C H R I S T I N E E I C H E L

CHRISTINE EICHEL CHRISTINE EICHEL ROMAN ISBN 978-3-352-00667-8 Rütten & Loening ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 1. Auflage 2016 © ...
Author: Etta Hofer
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CHRISTINE EICHEL

CHRISTINE EICHEL

ROMAN

ISBN 978-3-352-00667-8 Rütten & Loening ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 1. Auflage 2016 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2016 Einbandgestaltung www.buerosued.de, München Gesetzt aus der Whitman durch Greiner & Reichel, Köln Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany Printed in Germany www.aufbau-verlag.de

Für Anton, meinen Schützenkönig

PROLOG Sie riss die Smith & Wesson hoch. Zu schnell. Verdammt. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, tief einatmen, ganz ruhig. Im Ausatmen senkte sie die Waffe kontrolliert ab, so lange, bis Kimme und Korn die nackte Brust des Mannes fokussierten, der etwa drei Meter von ihr entfernt saß. Auf seinem Bett, die Augen weit aufgerissen. Ein letzter Funken Hoffnung, der in jäh hochschießender Panik erlosch. »Scheiße, Prinzessin, das meinst du nicht ernst.« Und ob. Todernst. Ihr rechter Zeigefinger legte sich um den Abzug, langsam, ganz langsam zog sie das kühle, gebogene Stück Metall zu sich heran. Von irgendwoher hörte sie die Stimme ihres Vaters: Nicht bewusst abdrücken, Kleines, durch die Schießerwartung zuckt deine Hand, dann verreißt du die Waffe. Nähere dich dem Druckpunkt wie absichtslos. Lass es einfach geschehen. Millimeterweise schob sich ihr Zeigefinger weiter. Der Revolver war schwer. Sie musste die Muskeln ihrer ausgestreckten Arme aufs äußerste anspannen, um den silberfarbenen Lauf präzise auszurichten. Sechs 44er Magnum-Patronen steckten in dem Trommelmagazin, eine würde nach den Gesetzen der Zielballistik reichen: hohe Penetrationskraft, gute Splitterbildung, schnelle Tötungswirkung, das war das Wichtigste. Ein mit Adrenalin gefluteter Körper konnte sonst ungeahnte Energien mobilisieren. »Prinzessin, was habe ich dir denn getan?« Die Stimme des Mannes bekam etwas Flehendes. »Denk dran, wie wir …« 7

Nicht hinhören. Alles ausblenden. Konzentrier dich. Das Blut pochte in ihren Ohren. Sie hatte keinen Blick mehr für das weitläufige Loft, für die großformatigen Bilder an den Wänden, die Stahlrohrmöbel, den matt glänzenden dunkelbraunen Pitchpineboden. Das zerwühlte Bett. Auch das Gesicht des Mannes sah sie nicht mehr, weder seinen sprachlos geöffneten Mund noch seine wasserhellen Augen, die sich selbst in Momenten größter Lust nie verdunkelten. Für sie existierte nichts auf der Welt außer dieser nackten, aufgepumpten, haarlosen Brust. Sie zielte aufs Herz. Was sonst. Von draußen drang Sirenengeheul in den Raum. Sie versuchte, es zu ignorieren. Unmöglich. Die Sirenen wurden lauter, der Kopf des Mannes fuhr herum, zum Fenster, von wo blau zuckendes Licht auf das Bett fiel. »Die sind hinter dir her! Die kriegen dich, Prinzessin!« Wie von selbst erreichte ihr Zeigefinger den Druckpunkt, ein Knall zerriss die Luft, doch ihre Hände hatten im letzten Moment gezittert, ganz leicht nur, aber was hieß das schon, wenn es auf äußerste Präzision ankam. Mit einem scharfen Plopp bohrte sich das Geschoss in das gepolsterte Kopfteil des Betts. Verrissen. Der Mann sprang auf. Sein überdefinierter, muskulöser Körper flog, seine Halsadern pulsierten. Wie hypnotisiert hatte er dagesessen, jetzt machte er einen Schritt auf sie zu, ohne den Revolver aus den Augen zu lassen, den sie für den nächsten Schuss spannte. Das Trommelmagazin drehte sich und rastete klickend ein. Plötzlich ging alles ganz schnell. Vom Hausflur hörte man Fußgetrappel, der Mann sprintete los, sie wirbelte herum, rannte ins Badezimmer, der zweite Schuss löste sich, verfehlte knapp ihren rechten Fuß. Herrgott, du machst Fehler wie eine Anfängerin! Fluchend verriegelte sie die Badezimmertür hinter sich, sicherte den Revol8

ver und schob ihn in den linken Stiefel. Mit einem Satz war sie am Fenster, dessen Flügel weit geöffnet waren, eiskalte Nachtluft legte sich wie eine Maske auf ihr Gesicht. Na los doch, spring! Den Bruchteil einer Sekunde lang schätzte sie die Höhe ab. Knapp drei Meter, zu hoch, aber sie kletterte schon auf das Fensterbrett und ließ sich einfach fallen. Großer Gott, was tue ich da? Wie eine Katze landete sie auf allen vieren, stechende Schmerzen in Unterarmen und Knien, ihre Handflächen wie zerfleischt, was Scharfkantiges im Dreck, vielleicht Scherben, sie achtete nicht darauf. Im Zickzack lief sie über den dunklen Hinterhof, sah das Blaulicht in der Toreinfahrt, wich zurück, stürzte die Stufen zum Kellereingang des Nachbarhauses hinunter. Die Holztür ließ sich leicht aufstoßen. Atemlos hastete sie durch muffige Schwärze, ertastete Wände, stolperte keuchend durch die Gänge, raus, raus, bloß raus hier, fand die Kellertreppe, erreichte den Hausflur. Obwohl sie kein Licht einschaltete, sah sie im Halbdunkel das Blut an ihren Händen. Egal, später. Hart klopfte ihr Herz gegen die Rippen, während sie zum Hauseingang schlich und die Tür öffnete. Als hätte sie alle Zeit der Welt, schlenderte sie gemächlich hinaus. Schaulustige strömten heran, Sirenen gellten, die ganze Straße voller neugieriger Gesichter, vom flackernden Blaulicht zerhackt. Alle sahen zum Nachbar­ haus. Tief zog sie ihre Mütze in die Stirn, dann mischte sie sich ohne Eile unter die Gaffer, ihre blutenden Hände in den Manteltaschen vergraben. Stimmengewirr umgab sie. »Was’n da los?« – »Schießerei.« – »Bestimmt wieder Ausländer.« – »Ja, die ballern rum wie bekloppt.« – »Hey, mach mal Platz für den Krankenwagen.« – »Nee, ist ein Mercedes mit Blaulicht.« – »Kiek ma, was will der feine Pinkel denn hier?« 9

Aus dem Augenwinkel sah sie den Mann, der aus der silbergrauen Limousine stieg, im Trench, elegant wie immer, mit diesen unerträglich geschmeidigen Bewegungen, formvollendet, das Gesicht schmal und blass, die dunklen Augen … O Gott. Bloß nicht hinsehen. Und doch trafen sich ihre Blicke, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, vielleicht schützte sie die Dunkelheit, beschattete ihr Gesicht, vielleicht … »Bleib stehen!« Er hatte sie erkannt. Blitzschnell tauchte sie ab, glitt in die Menge, bahnte sich mit eckigen Schwimmbewegungen ihrer Arme einen Fluchtweg, schlug Haken, fing an zu laufen, da, hinter der nächsten Ecke die Straßenbahn, rein da, spring rauf, los doch, schnell jetzt, die Türen schlossen sich hinter ihr. »Bleib stehen, verdammt!« Sein heiserer Schrei durchdrang das Zischen der Türen, das elende Gebimmel der Straßenbahn, das Rumpeln der Räder auf den Schienen. Es war noch nicht vorbei.

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KAPITEL 1 Vier Wochen zuvor Ein Vorhang aus Nieselregen. Das Geräusch sirrender Reifen auf nassem Asphalt. Zeitlupenhaft vorbeigleitende Passanten, deren Konturen in den Wasserschlieren auf der Fensterscheibe verschwammen wie in einem Aquarell. Bleierner November. Untätig saß Maria am Empfangstresen der Contemporary Cum Gallery. Der hohe, langgestreckte Raum war fast leer. Aber was sollte man schon erwarten an einem verregneten Novembertag außer ein paar gestrandeten Gestalten, die vor dem Mistwetter ins Trockene flohen? Weder das Touristenpaar in identischen magentafarbenen Nylonjacken würde etwas kaufen noch die beiden jungen Mädchen, die sich gegenseitig mit ihren Handys fotografierten. Kichernd standen sie vor einem Bild, das einen schönen jungen Mann zeigte, in einer Badewanne, den nackten Körper in Plastikfolie gehüllt. Maria fegte nichtexistente Stäubchen vom Revers ihres grauen Blazers. Grau ist das neue Schwarz, hatte Henry gesagt. Grau entsprach ihrer Gemütsverfassung. Zum hundertsten Mal an diesem Vormittag checkte sie ihr Smartphone. Keine Nachricht. Nichts. Mein Handy, meine Hölle. Dennoch griff sie immer wieder danach und wischte über das glatte Rechteck, als könne sie ihm das Ersehnte durch die Beschwörungsmagie dieser Geste entlocken. 11

Jedes Mal, wenn das Display leer blieb, fühlte es sich an wie eine persönliche Niederlage. Es hatte schon zu viele Niederlagen gegeben. Marias Selbstbeherrschung glich dem mürben Firnis eines alten Gemäldes – ein Craquelé feiner Haarrisse, ein Zustand fortschreitender Auflösung. Wieder und wieder strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn, rieb an ihrem Revers, knetete ihre Hände. Nur eine tiefe innere Erschöpfung hinderte sie daran, wild um sich zu schlagen. Die letzte Nachricht von Tom war zehn Tage her, zehn lange Tage und Nächte. Der Fluch des Schweigens. Es ließ so viel offen, eigentlich alles. Ihre anfängliche Enttäuschung hatte sich längst in Panik verwandelt. Warum meldet er sich nicht? Zweifelt er an unserer Liebe? Oder denkt er ernsthaft und in Ruhe darüber nach, wie es mit uns weitergeht? Sie fürchtete sich vor den Antworten. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, was ich denke, hatte Tom bei ihrem letzten Treffen vor vier Wochen gesagt, und der ratlose Blick aus seinen wasserhellen, nahezu eisblauen Huskyaugen hatte Maria frösteln lassen. Sagte man so etwas nach einem vollen Jahr Beziehung? Sagte man es, wenn man darüber sprach, wie es wäre, zusammenzuleben? Der Schock plötzlich einsetzender Kälte vereiste ihre Lungen und ließ ihren Atem gefrieren. Er verlässt dich. Mein Gott, Tom verlässt dich. Nein. Sie parkte diesen Gedanken in einer weit entfernten Sackgasse ihres Bewusstseins. Eher hielt sie für möglich, dass ihm etwas zugestoßen war. Vor ihrem inneren Auge sah sie Tom schwer verletzt auf einer Krankenstation, mit verbundenem Kopf und bandagierten Händen, außerstande, ihr auch nur ein einziges Wort zu schreiben. Unsinn. Man kann nicht nicht kommunizieren. Auch Schweigen ist eine Botschaft. Es interessiert Tom nicht, wie 12

es dir geht, was du denkst, was du fühlst. Es interessiert ihn nicht einmal, dass auch du ihm nicht schreibst. Sein Schweigen ist laut und unbarmherzig, dein Schweigen verhallt ungehört. Sie seufzte tief. Ach, Maria, du und dein Herzeleid, was für eine abgedroschene Geschichte. Sonderliches Glück mit Männern hatte sie nie gehabt. Ihr Liebesleben glich einem Wagen mit stotterndem Motor, über den sich sorgenvolle Mechaniker in Form von Freundinnen beugten, die seit Jahren ergebnislos darüber debattierten, wie man die unbrauchbare Karre flottmachen könnte. Nachdenklich beobachtete Maria das Touristenpaar. Die Frau, eine geländegängige hochrote Mittsechzigerin, kramte ein Butterbrot aus ihrem Rucksack und reichte es dem Mann. Die Art, wie er danach griff, wortlos, vertraut, und dann lächelnd nickte, als er auch noch ein gekochtes Ei in Empfang nahm, hatte etwas Rührendes. Eigentlich war Essen nicht erlaubt in der Galerie, aber Maria ließ die beiden gewähren. Sollten die doch ihren Spaß haben, inklusive Rucksack, Ei und Stulle. Sollten die doch ihre komischen Beziehungsrituale ausleben, um die Maria sie hilflos beneidete. Warum bestanden ihre eigenen Beziehungen aus einem verwirrenden, unübersichtlichen, immer nur vorläufigen Ausprobieren von etwas, was nie eintraf? Oder täuschte sie sich? Schließlich hatte es schon häufiger Phasen gegeben, in denen Tom sich zurückzog, Tom, der Künstler, der Einzelgänger, der einsame Wolf, der von Zeit zu Zeit ganz allein den Mond anheulen muss. Er braucht halt viel Zeit für sich selbst. Lass ihm seinen Freiraum. Die lange Leine. Mit ihren Butterbroten schritten die beiden Touristen so zackig an den Bildern entlang, als nähmen sie eine Truppen13

parade ab. Es war offensichtlich, dass ihnen nicht gefiel, was sie sahen. An den kalkweißen Wänden hingen großformatige Fotoarbeiten einer russischen Künstlerin. Auf dem größten krümmte sich ein skelettartig abgemagertes Mädchen im Herbstlaub, ihre nackte Haut schimmerte bläulich. Die anderen Bilder wirkten nicht minder verstörend. Eine clownesk geschminkte Frau posierte breitbeinig in ihrer vermüllten Küche, wie aufgebahrt lag ein lebloser Mann im blauen Trainingsanzug zwischen Essensresten auf einem Tisch. Nur der schöne Jüngling in der Badewanne war dem gnadenlosen Blick der Künstlerin entronnen. Mit einem Ausdruck größter Missbilligung studierte das Paar die ausgelegte Preisliste. Längeres Räuspern. »Zehntausend Euro?«, erkundigte sich die Frau ungläubig. »Sie verlangen zehntausend Euro für diese – Bilder? Was sollen sie überhaupt bedeuten?« Immer dieser Erklärungsbedarf. Maria hatte nie verstanden, warum das Schauen und Staunen in Vergessenheit geraten waren. Jeder wollte heute eine Gebrauchsanleitung für die Kunst. Sie hätte gern eine Gebrauchsanleitung fürs Leben gehabt. »Die Ausstellung heißt ›Vom Vernichten der Musen‹.« Ihr Blick richtete sich auf das Bild einer Hochschwangeren, notdürftig von weißer Gaze verhüllt, dem Blick des Betrachters schutzlos ausgeliefert, erdenschwer. »Die Künstlerin will herausfinden, wie weit sich ein Mensch einem anderen ausliefern kann. Deshalb verstrickt sie ihre Modelle in ein Spiel von Macht, Abhängigkeit und Hingabe, bis hin zur völligen Vernichtung.« So stand es jedenfalls im Katalog. Ein Akt der Wahrhaftigkeit. Eine Hommage an die Vergänglichkeit. Zwei entsetzte Augenpaare starrten Maria an. »Komm«, sagte der Mann, »wir gehen.« 14