen Dank der Landwirtschaftsreformen des Inkaherrschers

Daher unterstützt CHIRAPAQ die Bevölkerung bei der Wiederentdeckung der traditionellen Kartoffelsorten sowie weiterer traditioneller Nutzpflanzen. In den 16 Dörfern um Vilcashuamán, in denen die Organisation aktiv ist, besticht die bunte Mischung auf den Feldern, die in Peru sonst nur selten zu sehen ist. Hier wachsen Hafer, Gerste, Saubohnen, Sauerklee, Kapuzinerkresse und Andenhirse. Weitergegeben wird das Wissen im Erfahrungsaustausch zwischen den Bauern – einer Methode, die Brot für die Welt auch in anderen Ländern Lateinamerikas fördert. Inostroza und Salvatierra bilden dafür ausgewählte Bauernfamilien in den Dörfern aus, die so genannten „Promotoren“, die wiederum ihr Wissen mit den Nach­ barn teilen. Die Indiobauernorganisation setzt dabei auf die Gleich­ berechtigung von Mann und Frau. Rund die Hälfte der Promotoren ist weiblich. Ausbilderin Rita Castro erklärt warum: „Wir arbeiten mit den Frauen, weil man über sie die gesamte Familie erreichen und verändern kann.“ Auffällig viele Familien bemühen sich bereits um Gleichberechtigung im Alltag, wie das Bauernpaar Lucas Tenorio und Alejandra León: „Wir reden jetzt immer miteinander. Unsere Familie ist seither besser organisiert. Wir essen besser. Und wir leben besser.“

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Ernteprüfung in Äthiopien. Foto: Christof Krackhardt

4. Brich mit den Hungrigen Dein Brot! Uwe Meinhold „Brich mit den Hungrigen Dein Brot“, so beginnt das gleichnamige Lied, das Friedrich Karl Barth 1977 geschrieben hat und das unter Nr. 420 im Evangelischen Gesangbuch nachzulesen ist. Hunger ist zu einem Begriff geworden, der nicht nur mit Essen und Trinken zu tun hat. Hunger haben viele Menschen heute auch nach anderen Dingen: Hunger nach Information, Hunger nach Anerkennung und Liebe, Hunger nach Geld, Hunger nach Teilhabe, Hunger nach Konsum, Hunger nach Besitz und so weiter, und so weiter. Es geht bei der Verwendung dieses Begriffes eben nicht nur um das leibliche Wohl des Menschen, sondern auch danach, etwas besitzen zu wollen, mehr zu haben als andere, nicht genug bekommen zu haben. In unserer Gesellschaft haben Essen und Trinken einen hohen Stellenwert. Sie sind ein wesentlicher Faktor für vermeintliches Wohlbefinden, aber häufig auch nur Ersatz und Befriedigung für entgangene Bedürfnisse anderer Art. Es geht nicht nur um das Erfordernis, die für das tägliche Tun notwendigen Energieeinheiten zu sich zu nehmen, sondern auch immer darum, genug zur Verfügung zu haben, möglichst über den täglichen Bedarf hinaus. Zumindest in unserem Land werden die meisten Menschen noch satt, ja zum Teil übersatt, was das tägliche Brot und die täglichen Mahlzeiten betreffen. Sofern es bezahlbar ist, mangelt es uns im Allge­ meinen an nichts.

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Wir sehen dies an den vollen Regalen in den Super­märk­ ten mit bis zu 40.000 angebotenen Einzelartikeln, die entweder in den Städten in fußläufiger Entfernung von den Wohnungen bzw. auf dem Land meistens an der Peripherie der Orte, versehen mit großen Park­plätzen, leicht zu erreichen sind. Wir sehen dies in der Werbung, die uns immer exquisitere Genüsse anbietet und in den vielen Fernsehkochshows, zelebriert von Köchen, die für ihre Rezepte bereits mehrere Gourmet-Sterne bekommen haben. Volle Restaurants, Schlangen vor den Fast-Food-Lokalen und den Currywurst-Buden, volle Mülltonnen zeigen auf, dass wir das „Mehr“, das uns zur Verfügung steht, entweder nur noch schätzen, wenn es uns als Delikatesse gereicht wird oder wenn wir es quasi austauschen, um dem Trend neuester Ge­ schmacksrichtungen, die uns werbewirksam suggeriert werden, zu frönen. Diese Sicht, auf dem neuesten Stand zu sein, immer exotischer zu essen, immer ausgefallener zu leben, lässt vergessen, welche Probleme wir damit erzeugen – für uns selbst, für Menschen, die weit von uns entfernt häufig um ihr Existenzminimum kämpfen müssen, und für die uns folgenden Generationen, denen wir den Raum zerstören, der es ihnen ermöglichen würde, genau so angemessen wie wir zu leben. Nicht nur dass wir immer mehr Ressourcen verbrauchen, die dann irgendwann zur Neige gehen, wie zum Beispiel Erdöl, Gas, Land und Wasser, sondern auch, dass das Übermaß an Essen zu gesundheitlichen Problemen führt, sollte nachdenklich machen. Während in einer Reihe von Ländern in Afrika und an

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anderen Orten, wo Hunger herrscht, die Menschen an Unterernährung, Hungerödemen und in deren Folge an Infektionskrankheiten leiden und sterben, darunter viele Kinder, nehmen bei uns Herzkreislauferkrankungen, Fettsucht, Magersucht, Bulimie, Diabetes und zunehmend Schäden am Bewegungsapparat durch übermäßiges Gewicht zu. Die Folgen führen zu enormen volkswirtschaftlichen Kosten, die wir durch umfangreichen und flächendeckenden Einsatz an ärztlicher Versorgung, Medikamenten und Kuren zu vermindern suchen – finanzielle Mittel, die anderweitig dringender gebraucht werden. Wir vergessen dabei, dass es den Menschen, die uns zum Teil diese exotischen Bedürfnisse ermöglichen, weniger gut geht und unser Überfluss ihr Mangel ist. Der durch uns geplünderten Natur dürfte dies egal sein. Sie wird in der einen und anderen Weise diese menschlichen Exzesse überdauern. Ob aber wir Menschen über­dauern, hängt wesentlich davon ab, wie wir die nächsten 50 bis 100 Jahre unsere Lebensweise so verändern, dass diejenigen, die heute nicht an diesem Wohl­ stand partizipieren können, ebenfalls in die Lage versetzt werden, zunächst das Lebensnotwendigste zu er­halten. Das sind in erster Linie gesunde Nahrungsmittel, sauberes Wasser und bezahlbare Energie aus umweltschonenden Quellen. Zudem müssen wir die uns von der Natur bereitgestellten Ressourcen so nutzen, dass auch unsere Kinder- und Kindeskinder noch genug davon zur Verfügung haben. Wir dürfen also nicht aus dem Blick verlieren, dass die uns nachfolgenden Gene­ rationen ein Ökosystem vorfinden, dass es ihnen ermöglicht, ohne Hunger und Durst und weder in Hitze und Dürre noch in sintflutartigen Regenfällen und Über­ schwemmungen zu leben.

Grunde verbietet sich die Nutzung von Mais, aber auch anderer als Nahrungsmittel geeigneter Pflanzen für die Herstellung von so genanntem „Bio­sprit“ und „Biogas“, es sei denn, dass die anfallenden Reststoffe verwendet werden.37 Im Rahmen der im Jahre 2001 vereinbarten Millennium­ entwicklungsziele ist es zwar gelungen, einen Schritt hin zur Verminderung der Armut und des Hungers zu gehen, aber dennoch schrecken uns immer wieder die medial verbreiteten Bilder auf, wenn nach kriegerischen Auseinandersetzungen, Katastrophen oder Dürre­peri­ oden Menschen auf der Flucht sind und ausgemergelte Kinder in den Händen ihrer Mütter dem Tode näher sind als dem Leben.38 Obwohl derzeit genug Nahrungsmittel produziert werden und nach Aussagen von Experten 12 Milliarden Menschen von der Weltlandwirtschaft problemlos ernährt werden könnten,39 schaffen wir es nicht, hundert Prozent der Menschheit zumindest mit dem Not­wen­ digsten zu versorgen. Nach Feststellung des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen ist aber der Zugang zu ausreichender und angemessener Nahrung ein Menschenrecht. Danach sind die Regierungen in den von Hunger betroffenen Ländern in der Pflicht, mit entsprechenden Rah­ menbedingungen dafür zu sorgen, dass die dort lebenden Menschen selbst in die Lage versetzt werden, sich mit gesunder und ihren kulturellen Gepflogenheiten entsprechender Nahrung ausreichend zu versorgen. Aber nicht nur die betroffenen Länder, sondern auch die Länder, die genug für die eigene Bevölkerung an angemessener Nahrung haben, sind gehalten, ihrer Verant­ wortung gerecht zu werden. Sie sind verpflichtet, zu

Nach Erhebungen der Nahrungs- und Landwirt­schafts­ organisation der Vereinten Nationen (FAO) werden allein für die Herstellung von einem Kilogramm Rind­ fleisch 13.000 - 15.000 Liter Wasser benötigt. Die Pro­­ duktion von einem Kilogramm Mais, einem Grund­nah­ rungsmittel für eine Vielzahl von Menschen, verschlingt schon 710 Liter Wasser.36 Allein schon aus diesem

37 S. http://www.wbgu.de; WBGU: Zukunftsfähige Bioenergie und nachhaltige Landnutzung, 2009; vgl. auch: Evangelische Kirche in Deutschland: „Ernährungssicherung vor Energieerzeugung – Kriterien für die nachhaltige Nutzung von Biomasse.“ Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 95; Hannover 2008.

36 S. www.menschliche-entwicklung-staerken.de/mdg.html

39 S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90

38 S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90 und http://www. un.org/depts/gerrman/millennium/fs-millennium.html

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überprüfen, ob sie mit ihrem Handeln dazu beitragen, dass sich die Hungersituation verschärft.40 Nach Definition der FAO leiden die Menschen unter Hunger, bei denen über einen längeren Zeitraum die tägliche Energiezufuhr unter 1.800 Kilokalorien liegt. Im Welthungerindex werden weitere als „versteckter Hunger“ bezeichnete Faktoren hinzugerechnet. Dies sind vor allem unausgewogene Ernährung, Vitaminund Mineralstoffmangel.41 Rund zehn Prozent der Menschen auf unserem Plane­ten, die Zahlen schwanken zwischen 825 und 920 Millionen, je nach Quelle, haben nichts oder nicht genug zum Essen, um sich gesund und leistungsfähig zu halten. Ent­ sprechend hoch ist die hierauf zurückzuführende Sterb­ lichkeit, insbesondere von Kindern und älteren Menschen. Nach Informationen des Welternährungs­pro­gramms ster­ ben allein in den Entwicklungsländern 60 Pro­zent von 11 Millionen Kindern jährlich, weil sie arm, mangel- oder unterernährt sind, obwohl ihnen laut Artikel 24 und 27 der vom UN-Sozialausschuss verfassten „Kinderkon­ven­ tion“ ein Recht auf angemessene Er­nährung zusteht.42 Da die Anzahl der Menschen bis 2050, also innerhalb der nächsten 40 Jahre laut UN-Berichten auf mehr als 9 Milliarden ansteigen wird, gehen einige Experten davon aus, dass sich das Problem, die Menschheit ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen, verschärfen wird. Um diesem zu begegnen, wird zunehmend frucht­ ­bares Land, vorzugsweise in subtropischen und tropischen Teilen Afrikas, aufgekauft oder für einen langen Zeitraum angepachtet. Aber auch in Brasilien entstehen immer größere Flächen für die Produktion von Futter­ mitteln und Energiepflanzen. In Mexiko boomt der Mais­a nbau, nicht für die Versorgung der Bevöl­ke­rung mit Nahrungsmitteln, sondern für die Herstellung von

40 S. Vereinte Nationen: Wirtschafts- und Sozialrat; Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Zwanzigste Tagung, Genf, 26. April - 14. Mai 1999, Tagesordnungspunkt 7. 41 S. www.welthungerhilfe.de/hunger.html 42 S. Jonas Schubert: terre des hommes, Hilfe für Kinder in Not; Ökologische Kinderrechte schützen – Normative Grundlagen stärken; 1. Auflage, April 2012.

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Benzin und Diesel in den USA. In Indonesien breiten sich nach der Ausbeutung der Tropenholzbestände, vorzugsweise für den Export, Palmölplantagen aus. Auf­ käufer bzw. Pächter sind Vermögende aus dem arabischen Raum, aus Indien und China, aber auch multi­ nationale Konzerne, die ihren Sitz in den USA und Europa haben. Diese versprechen sich hierdurch lukrative Renditen und mittelfristig eine Sicherung der Ernährung für ihre eigene Bevölkerung. Die Bewirtschaftung dieses Landes rechnet sich jedoch nur auf entsprechend intensiv mit hohem Technikeinsatz zu bearbeitenden großen und freien Flächen und bei geringen Ernteverlusten. Um möglichst schnell hohe Ert­ räge zu erwirtschaften, wird mit einem enormen Ein­ satz von Düngemitteln gearbeitet und Schädlings­­ be­ kämp­ f ungsmitteln, vorzugsweise stark gesundheitsschädliche Pestizide, eingesetzt. Neben dem Anbau von Hochertragssorten, die ihre volle Produktivität nur im Zusammenspiel mit intensiver Düngung, Bewässerung und Pflanzenschutz erbringen,43 bietet sich der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen an, jeweils zugeschnitten auf die Bedingungen der Region. Eine wesentliche Grundbedingung ist allerdings ein Zugang zu ausreichend Wasser. Angebaut werden Produkte, die in erster Linie für den Export bestimmt sind und der heimischen Bevölkerung nur begrenzt zur Verfügung stehen bzw. preislich zu teuer sind. Ansteigend sind zudem die Nachfragen nach eiweiß- und energiereichen Futtermitteln für die industriell betriebene Tierhaltung in Europa und Amerika und der Anbau von sogenannten Energiepflanzen, die als Biomasse in fester, flüssiger und gasförmiger Form zur Strom- und Wärmeerzeugung und zur Herstellung von Biokraftstoffen Verwendung finden. Dies führt zu Rodungen, insbesondere im Regen­wald­ gürtel der Erde, und zum Umbruch von Busch- und Grasland zur landwirtschaftlichen Nutzung. Verbunden

43 S. Evangelische Kirche in Deutschland: Ernährungssiche­r ung und Nachhaltige Entwicklung – Eine Studie der Kammer der EKD für Entwicklung und Umwelt, EKD-Texte 67, Hannover 2000.

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damit kommt es zur Vertreibung von Kleinbauern von deren bisher bewirtschafteten Ackerland und auch zur Verdrängung von indigenen Gemeinschaften aus dem von ihnen genutzten Lebensraum. Aber auch in Deutsch­ land wird immer mehr bisher für die Nah­ rungsmittelproduktion eingesetzte landwirtschaftliche Fläche hierfür quasi „umgenutzt“. Die intensive Nutzung, Monokulturen und gentechnisch verändertes Pflanz- und Saatgut führen nicht nur zu einer Degradierung der Böden, sondern auch zum Verlust von Biodiversität. Tropische Regenwaldbestände, Gras- und Grünland sind jedoch Orte mit einer großen Artenvielfalt in Flora und Fauna. Zudem besitzen sie ein sehr großes Speicherpotenzial an Kohlendioxid und haben damit einen hohen Stellenwert für den Klimaschutz. Eine Bestandsaufnahme der FAO aus dem Jahre 2005 geht davon aus, dass Grünland über 40 Prozent der Landfläche der Erde und ca. 70 Prozent der Flächen, die der Landwirtschaft zuzuordnen sind, bedeckt. Diese gigantischen „Graslands of the World“ speichern im Boden und im Wurzelwerk mehr als ein Drittel des globalen Kohlenstoffs.44 Den verbleibenden Kleinbauern wird nicht nur durch den Verlust an bearbeitbarer Fläche, sondern auch durch die Übernutzung der vorhandenen Süßwasser­ ressourcen in diesen Regionen häufig die Existenz­ grundlage entzogen, so dass mittelfristig eine zunehmende Landflucht der bisher dort lebenden Menschen stattfindet. Da diese Abwanderungen in erster Linie in die Randzonen großer Städte stattfinden, werden dort die bereits vorhandenen Probleme mit Armen und häufig Unterernährten verschärft. Nach einer Studie der Welthungerhilfe kann davon ausgegangen werden, dass der Hunger dort am größten ist, wo Zugangs- und Besitzrechte an Wasser und Land beschränkt oder umstritten sind. Unzureichender und fehlender Zugang zu sanitären Einrichtungen und zu modernen Energiequellen verstärken das Problem. Die

44 S. Idel, Anita: Die Kuh ist kein Klima-Killer! – Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können. Kapitel 3 und 4; Metropolis-Verlag, Marburg 2010.

meist beim Verkauf und der Verpachtung versprochenen Arbeitsplätze und Verbesserungen des sozialen Umfeldes finden nicht statt.45 Wie bei der Eindämmung der Klimaveränderung liegt eine große Verantwortung für diese Situation bei den Industrieländern des Nordens und zunehmend bei den Schwellenländern wie China, Indien, Südafrika und Brasilien. Gehandelt werden muss in erster Linie hier. Die Folgen eines Nichthandelns würden letztendlich die nachfolgenden Generationen aufgebürdet bekommen. Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ verweist unter dem Begriff „Ökolo­ gischer Wohlstand für eine zukunftsfähige Wirtschaft“ mit der Faustformel „Besser, anders, weniger“ darauf, dass „anders“ heißt: Nur mit weniger Ressourcen­ver­ brauch und Naturzerstörung kann ein besseres Leben geschaffen werden, und wir müssen lernen, dass besseres Leben mehr bedeutet als ständig steigender materieller Wohlstand. Bezogen auf die Landwirtschaft heißt das, so die Studie, dass „Naturverträglichkeit“ nicht durch die konventionell-industrielle Landwirtschaft zu erreichen ist, denn deren Ressourcenverbrauch und deren Einsatz von Agrargiften und Dünger belasten die Umwelt, während die Bio-Landwirtschaft bemüht ist, Naturkreisläufe zu schließen und die Ressourcen, die ihr zu Verfügung stehen, produktiver und vielseitiger zu nutzen.46 Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) geht in seiner Studie „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ auf die Landnutzung ein. Da­ nach werden etwa ein Viertel der weltweiten Treib­ hausgasemissionen direkt aus der Landwirtschaft sowie durch Landnutzungsänderung frei gesetzt. Diese Emis­ sionen sind nicht vollständig zu vermeiden, allein schon

45 S. Welthunger-Index 2012: Kapitel 03: Ernährung in Zeiten knapper Land-, Wasser- und Energieressourcen. 46 S. Wegmarken für einen Kurswechsel – Eine Zusammenfassung der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie; Februar 2011.

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wegen des aus der Düngung mit Stickstoff resultierenden Lachgases. Eine Reduzierung der Gesamtemissionen allerdings sollte zu einem Kernbestandteil einer Strate­ gie eines globalen integrierten Landnutzungs­ mana­ gement gehören. Ein Stopp der Entwaldung verbunden mit einem Übergang zur nachhaltigen Waldwirtschaft, eine klimaverträgliche Landwirtschaft, die die ansteigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln, Bioenergie und stofflich genutzter Biomasse in Form nachhaltiger Landnutzungskonzepte und Produktionsweisen befriedigt und eine Veränderung unserer Ernährungsweisen, insbesondere eine Veränderung der derzeitigen Ernäh­ rungsgewohnheit zugunsten tierischer Produkte sollten angegangen werden. Die ständig ansteigende Produk­ tion von tierischen Nahrungsmitteln wird als sehr problematisch eingestuft, da allein die Viehwirtschaft bereits jetzt etwa drei Viertel der landwirtschaftlichen Flächen beansprucht. Neben der Bevölkerungs­ent­w ick­ lung sei sie einer der wesentlichen Faktoren zunehmender Landnutzung.47

in Einklang mit dem, was sie selbst schätzen, leben können. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die gleichermaßen große Weichenstellungen und kleine Schritte jedes Einzelnen verlangen.“ 48 Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider griff dies in einer Vorlesung an der Technischen Universität Berlin im Januar 2013 mit den Worten auf: „Auch ich teile die Auffassung, dass neue Leitbilder und Paradig­ men für Wirtschaft, Politik und den Lebensstil der Einzelnen nötig sind und dass wir eine umfassende gesellschaftliche Veränderung und einen Bewusst­ seins­­wandel brauchen, um den multiplen Heraus­for­ derungen und Krisen unserer Gegenwart angemessen zu be­gegnen.“  49 Somit ergänzte das Motto des diesjährigen Evan­ ge­ lischen Kirchentages „Soviel Du brauchst“ das Motto der am 1. Advent 2008 gestarteten 50. Kampagne von Brot für Welt „Es ist genug für alle da“.

In allen diesen Prozessen kommt den Kirchen als weltweit vernetzte und agierende „Player“ eine große und wichtige Aufgabe zu. Mit ihren Werken und Ein­ richtungen sind sie bereits an vielen Stellen und Orten aktiv. In Deutschland könnten sie als ein wichtiger Partner in der Zivilgesellschaft und auch als Akteur in den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Grund­be­sitz und Beschaffung beispielgebend tätig werden und Wege aufzeigen, die auch andere Akteure in der Gesell­ schaft inspiriert, diese zu gehen. In der Denkschrift des Rates der EKD „Umkehr zum Leben“ heißt es: „Letztlich geht es um eine neue poli­ tische und wirtschaftliche Prioritätensetzung in Zivil­ gesellschaft und Politik, d.h. eine Verständigung darüber, in welchem Verhältnis z.B. kurzfristige Ge­winn­­ interessen von bestimmten Wirtschaftsakteuren und die langfristigen Überlebensinteressen von Gemein­ schaften in der Einen Welt stehen. Es geht letztlich um die Frage, wie wir leben wollen und wie alle Menschen 47 S. Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation – Zusammenfassung für Entscheidungsträger; ISBN 978-3936191-46-2; WBGU Berlin 2011.

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48 Evangelische Kirche in Deutschland: Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2009, S. 144-145. 49 Nikolaus Schneider: „Ethik des Genug – Impulse aus der Ökumene und der kirchlichen Entwicklungsarbeit“ – Beitrag zur Vorlesungsreihe „Wohlstand ohne Wachstum?“ Technische Universität Berlin; 31. Januar 2013.

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Brot für die Welt-Projekt Argentinien: Mutig gegen Landraub

nehmer. Hier landet Soja als Futtermittel in den Trögen von Schweinen und Rindern – während im argentinischen Chaco jene hungern, denen das Land eigentlich gehört: die indigene Bevölkerung. Mit den kartographierten GPS-Daten und den Luftauf­ nahmen sollen dem Umweltministerium Verstöße gegen eine einstweilige Verfügung aus dem Jahr 2008 bewiesen werden. Diese verbietet jegliche Rodung in der Region. Informiert wird auch der Oberste Gerichtshof, der damals auf die Verfügung drang – seinerzeit ein großer Erfolg für ASOCIANA.

Brandrodung in Argentinien Foto: Florian Kopp

In der Region Gran Chaco machen skrupellose Vertreter des Agrobusiness den indigenen Völkern ihr Land streitig. Mit Hilfe moderner Geoinformationssysteme und engagierter Lobbyarbeit verhilft die Organisation ASOCIANA den Indigenen zu ihrem Recht. „Da! Halt drauf!“, ruft Ana Alvarez dem Fotografen von der Rückbank des Kleinflugzeugs aus zu. Der reagiert sofort, zoomt lodernde Flammen und verbrannte Mondlandschaft heran, drückt ab. Zeitgleich hält Alvarez mithilfe eines GPS-Gerätes die Koordinaten der Orte fest, an denen illegal brandgerodet wird. Monokulturen zerstören die Vielfalt Ana Alvarez, Projektkoordinatorin des Brot für die WeltPartners ASOCIANA, einer Organisation der Ang­li­ka­ nischen Kirche, erklärt das Prinzip der Zerstörung: „Es ist einfach: Sie roden mit schweren Maschinen, holen alle wertvollen Hölzer aus dem Wald und verarbeiten minderwertige zu Kohle.“ Alles Übrige scharren Bull­dozer zu großen Haufen zusammen, Feuer erledigen den Rest. So wird Platz für Monokulturen wie Soja, Zuckerrohr oder die ölhaltige Färberdistel geschaffen – Erzeugnisse, die in den Industrieländern begehrt sind und satte Gewinne versprechen. Auch Europa ist ein guter Ab­

Konflikte mit den Viehzüchtern Als wäre der Kampf gegen das Agrobusiness nicht schwer genug, müssen sich die indigenen Völker auch mit den Kleinbauern auseinandersetzen. Dabei treffen zwei Welten aufeinander: Die indigenen Völker leben vom Jagen und Fischen, vom Früchte- und Honig­ sammeln im Wald. Die Nachkommen europäischer Ein­ wanderer hingegen betreiben extensive Viehzucht. Ihre Rinder, Ziegen und Schafe dringen in die Wälder ein und zerstören die Lebensgrundlage der Indigenen. Bereits 2001 nahm ASOCIANA daher Kontakt mit FUNDAPAZ auf, einem Partner von Brot für die Welt, der die Kleinbauernfamilien berät. Man einigte sich darauf, bei der Provinzregierung die Vergabe von Land­ titeln einzufordern. Um zu klären, wer das Land wie nutzt, hielten die Indigenen mit GPS-Geräten die Ko­or­ dinaten ihrer Honigsammelstellen, Fisch- und Jagd­ gründe fest. Und die Kleinbauern kartographierten jene Gebiete, die sie bis dahin für ihr Vieh genutzt hatten. Das gemeinsame Vorgehen zeitigte Erfolg: 2007 unterzeichnete der damalige Gouverneur ein Dekret, in dem die Übergabe des Landes an die indigenen Gemeinden und die Kleinbauern angekündigt wird. Zwar ziert sich sein Nachfolger noch, das Dekret tatsächlich umzusetzen, doch scheint eine friedliche Lösung des Land­ konflikts greifbar nah.

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Nomaden kämpfen mit der Dürre in Äthiopien. Foto: Christof Krackhardt

5. Ausländische Direktinves­ titionen in landwirtschaftliche Nutzflächen und die globalen Preisentwicklungen bei Agrargütern Hans Diefenbacher Entnommen aus: Friedensgutachten 2012, S. 196-208 „Soon no more land for the farmers?“ 50 Seit einigen Jahren hat sich eine umstrittene Praxis in den internationalen wirtschaftlichen Beziehungen stark verbreitet und eine vielfältige Debatte ausgelöst: Der Kauf oder die langfristige Pacht großer Agrarflächen durch private Investoren und staatliche Institutionen, vorwiegend in den Ländern des Südens. Der Begriff des Landgrabbing, zum Teil als „Landnahme“ übersetzt, hat sich bei jenen eingebürgert, die dieser Praxis kritisch bis grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Diese Bezeichnung bringt aber nicht zum Ausdruck, dass es sich bei Landgrabbing um formal legale Vorgänge handeln kann, auch wenn immer wieder Berichte von Missachtungen traditioneller Landnutzungsrechte oder vertraglich geregelter Kompensationszahlungen auftauchen. 50 So der Titel einer Pressemitteilung des Evangelischen Ent­w icklungsdienstes vom 29.2.2012, nach der über 50 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kam­ bodscha mittlerweile im Besitz privater Investoren ist; Rural21 (Hrsg.): Cambodia: Soon no more land for the farmers?, Frankfurt am Main 2012, http://www.rura12l. com/englishlnewsl detaiVarticle/carnbodiasoon-no-moreland-for-the-farmers-0000119/

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Befürworter betonen, dass sowohl die Käufer von Land­ flächen als auch die Volkswirtschaften, in denen diese Besitzübertragungen stattfinden, profitieren können. Auf der anderen Seite weisen Gegner auf das enorme Konfliktpotenzial hin, das entstehen kann, wenn die Be­völkerung einer Region keine Verfügungsrechte mehr über deren landwirtschaftliche Nutzflächen hat und sich die agrarische Produktion nicht oder nicht mehr an ihren Grundbedürfnissen orientiert. Landgrabbing kann aber nicht nur durch den direkten Entzug von Produktions- und Beschäftigungs­mög­lich­ keiten verheerende Folgen für die ländliche Bevölkerung in den betroffenen Gebieten haben. Durch Verände­ rungen der Mengen der produzierten Agrargüter kann es zu Preisveränderungen auf den Märkten kommen, die nicht nur die ländliche, sondern auch die städtische Bevölkerung in ihrer Existenz bedrohen. Diese Preisver­ änderungen werden von den internationalen Märkten und vor allem von den Einflüssen spekulativer Trans­ aktionen beeinflusst; zum Teil können sie wiederum Preisveränderungen und spekulative Transaktionen auf den internationalen Märkten selbst auslösen. Die Rück­ wirkungen können ganz erheblich sein: Die extremen Preissteigerungen 2007 und 2008 veranlassten einige Länder, Ausfuhrstopps für wichtige Agrarprodukte zu verhängen, um zunächst ihre eigene Versorgung durch Ausbau der Vorratshaltung zu sichern. Importländer erfuhren deswegen durch ihre Abhängigkeit vom Welt­ markt noch dramatischere Preissteigerungen. In rund 60 Ländern kam es 2008, weitgehend unbeachtet von der deutschen Presse zu gewaltsamen Protesten aufgrund der hohen Nahrungsmittelpreise.

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Im folgenden Beitrag werden Beispiele von Landgrabbing vorgestellt und eine Abschätzung der Größenordnung des Problems unternommen. Anhand aktueller Trends lassen sich Preisveränderungen auf den Weltagrar­märk­ ten darstellen und Auswirkungen auf reale Produktions­ veränderungen aufzeigen. Der Beitrag schließt mit einer theoretischen Einordnung und mit praktischen Empfeh­ lungen an die nationale und internationale Politik, wie negative Auswirkungen für die lokale Bevölkerung und die globale Ernährungssicherung vermieden werden können. Landgrabbing – ein globales Phänomen? Alle einschlägigen Veröffentlichungen über das Thema Landgrabbing enthalten mehr oder minder umfassende Listen von einzelnen, bekannt gewordenen Fällen ausländischer Direktinvestitionen in Landflächen. Eine voll­ständige aktuelle Übersicht gibt es vermutlich nicht, es zeigen sich jedoch über die letzten Jahre einige bemerkenswerte Entwicklungen. Ausländische Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen waren vor 1985 so gut wie unbekannt. Bis zum Jahr 2000 lassen sich nur sehr vereinzelt kleinere Geschäfte dieser Art nachweisen. Erst ab 2005 kam es zu einem sprunghaften Anstieg von Zahl und Größe derartiger Transaktionen; dieser Trend hält derzeit ungebrochen an. Laut diverser Schätzungen sind allein von 2005 bis 2009 zwischen 22 und 50 Mio. Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in Ländern des Südens an Investoren aus Industrieländern, aus arabischen oder aus asiatischen Schwellenländern – einschließlich China – verkauft oder langfristig verpachtet worden. Eingerechnet sind hierbei auch Flächen, über deren Verkauf beziehungsweise deren Verpachtung aktuell verhandelt wurde.51 Grobe Schätzungen gehen von einer Gesamtfläche von 10 bis 30 Prozent des weltweit verfügbaren Ackerlandes

51 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hrsg.): Development Policy Stance on the Topic of Land Grabbing – the Purchase and Leasing of Large Areas of Land in Developing Countries, Bonn 2009, S. 3 und Anhang 1.

aus.52 Eine besonders umfangreiche Liste von ausländischen Direktinvestitionen zwischen den Jahren 2006 bis 2009 liefert das International Food Policy Research Institute. Hier werden über 60 Einzelfälle aufgeführt. Eine Gesamtfläche ist nicht addierbar, da für die jeweiligen Fälle zum Teil die verkauften oder verpachteten Hektar, teilweise jedoch nur Investitionssummen in US-Dollar oder geplante Ernte­ mengen bestimmter Agrarprodukte aufgeführt werden.53 Anfang 2012 hat indes das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Gesamt­schätzung gewagt, nach der etwa 200 Mio. Hektar Land, mehr als das Fünffache der Fläche Deutschlands, für ausländische Investitionen vergeben worden sein sollen, davon mehr als 130 Mio. Hektar in Afrika.54 Vor allem China investiert in großem Stil in Afrika zur Erzeugung von Biokraftstoffen, etwa durch den Ankauf von 2,8 Mio. Hektar zur Palmölproduktion in der Demo­k ratischen Republik Kongo sowie durch Geschäfte in zahlreichen anderen Ländern. Darüber hinaus kauft China landwirtschaftliche Flächen in Afrika und Asien, um dort Reisanbau zu betreiben und den heimischen Bedarf abzusichern. Auch einzelne arabische Staaten wie Libyen und die Golfstaaten beschaffen sich Land­ flächen in Afrika zur Lebensmittelproduktion, etwa in Kenia, Malawi und Sudan. Diese Flächen sind allerdings kleiner und im Blick auf die Produktion erheblich diversifizierter: Häufig werden verschiedene Nahrungs­mittel angebaut, während es in anderen großen Vor­haben oft nur um Monokulturen von Energiepflanzen geht. Aus Europa und den USA sind hauptsächlich transnationale Konzerne und Start-ups – extra zu diesem Zweck neu gegründete Unternehmen – im Bereich erneuerbare Energien tätig. Gerade sie setzen zum Teil sehr große Flächen zur Produktion von Biokraftstoffen ein. Regie­ 52 Mo lbrahim Foundation (Hrsg.): African Agriculture: From Meeting Needs to Creating Wealth, Tunis 2011, S. 2 ff. 53 Joachim von Braun/Ruth Meinzen-Dick: „Land grabbing“ by Foreign Investors in Developing Countries: Risk and Opportunities, IFPRI Policy Brief 2009, S. 13. 54 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hrsg.): Investitionen in Land und das Phänomen des „Land Grabbing“, Bonn 2012, S. 3.

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rungen und private Investoren treten dabei sowohl als Käufer und Verkäufer beziehungsweise als Pächter und Verpächter auf. Zusätzlich sind seit über zehn Jahren vor allem Investitionsfonds in diesem „Geschäftsbereich“ mit zum Teil sehr hohen Summen engagiert. Allein für Äthiopien, Ghana, Madagaskar, Mali und Sudan beziffern Schätzungen für den Zeitraum von 2004 bis 2009 den Verkauf von etwa 2,5 Mio. Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche an ausländische Inves­ to­ren. Dabei werden in dieser Statistik einzelne Käufe nur ab einer Gesamtfläche von über 1.000 Hektar eingerechnet.55 In diesen Ländern bilden die verkauften Flächen einen nicht unerheblichen Anteil an den derzeit aktiv genutzten landwirtschaftlichen Nutzflächen. In Madagaskar werden im Rahmen eines Vorhabens auf 452.000 Hektar Biokraftstoffe von Investoren aus Groß­ britannien erzeugt. Mindestens weitere 550.000 Hektar werden von anderen Investoren unter anderem aus Australien, Italien, Südafrika, Großbritannien und dem Libanon mit Jatropha ebenfalls zur Erzeugung von Biokraftstoffen bebaut. Ein weiteres Geschäft über 1,3 Mio. Hektar, auf denen ein koreanischer Investor in Madagaskar Mais anpflanzen wollte, ist nach einer intensiven öffentlichen Debatte gescheitert, in der das Problem einer zu langfristigen Bindung des Landes an ausländische Interessen thematisiert wurde.56 Dies führte zu massiven Unruhen und trug zum Sturz der Regierung bei. Dieser Fall wirft ein besonderes Schlaglicht auf die oft sehr problematische Rolle der Regierungen, die Land verkaufen oder verpachten. Diese haben zum Teil ein großes Interesse an ausländischen Direktinvestitionen und bieten den Investoren sehr günstige Bedingungen, die nur durch Missachtung der traditionellen Nutzungs­ rechte der Bevölkerung möglich werden.

55 Lorenzo Cotula/Sonja Vermeulen/RebeCa Leonard/James Keeley: Land grab or development opportunity? Agricultural investment and international land deals in Africa, London/ Rom 2009, S. 40 ff. 56 Mo Ibrahim Foundation, a.a.O., S. 21 f.

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Die Entwicklung der Preise von Agrarprodukten Um die Entwicklung und mögliche Folgewirkungen des Anstiegs der Direktinvestitionen in Nutzflächen zu verstehen, ist es erforderlich, sich die Verbindung zu anderen Determinanten der internationalen Agrar­ märkte vor Augen zu führen. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts sind die Preise von Agrarprodukten in vielen Ländern, vor allem aber auch auf den internationalen Agrarmärkten deutlich angestiegen. In den Jahren 2007 und 2008 kam es bei vielen Produkten zu einem absolu­ ten Preishöchststand, der sowohl mit Faktoren auf der Angebotsseite, wie Produktionsausfälle durch Miss­ernten, Exportrückgänge und einem Tief­ stand bei der Lagerhaltung, als auch mit Faktoren auf der Nach­f rage­seite, wie steigendes Interesse nach Ener­ giepflanzen und Futtermitteln und mit spekulativen Aktivitäten, zu­sammenhing. Es folgten weitere Jahre mit recht hohen und stark schwankenden Preisen. So entwickelten Länder, deren Ernährungs­sicherung nur über Nah­r ungs­m ittelimporte stabilisiert werden kann, die Strate­g ie, sich durch Ankauf oder langfristige Pacht von landwirtschaftlichen Flächen im Ausland von den ge­­ schilder­ ten Entwicklungen unabhängiger zu machen. Das Motiv der Sicherung einer stabilen Ver­ sorgung der landwirtschaftlichen Produk­ t ion durch Futtermittel und Biokraftstoffe ist mittlerweile für mehr ausländische Direktinvestitionen verantwortlich als die Lebens­m ittelproduktion. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein verstärkender Faktor war jedoch besonders wichtig: Eine erhöhte Nachfrage nach Produkten des Agrarsektors, gerade aus dem Bereich der Biokraftstoffe, traf mit einer erhöhten Bereitschaft der Finanzmärkte zusammen, in diesem Anlagebereich auch spekulativ tätig zu werden. Bio­ kraft­stoffe können daher als ein Auslöser für den anhaltenden Preisdruck angesehen werden. Es ist davon auszugehen, dass etwa 30 Prozent der Preissteigerungen bei Getreide der erhöhten Nachfrage bei Biokraftstoffen zuzuschreiben sind.57 Dieser Preisanstieg wurde teil57 Shenggen Fan: Growing Biofuel Demand and International Food Prices, in: Rural21 -- The International Journal for Rural

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weise durch die erhöhten Preise fossiler Brennstoffe ausgelöst, teilweise auch durch Strategien zur Reduktion von Kohlendioxidemissionen. Die gezielte Förderung von Biokraftstoffen in den USA und Europa hat bereits zu einer deutlichen Konkurrenz zwischen der Produk­ tion von Nahrungsmitteln, von Futtermitteln und der von Energiepflanzen geführt. Die globale Produktion von Biokraftstoffen hat sich zwischen 2005 und 2011 verdoppelt, die Zuwachsraten in den USA liegen noch deutlich darüber. Dies hatte einen erheblichen Einfluss auf die Weltmarktpreise, insbesondere von Mais, die sich in diesem Zeitraum ebenfalls nahezu verdoppelt haben. Der Trend zur Preissteigerung wird sich fortsetzen, wenn die Politik der USA und der EU sich nicht entscheidend verändert. Die Organisationen OECD und FAO schätzen, dass bis zum Jahre 2020 13 Prozent der Weltgetreideproduktion, 15 Prozent der Pflanzenöle und 30 Prozent des Zuckerrohrs für die Erzeugung von Biokraftstoffen verwendet werden.58 Die Gefährdung der Ernährungssicherheit wird durch die Finanzmechanismen der Weltmärkte noch einmal verschärft, denn spekulative Transaktionen gehen von einer weiteren Steigerung der Preise aus und nehmen diese durch entsprechende Termingeschäfte quasi schon vorweg – beziehungsweise überhöhen den Stei­ ge­rungseffekt in den Spitzen der extremen Preis­schwan­ kungen, die auf diese spekulativen Transaktionen zurückzuführen sind. Die Entstehung von Preisblasen muss dabei auch bei Spekulationen auf den Agrar­märk­ ten – parallel zu anderen Märkten, etwa bei den Immobilien – als ein sich selbst verstärkender Prozess verstanden werden. Diese Wirkung hat sich durch die Einführung neuer Finanzmarktprodukte wie die Speku­ lationen mit indexbasierten Finanzmarkttiteln noch weiter erhöht.59 Die Auswirkungen auf die Preise haben hier jedoch ganz unmittelbar existenzbedrohende Folgen für die Armen, die diese Preise häufig nicht bezahlen können: Sie geben oft 60 bis 80 Prozent ihres Development 45 (2011): 5, S.14. 58 Ebd. 59 Hans-Heinrich Bass: The Relevance of Speculation, in: Rural21 – The International Journal for Rural Development 45 (201I): 5, S. 17-21.

Einkommens für Lebensmittel aus und sind daher von Preisschwankungen besonders betroffen. Ge­rade in den Ländern des Südens übertragen sich Preisschwankungen auf den Welt­märkten rasch auf die heimischen Märkte. Ausländische Direktinvestitionen in landwirt­schaftliche Nutzflächen – pro und contra Preissteigerungen landwirtschaftlicher Produkte sollten keinesfalls pauschal als negativ bewertet werden. Wenn Preise für Lebensmittel sehr niedrig sind, kann dies auch zu einer niedrigen Investitionsbereitschaft und langfristig zu einer Unterinvestition im Agrarsektor führen, was als sehr starkes Entwicklungshemmnis wirken kann. Gerade in Entwicklungsländern hat der Agrarsektor einen hohen Anteil an der Wertschöpfung der Volkswirtschaft. Dennoch sind die Agrarsektoren vieler Entwicklungsländer seit Jahrzehnten unterfinanziert, was u.a. auf die Entwicklungsstrategien der jeweiligen nationalen Regierungen wie auch der internationalen Entwicklungsorganisationen zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass Un­ter­ ent­w icklung nur durch an die jeweiligen Situa­tionen an­ gepasste Investitionen überwunden werden kann, die finanzierbar und den Investoren lohnend erscheinen müssen.60 Einer Studie der Mo-Ibrahim-Founda­tion zufolge kommt in Afrika derzeit ein Traktor auf etwa 320 Beschäftigte in der Landwirtschaft, geht Getreide durch Nachernteverluste im Wert von vier Milliarden USDollar verloren und gelten 42 Prozent der Jugendlichen südlich der Sahara und 62 Prozent der Jugendlichen in Nordafrika als unterbeschäftigt.61 Diese Kennziffern können als massive Entwicklungshindernisse verstanden werden. Ausländische Direktinvestitionen im Agrar­ b­ereich wären aus Sicht der „Empfängerländer“ nur dann sinnvoll, wenn sie im Zielland zu einer selbsttragenden Entwicklung zum Nutzen der heimischen Be­ völkerung führen. Dass der Technologie-Import allein die negativen Effekte kompensieren kann, die dadurch entstehen, dass verkaufte oder verpachtete Nutzflächen 60 Al Imfeld: Entwicklung, Marburg 2010, S.l08. 61 Mo Ibrahim Foundation, a.a.O., S. 2.

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nicht mehr für die heimische Produktion zur Verfügung stehen, ist äußerst unwahrscheinlich. Auch der Be­ schäftigungseffekt für die heimische Be­völkerung, die durch mögliche Anstellungen in von ausländischen Investoren bestimmten Agrarbetrieben entstehen kann, wird kaum über der Beschäftigungs­ w irkung einer Bewirtschaftung vergleichbarer Flächen in eigener Regie liegen. Im Gegenteil: Vermutlich wird sie niedriger liegen, da mit Fremdkapital in der Regel auch kapitalintensiver produziert wird. Es bleibt das Argument, dass die Betriebe ausländischer Investoren in kurzer Zeit die Produktion auf ein Niveau ausdehnen können, das in der heimischen Wirtschaft vermutlich nicht erreicht würde und deswegen Steuern oder Ab­gaben erhoben werden können, die dann dem allgemeinen Aufbau der Wirtschaft und dem Sozialsystem zugute kommen können. Allerdings muss im Einzelfall genau geprüft werden, wem die so entstandenen zusätzlichen Staatseinnahmen tatsächlich zugutekommen. Das zuletzt genannte Argument geht häufig einher mit einer anderen Debatte über Entwicklungsmöglichkeiten vor allem der afrikanischen Landwirtschaft. Auf der einen Seite stellt die Mo-Ibrahim-Foundation im Einklang mit entsprechenden FAO-Statistiken fest, dass derzeit 79 Prozent des potenziellen Ackerlandes Afrikas nicht bebaut werden. In der Tat würde Landgrabbing ungenutzter Flächen zunächst einmal nur eine Produktions­ ausweitung bewirken. Doch Klassifikation von Land als „ungenutzte“ Nutzflächen hat in vielen Gebieten fatale Folgen. Südlich der Sahara Ieben über 60 Millionen Nomaden, die extensive Viehhaltung auf diesen vorgeblich „ungenutzten“ Landflächen betreiben. Ausländische Direktinvestitionen haben in vielen Fällen dazu geführt, dass die Bewegungsfreiheit der Nomaden begrenzt wurde. Aus Uganda, Kenia, Somalia, Äthiopien und aus dem Sudan wurden gewaltsame Auseinander­ setzungen um den knapper werdenden Zugang zu Weideland und Wasserquellen berichtet.62 Marginali­ sierte Bevölkerungsgruppen sind offenkundig extrem

62 Evelyn Bahn: Großflächige Landnahmen, Berlin 2010, S. 5; FlAN International (Hrsg.): Land Grabbing in Kenya and Mozambique -- A report on two research missions and a human rights analysis on land grabbing, Heidelberg 2010.

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gefährdet, von ihrem Land vertrieben zu werden, zu dem sie sehr häufig keine formellen, sondern nur traditionell überlieferte Besitztitel haben. Der Übergang zu einer formalen Regelung der Eigentumsrechte birgt ein enormes Konfliktpotenzial, wenn die traditionellen Nut­zungsformen nicht angemessen berücksichtigt werden und die indigene Bevölkerung ihre Interessen nicht adäquat einbringen kann. Empfehlungen Zwei Politikvarianten Angesichts der Entwicklungen in den internationalen Agrarbeziehungen der letzten Jahre erscheinen zwei sehr unterschiedliche Strategieempfehlungen an die beteiligten Akteure und an die internationale Politik möglich. Bei der derzeitigen Politik ist davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit weiterhin ausländische Direkt­ investitionen erfolgen werden. Für diese Fälle muss ein Kriterienkatalog erstellt werden, in dem für die unterschiedlichen Akteure die Bedingungen formuliert werden, unter denen der Nutzen derartiger Investitionen für die ärmsten Bevölkerungsgruppen maximiert und der Schaden zumindest begrenzt wird. Schon die Ver­ ab­schiedung einer Richtlinie, die die beteiligten Akteure auf freiwilliger Basis einhalten können, kann als Beginn eines globalen politischen Prozesses hilfreich sein; das Ziel einer bindenden völkerrechtlichen Übereinkunft ist derzeit noch sehr weit entfernt. Als Grundlage einer sehr viel weitergehenden und der derzeitigen politischen Realität daher sehr fernen Rege­ lung können landwirtschaftliche Nutzflächen als Teil der globalen Gemeingüter betrachtet werden, an denen allenfalls Nutzungs- und keine Besitz- oder gar Ver­äuße­ rungsrechte vergeben werden sollten. Globale Gemein­ güter wären im Konsensfall nichts, was in Privatbesitz sein sollte. Schließt man sich dieser Grund­überzeugung an, dann sollten ausländische Direkt­ in­ ves­ t itionen in Boden so schnell wie möglich gestoppt werden und nur sehr wenige Ausnahmen wären unter strengen Auflagen denkbar. Nachfolgend sollen beide Politikstrategien – die „realistische“ und die „utopische“ Perspektive – kurz umrissen werden.

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Positiv- und Negativkriterien für „Stakeholder“ aus­ländischer Direktinvestitionen in landwirt­ schaftliche Nutz­flächen Im Wesentlichen können vier verschiedene Gruppen von Stakeholdern unterschieden werden: 63 „„ Investoren, auch ausländische Regierungen, und An­ leger in Fonds mit entsprechender Ausrichtung, „„ Regierungen und staatliche Institutionen der Länder, in denen die Direktinvestition stattfinden soll, „„ die Zivilgesellschaft, insbesondere die Nicht­regie­ rungsorganisationen (Non Governmental Organisations, NGOs), die sich für die Interessen der ländlichen Be­ völkerung und der ärmsten Bevölkerungsgruppen einsetzen, „„ schließlich die internationalen Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit Alle Stakeholder sollten sich zwei Zielen verpflichtet fühlen: Der Erreichung oder Erhaltung der Ernährungs­ sicherheit sowie der nachhaltigen Entwicklung, die im Agrarbereich insbesondere durch standortgerechten und ökologisch orientierten Landbau erreicht werden kann. Weitere Kriterien für Stakeholder werden im Folgenden beschrieben. So sollten sich Investoren nur dann engagieren, wenn sie das Know-how und die Kapazität haben, Agrarprojekte in dieser Größenordnung in dem betreffenden Land sachgerecht zu bewältigen. Investoren sollten in Regionen und Ländern nicht tätig werden, in denen die Ernährungssicherheit oder die Einhaltung der Menschenrechte nicht gewährleistet ist. Die traditionellen Eigentums- und Nutzungsrechte der einheimischen Bevölkerung dürfen durch Kauf oder Pacht von Land durch die Investoren nicht zerstört werden. In vielen Fällen wird eine Investition an diesem Kriterium scheitern oder nur möglich sein, wenn die Investoren der einheimischen Bevölkerung und nicht nur den 63 Lorenzo Cotula/Sonja Vermeulen/Rebeca Leonard/James Keeley, a.a.O., S.102 ff.

Eliten dauerhafte und gesicherte Partizipationsrechte einräumen. Investoren sollten nicht nur die eigenen Kosten und den Nutzen des Vorhabens kennen, sondern auch größtmögliche Transparenz über die Vorteile und Belastungen in der betreffenden Region herstellen. Wichtige Fragen sind unter anderem, wie das Vorhaben die Zahl und Struktur der Arbeitsplätze in der Region beeinflusst, ob es Beiträge zur Weiterentwicklung der Infrastruktur leistet und in wie weit es die natürlichen Ressourcen der Region – vor allem die Wasserressourcen – beeinflusst. Entscheidend ist auch die Frage, ob das Vorhaben das Angebot der lokal erzeugten landwirtschaftlichen Pro­dukte, insbesondere Grundnahrungsmittel, und damit auch die Preise in der Region verändert. Anlegergruppen müssen über geeignete Kontroll­institu­ tionen sicherstellen, dass in allen Einzelprojekten, in die der jeweilige Fonds investiert, die vorgenannten Krite­ rien eingehalten werden. Regierungen und staatliche Institutionen der Länder, in denen die ausländischen Direktinvestitionen stattfinden, haben eine besondere Verantwortung sicherzustellen, dass die Bedürfnisse einer Volkswirtschaft insgesamt, vor allem aber der durch die Investition betroffenen Bevölkerung beachtet werden. Grundlegend hierbei ist die Beteiligung der Be­ troffenen zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen noch offenstehen, die Ablehnung des Vorhabens, nicht nur die Möglichkeit einer eventuell geringfügigen Modifikation, mit eingenommen. Wenn ein Geschäft zustande kommen soll, muss die Zustimmung der Be­ troffenen im Voraus, freiwillig und auf Basis umfassender Informationen erfolgen.64 Regierungen sollten für jedes Einzelvorhaben dieser Art eine Abschätzung der voraussichtlichen ökologischen und sozialen Folgen und der damit verbundenen Risiken vornehmen. Nach ökologischer Sicht ist dabei eine nach­ haltige Bewirtschaftung der Böden und der Wasser­ ressourcen von entscheidender Bedeutung. Aus der sozialen Perspektive muss geklärt werden, wie das Vorhaben die Beschäftigungsmöglichkeiten der Bevöl­kerung und 64 Ebd., S. 105.

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die lokale Versorgung mit landwirtschaftlichen Pro­duk­ ten beeinflusst. Regierungen sollten daher einen Gesamtplan entwickeln, welche Art ausländischer Direktinvestitionen sie in ihr Land holen wollen. Im Agrarbereich können Inves­t itionen dieser Art nur im Rahmen einer langfristigen Entwicklungsstrategie für den ländlichen Raum sinnvoll sein und nicht als jeweilige „ad-hoc-Entscheidung“ über einzelne Vorhaben. In einer solchen Stra­ tegie müssen auch Überlegungen angestellt werden, wie die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital in der Volkswirtschaft insgesamt weiter entwickelt werden sollen und wie das Naturkapital des Landes dauerhaft gesichert werden kann. Regierungen sollten Instru­mente entwickeln, um Käufe, die nur spekulativen Zwecken dienen, zu verhindern. So können hohe Boden­steuern etabliert werden, wenn Land brach liegt. Ebenso könnte auf diese verzichtet werden, wenn Land im Rahmen eines vor der Investition vereinbarten Nutzungsplans bewirtschaftet wird. Für den Fall, dass erworbenes Land nicht bewirtschaftet wird, könnte sogar ein „Rückfall“ in staatliches Eigentum zur Bedingung gemacht werden. In vielen Ländern des Südens muss die Frage der Rege­ lung von Besitzrechtsstrukturen aufgrund historisch entstandener Eigentumsverhältnisse und Bewirt­schaf­ tungsformen sorgfältig und teilweise erstmals kodifiziert werden. Dies ist vor allem in Regionen erfor­­der­lich, in denen Landbesitz in unter­schiedlichen Formen des Gemeineigentums liegt, die bislang nicht formell geregelt sind bzw. nicht in Formen, die ohne Weiteres anschlussfähig an westliche Rechtsregelungen des Privat­ eigentums an Grund und Boden sind. Solche Regelungen sind jedoch Grundvoraussetzung dafür, dass Gruppen, die sich an traditionellen Rechtsvor­stellungen orientieren, bei Besitzübertragungen von Land zu ihrem Recht verholfen werden kann. Hier müssen teilweise neue Formen der Rechtssicherung von Gemeingütern für Kollektive geschaffen werden. NGOs, die sich für die Interessen der ländlichen Bevöl­ ke­rung und der ärmsten Bevölkerungsgruppen einsetzen, haben nicht nur die Aufgabe, in den konkreten

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Fällen Lobbyarbeit zur Sicherung dieser Rechte zu übernehmen durch Öffentlichkeitsarbeit, Beratung, Rechts­ beistand für Betroffene und Bildungsarbeit. Insgesamt können NGOs einen wertvollen Beitrag leisten, wenn sie die Überprüfbarkeit der ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen ausländischer Direktinvestitionen im Agrarbereich durch die Öffentlichkeit einfordern und sich am Monitoring kontinuierlich beteiligen. Mit Transparenz allein ist es jedoch noch nicht getan: NGOs müssen befähigt werden, Antworten auf berechtigte Fragen zu bekommen und die Beseitigung von Miss­ ständen einfordern zu können, auch, indem man ihnen in wichtigen Punkten ein Klagerecht einräumt. Internationale Organisationen der Entwicklungszu­ sammenarbeit können dazu beitragen, die Position der NGOs vor Ort zu stärken. Sie können aber auch in den Ländern, in denen der Hauptsitz der Investoren liegt, versuchen, Einfluss zu nehmen, um den Beitrag der Projekte zur nachhaltigen Entwicklung zu steigern. Auch in diesem Feld scheint der Weg zu einer internationalen Standardisierung von Minimalanforderungen gangbar: Derzeit läuft ein Verhandlungsprozess, um in einem ersten Schritt freiwillige Standards zu vereinbaren, die ihren wichtigsten Bezugspunkt in der Er­näh­ rungssicherung haben. Das UN Comittee on World Food Security (CFS) hat die Fortsetzung der Verhand­ lungen über „Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in the Context of National Food Security“ organisiert; 65 nachdem im letzten Jahr ein Zero Draft dieser Richtlinien entworfen worden war, ist im März 2012 der Final Draft formuliert worden.66 In diesem Doku­ ment werden die Lebensbedingungen der ärmsten und von Veränderungen gefährdeten Bevölkerungsgruppen und der Erhalt des Naturkapitals für künftige Gene­ rationen ins Zentrum gestellt Die einzelnen Bestim­ mungen erfüllen die hier dargestellten Kriterien zu ei65 Diese Verhandlungen fanden vom 5. bis 9. März 2012 in der Food and Agricultural Organization (FAO) in Rom statt. 66 Food and Agricultural Organization (Hrsg.): Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in the Context of National Food Security, Rom 2012, http://www.fao.org/fileadmin/user_ upload!nr!land_tenure/pdfNG_en_ Finai_March_2012.pdf

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nem großen Teil. Doch durch die starke Betonung der Freiwilligkeit der geplanten Standards ist derzeit völlig unsicher, welche Bindungskraft sie entfalten können und vor allem: in welcher Zeit. Boden als Gemeingut Die derzeitige internationale Politik ist, wie durch die Kriterien im letzten Abschnitt deutlich wurde, sehr weit davon entfernt, einen Standard für ausländische Direktinvestitionen verbindlich zu verabschieden, um danach die Staatengemeinschaft aufzufordern, diesen Standard zu ratifizieren und in nationales Recht zu übertragen. Die genannten Kriterien werden daher in den verschiedenen Ländern, in denen solche Inves­ti­ tionen stattfinden, in sehr unterschiedlichem Maß berücksichtigt. Sehr viele Geschäfte sind abgeschlossen worden, die, gemessen an diesen Kriterien, fragwürdig sind oder nicht hätten begonnen werden dürfen. Wie bereits oben betont, gibt es eine sehr viel weitergehende Position, wonach solche Geschäfte generell nicht stattfinden sollten. Jede Ausnahme wäre im Einzelfall sehr sorgfältig zu begründen. Danach wird der Privatbesitz an Grund und Boden weitgehend abgelehnt. Städte und Gemeinden sollten möglichst viel Grund­besitz erhalten beziehungsweise wieder neu erwerben und dann Nutzungsrechte an Land nur in Pacht oder Erbpacht, gegebenenfalls auch in Form von Erb­ baurechten, mit jeweils angepassten Auflagen vergeben. Die Vergabe sollte dabei immer so vonstatten gehen, dass die Nutzungsrechte der lokalen Bevölkerung Vor­ rang haben. Grund und Boden sollten hier generell aus dem Handel und damit auch aus der Spekulation herausgenommen werden. Interessant dabei ist, dass diese Grundhaltung schon vor weit über einhundert Jahren in der sogenannten Bodenreformbewegung präsent war. Schon damals waren die wesentlichen Begründungen und auch die politischen Instrumente in einer Weise ausformuliert, die heute noch aktuell sind. Judith Baumgartner hat herausgearbeitet, dass Adolf Damaschke, eine der Leitfiguren des Bundes Deutscher Bodenreformer, schon 1899 anprangerte, dass in Kamerun Kolonialgesellschaften riesi-

ge Landgebiete zu Bedingungen überlassen wurden, die ausschließlich den Aktionären der Gesellschaft Vorteile boten und nicht der lokalen Bevölkerung.67 Für Adolf Damaschke war Bodenreform die Grundlage eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Kom­ mu­n ismus,68 eine mögliche Synthese zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Dieses Pro­ gramm lässt sich für Damaschke natürlich nicht allein durch eine Bodenreform erfüllen, sondern erfordert weitere, grundlegende Reformen, etwa des Geld- und Finanzwesens, da Damaschke Spekulation generell als einen der Hauptgründe einer ungerechten Wirtschafts­ ordnung begreift. Die Beschreibung zentraler Probleme einer Wirtschaftsordnung, die auf dem Privatbesitz von Grund und Boden beruht, kann aus den Texten Damaschkes durchaus auf das Phänomen des Land­ grabbing übertragen werden. Die Lösung wird darin gesehen, „den Gebrauch des Bodens als Wohn- und Werkstätte [zu] befördern“ 69; jeder Missbrauch soll ausgeschlossen werden. Als Missbrauch betrachtet er vor allem Bodenspekulation jeder Art. Auch die Wertstei­ gerung, „die der Boden ohne die Arbeit des Einzelnen erfährt“ 70, soll dem „Volksganzen“ nutzbar gemacht werden. Dazu schlägt er vor, eine Grundrente einzuführen, die im Idealfall so bemessen ist, dass alle anderen Steuern entbehrlich werden. 71 In dieser Hinsicht übernimmt Damaschke den Grundgedanken der single tax von Henry George, der als Begründer der internationalen Bodenwertsteuerbewegung gilt. 72

67 Judith Baumgartner: Erbau Dein Haus auf freiem Grund! Bodenreform und Siedlungsidee, in: Klaus Hugler/Hans Diefenbacher (Hrsg.): Adolf Damaschke und Henry George. Ansätze zu einer Theorie und Politik der Bodenreform, Marburg 2005, S.152, S. 139-155. 68 Adolf Damaschke: Die Bodenreform, 15. Aufl., Berlin 1918, S. xii. 69 Ebd., S. 78. 70 Adolf Damaschke: Geschichte der Nationalökonomie, 14. Aufl., Bd. II, Jena 1929, S. 439. 71 Ebd., S. 445. 72 Henry George: Progress and Poverty, San Francisco 1879, deutsch unter dem Titel Fortschritt und Armut, 6. Aufl. Jena 1920.

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Die Betrachtung von Boden als Gemeingut würde Land­grabbing jedenfalls in Form von Landverkäufen ausschließen. Pachtverträge wären unter bestimmten, sehr strikten Bedingungen denkbar, wenn der Vertrag von den Institutionen des lokalen Gemeinwesens ausgegeben wird, deren Angehörige den Boden bislang bewirtschaftet haben. Außerdem müssten die Erträge aus Wertsteigerungen des Bodens in vollem Umfang dem Gemeinwesen zugutekommen, etwa durch die Erhe­ bung einer Bodenwertsteuer. Schließlich sollten Pacht­ verträge nur für wenige Jahre, keinesfalls für Jahrzehnte abgeschlossen werden. Diese Bedingungen sind noch einmal sehr viel restriktiver als der Katalog der Positivoder Negativkriterien der ersten Variante. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die internationale Staatengemeinschaft in absehbarer Zeit der zuletzt beschriebenen „utopischen Variante“ anschließt. Dennoch sollte diese bei den künftigen internationalen Verhandlungen über mögliche Regelungen ausländischer Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutz­ flächen als mögliche Alternative nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Verabschiedung des oben erwähnten Final Draft der „Voluntary Guidelines and the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in the Context of National Food Security“ und deren umfassende Anwendung wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

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Reisanbau, Bangladesch. Foto: Christof Krackhardt

6. Landwirtschaft. Ein Thema der Kirche Clemens Dirscherl Entnommen aus: Kirchliches Jahrbuch für die EKD 2006, Lieferung 2, Gütersloh 2011, S. 66-72

3.3.  Umgang mit dem täglich Brot: Ernährungsethik und Ernährungs­ souveränität Im Ökumenischen Agrarwort von 2003 erfolgte erstmals von Seiten der evangelischen Kirche der deutliche Hinweis, dass eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Landwirtschaft eine angemessene Wert­ schätzung von Lebensmitteln durch die Ver­braucher sei. Eine „neue Kultur bewusster Ernährung und aufmerksamer Essenszubereitung“ wurde als Beitrag zur Achtung vor der Schöpfung und zur eigenen Gesundheit gefordert. Ausdrücklich wurde zu den ethischen Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft der Beitrag einer neuen Ernährungsethik dargelegt (Ziffer 69–72) und die Erfordernis von „Verbrauch­erverantwortung und Lebens­ stilwandel“ (Ziffer 102–108) angemahnt. Dabei solle es nicht nur um Verzicht als solchen in Form von Askese gehen, sondern um ein neues Qualitäts­be­w usst­sein, um als Verbraucher an einer aktiven Mitgestaltung der landwirtschaftlichen Zukunft beizutragen. Der Wandel der Ernährungskultur wurde von kirchlicher Seite seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder sowohl aus zivilisationskritischer Perspektive wie auch

entwicklungspolitischer Sicht thematisiert. Grund­sätz­ lich wurde dabei unter dem Blickwinkel „der Mensch ist, was er isst“ reflektiert, dass Ernährung mehr als Essen, nämlich die physiologische Sättigung des Körpers mit Kalorien sei,73 sondern Ausdruck eines spezifischen Beziehungsgeflechts zwischen landwirtschaftlicher Er­ zeuger­seite und Verbrauchern darstellt.74 Hintergrund hierzu waren die immer größer gewordenen Be-, Ver­a rbeitungs- und Handelsstrukturen in der Ernährungs­w irtschaft, welche zu einer Kluft zwischen Land­w irt­schaft und Verbrauchern geführt hatten. Unter dem Reizwort der „lila Kühe“ wurde offenbar, dass immer mehr gerade jüngere Menschen nur noch sehr ungenaue Vorstellungen davon haben, wo Milch, Brot, Fleisch, Eier, Honig, Gemüse und Obst herkommen und wie diese Lebensmittel erzeugt werden. Um diese Ent­ frem­dung zu überwinden und die Verbindung zwischen Produzenten und Konsumenten zu verbessern, wurden immer wieder Initiativen für die regionale Ver­marktung landwirtschaftlicher Produkte angestoßen. Das Wissen um das täglich Brot, seine Entste­hungs­­ge­schichte und die Schwierigkeiten seiner Erzeu­gung sollte dadurch thematisiert werden.75 Damit wurde der Blick der klassischen gesundheitlichen Sicht auf das Thema Ernäh­ rung ausgeweitet, denn bei traditionellen Ernährungs­ 73 Vgl. Kirche im ländlichen Raum 44 (1993), Heft 4: Ernährung – mehr als Essen. 74 Vgl. Kirche im ländlichen Raum 43 (1992), Heft 1: Erzeuger und Verbraucher zwischen Supermarkt und Direktvermarktung. 75 Clemens Dirscherl: Ernährungsethik zwischen Verbraucherschizophrenie und Kundensouveränität, in: Agra-Europe: Länderberichte 45 /2004).

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empfehlungen geht es um Nähr­wert und Inhaltsstoffe der Lebensmittel, kaum aber um die Her­kunft (aus der Region, Deutschland, Europa oder Über­see), die Erzeu­ gungsweise (z.B. An­bau im Freiland oder Treibhaus, konventioneller oder ökologischer An­bau), Transport­wege (aus der Umgebung, über Bahn, Schiff, Flugzeug oder LKW) oder Verpackung. Die zunehmende Umwelt­be­ lastung, der enorme Energie­ver­brauch mit seinen klima­ verändernden Folgen sowie die globalen Ungerech­tig­ keiten wie Armut, Hunger und Land­losig­keit in Ländern der Dritten Welt stellen die Ver­bindung einer nachhaltigen Lebensweise des Ein­kaufs- und Er­näh­rungs­ver­hal­ tens in seinen Wechsel­w irkungen mit ökologischen, sozialkulturellen, ökonomischen und politischen Aspekten her. Am Ende der vielfältigen Ver­­knüpfungen steht der Verbraucher, der mit seiner Kauf­entscheidung beeinflusst, welche ökologischen und sozialen Effekte Lebens­ mitteln zuzuschreiben sind und welche Pro­dukte sich durchsetzen. Eine Ernährungs­ethik als Bei­t rag zu neuer Kunden­souve­ränität wurde damit zunehmend von Nichtregierungs­organisationen aus dem umwelt- und ent­w icklungspolitischen Bereich, aber auch aus kirchlichen Kreisen gefordert.76

billig, ausschließlich egoistisch motiviert bei seinem Konsum verhält (Rabattschlachten, Schnäppchen­­­ jagd, etc.). Es fehlt also bei Verbrauchern eine Orien­ tierung für „Preiswertigkeit“. Der Preis als alleiniger Orientierungsmaßstab wird hinterfragt – deshalb „Ethik des Konsums“ bzw. „Verbraucherethik“ (…). Für eine „neue Ethik des Konsums“ ist insbesondere auch das Ein­kaufs- und Ernährungsverhalten aus christ­ licher Sicht bedeutsam. Die Bitte um das „täglich Brot“ im Vater unser lässt eine besondere Verantwortung für die Brot­ her­ stel­ lung, den eigenen Brotgebrauch und die Zu­ sam­ men­ hänge der Brotverteilung gegenüber den Nächsten in den Blick rücken. Darüber hinaus sind schöpfungstheologische Zusammenhänge mit der Er­zeu­g ungsgrundlage des täglich Brot verbunden, wobei Brot stellvertretend für alle Lebensmittel steht. Von daher ist auch der Bezug von Lebensmitteln als Mittel zum Leben im Unterschied zu Nahrungsmitteln zur reinen physiologischen Sätti­g ung des Körpers mit Kalorien zu unterscheiden, weswe­gen eine besondere Werte­be­g ründung für das Ernäh ­r ungs­­verhalten aus christlicher Sicht über die aus­schließ­liche materielle Begründung (satt, billig und viel) hinausweist.

Dabei wurde deutlich, dass im alltäglichen Konsum­ verhalten immer wieder eine Diskrepanz zwischen geäußerten Präferenzen und dem praktischen Verhalten offen zu Tage traten: ob dies die in Meinungsumfragen bekundete Zustimmung der Verbraucherschaft zu Öko­ landbau, regionalen Lebensmitteln, Eiern aus Frei­ land­­haltung oder Produkten aus fairem Handel war oder die Bevorzugung von Lebensmitteln direkt vom Bauern, jedes Mal zeigte sich in konkreten Markt­ analysen, dass der Preis mehrheitlich das entscheidende Einkaufskriterium bei Lebensmitteln ist.77 Forderungen nach einer „neuen Verbraucherethik“ setzen daher auf einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel, zu dem u.a. die wahrhaftige Einsicht gehört, (…) dass der Verbraucher sich maßlos, verschwendungs­ süchtig,

Verbraucher sind in der modernen Konsumgesellschaft durch die Vielzahl und Vielfalt an Waren- und Dienst­ leistungen und die damit verbundenen Sachin­for­ma­t io­ nen und Werbebotschaften einschließlich widersprechender Kommentierungen irritiert und überfordert. Daraus ergibt sich aus einem Gefühl der Ohnmacht eine „Gleich-Gültigkeit“, so dass die Waren- und Diens­ t­ leistungen unabhängig von ihrer qualitativen Be­ schaffen­heit, Herkunft, etc. für den Nutzen des Ver­ brauchers als „gleich-gültig“ wahrgenommen werden. Diese „Gleich-Gültigkeit“ ist nicht nur Ausdruck von Desinteresse an einer ethischen Begründung für die Auswahl, sondern eine Bewältigungsstrategie, um einer eigenen ethischen Begründung entgehen zu können. Diese wird an andere Kompetenzstellen delegiert (…). Sobald diese Kompetenzstellen (zuständig, sachkundig und maßgebend) Schwächen aufweisen, müssen sie sich darum bemühen, gegenüber den Verbrauch­ ern ihre ethische Legitimationsinstanz zu behaupten (Rückrufaktionen, Qualitätssicherungssysteme, „noch billiger“ oder „öko fair“).

76 Clemens Dirscherl, Markus Vogt: Ernährungsethik: Ein Beitrag zu neuer Kundensouveränität, in: B. van Saan-Klein / C. Dirscherl / M. Vogt, „es soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68), 73-77. 77 Vgl. Clemens Dirscherl: Ernährungsethik (wie Anm. 94).

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Entwicklung der Lebensmittelpreise in Relation zur Arbeitszeit 1970

Arbeitszeit in Minuten für

2009

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1 kg Rindfleisch zum Kochen

28

96

1 kg Schweinekotelett

23

16

1 kg dunkles Mischbrot

11

22

10 Eier

5

22

250 g Butter

3

6

1 kg Kartoffeln

3

9

1 l Milch

3

(Quelle: DBV nach Angaben des Statistischen Bundesamtes)

Unsere komplexe Lebenswirklichkeit ist Fakt. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen prag­ma­t ischem Verbraucherverhalten (Zeit, Geld, Informations­ ü ber­ druss, Bequemlichkeit) und einer Verbraucherethik (…). Eine Ethikdiskussion des Konsums ist eine grundsätzliche Frage nach der Lebensqualität (…). Der Bezug zur individuellen Menschenwürde weist zu einer Ant­ wort auf die Frage: Was bin ich mir als Mensch wert ? (Habe ich billig für mich, meine Familie, meine Gäste nötig?) Daraus ergibt sich erst eine Kundensouveränität, die losgelöst von rein pekuniären Kriterien (billig) oder Werbebotschaften (bunt) selbstbestimmt, genussorientiert und damit subjektiv begründet auswählt, entscheidet und verbraucht, woraus sich ein reflektiertes Selbst­bewusstsein als Verbraucher entwickeln kann. Eine Ethik des Konsums erweitert den Horizont der Menschenwürde über den individuellen Bezugsrahmen hinaus, auch in Verantwortung für die Menschenwürde anderer. Konkret wird die eigene Entscheidung für den Konsum in seinen Folgewirkungen in einem räumlichen Verantwortungshorizont (lokal, regional, national, global) sowie in einem zeitlichen Verantwor­tungs­ horizont (die Tradition der Vorväter, hier und heute, die nachfolgende Generation) gestellt, was mit dem Leitbild der Nach­haltigkeit verbunden wird.

Eine Ethik des Konsums fragt nach konkreten Leit­ bildern: 1. Was ist ein problematischer Konsum? 2. Welcher Handlungsoptionen gibt es für mich alternativ? 3. Nach welchen Werten richte ich meine Ver­brauch­ er­entscheidung aus? 4. Wo ergeben sich Zielkonflikte für mich? 5. Wie bewerte ich grundsätzlich die Handlungs­ alternativen und wie entscheide ich mich unter einem konkreten situativen Kontext unter Umständen auch anders als es meiner Werteorientierung entsprechen würde. Eine Ethik nachhaltigen Konsums bringt auch für den Verbraucher subjektive Vorteile. Er ist nicht mehr fremdbestimmt als rein konsumorientierter Verbraucher, sondern ein selbstbestimmter, kundiger Kunde, der begründet und wissend sich entschieden hat. Aufgrund dieses Entscheidungsprozesses über sein eigenes Kon­

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sum­leit­bild folgt nicht nur eine Wissensschärfung, sondern auch eine Gewissensschärfung. Daraus entspringt die Chance von Solidarerfahrung (gutes Gefühl der Ge­ meinschaft), im Dienste einer guten Sache (Gesund­heit, Umwelt, Entwicklungsländer, Landschaft, Ästhe­t ik, regionale Wirt­schaftskreisläufe, soziale Fairness, heimische Land­w irtschaft) für die man sich einsetzt. Inner­ halb des Konsums kann aus sinnstiftendem Handeln die persönliche Identität gestärkt werden (Selbst­verge­ wisserung).78 Von dem Widerspruch zwischen ethisch gegründetem Verbraucherbewusstsein und ethisch begründetem prak­­­tischem Verbraucherverhalten sind auch die Kirchen ganz konkret betroffen. Darauf hinzuweisen ist immer wieder Aufgabe, wenn es um kirchliche Beiträge für eine nachhaltige Landwirtschaft geht: Die Kirchen wissen um die Gefährdung der Schöpfung, von Mensch und Natur. Sie verfassen Denkschriften zu Umwelt-, Entwicklungs- und Agrarpolitik (…). Kirch­ liches Handeln tritt aber viel zu oft auf der Stelle. Denk­ schriften, Synodenbeschlüsse und Speisepläne kirch­ licher Einrichtungen haben mit wenigen Ausnahmen nichts miteinander zu tun. Entwicklungs-, agrar- und um­weltpolitische Forderungen oder Empfehlungen bleiben Lippenbekenntnisse. Der „kirchliche Bauch“ part­ i­zipiert am weltweiten TischleindeckDich der Agrar­ in­­dustrie mit all den verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Ausschließlich orientiert an betriebswirtschaftlicher Kos­­ tensenkung, dem Einsparen im Küchenbereich, bleibt kirchliche Einkaufspraxis „parasitär“: sie zieht Ge­w inn aus Preisen, die nicht die Wahrheit sagen, weil Umwelt- und Sozialkosten nicht enthalten sind und beteiligt sich so an der Ausplünderung und Vergiftung 78 Clemens Dirscherl: Elf Thesen für eine Ethik des Konsums. Unveröffentlichtes Manuskript anlässlich der Fachtagung „Der Verbraucher – das unbekannte Wesen“ des Ausschusses Dienste auf dem Lande in der EKD (ADL), Katholische Landvolkbewegung (KLB), dem Hauptverband des Lebensmitteleinzelhandels (HDE) und dem Bundesverband der Deutschen Ernährungswirtschaft (BVE) am 29. September 2006 in Berlin.

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der Schöpfung (…). So unterscheiden sich die meisten der kirchlichen Küchen in keiner Weise von der Ein­ kaufs- und Zu­be­reitungspraxis der übrigen Kantinen in der Bundes­re­publik. Der Blick auf Speiseplan oder Ein­ kaufszettel verrät nicht die christliche Orientierung (…). Der an Personalsituation, überkommenen Ess­ge­ wohn­heiten und vor allem am zustehenden Finanz­ rahmen orientierte Einkauf hat seinen Preis (…). Dabei hätte Kirche mit ihren EKD-weit ca. 1.600 Großküchen in Krankenhäusern, Heimen und Tagungsstätten, Ferien­­­dörfern, Kinder­tagungsstätten und Verwaltungs­ kan­ t inen bundesweit eine beachtliche Marktmacht. Bei der Annahme, dass in diesen Einrichtungen durchschnittlich täglich 250 Essen ausgegeben werden (…) und bei einem so genannten Rohverpflegungssatz von ca. 2,50 Euro beläuft sich das tägliche Lebensmittel­ein­ kaufs­volu­men dieser Küchen auf etwa 1 Mio Euro. Dies wären EKD-weit ca. 350 Mio pro Jahr! (…) Kirchen könnten so bei einer flächendeckenden ökologischen Ein­kaufs­politik ein gewichtiger Markt- und Machtfaktor im Lebensmittel­bereich werden. Sie könnten mit regionalem Einkauf sehr viele bäuerliche Familienbetriebe erhalten.79 Dass das täglich Brot nicht nur in unmittelbarer Ernäh­ rungsweise das christliche Handeln berührt, sondern auch in globaler Dimension, wird zunächst über die sozialdiakonische Handlungsebene der evangelischen Ent­w icklungszusammenarbeit wie dem Hilfswerk Brot für die Welt deutlich. Darüber hinaus aber auch in agrarpolitischen Beiträgen, welche den Bezug zu den internationalen Agrarmärkten aufzeigen. Dabei wies man im Hinblick auf die internationale Verteilungs­gerech­t ig­ keit schon zeitig auf die Erkenntnis hin, „dass eine Ver­ änderung des Lebensstils der 1,4 Milliar­den Menschen, die heute der globalen Mittelschicht angehören unumgänglich ist“.80

79 Jobst Kraus: Zwischen Denkschrift, Speisezettel und Marktmacht, in: B. van Saan-Klein / C. Dirscherl / M. Vogt, „es soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68), 86-89. 80 Wie viele Menschen trägt die Erde? Ethische Überlegungen zum Wachstum der Weltbevölkerung. Studie der Kammer der EKD für Kirchlichen Entwicklungsdienst (EKD-Texte 49), o.O.o.J. (Hannover 1994), 17.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Immer stärker rücken aus wirtschafts-, agrar-, handelsund klimapolitischer Sicht die Weltagrarbeziehungen in den Vordergrund, wobei der Fokus auch auf die Frage gerichtet ist, inwiefern die Landwirtschaft der Industrie­länder an der existenzbedrohlichen Situation der Ent­w icklungsländer mitschuldig ist.81 Insbesondere die Aus­ w irkungen der EU-Agrarexportsubventionen auf die Landwirtschaft der Entwicklungsländer wurde durch kirchliche Initiativen immer wieder auch anhand von empirischen Studien kritisch hinterfragt:82 ob Entwicklungsländer als Ventil für die Überschuss­pro­ duktion der Agrarsektoren des Nordens dienten und damit die Landwirte in der Dritten Welt zunehmend von den heimischen Märkten verdrängten, wie es auch in der EKD-Agrardenkschrift von 1984 und im Ökume­ nischen Agrarwort 2003 problematisiert wurde. Auf fehlende politische Kohärenz und Interessenskonflikte bei der Zielerreichung von Welternährungssicherung, Forderungen nach Förderung der Landwirtschaft in den Industrieländern und der propagierten Liberalisierung des weltweiten Agrarhandels weist aus entwicklungspolitischer Sicht auch eine Studie der EKD-Kammer für Entwicklung und Umwelt hin.83 Das Leitbild einer nach­haltigen Landwirtschaft wird dabei unter der vorrangigen Option für Schwache und Arme im weltweiten Beziehungsgeflecht diskutiert. Die Verantwortung des täglich Brot steht unter dem Stichwort der „Ernäh­ rungssicherung“ mit der Zielvorgabe der „Anfachung der landwirtschaftlichen Produktion“, „Sicherheit bestimmter gefährdeter Gruppen“, „einer armutsorientierten, zielgruppengerechten Agrar- und Ernährungs­ po­litik“, sowie „Umwelt- und Ressourcenschutz“.84 In

81 Vgl. Kirche im ländlichen Raum 42 (1991), H. 2: Hunger und Handel. 82 Bernhard Walter: Die Auswirkungen der EU-Agrarexport­ subventionen auf die Landwirtschaft der Entwicklungsländer am Beispiel der Getreideexporte nach Afrika. Eine Studie der Fachstelle Entwicklungspolitische Bildungsarbeit auf dem Lande in der EKD (epd- Entwicklungspolitik, Materialien 1), Frankfurt/M. 1994. 83 Ernährungssicherung und nachhaltige Entwicklung. Eine Studie der Kammer für Entwicklung und Umwelt (EKD-Texte 67), Hannover 2000. 84 Ebenda, 14f.

diesem Zusammenhang wird die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft weltweit als gefährdet gesehen durch den Verlust von Regionalität und biologischerVielfalt und dem Vorwärtsdrängen der Gentechnik in die Landwirtschaft. Demgegenüber wird ein Gegen­ entwurf zu einer nachhaltigen Strategie der globalen Ernährungs­sicherung im Leitbild eines „standortgerech­ ten Land­baus“ beschrieben: Das Grundprinzip des „standortgerechten Landbaus“ ist die geschickte und möglichst effiziente Nutzung der lokalen Bedingungen des Betriebes. Dazu gehört neben dem Management eines stabilen, kleinräumlichen Gleichgewichts von Nützlingen und Schädlingen auch die kleinräumliche optimale Anpassung der Kulturen und Pflanzensorten an die Böden, an das Kleinklima und an die Wasserverfügbarkeitsverhältnisse im Saison­ ablauf. Dazu gehört außerdem die Optimierung weitgehend geschlossener betrieblicher Kreisläufe – Kreisläufe zwischen den Kulturen, den Nutztieren und den Menschen (…). Dieser Entwicklungspfad ist besonders geeignet für die Überwindung der drei großen Vernachlässigungen der Grünen Revolution: „„ Die Vernachlässigung der gesamten Bandbreite der pflanzengenetischen Ressourcen, d.h. die Ausnutzung der Vielfalt der unterschiedlichsten Genotypen einer Kulturpflanze; „„ Die volle Nutzung auch der produktivitätssteigernden Kapazitäten von marginalen Anbaugebieten, die für den intensiven Bewässerungslandbau nicht geeignet sind und deren Kulturarten und Saatgutbedürfnisse von der Grünen Revolution weitgehend vernachlässigt worden sind; „„ Die Nutzung der unternehmerischen Fähigkeit auch auf marginalen Flächen, bei denen die Akteure als Subsistenz- oder Semi-Subsistenzlandwirte, als Pächter oder Nebenerwerbsbauern von dem technischen Fort­ schritt weitgehend ausgeschlossen wurden, weil sie nicht die Finanzierungsmöglichkeiten hatten, um die modernen Betriebsmittel zu kaufen (…).

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In dieser Landwirtschaft ist der Erzeuger selbst Haupt­ träger des Wissens, das auf das Gleichgewicht zwischen der Ertragssteigerung der Pflanzen und Tiere und den ökologischen, sozialen und ökonomischen Belangen abstellt.85

vanten Elemente der Agenda 21 – sollten auch für die WTO einen verbindlichen Rahmen darstellen.86 An die Kirchenverantwortlichen erfolgt entsprechend regelmäßig der Appell, in ihren agrar-, umwelt-, verbraucher- sowie entwicklungspolitischen Anliegen kohärenter zu werden, um „erstmalig wirklich in eine ernst­hafte Kontroverse einzusteigen und zu gemeinsamen Positionen zu finden, die auch theologisch begründbar sind“.87

Die Zukunft einer erfolgreichen Welternährungs­siche­ rung wird folglich in der politischen Stärkung von Regionalisierung und Dezentralisierung im Bereich der Landwirtschaft gesehen. Darauf richten sich dann auch die Forderungen an die politischen Adressaten: Die internationale Politik ist in diesem Zusammenhang aufgerufen, zu dieser Stärkung beizutragen (…). Vor diesem Hintergrund gibt es einen erheblichen Reform­ be­darf bei den internationalen Agrarbeziehungen. An­ statt eine weitere Liberalisierung im Agrarbereich vor­a n­zutreiben, bietet sich (…) die Chance einer grund­ legenden Reform der WTO. Die Stärkung der Stellung der Entwicklungsländer im Welthandelssystem, der Aufbau eines globalen, an Prinzipien der Gemein­nüt­ zig­keit orientierten Netzes zur Verbesserung der Ernäh­ rungssicherung (…) sind grundlegende Elemente einer solchen Reform. Insbesondere die multilateralen Umweltabkommen – etwa die Abkommen zur Artenvielfalt, zur biologischen Sicherheit, zum Artenschutz, zur Verhinderung der Wüstenbildung, zum Klimaschutz oder die umweltrele85 Ebenda, 41f.

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86

Ebenda, 59f.

87 Rudolf Buntzel-Cano: Wie die WTO unsere Landwirtschaft bestimmt, in: B. van Saan-Klein / C. Dirscherl / M. Vogt, „es soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68), 145-149.

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Brot für die Welt-Projekt Kenia: Der ewigen Dürre trotzen

Dorf in der Ukamba-Region im Osten Kenias. Die extreme Trockenheit der vergangenen Jahre hat ihre Situation noch verschlimmert. Ihre letzte nennenswerte Ernte holte die Familie im März 2009 ein. Wie insgesamt 3,7 Millionen Menschen in Kenia war sie daher im Jahr 2011 auf Hilfe angewiesen. Rettende Unterstützung

Frauen begießen Pflanzen, Kenia. Foto: Christoph Püschner

Unter der extremen Trockenheit in Ostafrika leiden Millionen Menschen. In Kenia lernen Kleinbauern­ familien, die Dürren mit besserer Wasserversorgung und angepasster Landwirtschaft leichter zu überstehen. Mutua Nganda, seine Frau Agnes und ihre neun Kinder gehören zu den Ärmsten der Armen in Kakili, einem

Die rettende Unterstützung kam von den „Ukamba Christian Community Services“ (UCCS), einer Orga­ nisa­tion der Anglikanischen Kirche Kenias, die zum Großteil von Brot für die Welt finanziert wird. Über den Aufbau von Selbsthilfegruppen professionalisiert und erweitert sie die traditionelle Nachbarschaftshilfe. „Ziel ist es vor allem, dem Boden langfristig höhere Erträge abzuringen“, erklärt der Projektverantwortliche Urbanus Mutua. Die Menschen in Kakili erhielten Saat­ gut für Pflanzen, die toleranter gegen Dürre sind. Außer­dem lernten sie, wie man Terrassen zur Wasser­ konservierung und zum Erosionsschutz der Felder anlegt. Als es Ende Oktober 2011 endlich ausgiebig reg­ nete, konnte auch Mutua Nganda Bohnen säen. Nun darf seine Familie darauf hoffen, dass die nächste Ernte besser ausfällt. Schlimme Dürre überlebt Der einzige Viehbesitz der Familie sind drei Ziegen, die ebenfalls von UCCS stammen. Auch dank der Proteine und des Fetts der Ziegenmilch hat die Familie von Mutua Nganda die schlimme Dürre des Jahres 2011 überlebt.

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Reispflanzerinnen, Laos. Foto: Jörg Böthling

7. Geschlechtergleichstellung und Ernährungssicherheit Olivier De Schutter Der folgende Text ist die Zusammenfassung eines aktuellen Berichts der FAO und der Asiatischen Entwickl­ ungsbank über die Bedeutung von Geschlechter­gleich­ stellung für die Ernährungssicherheit (Originaltitel: Gender Equality and Food Security, Women’s Em­ power­ment as a Tool against World Hunger). Autor ist Prof. Olivier De Schutter, UN Berichterstatter für das Recht auf Nahrung. Asian Development Bank 2013, ISBN 978-92-9254-171-2 (Print), 978-92-9254-172-9 (PDF), Zusammenfassung Carsta Neuenroth.

Zusammenfassung Die Publikation untersucht geschlechterbedingte Un­ gleich­heit, welche die Rolle von Frauen in Landwirtschaft und Nahrungsproduktion einschränkt und so Ernäh­ rungsunsicherheit erzeugt. Aktuelle globale Vergleiche zeigen, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Hunger und Geschlechterungleichheit gibt. Die am meisten von Hunger betroffenen Länder sind auch diejenigen, in denen Frauen am stärksten diskriminiert werden. Die aktuellen globalen Krisen, die Preis­stei­ge­ rungen bei Lebensmitteln, die Wirtschafts- und Finanz­ krise sowie die ökologische Krise verstärken zusätzlich Armut und Ungleichheit. Der Bericht spricht sich für Politikreformen zugunsten der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung

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nationaler Ernährungssicherungsstrategien aus und emp­ fiehlt hierfür Maßnahmen, durch die Geschlechter­dis­ kriminierung abgebaut und Frauen sozial, politisch und wirtschaftlich ermächtigt werden. Der Schwer­ punkt der Untersuchung liegt auf dem asiatischen und pazifischen Raum; auf Entwicklungen in anderen Regio­nen wird jedoch ebenfalls verwiesen. Weltweit sind Frauen und Mädchen mit vielen Un­ge­ rechtigkeiten und Zwängen konfrontiert. Diese sind häufig in Normen und Praktiken eingebettet und in gesetzlichen Bestimmungen kodifiziert. Einige Gesetze, etwa für den Zugang zu Land, enthalten ungerechte und ausschließende Bestimmungen und institutionalisieren auf diese Weise die Diskriminierung von Frauen. Außer­ dem haben häufig traditionelle Regeln und Prakti­ken restriktive Folgen für Frauen, indem sie ihren Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Land und Kredit einschränken, und sich so direkt auf Nahrungssicherung und Er­ nährung auswirken. Nicht nur Frauen und Mädchen sind direkte Leidtragende; auch die Mitglieder ihrer Haushalte und Gemeinden sind inter- und intragenerationell davon betroffen. Der Bericht beschreibt die Beziehung zwischen Ge­ schlechterdiskriminierung und den verschiedenen Zu­ gängen zu Nahrung sowohl für Haushalte als auch für Einzelpersonen. Er kommt zu dem Schluss, dass sich zwar Geschlechtergerechtigkeit und Ernährungs­sicher­ heit bedingen, die Gleichstellung von Mann und Frau aber in vielen Regionen ein schwer erreichbares Ziel bleibt. Eine Transformation der traditionellen Ge­schlech­ t­er­rollen ist deshalb dringend erforderlich, um Ernäh­

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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rungssicherheit zu gewährleisten. Eine solche Trans­for­ mation kann durch verbesserte Informationen über das Ausmaß von Ungleichheit und spezifischen Zwängen, denen Frauen ausgesetzt sind, gefördert werden. Es müssen darüber hinaus Strategien zur Gleich­stellung der Geschlechter und Ernährungssicherheit erarbeitet werden, die sich gegenseitig ergänzen und Synergien nutzen. Das transformative Element der An­sätze ist dabei ent­­scheidend, denn es reicht nicht aus, Frauen in ihrer Ar­beit zu entlasten und ihre weitgehend unterbewerteten Beiträge zur Hausarbeit und in der Pflege an­zu­ erkennen. Die Publikation betrachtet vier Bereiche, in denen Re­ formen durchgeführt werden müssen, um zu gewährleisten, dass Frauen und Mädchen als gleichberechtigte Akteurinnen Ernährungssicherheit fördern können: 1. Bessere Verfügbarkeit von Nahrung durch Erhö­ hung der Produktivität von Nahrungsmittel­pro­du­ zentinnen 2. Verbesserter Zugang zu Nahrung durch Bereit­stel­ lung von Arbeit für Frauen im ländlichen Raum unter annehmbaren Arbeitsbedingungen und bei akzeptablem Einkommen 3. Verbesserter Zugang zu Nahrung durch gendersensible soziale Sicherungssysteme 4. Verbesserte Gesundheit durch adäquate Ernährung, besonders auch von Kindern. Die Analyse des Berichts macht deutlich, wie sehr Dis­ kri­minierung und soziale Zwänge es Frauen erschweren, ihre wichtige Rolle in der Nahrungsmittelproduktion und -verarbeitung sowie bei der Vermarktung zu erfüllen. Der Kampf dagegen muss daher als eine wichtige Komponente im Vorgehen gegen Hunger und Mangel­ ernährung angesehen und behandelt werden. Ein solcher Ansatz ist machbar und kostengünstig, und er kann hocheffektiv sein. Die Kosten des Nicht-Handelns indes werden für die Gesellschaft beträchtlich sein. Der begrenzte Zugang von Frauen und Mädchen zu

Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten wirkt sich ebenfalls nachteilig auf die Ernährungssicherheit aus. Dadurch wird die wirtschaftliche Autonomie von Frauen eingeschränkt und ihre Verhandlungsposition innerhalb der Familie geschwächt. Frauen werden von häuslichen Entscheidungen ausgeschlossen und können sich nicht gegen Erziehungs- und Ernährungspraktiken wehren, die Jungen und Männer bevorzugen. Es ist mehr als guter Wille erforderlich, um Geschlechter­ ungerechtigkeit abzubauen. Gesetze gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung allein reichen nicht aus. Soziale und kulturelle Normen und daraus entstandene Geschlechterrollen müssen in Frage gestellt werden. „Empowerment“ / Ermächtigung von Frauen ist notwendig. Dies bedeutet Einbeziehung von Frauen in Entscheidungen auf allen Ebenen, einschließlich der eigenen vier Wände, der lokalen Gemeinschaften und der nationalen Parlamente. Die Ermächtigung von Frauen ist nicht nur ein vorrangiges Ziel an sich, sondern ein intrinsisches Menschenrecht, das bereits in Zusagen und Verpflichtungen von Regierungen als Rechtsgrundlage anerkannt wurde. Jede Gesellschaft braucht dringend die Ermächtigung und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen. Beides kann jedoch nur zum Tragen kommen, wenn sowohl Männer als auch Frauen die Be­deu­ tung und Vorteile von Geschlechtergleichstellung für die Gesellschaft anerkennen und damit auch die Not­ wen­ digkeit der Veränderung der aktuellen sozialen Struk­turen als Aufgabe angehen. Der Bericht zieht Schlussfolgerungen und gibt ausführliche Empfehlungen für Strategien und Maßnahmen, mit deren Hilfe die notwendigen Veränderungen befördert werden können. Zunächst sollte Geschlechter­dis­ kriminierung, besonders in Bezug auf Eigentums- und Erbrecht in der bestehenden Gesetzgebung identifiziert und abgebaut werden. Weitere Strategien auf nationaler Ebene müssen Geschlechtergerechtigkeit fördern, und die Gender-Perspektive muss in alle nationalen Ent­ wicklungsprojekte und andere Initiativen einfließen. Adäquate und erfolgreiche gender-sensible Ernährungs­ sicherungsstrategien sollten multisektoral ausgerichtet sein, d.h. Maßnahmen in verschiedenen Bereichen

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müssen zusammengeführt werden und sich gegenseitig ergänzen. Entscheidend sind Maßnahmen z.B. in den Bereichen Bildung, Landwirtschaft, Arbeit und Soziales. Der verbesserte Zugang von Frauen zu Märkten ist ein wichtiger Aspekt und ein gutes Beispiel für die Not­wen­ digkeit von Komplementarität: Infrastruktur (Straßen und Transport) müssen ausgebaut, Frauen ausgebildet und landwirtschaftliche Produktivität erhöht werden. Das erfordert Koordination und Kooperation zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen von Ministerien, Ab­ teilungen, Ämtern oder anderen Arbeitseinheiten.

Strategien Abstand zu nehmen zugunsten von „Bottomup“ und partizipativ angelegten Programmen. Diese Empfehlung geht über die Frage der Geschlechter­g leich­ stellung und der Ermächtigung von Frauen hinaus. Alle Armen kennen die Hindernisse, die sie überwinden müssen und sind in der Regel sehr innovativ bei der Suche nach Lösungen. Politische Entscheidungs­t räger/ innen, die arme Menschen einbeziehen, fällen Ent­ schei­dungen, die besser begründet und letztendlich erfolgreicher sind. So sollten auch gender-sensible Er­näh­ rungssicherungsstrategien auf allen Ebenen, vom Pro­ jekt auf Dorfebene bis zu den nationalen Strategien, partizipativ erarbeitet werden, d.h. dass sowohl Männer als auch Frauen einbezogen werden müssen. Männer müssen beteiligt sein, wenn Maßnahmen identifiziert werden, die die Gleichstellung und die Ermächtigung von Frauen betreffen. Nur so kann ihr Widerstand gegen Veränderung aufgefangen werden. Die Einbeziehung von Frauen ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit von Programmen und Strategien. Frauen müssen selbst entscheiden, welche Lösungen am besten für sie sind. Diese müssen ihren speziellen Bedürfnissen innerhalb der herrschenden kulturellen Normen entsprechen, sollten bestehende Geschlechterstereotype jedoch nicht verstärken. Das ist häufig ein Balanceakt.

Die Förderung von Frauenorganisationen in der Form von Vereinen, Kooperativen und Nichtregierungs­orga­ nisationen (NGO) zur Verbesserung der Ernährungs­ sicherheit ist eine weitere Empfehlung des Berichts. Organisation bringt Kleinbäuerinnen viele Vorteile, z.B. verbesserten Zugang zu Land und Krediten durch gemeinsam eingebrachte Sicherheiten. Der Einsatz von Krediten kann ebenfalls innerhalb der Organisation ent­schieden werden. Weiterhin mindert Organisation das Produktionsrisiko, wenn neues Saatgut erprobt wird, denn die Versuchsparzellen können innerhalb der Gemeinschaft verteilt und so mögliche Verluste aufgefangen werden. Lagerung, Verpackung, Transport und Vermarktung können gemeinsam in größerem Rahmen durchgeführt werden. Außerdem verbessert sich die Ver­handlungsmacht gegenüber Händlern und Aufkäu­ fern von Produkten. Organisation erleichtert zudem den Zugang zu Beratung und den Erfahrungsaustausch. Organisation und der gemeinsame Einsatz von Ressour­ cen stärkt außerdem die Verhandlungsmacht für günstige Beiträge gegenüber Versicherungsgesellschaften und damit die Einkommenssicherung. Das gilt für Orga­n i­sa­ tionen sowohl von Männern als auch von Frauen. Es sind jedoch die Frauenorganisationen, die die Gender-Wir­ kungen sozialer Programme einschätzen und evaluieren können. Ihre Stimmen müssen politische Entschei­ dungsprozesse beeinflussen können, sodass die Lebens­ ­umstände und Bedarfe von Frauen anerkannt und berücksichtig werden.

Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass die An­ liegen und Interessen von Männern auch die von Frauen sind. Gender-sensible Ernährungs­sicherungs­strategien müssen das berücksichtigen. Während Männer meistens eine landwirtschaftliche Produktion anstreben, die auf den Markt und die Erhöhung des Einkommens ausgerichtet ist, ist das bei Frauen nicht unbedingt der Fall. Ihr Ziel ist häufig die Versorgung der Familie mit selbst produzierten Produkten. Sie ziehen deshalb eine landwirtschaftliche Produktion vor, die auf lokalen Ressour­ cen basiert, das Produktionsrisiko gering hält, wenig Kapital erfordert und eine für Frauen passendere Orga­ nisation der Arbeit ermöglicht. Es ist wichtig, dass diese Bedürfnisse anerkannt, respektiert und durch entsprechende Unterstützung gefördert werden.

Der Bericht betont die Bedeutung partizipativer Ent­ scheidungsfindung. Er empfiehlt dringend, von „Topdown“ ausgerichteten und technokratisch bestimmten

Gender-sensible Ernährungssicherungsstrategien müssen längerfristig und in Phasen angelegt werden, wenn die gewünschten Veränderungen tatsächlich realisiert

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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werden sollen. Es geht um die Reduzierung von Ein­ schränkungen der Arbeitslast von Frauen, um die Aner­ kennung ihrer Arbeit in Haushalt und Pflege und um die Umverteilung dieser Verantwortlichkeiten. Rollen­ veränderung und Infragestellen von Gender-Stereotypen brauchen einen transformativen Ansatz, der die Maß­ nahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen nutzt, um bestehende soziale und kulturelle Normen zu hinterfragen. Es braucht Zeit, um eine tatsächlich veränderte Rollenverteilung und soziale Transformation zu erreichen. Deshalb muss diese späte Phase von Anfang an in der Strategieentwicklung mitgedacht werden. Ein rechtebasierter Ansatz, besonders die Frauenrechts­ konvention und das Recht auf Nahrung sollten die Erarbeitung gender-sensibler Ernährungsstrategien bestimmen. Rechtschaffenspflicht, Partizipation, NichtDiskriminierung, Transparenz bei der Nutzung von Ressourcen, Ermächtigung und Rechtsstaatlichkeit – Prinzipien, die für alle Menschenrechte gelten – sollten die Formulierung und Implementierung von Strategien, Programmen und Projekten leiten.

tion zugewiesen, als dies bei anderen Ethnien oder in der Mehrheitsgesellschaft der Fall ist. Solche kulturellen Unterschiede dürfen nicht ignoriert werden. Er­for­ derlich ist eine kontext-sensible Herangehensweise, die die Partizipation von Frauen an erste Stelle setzt und eigene Werte und Vorstellungen zurückstellt. Gleich­­ zeitig muss darauf geachtet werden, dass Frauen nicht einfach Ansichten und Vorlieben unreflektiert wiederholen, weil sie die vererbten kulturellen Werte widerspiegeln. Solche Situationen sorgen dafür, dass Frauen untergeordnete Rollen zugewiesen werden und verhindern jegliche Neudefinierung bestehender Ge­schlechter­ rollen. Deswegen ist es empfehlenswert, Frauen Alter­ nativen aufzuzeigen und diese möglichst an konkreten Erfahrungsbeispielen, die Frauen in ähnlichen Situati­ onen ermächtigt haben, zu verdeutlichen. Ermächtigung heißt auch, Alternativen zu kennen und sich von ihnen inspirieren zu lassen.

Im Rahmen der Erarbeitung des Berichts wurden zwei wichtige Lektionen gelernt. Die erste ist, dass umfassende Konsultationen notwendig sind, um die Teilhabe von Frauen bei der Identifizierung von Prioritäten und der Formulierung von Politiken und Programmen zu gewährleisten. Fokusgruppen und Haushaltsbefragungen müssen eingesetzt werden, um sicherzugehen, dass Frauen ihre Präferenzen nennen können. Sie müssen Gelegenheit bekommen, ohne gesellschaftlichen Druck und Beeinflussung ihre Ansichten zu äußern. Außerdem müssen Frauen, die in partizipative Prozesse eingebunden sind, sich ihrer Rechte bewusst sein und alle Alternativen in Betracht ziehen können, um informierte Entscheidungen zu treffen, unabhängig von existierenden Mustern von Diskriminierung und Exklusion. Die zweite Lektion zeigt, dass Sichtweisen, Erwar­tun­ gen und Präferenzen von Frauen nicht nur von Region zu Region eines Landes unterschiedlich sind, sondern auch von Gruppe zu Gruppe. In manchen ethnischen Gruppen beispielsweise wird Frauen durch Formen der Solidarität und durch soziale Normen eine andere Posi­

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8. Die Welt nachhaltig ernähren – Agrarökologie fördern Ecumenical Advovacy Alliance Auszug aus: Nourishing the World Sustainably: Scaling up Agroecology, Ecumenical Advovacy Alli-ance 2012, Dr Miguel Altieri, Andrew Kang Bartlett, Carolin Callenius, Christine Campeau et al, Übersetzung Astrid Quick In den zahlreichen globalen Krisen mit Auswirkungen auf die Ernährungssicherung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit das Interesse an Theorie und Praxis der Agrarökologie stark zugenommen. Der neuere wissenschaftliche Weltagrarbericht des Welt­ agrar­rates, das „International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD)“ 88, stellt fest, dass wir zur Ernährung einer Weltbevölkerung von 9 Milliarden Menschen im Jahre 2050 mit äußerster Dringlichkeit die effektivsten und nachhaltigsten Landwirtschaftssysteme einführen müssen, und empfiehlt eine Hinwendung zur Agrarökologie als einem Instrument zur nachhaltigen Steigerung der Lebensmittelproduktion und zur Verbesserung der Situ­ a­­tion der ärmsten Menschen und Gemeinden. Achtzig Prozent der in der Welt produzierten Nahrungs­ mittel werden von 470 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben hergestellt, von denen 85% weniger als zwei Hektar Land bearbeiten.89 Diese Kleinbauernbetriebe – die im Allgemeinen mit nachhaltigeren landwirtschaftlichen Produktionsmethoden arbeiten – stehen vor enormen Herausforderungen. Sie finden sich oft gefangen am Ende einer Kette von Zwischenhändlern, Händ­lern und transnationalen Konzernen, die alle einen wesentlichen Anteil des Produktwertes einbehalten. Sie haben außerdem weniger Kapazitäten, auf Preisvolatili­tät zu reagieren, und verlieren schnell an Wettbewerbs­ fähigkeit, wenn Importe die Märkte überschwemmen. Ohne Landrechte können einige Landwirte unter dem Druck von größeren Investoren leicht ihr Land verlieren. 88 IAASTD, 2009.

Agrarökologische Prinzipien für die Ent­w icklung bio­ diverser, energieeffizienter, ressourcenschonender und wider­ stands­f ähiger Agrar­­systeme „„ Die Steigerung der Wiederverwertung von Bio­ masse, mit dem Ziel der Optimierung des Abbaus organischer Substanzen und des Nährstoffkreislaufs über einen Zeitraum. „„ Die Stärkung des “Immunsystems” von Agrar­ sys­temen durch die Verbesserung der funktionalen Bio­di­ver­sität – natürliche Feinde, Antagonisten, etc. „„ Die Schaffung der günstigsten Boden­be­din­g un­ gen für Pflanzenwachstum, insbesondere durch den Einsatz organischer Substanzen und durch die Stei­ gerung biologischer Aktivität im Boden. „„ Die Minimierung des Verlustes von Energie, Wasser, Nährstoffen und genetischen Ressourcen durch die Ver­besserung der Erhaltung und Rege­ neration von Boden- und Wasserressourcen und der Agrobiodiversität. „„ Die Diversifizierung von Arten und genetischen Res­sour­cen im Agrarökosystem über Zeit und Raum auf Feld- und Landschaftsebene. „„ Die Verbesserung positiver biologischer Inter­ aktio­nen und Synergien zwischen den Komponenten der Agrobiodiversität, um so essentielle ökologische Pro­zesse und Funktionen zu fördern.

Agrarökologische Managementsysteme sind “landwirtintensiv”, erfordern die Partizipation der Menschen und müssen standortspezifisch für sehr unterschiedliche und vielfältige landwirtschaftliche Betriebsbedingungen zugeschnitten und angepasst werden.90



89 Nagayets 2005.

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Kasten 1

90 Uphoff, 2002.

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Kasten 2

Entwürfe von zeitlichen und räumlichen Strukturen diversifizierter Bewirt­ schaftungssysteme und ihre agrarökologischen Haupteffekte Fruchtwechsel: Zeitliche Vielfalt in der Gestalt von Getreide-Leguminosen-Sequenzen; Nährstoffe werden erhalten und durch die eine Saison für die nächste bereitgestellt und die Lebenszyklen von Schadinsekten, Krankheiten und Unkräutern unterbrochen. Polykulturen: Anbausysteme, in denen zwei oder mehr Kulturpflanzensorten in einer bestimmten räum­ lichen Nähe gepflanzt werden, so dass biologische Kom­p­lementaritäten entstehen, welche die Effi­zienz der Nährstoffverwertung und die Schäd­lingsbe­kämp­ fung ver­ bessern und damit die Stabilität des Feld­ fruchtertrags erhöhen. Systeme der Agroforstwirtschaft: Bäume werden mit jährlichen Kulturen zusammen gezogen zur Modifizierung des Mikroklimas, zur Erhaltung und Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, da einige zur Stickstofffixierung und Nährstoffaufbringung aus tiefen Bodenhorizonten beitragen und ihre Laubstreu

Was ist Agrarökologie? Als angewandte Wissenschaft verwendet die Agrar­ öko­logie ökologische Konzepte und Richtlinien für die Ge­stal­tung und Pflege nachhaltiger Agrarsysteme, bei denen natürliche, vor Ort verfügbare Ressourcen zur Ver­­besserung der Bodenfruchtbarkeit und zur biologischen Schädlingsbekämpfung gegenüber kostenintensiven externen Betriebsmitteln wie chemischen Dünge­ mitteln und Pestiziden bevorzugt werden. Agrar­öko­logie nutzt die Potenziale innerbetrieblicher Wechselwir­kun­ gen stärker aus, um den Gebrauch außerbetrieblicher Pro­duktionsmittel zu reduzieren und die Effizienz der Agrarsysteme zu erhöhen. Agrar­ökologische Prinzipien (Kasten 1) steigern die funktionale Biodiversität, die von zentraler Wichtigkeit ist für den Erhalt der wichtigen immunologischen, metabolischen und regulatorischen

der Aufstockung der Bodennährstoffe, der Erhaltung organischer Substanzen und der Unterstützung komplexer Boden-Nahrungsnetze dient. Zwischenfrüchte und Mulchen: Die Reinsaat oder Mischsaat von Gras- und Leguminosenarten z. B. unter Obstbäumen kann Erosion reduzieren, den Boden mit Nährstoffen versorgen und biologische Schädlings­be­ kämpfung verbessern. Die Ein­ebnung von Zwischen­ fruchtmischungen auf der Bodenoberfläche ist bei der konservierenden Landwirtschaft eine Strategie zur Reduktion von Bodenerosion und Ver­min­derung der Schwankungen in Bodenfeuchtigkeit und -temperatur, Verbesserung der Bodenqualität und der Unkraut­ unterdrückung, und damit zur Ernteertragserhöhung. Pflanzenbau-Viehhaltungs-Gemischtbetriebe: Durch die Integration von Pflanzenbau und Vieh­hal­ tung können hohe Biomasse-Erträge und optimale Nähr­­stoff­w iederverwertung erreicht werden. Eine Tierproduktion, die in hoher Dichte gepflanzte Futter­ büsche und Zwischen­ f ruchtbau mit verbesserten, hochproduktiven Weiden und Nutzholzbäumen in einem System kombiniert und integriert, das von Vieh direkt gegrast werden kann, erhöht die Gesamt­pro­ duktivität, ohne externe Betriebsmittel zu erfordern.

Prozesse, welche ein funktionierendes Agrarökosystem erst ermöglichen. Techno­logische Innovationen werden gern angenommen, wenn ihr Gebrauch die Pro­duk­ti­ vität der landwirtschaft­lichen Betriebe erhöht und die Umwelt nicht schädigt. Agrarökologische Prinzipien entfalten sich in unterschiedlichen technologischen Formen, je nach den ökologischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten eines jeden landwirtschaftlichen Betriebs oder Region. Diversifizierung von Anbaupflanzen kann dadurch umgesetzt werden, dass eine Mischung von Kultur­pflan­ zen­­sorten mit verschiedenen Pflanzenhöhen oder verschiedenen Krankheitstoleranzen eingesetzt wird. Div­ er­­si­­­fi­zierung der Bepflanzung von Feldern kann durch Zwischenfruchtbau auf verschiedenen Feld­ stücken oder zwischen Pflanzreihen durch die Pflan­zung von

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Kasten 3

Eigenschaften von nach agraröko­ logischen Prinzipien gestalteten und geführten Bewirtschaftungs­systemen Diversität: In dem Maße wie die Artenvielfalt zunimmt, wächst das Potential für Koexistenz und positive Wechsel­ w irkungen zwischen Arten, was die Nach­haltigkeit eines Agrarökosystems steigern kann. Größere Arten­ v ielfalt verbessert die Effizienz des Ressourcen­ge­brauchs in Agrarökosystemen. Misch­ kulturen weisen eine damit verbundene Wider­ standsfähigkeit gegenüber Pflanzenfressern auf, da eine größere Menge und Vielfalt von natürlichen Feinden der Schadinsekten vorhanden ist (Andow 1991). Effizienz: Diversifizierte Systeme sind generell effizient beim Erfassen von Sonnenlicht, Gebrauch von Regen­wasser und der Mobilisierung und dem dichten Kreislauf von Nährstoffen, und zeigen dabei effiziente Energie­verwendung. Selbstsuffizienz: Eine Konsequenz von Effizienz und Diversität ist die Selbstgenügsamkeit von agrar­

Begleitpflanzen geschehen, die jeweils die natürlichen Feinde der anderen Sorte abwehren. Diversifizierung von Landschaft kann durch die Integra­tion mehrerer Produktionssysteme realisiert werden, wie Systeme der Agroforstwirtschaft und Viehwirtschaft, Einbeziehung von Brachlandflächen und Waldrest­beständen, um eine hoch heterogene Landmatrix zu erzielen. Häufig eingesetzte Diversifizierungsprogramme (siehe Kasten 2) haben generell vorteilhafte Veränderungen in mehreren Komponenten der Agrarsysteme gleichzeitig zur Folge.91 Anders ausgedrückt wirken sie wie eine „ökologische Drehscheibe“, da sie zentrale Prozesse aktivieren – wie etwa die Nährstoffwiederverwertung und Abfallaufbereitung, die biologische Schädlings­be­ kämpfung zur Reduktion der Zahl schädlicher Insekten 91 Gliessmann, 1998.

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öko­lo­g ischen Systemen, da sie hauptsächlich den Ein­ trag von Sonnenlicht, Niederschlag und vor Ort erzeugte Nähr­stoffe und Energie benötigen. Selbstregulierung: Aufgrund der großen Vielfalt an Organismen sind Ausbruch von Krankheiten und der Einfall von Insekten oder Unkräutern, die Pflanzen schweren Schaden zufügen, selten. Außerdem haben verschiedene Pflanzen zahlreiche Abwehr­mechanis­ men, die sie vor Angriffen schützen. Widerstandsfähigkeit: Biodiversität stärkt die Wider­standsfähigkeit von Agrarökosystemen vor allem dadurch, dass die Biodiversität eine „Versicherung“ oder einen Puffer gegen Umweltfluktuationen bietet, da verschiedene Pflanzen- und Tierarten unterschiedlich auf Fluktuationen reagieren, was wiederum zu besser vorhersehbarem Produktionsniveau führt. Produktivität: Positive Effekte der Biodiversität auf die Biomassenproduktion der Pflanzen, verbunden mit zunehmenden Effekten der Komplementarität zwischen Pflanzenarten, führen zu einem besseren Gebrauch von Bodenressourcen und besserer Regu­ lierung der Schäd­lingsbestände.

durch kleine Tiere oder andere Insekten, natürliche sym­ biotische Reaktionen zwischen verschiedenen Pflan­zen, wie das Ausscheiden toxischer Substanzen zur Unter­ stützung des Wachstums, Überlebens oder der Repro­duktion einer benachbarten Pflanze etc. –, die für die Zu­kunftsfähigkeit und Produktivität von Agrar­ öko­ sys­ temen unentbehrlich sind. Agrarökologische Systeme sind nicht auf den Einsatz von Kapital oder chemischen Mitteln angewiesen, sondern steigern die Effizienz biologischer Prozesse wie Photosynthese, Stick­stoff­fixie­rung, Solubilisierung von phosphorhaltigem Boden und biologische Aktivität über und unter der Erde. Die „Betriebs­mittel“ dieses Systems sind die natürlichen Prozesse selbst. Wenn sie nach agrarökologischen Prinzipien gestaltet und verwaltet werden, dann werden Agrarsysteme vielfältiger, produktiver, widerstandsfähiger und effizienter

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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(Kasten 3). Agrarökologische Initiativen zielen auf die Transformation der industriellen Landwirtschaft z.T. durch die Umwandlung bereits vorhandener Lebens­ mittelsysteme weg von einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Produktion und hin zu einem alternativen landwirtschaftlichen Paradigma, das lokale/nationale Lebensmittelproduktion durch Klein- und Familien­be­ triebe unterstützt – auf der Grundlage von lokalem Wissen, lokaler Innovation, lokalen Ressourcen und solarer Energie. Dies bedeutet, dass Kleinbauern Zugang zu Land, Saatgut, Wasser, Kredit und lokalen Märkten gegeben werden muss, zum Teil durch die Schaffung unterstützender wirtschaftlicher Maßnahmen, finanzieller Anreize, Marktmöglichkeiten und agrarökologischer Technologien.92 Agrarökologische Systeme sind tief in den ökologischen Erkenntnissen traditioneller Kleinlandwirtschaft verwurzelt. Diese lang etablierten Beispiele erfolgreicher Agrarsysteme sind von einer enormen Vielfalt domestizierter Pflanzen- und Tierarten gekennzeichnet, die durch nachhaltige Bewirtschaftungsmaßnahmen für Boden, Wasser und Biodiversität versorgt und verbessert werden und aus komplexen traditionellen Wissens­ systemen gespeist werden.93 Agrarökologie funktioniert in einem zirkulären Produk­ tionssystem, das die umfassende Wiederaufbereitung und Wiederverwendung natürlicher Ressourcen möglich macht. Sie reduziert Lebensmittelverschwendung dadurch, dass Überreste durch Kompostieren in Nah­ rung für den Boden umgewandelt werden. Sie imitiert die periodischen Zyklen der Natur und bringt ihre eigenen nachhaltigen Wasser- und Abfallmanage­ment­sys­ teme mit. Im Unterschied dazu ist die moderne industrielle Landwirtschaft ein lineares Produktions­system, das auf dem extensiven Gebrauch externer Pro­ duk­ tions­mittel basiert, um durch den Einsatz von mehr chemischen und anderen, außerhalb des natürlichen Systems vor Ort maschinell hergestellten Zusätzen mehr Nahrungsmittel zu produzieren.

Agrarökologie und Widerstandsfähigkeit gegenüber klimatischen Veränderungen Agrarökologie kann Landwirten bei der Anpassung an den Klimawandel und bei dem Umgang mit den Nach­ wirkungen von Naturkatastrophen helfen. Dies geschieht durch den Aufbau der natürlichen Abwehrkräfte eines landwirtschaftlichen Betriebes durch verbessertes Wassermanagement, verstärktes Nährstoff­mana­ge­ment, besseres Bodenmanagement und ein diversifiziertes Pro­ duktionssystem. Zum Beispiel helfen nachhaltige und biologische Bodenund Anbaumanagementpraktiken wie bodenschonende Bearbeitung, Zwischenfruchtbau, der Einsatz von Dünger, Fruchtwechsel und der Agroforstwirtschaft zum Aufbau von Stickstoff, organischen Substanzen und nützlichen Mikroorganismen im Boden. Besseres Bodengefüge bedeutet weniger Probleme wie Boden­ verdichtung, Erosion und Nährstoffauswaschung. Es hält auch mehr Wasser im Boden. Dies ist entscheidend wichtig für Regionen, wo Klimawandel bereits zu höheren Temperaturen und niedrigeren Niederschlagsmengen geführt hat. Beweise für das Ernährungssicherungspotential von agrarökologischen Systemen Da nun gute Grundsätze auf dem Papier stehen, fragen sowohl Befürworter als auch Kritiker der Agrarökologie, wie effektiv agrarökologische Methoden in der Praxis sind. Die erste weltweite Untersuchung agrarökologisch orientierter Projekte und/oder Initiativen in Ent­ wicklungsländern94 dokumentierte eine deutliche Stei­ gerung der Nahrungsmittelproduktion auf mehr als 29 Millionen Hektar, von der fast 9 Millionen Haushalte durch größere Nahrungsmittelvielfalt und Versorgungs­ sicherheit profitieren. Allerdings beziehen sich viele der untersuchten Beispiele auf große Landwirtschafts­ be­ triebe, die sich nicht ausschließlich an agrarökologische Prinzipien halten, deshalb können die Daten nur mit Vorsicht verwendet werden.

92 Via Campesina 2010. 93 Koohafkan and Altieri, 2010.

94 Pretty el al, 2003.

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Gleichwohl führten die in der Studie festgehaltenen Praktiken nachhaltiger Landwirtschaft zu Steigerungen von 50-100% per Hektar bei der Getreideproduktion (etwa 1.71 Megagramm pro Jahr pro Haushalt – eine Steigerung von 73%) in regenwasserabhängigen Gebie­ ten, die für Kleinbauern in marginalen Gebieten (eine Gesamtfläche von etwa 3,58 Millionen Hektar, bearbeitet von etwa 4,42 Millionen Bauern) typisch sind. Bei den 14 Projekten mit Wurzelgemüsen als Haupter­zeug­ nissen (Kartoffeln, Süßkartoffeln und Kassava) steigerte sich bei den 146.000 Landwirtschaftsbetrieben auf 542.000 Hektar die Eigenproduktion von Nah­rungs­ mitteln um 17 Tonnen pro Jahr (eine Steigerung von 150%). Derartige Ertragsverbesserungen sind wahrhaft bahnbrechende Erfolge für die Ernährungssicherung bei Landwirten, die von etablierten landwirtschaftlichen Institutionen abgeschnitten sind. Eine Studie von 2007 stellte die Forschungsergebnisse von 293 verschiedenen Vergleichsstudien zusammen, um die Gesamteffizienz von biologischen gegenüber konventionellen Landwirtschaftssystemen zu bewerten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass in entwickelten Ländern ökologische landwirtschaftliche Systeme durchschnittlich 92% des Ernteertrags der konventionellen Landwirtschaft hervorbringen. Allerdings produzieren ökologische Systeme in Entwicklungsländern 80% mehr als die konventionellen Landwirtschafts­ betriebe. Einer der für diesen Unterschied angeführten Gründe ist die für die Landwirte in Entwicklungsländern größere Zugänglichkeit der für ökologischen Landbau gebrauchten Materialien. Diese Landwirte kaufen unter Umständen das gleiche Saatgut wie konventionelle Landwirtschaftsbetriebe in reichen Ländern, aber sie können sich die für intensive Landwirtschaft benötigten Düngemittel und Pestizide nicht leisten. Organische Düngemittel können dagegen in ihren eigenen landwirtschaftlichen Betrieben produziert werden.95 (…) Agrarökologische Innovationen fördern: Schwierigkeiten und Möglichkeiten Bei so vielen in Betrieben erwiesenen sozialen, produk95 Badgley et al, 2007.

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tiven und ökologischen Vorteilen stellen sich mit Blick auf die relativ begrenzte Übernahme und Verbreitung agrarökologischer Innovationen zwei Fragen: (1) Wenn agrarökologische Systeme so profitabel und effizient sind, warum sind sie dann nicht weiter verbreitet und übernommen worden? Und (2): Wie können mehr agrarökologische Verfahren vervielfacht und ausgeweitet werden? Forschung und Praxis haben in der Tat demonstriert, dass es keine grundsätzlichen Bedenken oder Probleme bei einer großflächigen Umsetzung agrarökologischer Methoden gibt, sondern dass die Übernahme vor allem von einem effektiven Wissensaustausch unter Land­w ir­ ten abhängt. Die Förderung der Agrarökologie basiert auf einem „Bottom-up“ Ansatz, der mit bereits verfügbaren Ressourcen arbeitet und auf diese aufbaut: dies sind die Menschen vor Ort, ihr Wissen und ihre heimischen, natürlichen Ressourcen. Eine erfolgreiche Aus­ wei­tung der Agrarökologie hängt zutiefst von der Stär­ kung und Förderung des menschlichen Kapitals und der Befähigung von Gemeinschaften durch Aus­bildung und partizipatorische Methoden ab, welche die Bedürfnisse, Bestrebungen und Lebensbedingungen von Kleinbauern ernst nehmen. Die meisten Initiativen zur Förderung der Agrarökologie waren verbunden mit Kapazitätsaufbau-Programmen, die sich schwerpunktmäßig der Ausbildung, landwirtschaftlichen Praxisschulen, Betriebsdemonstrationen, dem Austausch von Landwirt zu Landwirt, Austausch­ be­ suchen und anderen Aktionen widmeten. Diese Aktio­nen waren die Hauptpfeiler des NGO-Beratungs­ ansatzes und haben erfolgreich Landwirten eine formale Ausbil­dung in ökologisch-landwirtschaftlichen Prak­ tiken geboten. Allerdings gibt es komplexe Probleme bei der Förderung der Agrarökologie. Brennstoffe für das Kochen sind nur begrenzt verfügbar, so dass für Mist und Pflanzenreste ein konkurrierender und dringlicherer Bedarf besteht. Landwirten den Gebrauch von Gründüngerpflanzen, Kompost, Reisstroh und Wasserhyazinthen als alternative Methoden zur Entwicklung von Bodenfruchtbarkeit vorzuschlagen, oder die Aufforstung von Ackerland zur

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Futter- und Brennstoffgewinnung, ändert nichts an den strukturellen Problemen, was den mangelnden Zugang von Landwirten zu Land, Holz, Wasser und anderen lebenswichtigen Ressourcen noch hervorhebt. Politische Initiativen zur Verbesserung des Zugangs zu diesen Ressourcen sind daher notwendig, um die eigentlichen Ursachen der Armut anzugehen. Forscher haben zahlreiche Hindernisse identifiziert, die eine Übernahme und Verbreitung von agrarökolo­ gischen Praktiken96 erschweren; das Spektrum reicht von technischen Problemen wie Informationsmangel bei Land­w irten und landwirtschaftlichen Beratern bis hin zu Politikverzerrungen, Marktversagen, fehlendem Land­­besitz und infrastrukturellen Problemen. Für die weitere Verbreitung der Agrarökologie unter Landwirten ist es entscheidend wichtig, diese Hindernisse teilweise oder ganz zu überwinden. Große Reformen müssen in Politik, Institutionen sowie Forschungs- und Entwick­ lungs­programmen geschehen, um sicherzustellen, dass agrarökologische Alternativen in großem Umfang umgesetzt werden, dass sie gerecht und weitgehend zugänglich sind und dass sie vervielfacht werden, so dass ihr voller Nutzen für nachhaltige Ernährungssicherung erschlossen werden kann. Landwirte müssen besseren Zugang zu lokalen und regionalen Märkten, zu Regie­ rungshilfen wie z.B. Kredit, zu Saatgut und agrarökologischen Technologien bekommen. Ein großes Hindernis für die Verbreitung der Agrarökologie war auch die Unterstützung einflussreicher wirtschaftlicher und institutioneller Interessengruppen für die Forschung und Entwicklung des konventionellen agrarindustriellen An­­­satzes, während die Forschung und Entwicklung der Agrarökologie und nachhaltiger Ansätze in vielen Ländern weitgehend ignoriert wurde.97 Schlussfolgerungen und Zukunftsperspektiven „„ Agrarökologie ist aufstockbar. Die Agrarökologie ist in vielen landwirtschaftlichen Gemeinschaften in der ganzen Welt verbreitet und umgesetzt worden, und zwar vor allem durch einen Prozess der Wissens­weiter­gabe 96 Alonge and Martin, 1995. 97 Altieri 2002.

von Landwirt zu Landwirt. Ihre wichtigsten Leis­tungen und Investitionen sind die Weitergabe von In­formationen und den besten Verfahren, von Wissen um örtliche Gegebenheiten und die natürlichen Ressour­cen von lokalen Ökosystemen. Sie ist langfristig unabhängig von chemischen Düngemitteln, Pestiziden oder transgenen Kulturpflanzen, die für Kleinbauern kostspielig sind und oft Ressourcen aufzehren. Sie kann und ist bereits so weit verbreitet worden, dass sie Millionen von Landwirten und Millionen Hektar Land in Afrika, Asien und den Amerikas erreicht hat. Es gilt nun, einen noch viel größeren Anteil der Kleinbauern in der Welt, die den Großteil der Nahrungsmittel in der Welt produzieren, mit agrarökologischem Wissen und Kompe­ten­zen auszurüsten. „„ Agrarökologie kann die Welt ernähren. Trotz Expansion der umweltzerstörenden, hochintensiven, industriellen ‚Grüne Revolution’-Landwirtschaft wird ein Großteil der weltweit konsumierten Nahrungsmittel immer noch von Kleinbauern produziert. Durch die Stei­­ gerung des Nährstoffertrags und Reduktion der Umwelt­ auswirkungen von kleinen landwirtschaftlichen Betrie­ ben durch die Anwendung agrarökologischer Methoden, sowie durch das gleichzeitige Angehen der Probleme der Lebensmittelverschwendung und des Marktzugangs für Kleinbauern kann die Herausfor­de­rung, im Jahre 2050 neun Milliarden Menschen ernähren zu müssen, bewältigt werden – auf umweltverträgliche Art. Agrarökologie ist unverzichtbar, wenn wir einen gangbaren Weg durch die beiden, miteinander verwobenen rungs­ siche­ Herausforderungen der zukünftigen Ernäh­ rung und der Abschwächung des Klima­wandels zusammen mit der Anpassung an den Klimawandel finden sollen. Im Kontext des Klimawandels ist die Beibehaltung der gewohnten Handlungsweisen im Bereich der Nah­ rungsmittelproduktion nicht mehr möglich. Agrar­öko­lo­ gie bietet eine Zukunftsperspektive für eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion, welche die Bedürfnisse einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung erfüllen, gleichzeitig die Treibhaus­gasemissionen des landwirtschaftlichen Sektors reduzieren und dabei Wider­stands­fähigkeit gegen den bereits unabwendbaren Klima­­­ wandel aufbauen, Bio­diversität schützen und Gemein­­­­schaften und ländliche Lebensgrundlagen erhalten kann.

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Die wichtigsten weiteren Schritte, wenn wir diesen Weg fortsetzen wollen, sind: 1. Viel größere Investitionen in die Forschung zu agrarökologischen Methoden der Nah­ rungs­­mittelproduktion, aufbauend auf überliefertem und bereits vorhandenem Wissen um die besten Verfahren und mit dem Ziel der Verbesserung einer auf Kleinlandwirtschaften basierenden, emissionsarmen, hochproduktiven Landwirtschaft im Kontext des Klimawandels. 2. Umfangreichere Unterstützung für die Ein­ richtung und Ausweitung von Netzwerken für Landwirte auf lokaler Ebene in Ent­w ick­ lungsländern weltweit, für die Weitergabe von Informationen und Wissen um die besten Verfahren in der agrarökologischen Nahrungsmittel­ produk­ tion, als Hauptinstrument für die Steigerung agrarökologischer Nahrungsmittelproduktion in ernährungsunsicheren Gebieten. 3. Politische Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene erwirken, welche die zentrale Rolle von Kleinbauern bei der globalen Ernährungssicherung anerkennen, sowie die auf Kleinlandwirtschaften basierende agrarökologische Nahrungsmittelproduktion und agrarökologische Erweiterungsprogramme auf nationaler und örtlicher Ebene unterstützen. 4. Vermehrte Unterstützung für die Einrichtung und Ausweitung von Produktionsgemein­ schaften unter Kleinbauern, um Marktmöglich­ keiten und die kollektiven Kapazitäten von Klein­ bauern und ihren Gemeinschaften zu verbessern. 5. Effektivere Regulierung und Bearbeitung der negativen Auswirkungen des Einflusses von Korporationen auf landwirtschaftliche Richt­ linien und Praktiken, einschließlich der uneingeschränkten Förderung der Abhängigkeit von Technologien, die durch geistige Eigentumsrechte geschützt werden wie transgene Kulturpflanzen und chemische Düngemittel.

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6. Konzentriertere und effektivere Bearbeitung des Problems der Lebensmittelverschwendung in der gesamten Lebensmittelver­ sorgungs­ kette, von der Produktion (insbesondere durch die Verbesserung von lokalem Zugang zu Lagerung, Weiterverarbeitung und Transportinfrastruktur für Kleinbauern in Entwicklungsländern) bis zum Ver­ zehr (insbesondere durch das Hinterfragen von Ver­­braucherverhalten und von Verschwendung aufgrund von Qualitätsnormen in der entwickelten Welt).

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

Brot für die Welt-Projekt Guatemala: Mit dem Mut der Verzweiflung

an einem steilen Hang. Jeder Quadratzentimeter ist bepflanzt. Profitgier ohne Gewissen

Kleinbäuerin Doña Rosa beim Abendessen in Los Achiotes, Guatemala. Foto: Thomas Lohnes

Aufgrund ihrer Wasserreserven sind die Nebelwälder der Granadillas-Berge für die Menschen im trockenen Osten des Landes lebenswichtig. Doch massive Abhol­ zungen bedrohen ihre Existenz. Zusammen mit den Klein­bauernfamilien setzt sich die Lutherische Kirche für ihren Erhalt ein. Doña Rosa weiß: Gibt es den Wald nicht mehr, versiegt auch das Wasser für ihre Felder. Die Kleinbäuerin lebt in Los Achiotes, einer abgelegenen Streusiedlung im Bergmassiv „Las Granadillas“. Ihr Grundstück liegt

Ohne das Wasser aus den über 1.400 Meter hoch gelegenen Nebelwäldern könnte Doña Rosa keine Land­ wirtschaft betreiben. Für die Menschen im ansonsten extrem trockenen Grenzgebiet zu Honduras sind die Wälder lebenswichtig. Doch die sind in großer Gefahr. Denn die Abholzung hat in den letzten Jahren industrielle Ausmaße angenommen. Bereits 80 Prozent des Waldes sind vernichtet. Verantwortlich dafür sind in erster Linie die reichen Landbesitzer. „Sie drängen immer weiter vor und wollen uns unser Land wegnehmen“, klagt Doña Rosa und weint. Grund zur Hoffnung Wie viele Menschen hier beteiligt sich die kleine Frau am gewaltfreien Kampf um den Erhalt „ihrer“ Berge. Unterstützt wird sie dabei von der Lutherischen Kirche Guatemalas, einer Partnerin von Brot für die Welt. In­ zwischen gibt es Grund zur Hoffnung: Vor Kurzem ur­ teilte die Interamerikanische Kommission für Menschen­ r­echte, dass der guatemaltekische Staat ein Gesetz zum Schutz seiner natürlichen Ressourcen erlassen muss.

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Frauen bieten Feldfrüchte an, Angola. Foto: Jörg Böthling

9. Gesundheit und Fehlernährung Olivier De Schutter Auszug aus: United Nations General Assembly, Human Rights Council, 26. Dez 2011, A7HCR19.59., Report Submitted by the Special Rapporteur on the right to food, Olivier De Schutter, Übersetzung Astrid Quick

Die dreifache Herausforderung A.  Die Rolle von Agrar- und Lebensmittel­ systemen: Von der Produktionssteigerung zur Sicherstellung nachhaltiger Ernährung 4.  Seit den 1960er Jahren wurde die Ernäh­rungs­siche­ ­­rung vor allem in Zusammenhang mit der Pro­duk­tion betrachtet, während Zusammenhänge mit der Er­näh­ rungsweise oft unbeachtet blieben. Hunger und Fehl­ ernährung wurden mit mangelnder Kalorienauf­nahme gleichgesetzt. Angesichts des weltweit verbreiteten Hungers war dieser Schwerpunkt vielleicht nachvollziehbar. Jedoch führte dies zur Überbewertung der Stei­ gerung landwirtschaftlicher Erzeugung und Reduk­t ion von Nahrungsmittelpreisen, während die Sicherung der Verfügbarkeit von und des Zugangs zu einem breiten Spektrum verschiedener Nahrungsmittel mit Mikro­ nähr­stoffen, die für die volle körperliche und geistige Ent­w icklung von Kindern und für die gesunde und produktive Lebensführung von Erwachsenen unverzichtbar sind, kaum Beachtung fanden. Mit anderen Worten

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wurde, da die Protein-Energie-Mangelernährung als die größte Herausforderung galt, die Frage der Ange­messen­ heit der Ernährung vernachlässigt. Außerdem wurden die anderen Funktionen der Landwirtschaft jenseits der Bereitstellung von Nahrungsmitteln zu niedrigen Preisen, wie der Sicherung hinreichender Einkommen für Lebensmittelerzeuger und der Erhaltung der Öko­ systeme, nicht bedacht. 5.  Dies verändert sich. Experten stimmen nun darin überein, dass Lebensmittelsysteme den Zugang aller zu nachhaltigen Ernährungsweisen gewährleisten müssen, was definiert wird als eine Ernährungsweise mit geringen Umweltauswirkungen, die einen Beitrag zur Lebens­­mittel- und Ernährungssicherheit leisten und zu einer gesunden Lebensführung für gegenwärtige und zukünftige Generationen führen. Nachhaltige Ernäh­ rungs­­ weisen schützen und achten Biodiversität und Öko­systeme, sie sind kulturell akzeptabel, leicht zugänglich, wirtschaftlich fair und bezahlbar; sie sind ernährungsphysiologisch angemessen, ungefährlich und gesund, und optimieren natürliche und menschliche Ressour­cen.98 Diese Definition trägt der Notwendigkeit Rech­ nung, Agrar- und Lebensmittelsysteme von der Aus­­richtung ausschließlich auf Produktionssteigerung weg zu bewegen, hin auf eine Integration der Be­din­ gungen für die Angemessenheit von Ernährungs­weisen, 98 Diese Definition wurde von den Teilnehmern am Internat­ional Scientific Symposium on Biodiversity and Sustainable Diets durch Konsens verabschiedet, die vom 3 bis 5 Novem­ber 2010 in Rom tagte. Siehe den Schlussbericht des Symposiums, S.ix, einsehbar bei www.fao.org/ag/humannutrition/29186021e012ff2db1b0eb6f6228e1d98c806a.pdf

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für soziale Gerechtigkeit und Umweltverträg­lichkeit. All diese Komponenten sind wichtig für den dauerhaften Erfolg bei der Bekämpfung von Hunger und Fehler­ nährung, wie der Sonderberichterstatter bereits in früheren Be­richten hervorgehoben hat. B.  Unterernährung und Mikronährstoffmangel 6.  Die Welt zahlt nun einen hohen Preis für die Kon­ -­zen­tration fast ausschließlich auf die Produktions­stei­ gerung in der letzten Jahrhunderthälfte. Es gibt weiterhin erhebliche Unterernährung, insbesondere weil Agrar- und Lebensmittelsysteme nicht zur Minderung ländlicher Armut beigetragen haben. Auf globaler Ebene leidet einer von sieben Menschen noch immer Hunger. Etwa 34 Prozent der Kinder in Entwicklungsländern, insgesamt 186 Millionen Kinder, sind klein für ihr Alter, das häufigste Symptom chronischer Unterernährung.99 Obwohl der Nahrungsmittelpreisindex der Nahrungs­ mittel- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO) angibt, dass Nahrungsmittelkosten inflationsbereinigt seit den frühen 1960er Jahren bis 2002 sanken (abgesehen von einem Höchststand 19731974), sind die Armen immer noch zu arm, um ihren Lebensunterhalt mit Würde bestreiten zu können, weil die Landwirtschaft noch nicht zur Unterstützung der Lebensgrundlagen der am meisten gefährdeten und mar­g inalisierten Bevölkerungsgruppen angelegt ist. 7.  Außerdem leidet eine große Zahl von Menschen unter Mikronährstoffmangel, wobei Kinder und Frauen un­verhältnismäßig stark betroffen sind. Vitamin A-Man­ gel betrifft mindestens 100 Millionen Kinder, was zur Einschränkung ihres Wachstums, Schwächung ihrer Immunität und in Fällen akuten Mangels zu Blindheit und erhöhter Sterblichkeit führen kann. Zwischen vier und fünf Milliarden Menschen leiden unter Eisen­man­ gel, einschließlich der Hälfte aller schwangeren Frauen und Kindern unter 5 Jahren in Entwick­lungsländern, 99 Kleinwuchs betrifft 42 Prozent der Kinder im subsaharischen Afrika, und 48 Prozent in Südasien. Siehe www.unicef.org/ nutrition/index_statistics.html

und laut Schätzungen sind 2 Milliarden anämisch. Eisenmangel beeinträchtigt das Wachstum, die kognitive Entwicklung und Immunfunktion, sie führt bei Kindern zur verminderten Leistungsfähigkeit in der Schule und bei Erwachsenen zu geringerer Produktivität. Jod- und Zinkmangel haben ebenfalls negative Auswirkungen auf die Gesundheit und verringern die Überlebens­chan­ cen von Kindern. Etwa 30 Pro­zent der Haushalte in Ent­ wicklungsländern nehmen kein jodiertes Salz zu sich, und Kinder von Müttern mit hohem Jodmangel leiden häufig unter Lernbe­ h inde­ rungen oder Schwachsinn. Und schließlich kann der Mangel an bestimmten Vita­ minen und Mineralien auch die körperliche und geistige Entwicklung und das Immunsystem beeinträchtigen.100 8.  Wie die Unterernährung, sind Nährstoffmangel oder versteckter Hunger eine Verletzung des Kin­der­ rechts auf einen Lebensstandard, der für die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes angemessen ist, und des Rechts auf den Genuss des höchsten erreichbaren Gesundheitsstandards, wie es in Artikel 6, Para­ graph 2, und Artikel 24, Paragraph 2 (c) der Konvention über die Rechte des Kindes zum Ausdruck gebracht wird. Durch die Umwelt, nicht die Erbanlagen, werden regionale Unterschiede in der Entwicklung von Kindern erklärt. WHO-Richtwerte für Kindeswachstum zeigen, dass Klein­k inder und Kinder aus geographisch unterschiedlichen Regionen der Welt sehr ähnliche Wachs­ tumsmuster erleben, wenn ihre Bedürfnisse für Gesund­ heit und Er­nährung erfüllt werden, so dass im Prinzip alle Kin­der das gleiche Entwicklungspotential haben.101 Daher haben Staaten die Pflicht, ausschließliches Stillen über sechs Monate und danach fortgesetztes Stillen mit der Zu­f üt­terung geeigneter Ergänzungs­nahrungsmittel bis zum Beginn des zweiten Lebens­jahres eines Kindes zu unterstützen; und Lebensmittelsysteme zu schaffen, die den Zugang jedes Menschen nicht nur zu ausreichender Kalo­rien­auf­nahme, sondern auch zu einer hinreichend abwechslungsreichen Ernährungs­ weise mit dem vollen Spek­ t rum der erforderlichen Mikro­ nähr­ stoffe sicherstellen.

100 Siehe www.unicef.org/nutrition/index_bigpicture.html 101 Siehe www.who.int/entity/childgrowth/2_why.pdf

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C.  Übergewicht und Fettleibigkeit 9.  Eine weitere Herausforderung in Bezug auf die Er­ nährung betrifft Menschen, deren Kalorienaufnahme ihren Bedarf übersteigt. Heute sind mehr als eine Mil­lia­ rde Menschen weltweit übergewichtig (mit einem Kör­ per­masseindex (KMI) >25) und mindestens 300 Mil­ lionen Menschen sind fettleibig (KMI >30). Über­ewicht und Fettleibigkeit verursachen 2,8 Mil­li­onen Todesfälle weltweit, so dass heute 65 Prozent der Welt­bevölkerung in einem Land (alle einkommensstarken Länder und die meisten Länder mit mittleren Eink­om­men) leben, wo Übergewicht und Fettleibigkeit mehr Menschen töten als Untergewicht.102 In einem Land wie den Ver­ei­nigten Staaten von Amerika bedeutet dies, dass Kinder heute eine kürzere Lebenserwartung haben als ihre Eltern.103 Jedoch sind Fettleibigkeit und nichtübertrag­bare Krank­ heiten (non-communicable diseases, NCDs), die insbesondere mit ungesunder Er­nä­h­rung in Ver­bindung gebracht werden, nicht länger auf reiche Länder begrenzt. Es wird geschätzt, dass bis zum Jahr 2030 in armen Ländern 5,1 Millionen Menschen jährlich noch vor Er­ reichen ihres 60. Lebensjahres an solchen Krank­hei­ten sterben werden, verglichen mit 3,8 Millionen heute.104 Fettleibigkeit und Übergewicht betreffen 50 Pro­zent der Bevölkerung oder mehr in 19 der 34 Mit­g liedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zu­sammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Eco­no­mic Cooperation and Development, OECD),105 aller­­dings sind sie schon jetzt in allen Regionen zu Prob­lemen für die öffentliche Gesundheit geworden. Von nichtübertragbaren Krank­ heiten verursachte Todes­fälle und Erkrankungen haben inzwischen die von übertragbaren Krankheiten verursachten Todesfälle und Er­k rankungen in allen Regionen 102 WHO, Global Status Report on Noncommunicable Diseases 2010 (Geneva, 2011), S.2; WHO, Global Health Risks: Mortality and Burden of Disease Attributable to Selected Major Risks (Geneva, 2009), S.16 und 17. 103 S.J. Olshansky und andere, - A potential decline in life expectancy in the United States in the 21st century, New England Journal of Medicine, Bd. 352, Nr. 11 (2005), S.1143. 104 R.Beaglehole und andere, -Priority actions for the non-communicable disease crisis, Lancet, Bd. 377, Nr. 9775 (2011), S.1438-47. 105 OECD, Health at a Glance 2011 (Paris, 2011), S.54.

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außer Afrika überholt, und es wird erwartet, dass Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten weltweit zwischen 2010 und 2020 um 15 Prozent steigen werden – und um über 20 Prozent in Afrika, Südostasien und den ostmediterranen Regionen.106 Überdies führen nichtübertragbare Krankheiten in armen Ländern schneller zum Tod. So­wohl in Südostasien als auch in Afrika finden 41 Prozent der durch hohen KMI verursachten Todesfälle vor dem 60. Lebensjahr statt, im Ver­ gleich zu 18 Prozent in einkommensstarken Ländern.107 Die gesellschaftlichen Kosten sind enorm, die direkten bei der medizinischen Versorgung und die indirekten durch den Verlust an Produktivität.108 Es besteht ein wichtiger zeitlicher Abstand zwischen dem Beginn von Fettleibigkeit und der Kostenzunahme im Gesund­heits­ wesen, jedoch gibt es Schätzungen, dass z.B. die mit Übergewicht und Fettleibigkeit verbundenen Kosten im Vereinigten König­reich von Groß­britannien und Nord­ irland im Jahre 2015 sogar bis zu 70 Prozent höher als im Jahr 2007 sein könnten, und dass sie 2025 2,4 mal so hoch sein werden.109 Für Länder wie Indien oder China gibt es Prognosen, dass die Aus­ w irkungen von Fett­ leibigkeit und Diabetes in den nächsten Jahren stark ansteigen werden.110 Im Durchschnitt verursacht eine 10 106 WHO, Global Status Report, S. 9. 107 WHO, Global Health Risks, S. 17. 108 In den Vereinigten Staaten wurden direkte medizinische und indirekte Staatsausgaben, die auf Diabetes zurückzuführen waren, 2002 auf US$ 132 Milliarden geschätzt, und haben damit die Kosten für die medizinische Versorgung insgesamt in dem Jahr verdoppelt (American Diabetes Association, -Economic costs of diabetes in the US in 2002, Diabetes Care, Bd. 26, Nr. 3 (2003), S.917; 2007 betrugen die Kosten US$ 174 Milliarden (American Diabetes Association, -Economic costs of diabetes in the US in 2007, Diabetes Care, Bd. 31, Nr. 3 (2008), S. 596. In der lateinamerikanischen und karibischen Region werden jährlich US$ 65 Milliarden für die Gesundheitsfürsorge für Diabetiker ausgegeben, oder 2 bis 4 Prozent des BIP (Bericht des Generalsekretärs (A/66/83), Abschnitt 28.) 109 United Kingdom, Government Office for Science, Tackling Obesities: Future Choices (2007), S.40. 110 B.M. Popkin, -Will China’s nutrition transition overwhelm its health care system and slow economic growth? Health Affairs, Bd. 27, Nr. 4 (2008), S.1072 (Einschätzungen, dass die in­direk­ten wirtschaftlichen Auswirkungen von Übergewicht und Fett- ­­­leibigkeit 8,73 Prozent des BIP im Jahre 2025 kosten könnten).

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prozentige Zunahme der nichtübertragbaren Krank­hei­ ten einen Bruttoinlandsproduktverlust (BIP) von 0,5 Prozent.111 10.  Die Agrar- und Lebensmittelsysteme müssen umgestaltet werden, um die Herausforderungen von Fehl­ er­ nährung, Unterernährung, Mikronährstoffmangel und Überernährung zu bewältigen – nicht jedes für sich, sondern gleichzeitig. Die Fehlernährung in all ihren Formen kann nicht nur durch einen ausschließlich ernährungswissenschaftlichen Ansatz bewältigt werden, wie durch die Versorgung mit therapeutischer Fer­ tig­nahrung oder mit Mikronährstoffen angereicherter Ge­sundheitskost zur Bekämpfung des Mikro­nähr­stoff­ mangels oder der negativen gesundheitlichen Aus­­­w ir­­­ kungen von Lebensmitteln mit einem hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Transfettsäuren, Natrium und Zucker (HFSS Lebensmittel). Die Sicherstellung der ausreichenden Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Obst und Gemüse und von einer Ernährung, die unter Ein­ schluss verschiedener Lebensmittelgruppen hin­ reich­ end abwechslungsreich und ausgewogen ist, erfordert den Umbau von Agrar- und Lebens­mittel­systemen. Dies bedeutet eine Priorisierung des Zugangs zu angemessenen Ernährungsweisen, die sozial- und umweltverträglich sind, anstelle einer reinen Versor­g ung mit billigen Kalo­rien. Jede Intervention, welche die oben beschriebe­ nen verschiedenen Formen von Fehlernährung anzugehen versucht, muss danach bewertet werden, ob sie eine solche Neufestlegung von Prioritäten fördert oder hindert.

IV. Die Bewältigung von Übergewicht und Fettleibigkeit A. Die Rolle der Agrar- und Lebensmittelsysteme 1. Landwirtschaftliche Richtlinien und Maßnahmen 30.  Desweiteren besteht ein Einfluss auf Ernährungs­ weisen durch den Preiskanal, durch die Veränderung 111 WHO, Global Status Report, S.3.

der relativen Preise der Lebensmittel im Warenkorb. In einkommensstarken Ländern sind gesunde Ernährungs­ weisen mit einem breiten Spektrum von Obst und Gemüse kostspieliger als Ernährungsweisen mit vielen Ölen, Zuckern und Fetten.112 Während dies womöglich nicht der einzige Grund für die Zunahme von Über­ gewicht und Fettleibigkeit im Laufe der Jahre ist, so ist es bestimmt einer der relevanten Faktoren, die diese Situation ausgelöst haben. Und es führt zu bedeutenden sozio-ökonomischen Ungleichheiten hinsichtlich der Ernährungsqualität. Wissenschaftler haben eine starke Korrelation zwischen niedrigem Bildungs- und Ein­ kommens­n iveau und höherem Vorkommen von Fett­ leibigkeit, Typ-2-Diabetes und koronaren Herz­k rank­hei­ ten nachgewiesen.113 31.  Dies sollte so nicht stehen gelassen werden. Jede Gesellschaft, in der eine gesunde Ernährungsweise kost­spieliger ist als eine ungesunde Ernährungsweise, ist eine Gesellschaft, die ihr Preissystem verbessern muss. Dies ist umso dringlicher, wo die Ärmsten zu arm sind, um sich anders als auf gesundheitsschädliche Weise zu ernähren. 2. Die Globalisierung von Nahrungsketten 32.  Die Globalisierung von Lebensmittellieferketten wirkt sich auf die Ernährung auf doppelte Weise aus. Erstens gibt es eine Tendenz, dass Entwicklungsländer im Allgemeinen hochwertige Lebensmittel, insbesondere Südfrüchte und Gemüse, an reiche Länder exportieren und raffiniertes Getreide importieren. Dies bedeutet, dass der erhöhte Handel den Preis von Makr­ onähr­

112 P. Mosivais und andere, - Following federal guidelines to increase nutrient consumption may lead to higher food costs for consumers, Health Affairs, Bd. 30, Nr. 8 (2011), S.1471-1477; C.Riehm und andere -The quality and monetary value of diets consumed by adults in the United States, American Journal of Clinical Nutrition, Bd. 94, Nr. 5 (2011), S.1333-13339. 113 J. Banks und andere, - Disease and disadvantage in the United States and in England, Journal of the American Medical Association, Bd. 295, Nr. 17 (2006), S.2037-2045; P. Monsivais und andere, -Are socio-economic disparities in diet quality explained by diet cost?, Journal of Epidemiology and Community Health (nur online erhältlich), 2010.

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stoffen in einkommensschwachen Ländern gesenkt hat (allerdings mit einer größeren Anfälligkeit für Preis­ schocks), während das Gegenteil bei mikronährstoffreichen Produkten geschehen ist, was zur Umstellung der Ernährungsweisen armer Familien in Entwick­lungs­län­ dern auf monotone, mikronährstoffarme und vor allem stärkehaltige Grundnahrungsmittel geführt hat, da abwechslungsreichere Ernährungsweisen unerschwing­­ lich oder weniger erschwinglich als eine Ernährungs­ weise mit Grundnahrungsmitteln wurden.114 Insofern wird die Ernährung auch durch diesen Preiseffekt beeinflusst, der wiederum das Ergebnis einer relativen Preisverschiebung bei Lebensmitteln ist. 33.  Zweitens führt die Globalisierung von Nahrungs­ ketten zu einer Umstellung von Ernährungsweisen mit zahlreichen komplexen Kohlenhydraten und Ballast­ stoffen hin zu Ernährungsweisen mit einem größeren An­teil an Fetten und Zuckern. Als Konsequenz dieses Ernährungswandels verlagern sich Krankheitsbilder weg von Infektionskrankheiten und Nährstoffmangel­ krankheiten hin zu vermehrtem Auftreten von koronaren Herzkrankheiten, nicht insulinabhängiger Diabe­ tes, einigen Krebsarten und Fettleibigkeit.115 Diese Tendenz ist besonders auffällig in Schwellenländern,116 und der Sonderberichterstatter nahm die hier wirkenden Mech­a ­n ismen genau in den Blick während seiner Auftrags­reisen nach Brasilien,117 China,118 Südafrika,119 und Mexiko.120 Die Geschwindigkeit des Ernährungs­ 114 M.T. Ruel, - Operationalizing dietary diversity: a review of measurement issues and research priorities, Journal of Nutrition, Bd. 133, Nr. 11 (2003), S.3911S-3926S. 115 C. Gopalan, Nutrition in Developmental Transition in SouthEast Asia, SEARO Regional Health Paper Nr. 21 (New Delhi, World Health Organization, 1992). 116 B.M. Popkin und P. Gordon-Larsen, -The nutrition transition: worldwide obesity dynamics and their determinants, International Journal of Obesity, Bd. 28 (2004), S.S2-S9; A.M. Thow, -Trade liberalisation and the nutrition transition: mapping the pathways for public health nutritionalists, Public Health Nutrition, Bd. 12 (2009), S.2150. 117 A/HRC/13/33/Add.6, Abschnitte 5-7. 118 A/HRC/19/59/Add.1, Abschnitte 20-21. 119 A/HRC/19/59/Add.3, Abschnitte 55-56. 120 A/HRC/19/59/Add.2, Abschnitte 48-50.

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wandels wird durch die Ausweitung des Handels mit Nahrungs­m ittelgütern und durch die Beschleunigung der vertikalen Integration der Nahrungsketten erhöht, die beide die Verfügbarkeit industriell verarbeiteter Lebensmittel steigern. 34.  Während die Globalisierung von Nahrungsketten die ganzjährige Verfügbarkeit einer Vielfalt von Lebens­ mitteln für einige Verbraucher herbeigeführt hat, hat sie andererseits negative Auswirkungen auf örtliche Nah­ rungs­mittelsysteme gehabt und den ökologischen Fuß­ abdruck von Nahrungsmittelsystemen erhöht. Sie hat auch bei vielen Verbrauchern zu höherem Konsum von Hauptgetreidesorten, Fleisch und Milchprodukten, Pflan­zenöl, Salz und Zucker geführt, und eine geringere Auf­ nahme von Ballaststoffen zur Folge gehabt. Zum Beispiel kann die rapide Erhöhung des Pflanzen­ ölverbrauchs (und dabei von Fetten in der Ernährung) im Wesent­lichen mit der plötzlichen Verfügbarkeit von Pflanzenöl (insbesondere Sojaöl) zu niedrigen Preisen auf dem Weltmarkt erklärt werden.121 Größere auslän­ dische Direktin­ves­ti­tionen in die weiterverarbeitende Industrie und die Ex­pansion von Supermärkten haben industriell verarbeitete Lebensmittel, einschließlich insbesondere Soft­drinks, einer größeren Bandbreite von Verbrauchern zugänglich gemacht (allerdings nicht für die ärmsten unter ihnen). Zum Beispiel haben nordamerikanische Firmen nach Inkrafttreten des nordamerikanischen Frei­han­dels­­a bkommens ihre Investitionen in die mexikanische Nahrungsmittelverarbeitende Indus­ trie massiv erhöht (von $210 Millionen 1987 auf $5,3 Milliarden 1999), und der Verkauf von industriell verarbeiteten Lebens­mitteln in Mexiko stieg jährlich um 5 bis 10 Prozent zwischen 1995 und 2003.122 Der sich erge121 C. Hawkes, -Uneven dietary development linking the policies and processes of globalization with the nutrition transition, obesity and diet-related chronic diseases, Globalization and Health, Bd. 2, Nr. 4 (2006). 122 Ebd. (beachtenswert ist die Steigerung des Verbrauchs von Coca-Cola Getränken, von 275 Portionen zu 8 Unzen pro Person pro Jahr in 1992 auf 487 in 2002, das ist sogar höher als in den Vereinigten Staaten), siebte Seite. Siehe auch A. Jiménez-Cruz und andere, -Consumption of fruit, vegetables, soft drinks, and high-fat containing snacks among Mexican children, Archives of Medical Research,

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bende stark erhöhte Verzehr von Erfrischungsgetränken und Snacks bei mexikanischen Kindern ist die Ursache des sehr hohen Auftretens von Fettleibigkeit bei Kindern in diesem Land. 35.  Die Auswirkungen von zunehmend globalisierten Nahrungsketten und der Vereinheitlichung der Ernäh­ rung überall in der Welt haben verschiedene Aus­w ir­ kungen in allen Bevölkerungsgruppen. Wenn ein Land ein höheres Einkommensniveau erreicht, verschiebt sich die Last von Übergewicht und Fettleibigkeit. Das ärmste Bevölkerungssegment in armen Ländern ist kaum von Fettleibigkeit bedroht,123 wogegen es in Schwellen­ ländern mit gehobenen mittleren Einkommen (mit einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als etwa US$ 2.500 pro Kopf) und in einkommensstarken Ländern die Ärmsten sind, die am stärksten betroffen sind.124 In einkommensstarken Ländern tragen die Armen einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Lasten von Übergewicht und Fettleibigkeit, und dabei sind Frauen besonders gefährdet, da ihr Einkommen durchschnittlich niedriger ist als das der Männer, und weil Männer in der einkommensschwachen Gruppe oft körperlich an­ strengende Arbeiten mit hohem Energieverbrauch verrichten. Übergewichtige oder fettleibige Frauen bekommen oft Kinder, die häufig selbst übergewichtig oder fettleibig sind, was geringere Leistungsfähigkeit und Diskriminierung zur Folge hat. So geschieht es, dass sich sozio-ökonomische Benachteiligung durch die Generationen hindurch fortsetzt aufgrund von Überge­ wichtigkeit und Fettleibigkeit.

Bd. 33, Nr. 1 (2002), S.74-80; T.L. Leatherman und A.Goodman, -Coca-Colonization of diets in the Yucatan, Social Science and Medicine, Bd. 61, Nr. 4 (2005), S.833-846. 123 Zum Einblick in die Situation in Brasilien, siehe R.B.LevyCosta und andere, - Household food availability in Brazil: distribution and trends (1974-2003). Revista de Saúde Pública, Bd. 39, Nr. 4 (2005), S.530-540 (beachtenswert ist, dass bei der Einkommensklasse mit einem höheren Einkommen als fünf Mindestlöhne pro Kopf eine starke Steigerung des Verbrauchs von Fetten und eine Verringerung des Verbrauchs von Kohlenhydraten zu verzeichnen ist). 124 Popkin und Gordon-Larsen, -The nutrition transition, S.S6.

V. Schlussfolgerungen und Empfehlungen 48.  Der Sonderberichterstatter zieht die Schlussfolge­ rung, dass die gegenwärtigen Nahrungsmittelsysteme zu­t iefst dysfunktional sind. Die Welt zahlt einen extrem hohen Preis für das Versäumnis, bei der Gestaltung von Nahrungsmittelsystemen deren Auswirkungen auf die Gesundheit zu berücksichtigen, und ein Kurswechsel ist dringend nötig. Insbesondere in OECD Ländern, wo weiterhin landwirtschaftliche Subventionen in großer Höhe vergeben werden, zahlen bei dem gegenwärtigen System die Steuerzahler dreifach für ein System, das zu einer ungesunden Lebensführung führt. Steuerzahler zah­ len für fehlinvestierte Subventionen, welche die Agrar- und Lebensmittelindustrie zum Angebot stark ver­ a rbeiteter Lebensmittelprodukte anreizen anstatt zur Bereitstellung von Obst und Gemüse zu niedrigen Preisen; sie zahlen für die Vermarktungsbemühungen dieser Industrie für den Verkauf dieser ungesunden Lebensmittel, die vom zu versteuernden Gewinn abgeschrieben werden können; und sie zahlen für die Ge­ sundheitssysteme, für die nichtübertragbare Krank­hei­ ten heute zunehmend zu unbewältigbaren Belas­tungen werden. In Entwicklungsländern bleiben die Haupt­ probleme Unterernährung und Mikronähr­stoff­mangel, je­doch sind auch diese Länder Opfer dieser verfehlten Politik. Sie erleben eine rapide Umstellung auf industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die meist impor­ tiert werden, und eine Abkehr der lokalen Bevölke­ rung von traditionellen Ernährungsweisen. Dieser Wandel hat die Mög­lichkeiten lokaler Landwirte, ihren Lebensunterhalt durch die Landwirtschaft zu verdienen, deutlich reduziert. 49. Die Bekämpfung der verschiedenen Aspekte der Fehlernährung erfordert die Umsetzung des Konzepts der Gesamtlebensperspektive, welches das Recht aller auf eine angemessene Ernährungsweise garantiert und die Agrar- und Lebensmittelpolitik ein­schließlich der Besteuerung reformiert, um Nah­ rungsmittelsysteme so zu gestalten, dass sie nachhaltige Ernährungsweisen fördern. Ein starker politischer Wille, kontinuierliches Bemühen über mehrere Jahre hinweg, und die Zusammenarbeit verschiedener Sektoren, einschließlich Landwirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Bildung

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und Handel, sind für eine solche Veränderung notwendig. Gemäß diesen Schlussfolgerungen macht der Sonderberichterstatter die folgenden Empfehlungen. 50.  Entsprechend ihrer Verpflichtung, das Recht aller auf angemessene Nahrung zu achten, zu schützen und zu erfüllen, sollten Staaten: (a) eine nationale Strategie für die Umsetzung des Rechts auf angemessene Ernährung einführen, welche die Garantie des Rechts auf angemessene Ernährungs­weise für alle als Zielvor­gabe aufnimmt und spezifische Handlungsziele und Zeitrahmen setzt; (b) den Internationalen Kodex für die Vermark­ tung von Muttermilchersatzprodukten (Interna­t io­ nal Code of Marketing of Breast-Milk Substi­tutes) und die WHO Empfehlungen für die Ver­marktung von Muttermilcher­satzprodukten und von Lebens­ mitteln und nicht-alkoholischen Getränken an Kinder in Inlandsrecht umsetzen und ihre effektive Durchsetzung sicherstellen; (c) gesetzliche Regelungen für die Vermarktung von Lebensmittelprodukten verabschieden gemäß den WHO Empfehlungen, da dies das effektivste Instrument ist zur Reduzierung der Vermarktung von Lebensmitteln, die reich an gesättigten Fett­ säuren, Transfetten, Natrium und Zucker sind (HFSS Lebensmittel), an Kinder, und die Vermark­ tung dieser Lebensmittel an andere Gruppen reduzieren; (d) Steuern auf Softdrinks (Sodas) und HFSS Lebens­mittel erheben, um das Angebot von und den Zugang zu Obst, Gemüse und Bildungs­kam­ pagnen für gesunde Ernäh­rungsweisen zu subventionieren; (e) die bestehenden Systeme landwirtschaftlicher Sub­ven­t ionen überprüfen unter Einbe­zie­hung der Auswir­ kungen der gegenwärtigen Zah­ lungsrege­ lungen auf die öffentliche Gesund­ heit, und die Verfahren der öffent­l ichen Auftrags­vergabe für

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Schulküchen und andere öffentliche Institutionen dazu nutzen, dass eine Versor­­gung mit vor Ort produzierten, nahrhaften Lebens­­mitteln gestärkt wird, unter besonderer Beach­tung armer Verbraucher; (f) einen Plan für die vollständige Ersetzung von Trans­fetten durch mehrfach ungesättigte Fett­säu­ ren entwickeln; (g) die Unterstützung für Wochenmärkte und urbane und peri-urbane Landwirtschaft erhöhen bei Raum­­planungsmaßnahmen, durch finanzielle An­ reize und die Gewährleistung geeigneter Infra­ struktur zur Ver­bin­dung der Hersteller vor Ort mit den städtischen Ver­brauchern; (h) die Reform des Ständigen Komitees für Er­ nährung zum Abschluss bringen, um sicherzustellen, dass dem Thema der Ernährung im ganzen System der Vereinten Nationen angemessene Be­ ach­tung geschenkt wird unter der multilateralen Leitung der Regierungen und mit angemessener Partizipation von zivilgesellschaft­lichen Organisa­ tionen, einschließlich der Orga­ nisationen von Land­w irten. 51.  Gemäß seiner Verantwortung, das Recht auf angemessene Nahrung zu achten, sollte der private Sektor: (a) sich ganz an den Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilch­ersatz­pro­dukten hal­ten, auf die Bewerbung von Mutter­milch­ersatz­ produkten verzichten und die WHO Empfehlungen für die Ver­marktung von Lebens­mitteln und nichtalkoholischen Getränken an Kinder einhalten, auch dort, wo die örtlichen Kontrollen schwach oder nicht vorhanden sind; (b) auf die Durchsetzung ernährungsbezogener Inter­ven­tionen verzichten, wo lokale Ökosysteme nachhaltige Ernährungsweisen tragen können, und systematisch sicherstellen, dass solche Inter­ ven­ tionen lokalen Lösun­gen den Vorrang geben und der Zielvorgabe der Um­stellung hin zur nach­hal­ tigen Ernährung entsprechen;

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(c) bei den Beschaffungsketten angereicherter Lebens­­mittel und bei ernährungsbezogenen Inter­­­ ventionen sicherstellen, dass den Beschäf­t igten den Lebensunterhalt deckende Löhne gezahlt und dass Landwirten gerechte Preise für ihre Produkte gezahlt werden, damit das Recht auf angemessene Nahrung für alle von den Inter­ventionen betroffenen Menschen gesichert wird;

Ge­ samtlebensperspektive zur Ver­ besserung ihrer Effektivität und ihrer Fähig­keit, zu nachhaltigen, langfristigen Lösungen beizutragen, eingeführt werden sollte; (b) geeignete Schritte einleiten, um sicherzustellen, dass solche Interventionen lokale Nahrungs­mittel­ systeme stärken und der Umstellung auf nachhal­ tige Ernäh­rungs­weisen den Vorrang geben.

(d) ihr Angebot von HFSS Lebensmitteln auf gesündere Lebensmittel umstellen und den Ge­ brauch von Trans­fetten bei der Lebensmittel­ver­arbeitung ab­bauen. 52.  In Erfüllung des ihr von der Generalversammlung unter Ziffer 79 gegebenen Auftrags sollte die WHO: (a) die Wichtigkeit angemessener Ernährungs­ weisen bei der Umsetzung des Rechts auf angemessene Nah­rung und des Rechts auf den höchsten erreichbaren Ge­sund­heitsstandard berück­sichtigen, und Menschen­ rechts­ prinzipien wie die Rechen­ schaftspflicht, Partizipa­t ion und Nicht­­diskri­minie­ rung bei der Entwicklung eines umfassenden Systems für das globale Monitoring der Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten sowie in das sich in der Entwicklung befindlichen Indikatoren­system zur Ernährung integrieren; (b) die Ergebnisse des vorliegenden Berichts bei der Ausarbeitung von Empfehlungen für einen Katalog freiwilliger globaler Ziele für die Präven­tion und Kontrolle nichtübertragbarer Krank­heiten berücksichtigen. 53.  Die Initiative zur Verbesserung der Ernährungs­ situation (Scaling Up Nutrition Transition Team, SUN) und die bei SUN engagierten Interessengruppen sollten: (a) die Ziele von SUN dadurch verbessern, dass sie alle Interventionen auf die Menschen­ rechts­ prin­ zipien von Rechenschaftspflicht, Partizi­pa­tion und Nichtdiskrimi­n ierung gründen und auf breitere nationale Strategien zur Umsetzung des Rechts auf Nah­rung beziehen, wobei auch das Konzept der

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Kleinbauern in Kenia. Foto: Frank Schultze

10. Soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung Olivier De Schutter / Magdalena Sepulveda Auszug aus: Briefing Note 07, October 2012: Under­ writing the poor. A Global Fund for Social Protection. UN, Geneva 2012, Übersetzung Astrid Quick

1.   Die Förderung der Sozialen Sicherheit 1.1  Soziale Sicherheit Sozialversicherungen und Instrumente der sozialen Sich­erung stellen Unterstützungsleistungen bereit, welche die nötigen Finanzmittel für einen minimalen Lebens­ standard in Situationen sozialer Risiken und Not­­lagen sicherstellen. All diese Begriffe, die in diesem Auf­satz synonym verwendet werden, beziehen sich auf Systeme, die der Versorgung mit Unterstützungs­leis­ tungen in Form von Geldzahlungen oder Sachleistungen dienen, um Einzelne gegen Risiken wie den Verlust beruflichen Einkommens (oder unzureichendes Ein­kom­ men) abzusichern, verursacht durch Krankheit, Behin­ derung, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Arbeitslosig­ keit, Alter oder den Tod eines Familienmitglieds, mangelnden oder unerschwinglichen Zugang zu medizinischer Versorgung; unzureichende Unterstützung für die Familie, insbesondere für Kinder und finanziell abhängige Erwachsene; oder, allgemein ausgedrückt, Armut und soziale Ausgrenzung Laut ILO können Maß­ nahmen der sozialen Sicherung finanzielle Über­wei­

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sun­gen, öffentliche Arbeitsprogramme, Schul­sti­pen­ dien, Unter­stützung für Arbeitslose oder Behinderte, Sozial­rente, Lebensmittelgutscheine und Lebensmittel­ sach­leis­tun­gen, und Gebührenbefreiungen des Gesund­ heitssystems oder Ausbildungsbeihilfen einschließen. Die Programme sind entweder beitragspflichtig (Ver­ siche­rung) und erfordern im allgemeinen Pflichtbeiträge von Leistungs­berechtigten, Arbeitgebern und manchmal dem Staat, in Verbindung mit der Zahlung von Sozialleistungen und Verwaltungskosten aus einer gemeinsamen Kasse,125 oder beitragsfreie Leistungen, die wiederum entweder universal (Bereitstellung einer „Leistung für alle, die ein bestimmtes Risiko oder eine bestimmte Scha­dens­möglichkeit erfahren“126) oder zielgerichtet (Bereit­stel­lung von Leistungen für die, die sich in einer bestimmten Notsituation befinden) sein können. Soziale Sicherungssysteme können eine wichtige Rolle bei der Ab­sicherung von Menschen gegen extreme Armut, Deprivation und Zukunftsunsicherheit spielen. Ent­ scheidend wichtig ist, dass Maßnahmen der sozia­len Sicherung die Armen gegen die durch ver­­schie­ dene Extremsituationen verursachten Risi­ken absichern, für die sie besonders anfällig sind. Soziale Siche­ rungssysteme haben das Potential, zur Verwirk­lichung von grundlegenen Menschenrechten wie dem Recht auf Nahrung, Ausbildung und ausreichende gesundheitliche Versor­ g ung, und zur Be­ kämpfung systemischer

125 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment 19: The Right to Social Security, Abschnitt 4(a), U.N. Doc, E/C.12/GC/19 (4. Feb. 2008) (im Folgenden General Comment Nr. 19). 126 Ebd. in Abschnitt 4(b); übersetzt aus dem englischen Original.

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Ungleichheit beizutragen. Darauf aufbauend gibt die soziale Siche­rung Staaten ein Instrument an die Hand zur Unter­stützung marginalisierter Gruppen, zur Lösung unmittelbarer Probleme wie Hunger und Fehl­ernährung bei Kin­dern,127 und zur Förderung von Frau­en­rechten.128 Zum Beispiel haben die Bolsa Familia in Brasilien129 und die Unterstützung von Kindern (Child Support Grant) in Südafrika,130 die beide Geld­ zahlungen an arme Familien vornehmen, erfolgreich Kinderarmut und Hunger reduziert. Des Weiteren wird geschätzt, dass in Mit­g lieds­län­dern der Organisation für wirtschaftliche Zu­s­a m­men­a rbeit und Entwicklung (Orga­n isation for Economic Cooperation and Develop­ ment, OECD) Armut und Un­g leic­h heit etwa „halb so groß sind wie bei einem Fehlen solcher Sozialschutz­maß­nahmen erwartet werden könnte“.131 Sozialer Schutz kann also „Menschen helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und anzupassen, um die Hindernisse auf dem Weg zu ihrer vollen Partizipation in einer sich verändernden ökonomischen und sozialen Umgebung zu überwinden, und kann damit zu einer kurz- und langfristig verbesserten Human­kapital­ent­w ick­lung beitragen, und dadurch wiederum größere pro­duktive Akti­v ität erzeugen“.132 Und 127 Save the Children, A Chance to Grow: How Social Protection Can Tackle Child Malnutrition and Promote Economic Opportunities (2012). 128 Human Rights Research and Education Center, International Initiative to Promote Women’s Rights to Social Security, http://www.cdphrc.uottawa.ca/?p=4575 129 Decreto Nr. 5.209, de 17 setembro de 2004, Regulamenta a L-010.836-2004, Programma Bolsa Familia (Brazil), zu finden bei http://www.dji.com.br/decretos/2004-005209/2004005209.htm. Für weitere Informationen darüber, warum das Bolsa Familia Programm bei der Hungerbekämpfung erfolgreich war, siehe Report of the Special Rapporteur on the Right to Food, Olivier De Schutter, Mission to Brazil, A/HRC/13/33/Add.6 (19. Feb 2009), zu finden bei http://www.srfood.org/index.php/en/country-missions 130 South Africa, Child Support Grant, Social Assistance Act (204), For weitere Informationen über das Programm, siehe http://www.services.gov.za/services/content/Home/ ServicesForPeople/Socialbenefits/childsupportgrant/en/_ Z. Siehe auch Stephen Devereux, Building Social Protection Systems in Southern Africa (2010). 131 Advisory Report, s.o., Fußnote 2, S.xxiv, übersetzt aus dem englischen Original. 132 Advisory Report, s.o., Fußnote 2, S.xxii. Siehe auch ebd. Save

schließlich können Sozial­­schutz­systeme Wachs­tum und Entwicklung generieren, indem sie Geld­infusionen in lokale Ökono­mien unterstützen133 und das Human­ kapital in der Be­völ­kerung verbessern. 1.2. Das Recht auf soziale Sicherheit Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht, das in mehreren Quellen des Völkerrechts verankert ist. Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Uni­ versal Declaration of Human Rights, UDHR) schreibt das Recht auf soziale Sicherheit fest und definiert zusammen mit Artikel 25 das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der die Gesundheit und das Wohl­ befinden eines jeden und seiner Familie „einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicher­heit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwit­wung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unter­ haltsmittel durch unverschuldete Um­stände“.134 Artikel the Children, Fußnote 23, S.vi, übersetzt aus dem englischen Original. (Sozialschutz hat das Potential, in Armut lebeande Menschen mit der Kraft zur Veränderung ihrer Lebensgrundlage zu versehen, so dass sie voll in ihren Wirtschaften und Gesellschaften partizipieren können). 133 United Nations Int’l Labour Org. (ILO), Social Sec. Dep’t, Can Low-Income Countries Afford Basic Social Security? 1-2 (Social Security Policy Briefings, Nr. 3, 2008). (Durch die Erhöhung des Einkommens der Armen wird die inländische Nachfrage ge­stei­gert und Wachstum durch die Expansion des Inlandsmarkts erzeugt. Auf der makroökonomischen Ebene zeigt eine wachsende Zahl von Belegen, dass die Umverteilung einen positiven Effekt auf das Wachstum gerade in Ländern hat, in denen es große Ungleichheit gibt (AFD, 2004). Die Nettokosten frühzeitiger Investitionen in einige elementare Leistungen der sozialen Sicherheit können sogar gegen Null gehen oder negativ sein, da die fiskalischen Kosten durch positive Wirtschaftserträge und die größere Produktivität einer besser ausgebildeten, gesünderen und besser ernährten Erwerbsbevölkerung auf­gehoben werden können.). 134 Universal Declaration of Human Rights, s.o., Fußnote 3, bei Artikel 22, 25. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt generell als nicht bindend, obwohl einige Gelehrte anführen, dass es internationales Gewohnheitsrecht oder teilweise sogar ius cogens geworden ist. Siehe Peter van Dijk, The Universal Declaration is Legally Non-Binding: So What?, in: Reflections on the Universal Declaration of Human Rights: A Fiftieth Anni-

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9 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Inter­na­t ional Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR) bekräftigt das Recht auf soziale Sicher­heit, einschließlich der Sozialversicherung.135 Deswei­ te­ ren schützen Artikel 26 der Kinderrechts­ kon­ vention (Convention on the Rights of the Child)136 und Artikel 11 der Konvention zur Be­seitigung aller Formen von Diskriminierung von Frauen (Convention on the Elimi­nation of All Forms of Dis­crimination Against Women)137 ausdrücklich das Recht von Kindern und Frauen auf soziale Sicherung. Das Recht auf soziale Sicherheit wurde maßgeblich von dem UN Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Committee on Economic, Social and Cultural Rights, CESCR) im Allgemeinen Kommentar Nr. 19, Das Recht auf Soziale Sicherheit, definiert. Es umfasst „das Recht, ohne Diskriminierung Leistungen in Form von Geldzahlungen oder Sachleistungen in Anspruch zu nehmen und zu erhalten, beispielsweise als Schutz unter anderem vor (a) einem Mangel an Arbeitseinkommen verursacht durch Krankheit, Behin­ derung, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit, Alter oder dem Tod eines Familienangehörigen; (b) unerschwinglichem Zugang zur Gesundheitsfürsorge und (c) unzureichender Unterstützung der Familie, vor allem für Kinder und finanziell abhängige Erwachsene“.138 Desweiteren schließt das „Recht auf soziale Sicherheit das Recht ein, nicht willkürlichen und unbegründeten Beschränkungen der bereits bestehenden öffentlichen oder privaten sozialen Absicherung, sowie das Recht auf gleichberechtigten und angemessenen Schutz vor sozialen Risiken und Schadensmöglichkeiten.“139 versary Anthology 108 (Netherlands Ministry of Foreign Affairs ed., 1998); Joan Church u.a., Human Rights From a Comparative and International Law Perspective 166-67 (2007). 135 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, Art.9, G.A. Res. 2200A, U.N. Doc. A/RES/21/2200A (16. Dez. 1966), (im Folgenden ICESCR). 136 Convention on the Rights of the Child, 20. Nov 1989, 1577 U.N.T.S.3. 137 S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90 138 General Comment No. 19, s.o., Fußnote 19, Abschnitt 2, übersetzt aus dem englischen Original. 139 Ebd. Abschnitt 9, übersetzt aus dem englischen Original.

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Der Hauptinhalt des Rechts auf soziale Sicherheit wird also maßgeblich in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 19 definiert. Wie auch bei anderen wirtschaftlichen und ­ sozialen Rechten, umfasst der zentrale Inhalt des Rechts auf soziale Sicherheit Elemente der Verfügbarkeit, Zu­ gänglichkeit und Angemessenheit. Verfügbarkeit meint, dass eine nachhaltige, im Inlandsrecht verankerte soziale Absicherung vorhanden ist, „um sicherzustellen, dass Un­terstützungsleistungen für wichtige soziale Risi­ken und Schadensmöglichkeiten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen bereitgestellt werden“.140 Ange­ messenheit bedeutet, dass Unterstützungs­leis­tun­gen „in Höhe und Dauer angemessen sein müssen, so dass jeder das Recht auf Schutz und Hilfe für die Familie, auf einen angemessenen Lebensstandard und angemessenen Zugang zur Gesundheitsfürsorge verwirklichen kann.“ Dabei sollten Staaten die Prinzipien der Menschen­ würde und Nichtdiskriminierung voll achten. Und schließlich umfasst die Zugänglichkeit mehrere Ele­ mente, darunter die Abdeckung aller Personen,141 sinnvolle, ver­hält­n is­mäßige und transparente An­spruchs­­ kriterien, erschwingliche Beiträge im Fall von bei­­­­trags­ pflichtigen Systemen, die Partizipation der Leis­tungs­be­ rechtigten bei der Verwaltung der Sozial­siche­rungs­sys­ teme (um Rechenschaftspflicht und Bedürfnis­orien­tie­ rung des Systems sicherzustellen) und die Recht­zeitigkeit des tatsächlichen Zugangs der Unter­stützungsleistungen. All­ gemein ausgedrückt erfordert die Zugänglichkeit, dass Staaten besonders auf die Entwicklung solcher Pro­ gramme achten, die auf den Prinzipien von Nicht­dis­ kriminierung und Gleich­be­rech­­t igung aufbauen, darunter insbesondere der Ge­schlechtergleichstellung, mit der Bedürfnis­er­kennung von oft unzureichend geschützten Beschäf­ t igten (d.h. Teilzeitbeschäftigte, Gelegen­ heits­

140 Ebd. Abschnitt 11. Das Komitee führt neun Hauptbereiche der sozialen Sicherung an, die durch den Staat abgedeckt werden sollten: Gesundheitsfürsorge, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle, Unterstützung für Familien und Kinder, Mutterschaft, Behinderung und Hinterbliebene und Waisen. Ebd. Abschnitt 13-21, übersetzt aus dem englischen Original. 141 Ebd. Abschnitt 23. „Alle Personen sollten abgedeckt sein, ... insbesondere solche, die zu den am meisten benachteiligten und marginalisierten Gruppen gehören, ohne Diskriminierung“. Übersetzt aus dem englischen Original.

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arbeiter/innen, Selb­ stständige und Heim­ a rbeiter/innen) und von den im informellen Sektor Beschäftigten, sowie von gefährdeten oder marginalisierten Gruppen, einschließlich indigener Volksgruppen, Minderheiten­ gruppen, ausländischer Gruppen, Binnen­ flüchtlingen 142 und Binnen­migranten. Wie bei anderen ökonomischen und sozialen Rechten, müssen Staaten das Recht auf sozialen Schutz achten, schützen und erfüllen. Die Verpflichtung zur Achtung erfordert, dass Staaten „den Einzelnen nicht direkt oder indirekt an der Ausübung seiner Menschenrechte hindern“.143 Die Verpflichtung zum Schutz erfordert, dass Staaten Einzelne gegen Eingriffe in sein Recht auf soziale Sicherheit durch Dritte schützen.144 Und schließlich erfordert die Verpflichtung zur Erfüllung, dass Staaten „die notwendigen Maßnahmen treffen, einschließlich der Einrichtung eines sozialen Sicherungssystems, zur vollen Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicher­ heit“.145 Die Erfüllungsverpflichtung ist in drei Unter­ ver­pflichtungen aufgeteilt: die Erleichterungs­ver­pflich­ tung (zum Ergreifen positiver Maßnahmen, um Ein­­­­ zelne und Gemeinden bei der Ausübung des Rechts auf soziale Sicherheit zu unterstützen), die Förderungs­ verpflichtung (zum Gebrauch von Bildung und öffentlicher Bewusstseinsbildung zur Information über den Zugang zur sozialen Sicherung) und die Versorgungs­ verpflichtung (zur Verschaffung des Rechts auf soziale Sicherheit, wenn Einzelne oder Gruppen unverschuldet nicht fähig sind, selbst das Recht innerhalb dem bestehenden Sozialsicherungssystem zu verwirklichen).146 Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit impliziert auch mehrere verfahrenstechnische Anfor­ derungen, die den Entscheidungsfindungs- und Umsetzungsprozess leiten. Diese schließen die Menschenrechtsprinzipien

von Parti­zi­pation, Rechenschaftspflicht, Nicht­dis­­k rimi­ nierung, Trans­­parenz, Menschenwürde, Ermächtigung und Rechts­­staatlichkeit ein (Participation, Accounta­ bility, Non-discrimination, Transparency, Human dignity, Empower­ment and Rule of law, PANTHER-Prin­ zipien) gemäß dem von der Ernährungs- und Landwirt­ schafts­ organisation FAO entwickelten „PANTHER“ Rah­ men­ werk, das auf dem Gemeinsamen Konzept zum Menschen­ rechtsansatz der UN Organisationen (UN Common Understanding on a Human Rights Based Approach) aufgebaut ist.147 Partizipation bedeutet, dass jede Person und alle Völker zur aktiven, freien und sinnvollen Teilnahme und Mitwirkung an den sie betreffenden Entscheidungs­fi ndungsprozessen berechtigt sind. Die Rechenschafts­pflicht erfordert, dass gewählte Repräsentanten, Regie­r ungsbeamten und andere Amts­t räger durch juristische Verfahren oder andere Mecha­n ismen für ihre Hand­lungen zur Verantwortung gezogen werden, und damit effektive Rechtsmittel im Fall von Rechts­ver­letzungen eingesetzt werden können. Die Nichtdis­kriminierung verbietet willkürliche Differen­zierungen in der Behand­lung und fordert die Ausrich­tung auf die am meisten marginalisierten Be­ völkerungs­segmente. Die Transpa­renz erfordert, dass Menschen von Prozessen, Ent­schei­dungen und Ergeb­ nissen Kennt­n is haben können. Die Menschenwürde erfordert, dass Menschen menschenwürdig behandelt werden und dass sie nicht zur Befrie­ digung ihrer Grundbedürfnisse auf ihre Menschenrechte verzichten müssen, während die Ermächtigung erfordert, dass sie in der Lage sind, auf ihr Leben betreffende Entschei­ dun­ gen Einfluss zu nehmen. Zuletzt erfordert die Rechts­staatlichkeit, dass jedes Mitglied der Gesell­ schaft, einschließlich der Ent­ scheidungsträger, sich nach dem Gesetz richten muss. Und schließlich stellt ein rechtlich begründeter Ansatz zur sozialen Sicherheit sicher, dass Einzelne Hand­lungs­ optionen haben, wenn Verletzungen der Verpflichtung

142 Ebd. Abschnitt 29-39. 143 Ebd. Abschnitt 44, übersetzt aus dem englischen Original. 144 Ebd. Abschnitt 45. Dritte sind Einzelne, Gruppen, Körperschaften oder jede andere juristische Person. 145 Ebd. Abschnitt 47, übersetzt aus dem englischen Original. 146 Ebd. Abschnitt 47-51, übersetzt aus dem englischen Original.

147 United Nations Food & Agric. Org. (FAO), The Right to Food Unit, Guide to Conducting a Right to Food Assessment Feld 2.1 (2009), zu finden bei http://www.fao.org/righttofood/ publi_en.htm. Siehe auch United Nations Development Group (UNDG), Human Rights-Based Approach to Development Programming, http://www.undg.org/P=221

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zur Achtung, zum Schutz und zur Erfüllung des Rechtes auf soziale Sicherheit geschehen. Dies bedeutet, dass Einzelnen die Vorteile und Leistungen der sozialen Sicherung nicht unrechtmäßig entzogen werden können und dass der Staat rechenschaftspflichtig ist sowohl für die Leistungen des Sozialschutzes selbst, als auch für die Instrumente, durch die sie bereitgestellt werden. Wenn Einzelnen unrechtmäßig Leistungen entzogen werden, auf die sie Anspruch haben, dann fordert ein Menschen­ rechtsansatz eine Rückerstattung und stellt ihre An­ sprüche zukünftig sicher. Außerdem fordert ein rechtlich begründeter Ansatz die Beobachtung, Bewer­tung und Aktualisierung von Programmen, um ihre Effektiv­ität, Transparenz und Rechenschaftspflicht sich­er­­zustellen.148 1.3. Das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung Das Recht auf soziale Sicherheit ist zutiefst mit dem Recht auf angemessene Ernährung verbunden. Soziale Sicherung kann eine wichtige Rolle spielen bei der Verbesserung der Möglichkeiten Einzelner, Zugang zu Nahrung zu haben. Wirtschaftlicher Zugang setzt voraus, dass Einzelne die Kaufkraft und die Möglichkeiten zur Nahrungsmittelbeschaffung von Märkten haben.149 Wenn Einzelnen die Sicherung ausreichenden Ein­ kommens aus Gründen von Behinderung, Arbeitslosig­ keit, Gesundheit oder Armut nicht möglich ist, dann muss der Staat unterstützend eingreifen und damit seiner Verpflichtung zur Erfüllung des Rechts auf Nahrung

nachkommen.150 Durch die Erfüllung des Rechts auf Nah­rung durch soziale Sicherung können Staaten sicherstellen, dass Hunger nicht stigmatisiert und dass Einzelne ein Leben in Würde führen können, bei dem sie Wahlmöglichkeiten für ihr Leben und ihren Nah­ rungs­mittelverbrauch haben und ohne Angst vor Hunger leben können. Soziale Sicherheit kann unmittelbar Hunger stillen, aber auch der Angst vor Hunger in der Zukunft abhelfen. Ein neuerer Bericht des hochrangigen UN-Expertengremiums über Nahrungs­ siche­ rung und Ernährung (High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition), das durch das Komitee für Welternährung (Committee on World Food Security, CFS) eingesetzt wurde, beschreibt prägnant die Ver­ bindung zwischen langfristiger Nahrungssicherheit und sozialer Sicherheit : „Menschen, die bereits unter Armut leiden, sind von Hunger bedroht, da ihnen täglich die Ressourcen zur Befriedigung ihrer Grund­bedürfnisse fehlen. Sie stehen außerdem ständig in großer Gefahr, dass sie durch auch nur kleine Er­schütterungen Elend, Hunger und sogar vorzeitigen Tod ausgesetzt werden. Eine geeignete Reaktion sozialer Sicherungssysteme auf chronische, armutsbedingte Nahrungsunsicherheit ist das Angebot sozialer Unter­stützung in Verbindung mit Fördermaßnahmen für die Lebensgrundlagen zur Einkommenssteigerung. Menschen, die heute noch nicht arm sind, aber mit dem Risiko zukünftiger Armut leben müssen, sind für Hunger anfällig, wenn diese Risiken auftreten und die Menschen nicht angemessen gegen sie geschützt sind (sie werden zeitweilig Nah­ rungsunsicherheit erleben).“151

148 Ebd. Abschnitt 74-81. 149 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment 12: The Right to Adequate Food, Abschnitt 13, U.N. Doc.E/C. 12/1999/5 (12. Mai 1999). Im Folgenden General Comment Nr. 12: „Wirtschaftliche Zugänglichkeit impliziert, dass die finanziellen Kosten von einzelnen Personen und Haushalten, die mit der Nahrungsmittelbeschaffung für eine angemessene Ernährung verbunden sind, auf einem solchen Niveau liegen sollten, dass die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse nicht bedroht oder gefährdet sind. Wirtschaftliche Zugänglichkeit gilt für alle Beschaffungsmuster oder Inanspruchnahme, durch die Menschen ihre Nahrungsmittel erwerben und ist ein Maßstab für die ausreichende Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung.“ Übersetzt aus dem englischen Original.

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150 Ebd. Abschnitt 15 „Die Erfüllungsverpflichtung (Erleichterungsverpflichtung) bedeutet, dass der Staat Strategien entwickeln und Programme durchführen muss, um den Zugang der Menschen zu und ihre Nutzung von Ressourcen und Mitteln zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, einschließlich der Nah­ rungssicherung, zu verbessern. Außerdem haben Staaten eine Erfüllungsverpflichtung (Versorgungsverpflichtung) in Bezug auf das Recht auf angemessene Nahrung, wenn Einzelne oder eine Gruppe unverschuldet nicht fähig ist, das Recht auf angemessene Nahrung durch die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu verwirklichen.“ Übersetzt aus dem englischen Original. 151 CFS High Level Panel Report, s.o., Fußnote 6, S.11. Übersetzt aus dem englischen Original.

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Brot für die Welt Projekt Burkina Faso: Überleben im Klimawandel

Martine Quedrago vor der Gesundheitsstation des Dorfes Soaw, Burkina Faso. Foto: Christoph Püschner

Das westafrikanische Land kämpft gegen zunehmende Trockenheit. Viele Kinder haben nicht genug zu essen und sind daher anfällig für Krankheiten. In Burkina Faso stirbt jedes fünfte Kind vor seinem fünften Ge­ burtstag. Das kirchliche Entwicklungsbüro ODE leistet Gesundheitsfürsorge und hilft den Bauern, sich an die Klimaveränderungen anzupassen. Martine Ouedraogo sitzt vor der Gesundheitsstation des Dorfes Soaw und hat die einjährige Augustine auf ihrem Schoß. Mit ihr warten viele Dutzend Mütter mit ihren Säuglingen auf Betreuung. „Ihr dürft nur das Wasser aus den Brunnen trinken!“, erklärt ihnen eine junge Krankenschwester. „Aber das Wasser aus dem See schmeckt besser!“, erwidert eine Mutter. „Vom See­ wasser bekommt ihr Durchfall“, sagt die Kranken­ schwester. „Und damit eure Kinder gesund bleiben, müsst ihr vor dem Stillen eure Brüste mit Brunnenwasser waschen.“

Gesund aufwachsen Martine Ouedraogo hört aufmerksam zu. 28 Jahre ist sie alt und Mutter von drei Kindern. Sie sollen es einmal besser haben als ihre Mutter; die nie lesen und schreiben gelernt hat. Vor allem sollen sie gesund aufwachsen. Bevor Augustine gewogen und geimpft wird, lernt sie alles, was eine Mutter über Hygiene wissen muss. Die Krankenschwester, die sie unterrichtet, arbeitet beim Office de Développement des Eglises Evangéliques (ODE). Das kirchliche Entwicklungsbüro kümmert sich nicht nur um die Gesundheitsvorsorge. Die allgemeine Klimaveränderung zwingt dazu, sich auf die Ernäh­rungssicherung zu konzentrieren: Am Südrand der Sahelzone deutet alles darauf hin, dass sich die Trocken­heit dauerhaft ausdehnen wird. 90 Prozent der Menschen leben allein von dem, was sie ernten. „Manch­mal haben wir nicht genug zu essen“, sagt Martine. Bauernfamilien steigern ihre Erträge Vieles hat sich bereits zum Guten gewendet. Ihr Mann Justin, den ODE ausgebildet hat, berät andere Bauern in nachhaltiger Landwirtschaft. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Erosion ihrer Äcker und für die Steigerung ihrer Ernten. Sie bauen Steinwälle gegen den Wind, der den Mutterboden abträgt, legen Komposthaufen und Dunggruben an. Offenbar mit Erfolg: „Das Gemüse auf unseren Felder gedeiht besser“, sagt Martine. Sie schmiedet bescheidene Zukunftspläne: „Ich hoffe, durch bessere Erträge in Zukunft genug Geld für meine Familie zu haben, um Schulgebühren, Kleidung und Medizin bezahlen zu können.“

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11. Internationaler Agrarhandel und Entwicklungsländer Harald von Witzke Erschienen in: Kirche im ländlichen Raum 2/2013, S. 25. 28-29 Eine der ersten Dinge, die Agrarstudenten in der Lehr­ ver­anstaltung „Einführung in die Volkswirtschafts­lehre“ lernen, ist, dass ein liberales internationales Han­dels­ system für alle Beteiligten das Beste aus den knappen Ressourcen der Weltlandwirtschaft macht und dass Han­delsbeschränkungen die soziale Wohlfahrt der Welt insgesamt verringern. Das traditionelle Paradigma des internationalen Agrar­ handels besagt, dass die Entwicklungsländer einen kom­ ­pa­rativen Kostenvorteil in der Produktion von Agrar­ gütern haben und sie diese daher exportieren sollten. Dagegen sollten die reichen Länder Industriegüter exportieren und Agrargüter importieren. Dieses Para­dig­ ma basiert auf der Annahme, dass für die Produktion von Nahrungsgütern viele Arbeitskräfte mit geringem Ausbildungsstand und daher mit relativ geringen Löh­ nen notwendig sind. Diese sind in den armen Ländern relativ reichlich vorhanden. Also sollte man erwarten, dass sie solche Güter exportieren. Die Realität sieht genau umgekehrt aus. Die Ent­w ick­ lungsländer waren einst Nettoexporteure von Nah­ rungs­­gütern im Handel mit den reichen Ländern. In­ zwischen sind sie aber Nettoimporteure geworden. Und die Nahrungslücke der armen Länder nimmt weiter zu. Die reichen Länder der Welt haben damit begonnen, ihre Importbeschränkungen zu lockern. Die EU ist inzwischen zu einem der weltgrößten Nettoimporteure, bezogen auf die agrarischen Rohstoffe, geworden. Wenn das traditionelle Paradigma des internationalen Agrar­ handels stimmen würde, hätten die Entwicklungsländer ihre Nettoimporte zumindest verringern müssen. Das Gegenteil ist indes passiert. Die armen Länder der Welt zeichnen sich durch ein rasches Bevölkerungswachstum aus. Arbeit wird dadurch

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immer reichlicher verfügbar und relativ billiger. Wenn also tatsächlich preiswerte, ungelernte Arbeit der Schlüssel zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Agrarproduktion wäre, hätten sich die Nettoimporte der Entwicklungsländer auch aus diesem Grund verringern müssen – was aber nicht geschehen ist. Das traditionelle Paradigma des internationalen Agrar­ handels kann damit als falsifiziert gelten. Zum einen sind für die kostengünstige Produktion von Nahrungs­ gütern von Qualitäten, für die in den reichen Ländern eine Nachfrage besteht, relativ viel Kapital und Human­ kapital (gut ausgebildete Arbeitskräfte) notwendig. Beide sind aber in den Entwicklungsländern relativ knapp und damit relativ teuer, während sie in den Indus­ t rieländern relativ reichlich und damit relativ preiswerter vorhanden sind. Zum anderen ist die grobe Einteilung in Agrar- und Industriegüter nicht hinreichend, um die internationalen Handelsströme im Agrar- und Ernährungsbereich zu verstehen. Auch wenn die Entwicklungsländer per Saldo Nahrungsgüter importieren, so gibt es doch auch Märkte, auf denen zumindest einige Entwicklungsländer als Exporteure auftreten. Hierzu zählen u. a. Kaffee, Tee, manche Gewürze oder tropisches Obst und Gemüse. Dies hat zum einen natürlich damit zu tun, dass die meisten Entwicklungsländer sich in Regionen mit tropischem oder subtropischem Klima befinden und sie diese Güter mit einem geringeren Einsatz von Ressourcen produzieren können als Länder mit anderen agroklimatischen Bedingungen. Man stelle sich vor, man würde versuchen, Ananas im Allgäu zu produzieren. Die Böden würden dieses zulassen. Auch gibt es dort für die Produktion von Ananas genügend Niederschläge. Aber die Temperaturen sind für die Produktion von Ananas viel zu gering. Also müsste man ein Gewächshaus bauen und dieses die meiste Zeit des Jahres auch noch heizen. Damit wäre die Produktion von Ananas viel zu teuer und auch der CO2 Fußabdruck wäre enorm. Also ist es oft nicht sinnvoll, regional zu kaufen, sondern aus anderen Ländern importierte Nahrungsgüter zu kaufen, wenn die Preise hierfür niedriger sind als die

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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema

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für Nahrungsgüter aus heimischer Produktion. Dabei ist auch zu bedenken, dass man auf diese Weise Be­ schäftigung und Einkommen der Bauern und Land­a r­ beiter in den armen Ländern ermöglicht. Eine Möglichkeit, die komparativen Nachteile der Agrar­­produktion in den armen Ländern auszugleichen, besteht darin, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Denn auf diese Weise werden nicht nur Kapital und gut ausgebildete Fachkräfte ins Land gebracht, sondern auch das Wissen um den Zugang zu den Märkten in den reichen Ländern. Ein Beispiel hierfür ist die Pro­ duk­tion und der Export von Ananas aus Ghana. In Afrika gibt es viele Länder, die über ähnliche agro-klimatische Bedingungen verfügen wie Ghana. Was Ghana von den anderen Ländern unterscheidet, ist, dass dieses Land erfolgreich um ausländische Direkt­inves­ titionen in der Ananasproduktion geworben hat, sodass in diesem Land produzierte Ananas heute in den Märkten der reichen Länder zu finden sind. Ähnlich verhält es sich mit den so intensiv diskutierten ausländischen Investitionen in das Ackerland von Ent­ wicklungsländern. Diese haben das Potential, ebenfalls Kapital und Wissen in die Entwicklungsländer zu bringen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Ent­ wicklung der Landwirtschaft in diesen Ländern zu leisten. Allerdings haben in der Vergangenheit solche In­ves­­­­titionen oft nicht den vollen möglichen Gewinn für die Entwicklungsländer gebracht. Dies war nämlich immer dann der Fall, wenn die Regierungen der beteiligten Entwicklungsländer den Bauern keine durchsetzbaren Eigentumsrechte an den von ihnen genutzten Flächen gewährt haben. In solchen Fällen konnten die ausländischen Investoren die bisherigen Landnutzer von den bisher von ihnen genutzten Flächen vertreiben, was natürlich den potentiellen wirtschaftlichen Nutzen für die beteiligten Entwicklungsländer geschmälert hat und natürlich auch politisch nicht besonders akzeptabel war. Gesicherte Eigentumsrechte sind aber auch für die Investoren wichtig. Andernfalls können auch sie vom Land vertrieben werden. Dies ist auch ein Grund dafür, dass ein beträchtlicher Teil der angekündigten Inves­ titionen nie durchgeführt wurden.

Vor fast genau 200 Jahren veröffentlichte der britische Ökonom David Ricardo ein Buch, in dem er die Trieb­ kräfte der internationalen Handelsströme identifizieren konnte, nämlich relative Unterschiede in den Kosten der Produktion, die verursacht wurden durch relative Unterschiede in der Produktivität. Damit war gleichzeitig auch klar geworden, dass internationale Wett­ be­ werbsfähigkeit endogen ist. Das war eine wichtige neue Erkenntnis. Wenn es also gelingt, die Produktivität zu steigern, kann ein Land auf einem Markt international wettbewerbsfähig werden und das betreffende Gut exportieren. In den Regionen der Welt ist der Hunger am ausgeprägtesten, in denen die Bauern keinen Zugang zu elementaren produktiven Technologien haben, die in den reichen Ländern schon seit Langem erfolgreich eingesetzt werden. Hierzu zählen insbesondere die bodensparenden Technologien, wie etwa Mineraldünger, moderner Pflan­ z­ enschutz oder züchterisch bearbeitetes Saatgut. Auch Verbesserungen in die öffentliche und private Infra­ struktur für Lagerung, Transport, Verarbeitung und Ver­ teilung können helfen. Wenn nun noch gute Re­ g ie­ rungsführung sowie fundierte Ausbildung und Be­ra­tung der Bauern und eine liberale Agrarmarkt- und -handelspolitik hinzukommen, steht dem Erfolg entwicklungspolitischer Bemühungen sowohl der Regie­rungen der Entwicklungsländer als auch der internationalen Ent­ wick­lungshilfe nicht mehr viel im Wege. Dies gilt besonders dann, wenn das Engagement des Privat­sektors auch der reichen Länder für Entwick­lungs­maß­nahmen ermutigt werden kann.

Gemeinsame Mahlzeit auf dem Feld, Peru. Foto: Thomas Lohnes

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12. UN-Report: Eine neue globale Partnerschaft – Armut besei­ti­gen und Volkswirtschaften trans­ formieren – durch nachhaltige Entwicklung Kurzzusammenfassung des UN-Reports des Highlevel Panel of Eminent Persons on the Post-2015 Development Agenda „A new global partnership: eradicate poverty and transform economies through sustainable development”, UN Publications New York 2013 Am 30. Mai 2013 hat das „High-Ievel Panel of Eminent Persons on the Post-2015 Development Agenda” fristgerecht seinen Bericht mit dem Titel „A new global partnership: eradicate poverty and transform economies through sustainable development” an den General­sek­ retär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon in New York übergeben. Anschließend wurde der Bericht durch den Co- Vorsitzenden des Panels, den indonesischen Staats­ präsidenten Susilo Babang Yudho­yono, der General­ver­ sammlung vorgestellt. Prof. Dr. Köhler, Bundes­präsi­ dent a.D., war auf Vorschlag der Bundesregierung in das hochrangige Gremium berufen worden. Der Auftrag des 27-köpfigen, mit Mitgliedern aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus allen Teilen der Welt besetzten Gremiums war innerhalb von 9 Monaten, ehrgeizige, aber zugleich auch praktikable Vorschläge für eine globale Agenda als Folge­ konzept für die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) zu erarbeiten. Das Panel hat vielfältige Kon­ sultationen mit Zivil­gesellschaft, Nichtre­g ierungs­orga­ nisationen, Wissen­schaft­lern und Unternehmen geführt und diese Stimmen im Bericht berücksichtigt. Aus Sicht des Panels trägt er „the voice of the poor“ ausdrücklich Rechnung, ist aber gleichzeitig wissenschaftlich basiert, wie die Anhänge darlegen. Leitmotiv der Post 2015-Agenda und Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit soll nach den Vorstellungen des Panels eine globale Partnerschaft sein. Das Panel hält es für möglich, die extreme Armut in der Welt bis 2030 zu beseitigen. Es wirbt dafür, Entwicklungs- und

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Nachhaltigkeitsziele in einem gemeinsamen Zielsystem zu vereinen. Es legt mit dem Bericht, dem sechs An­ hänge beigefügt sind, seine Vision und Prioritäten vor und plädiert für einen Paradigmenwechsel, weg von einer reinen Entwicklungs- und hin zu einer globalen Agenda mit Verantwortung für Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer in einer globalen Partnerschaft mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen. Das Panel ist der Auffassung, dass die Post-2015 Agenda einer der wichtigsten politischen Prozesse der Dekade werden wird. Staatenvertreter z.B. aus Südkorea haben dem Generalsekretär bereits angekündigt, eine neue starke Arbeitseinheit zu schaffen, die an der Post-2015 Agenda arbeiten wird. Das Panel empfiehlt bis 2030 eine globale strukturelle Transformation zu vollziehen, welche fünf Elemente umfassen sollte: „„ „Leave no one behind – Die neue Agenda soll weltweit Hunger und Armut beseitigen und allen Menschen einen würdevollen Lebensstandard ermöglichen. Die neue Agenda beendet, was die MDGs begonnen haben, geht dabei aber in Ambition und Qualität über die MDGs hinaus, indem sie etwa Ungleichheit mit einbezieht. „„ „Put sustainable development at the core“ – Um Wohlstand für alle zu ermöglichen und dabei die planetaren Grenzen nicht zu überschreiten, muss eine strukturelle Transformation hin zu ökologischem Wirt­ schaften erfolgen. Dabei geht es vor allem auch um die Veränderung von nicht nachhaltigen Konsum- und Pro­ duktionsmustern weltweit. Industrieländer müssen hierbei als Vorbilder voran gehen. Entwicklungs- wie auch Schwellenländer sollen unterstützt werden, bei künftigem Wachstum auf umweltverträgliche Technologien zu setzen. „„ „Transform economies for Jobs and inclusive growth” – Das Panel ruft dazu auf, nicht mehr auf „Wachstum um jeden Preis“ zu setzen. Wachstum soll künftig vielmehr darauf ausgerichtet werden, dass mehr und gute Arbeitsplätze, insbesondere für Ju­gendliche entstehen. Bis 2030 werden voraussichtlich 470 Mio.

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Menschen zusätzlich auf den Arbeits­markt kommen, vor allem in Afrika und Südasien, wo informelle Beschäftigung zu niedrigsten Löhnen weit verbreitet ist. Neue Technologien, Diversifizierung, eine bessere Infrastruktur und ein förderliches Umfeld für unternehmerische Aktivitäten auf nationaler wie auf internationaler Ebene sollen diese Veränderung herbeiführen. „„ „Build peace and effective, open and accountable institutions“ – Freiheit von Gewalt und Konflikt ist grundlegendes Menschenrecht und unabdingbares Fundament für jede Art von Wohlstand. Eine ebenso fundamentale Rolle haben auch gute Regierungs­füh­ rung, Zugang zu Justiz, Freiheit vor Diskriminierung und Verfolgung sowie politische Partizipation. „„ 
„Forge a new global partnership“ – Leitmotiv der Post-2015 Agenda und Grundlage für die künftige Zu­ sammenarbeit soll nach den Vorstellungen des Panels eine neue globale Partnerschaft sein, welche die starke Vernetzung der Welt widerspiegelt und von dem Be­w usstsein geprägt ist, dass eine langfristige Siche­ rung von Wohlstand nur möglich ist, wenn auch die Zu­kunfts­perspektiven anderer Länder- das globale Ge­ mein­­wohl – berücksichtigt werden. Eine solche Par­t­ ner­schaft zeichnet sich durch eine gemeinsame Werte­ grundlage und eine Kooperation auf Augenhöhe aus. Als Teil des Partnerschaftsgedankens soll die Ver­ant­ wor­tung für „Global Public Goods“, wie z.B. für ein faires und offenes Handelssystem, für eine krisensichere globale Finanzstruktur sowie für Maßnahmen zur Be­ kämpfung des Klimawandels gemeinsam getragen werden. Der „Norden“ ist hier besonders gefordert. … … Um die Rechenschaftspflicht aller Akteure sicher zu stellen, sprach sich das Panel nachdrücklich dafür aus, ein transparentes Monitoring-System einzurichten. Dieses solle bei den Vereinten Nationen angesiedelt sein und durch Peer-Reviews sowie ein unabhängiges Expertengremium verstärkt werden.

„„ Universalität der globalen Post-2015 Agenda, d. h. alle Länder tragen Verantwortungen und müssen einen Beitrag leisten. „„ Globale Partnerschaft als gleichberechtigte Part­ ner, mit gemeinsamer Wertebasis und struktureller Transformation als neuem Paradigma, um den wachsenden globalen Abhängigkeiten und Wechsel­wir­kun­gen zwischen Akteuren und Sektoren Rechnung zu tragen (Nexus). „„ Erstmals Aufnahme von globalen förderlichen Rahmen­bedinqunqen wie Finanzsystemstabilisierung und Klimawandel sowie Frieden und Sicherheit. Der Bundespräsident a.D. hat sich insbesondere bei folgenden Themen engagiert bzw. diese in die Diskussion eingebracht: „Globale Partnerschaft”, „Jobs and Pers­ pec­tives for the Youth”, „Financing for Development and Global Financial Markets” sowie „On Capital Flight in Africa”.

Weitere Informationen: http://www.post2015hlp.org/wp-content/ uploads/2013/05/UN-Report.pdf nachfolgend der Link zum Briefing der VN über HLP-Report und anderen Ceremonies http://webtv.un.org/watch/report-of-the-hiqhlevel-panel-on-the-post-2015-development-aqenda-pressconference/2421343765001 http://international.cqdev.org/bloq/maiorproqress-and-striking-absence-first-thoughtspost2015hlpreport www.globaldashboard.org

Der Unterschied zwischen den bestehenden MDGs und der vom Panel in seinem Bericht vorgeschlagenen Post-2015 Agenda sind die neuen grundlegenden Qualitäten:

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ANALYsE

Am ersten Adventswochenende 2013 eröffnen wir in Bremen die 55. Aktion Brot für die Welt. Feiern Sie mit uns und unseren Gästen aus Angola den Beginn der Adventszeit. Zum Festgottesdienst um 10 Uhr (Einlass bis 9:45 Uhr) laden wir Sie herzlich in die Kulturkirche St. Stephani in Bremen ein. Der Gottesdienst wird live in der ARD übertragen. Wir freuen uns auf Sie! Spendenkonto 500 500 500 KD-Bank BLZ 1006 1006 www.brot-fuer-die-welt.de

Konzeption INGRID JUNGHANS · Gestaltung FRIEDRICH DON

Land zum Leben – 04 Grund zur Hoffnung Agroenergie I Diskussionsbeitrag