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Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung | Gesundheitsschutz Indexed in Medline, SCIE and SCOPUS Elektronischer Sonderdruck für S. Nowossadeck Ein...
Author: Lars Messner
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Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung | Gesundheitsschutz Indexed in Medline, SCIE and SCOPUS

Elektronischer Sonderdruck für S. Nowossadeck Ein Service von Springer Medizin Bundesgesundheitsbl 2013 · 56:1040–1047 · DOI 10.1007/s00103-013-1742-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

S. Nowossadeck

Demografischer Wandel, Pflegebedürftige und der künftige Bedarf an Pflegekräften Eine Übersicht

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Leitthema Bundesgesundheitsbl 2013 · 56:1040–1047 DOI 10.1007/s00103-013-1742-1 Online publiziert: 18. Juli 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

S. Nowossadeck Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

Demografischer Wandel, Pflegebedürftige und der künftige Bedarf an Pflegekräften Eine Übersicht

Die Fachkräftesituation in der Pflege ist seit einigen Jahren Thema der wissenschaftlichen und politischen Diskussion. Der Bedarf an Pflegepersonal wird im Wesentlichen von 2 Größen bestimmt: von der Entwicklung der Zahl an Pflegebedürftigen und von den Versorgungsanteilen, die jeweils durch professionelles Pflegepersonal und pflegende Angehörige getragen werden. Pflegebedürftigkeit ist ein Gesundheitsrisiko, das nicht ausschließlich, aber vorrangig im Alter entsteht. Die Zahl der Pflegebedürftigen steht daher in einer engen Beziehung zur Entwicklung der Bevölkerungszahl und -struktur. Mit der demografischen Alterung der Gesellschaft nimmt der Anteil älterer Menschen zu, und insbesondere die Zahl der Hochaltrigen wächst mit großer Dynamik. Der Gesundheitszustand der Älteren und Hochaltrigen entscheidet darüber, wie lange diese ein selbstständiges Leben führen können sowie ob und in welcher Lebensphase sie pflegerische Unterstützung in Anspruch nehmen müssen. Diese Pflegeleistungen werden derzeit zu großen Teilen in der häuslichen Umgebung der Pflegebedürftigen durch Angehörige allein oder mit Unterstützung durch ambulante Pflegedienste erbracht. Das Potenzial der pflegenden Angehörigen und seine zukünftige Entwicklung ist ebenfalls ein Faktor, der den Bedarf an professionellen Pflegekräften in der stationären und ambulanten Pflege determiniert. Der vorliegende Beitrag möchte einen Überblick zu folgenden Fragen liefern:

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Welche Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung werden das Ausmaß an Pflegebedürftigkeit in den nächsten Jahrzehnten beeinflussen? Wie wird die Zahl der Pflegebedürftigen in unterschiedlichen Szenarien prognostiziert? Wie wird der Bedarf an professionellen Pflegekräften eingeschätzt und welche Entwicklungen sind bereits heute beim Pflegekräftepotenzial absehbar?

Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen Die künftige Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen unterliegt 2 wesentlichen Einflüssen: zum einen der Veränderung der Bevölkerungsstruktur und damit der Zahl der Hochaltrigen, zum anderen der altersspezifischen Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Beide Faktoren werden im Folgenden näher untersucht.

Einflussfaktor demografische Alterung: Wie verändern sich die pflegerelevanten Altersgruppen? Hochaltrige und „junge Alte“ – der Greying-Index

Eine Bevölkerung altert, indem sich der Anteil an Älteren zuungunsten jüngerer Altersgruppen erhöht. Besonders gravierend schlägt sich das in den Zahlen der Hochbetagten nieder. Im Jahr 2011 lebten 4,4 Mio. 80-Jährige und Ältere in Deutschland, dies entsprach einem Anteil von 5,4% an der Bevölkerung. Ihre Zahl

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wird kontinuierlich steigen und nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mit über 10 Mio. im Jahr 2050 den bis dahin höchsten Wert erreichen [1]. Es ist also damit zu rechnen, dass in etwa 40 Jahren 14% der Bevölkerung 80 Jahre oder älter sein werden. Das spiegelt sich auch in der Altersstruktur der Pflegebedürftigen wider: 42% aller Pflegebedürftigen sind heute zwischen 80 und 89 Jahre alt. Diese Altersgruppe ist mit knapp 970.000 Personen die größte Gruppe unter den Pflegebedürftigen und auch die, die seit 1999 am stärksten gewachsen ist. Die Eltern der Babyboomer sind jetzt in einem Alter mit hohem Pflegebedarf. Ihre Versorgung findet in einem noch günstigen demografischen Umfeld statt, da ihnen die quantitativ starken Kohorten der Babyboomer nachfolgen. Diese Situation wird sich ändern, wenn die Babyboomer selbst aus dem Erwerbsleben ausscheiden und noch später in das Alter mit erhöhter Pflegewahrscheinlichkeit hineinwachsen. Die Strukturveränderung innerhalb der Gruppe der Älteren lässt sich am Greying-Index ablesen, der das Verhältnis der ab 80-Jährigen zu den 65- bis 79-Jährigen abbildet, also das Verhältnis der Hochaltrigen zu den „jungen“ Alten. Der Greying-Index betrug im Jahr 2010 34, d. h., 100 „jungen“ Alten zwischen 65 und 79 Jahren standen 34 Hochaltrige im Alter von 80 und mehr Jahren gegenüber. Im Jahr 2030 werden es bereits 43 Hochaltrige sein. Die Gruppe der Hochaltrigen ist damit die am dynamischsten wachsende Bevölkerungsgruppe überhaupt:

Tab. 1  Entwicklung pflegerelevanter Altersgruppen, des Greying-Index und des intergene-

rationalen Unterstützungskoeffizienten in Deutschland, 1970 bis 2010 (reale Entwicklung) sowie 2020 bis 2030 (Vorausberechnung). (Daten: 1970 bis 2010: Statistisches Bundesamt [26], 2020 und 2030: Statistisches Bundesamt [27], eigene Berechnungen) Jahr

50 bis 65 bis 64 Jahre 79 Jahre

80 Jahre und älter

85 Jahre und älter

Bevölkerung in 1000 1970 1980 1991 2000 2010 2020 2030

9943 9756 15.482 15.572 16.344 19.265 15.779

6969 7900 8952 10.607 12.538 12.741 16.089

GreyingIndex

Intergenerationaler Unterstützungskoeffizient

Index 1150 1635 3080 3087 4307 6208 6943

378 553 1185 1613 1952 2726 3813

In den 20 Jahren zwischen 2010 und 2030 wird sich die Zahl der 80-Jährigen und Älteren um fast zwei Drittel erhöhen, die Zahl der 85-Jährigen und Älteren wird sich fast verdoppeln (. Tab. 1). Diese Entwicklung verläuft allerdings nicht linear. Die quantitativen Verhältnisse der Altersgruppen zueinander werden geprägt durch Fertilität und Sterblichkeit, aber auch durch die Jahrgangsstärken in der Bevölkerung. Entsprechend verhält sich auch die Entwicklung des GreyingIndex. In der Periode vor der Wiedervereinigung lag er noch bei sehr geringen Werten, wenn auch mit steigender Tendenz (1970: 16,5, 1980: 20,7). Nach der Wiedervereinigung kamen die geburtenstarken Jahrgänge der 1930er-Jahre, die Eltern der Babyboomer, in die Altersgruppe 60 bis 79 Jahre, während zugleich die wegen der Todesopfer und der Geburtenausfälle während und nach dem 1. Weltkrieg schwächer besetzten Geburtenjahrgänge 1914 bis 1922 in die Altersgruppe der Hochaltrigen gelangten. Hier veränderte sich das Verhältnis dieser beiden Altersgruppen zugunsten der „jungen Alten“, was sich im Rückgang des Greying-Index bis zum Ende der 1990erJahre niederschlug (Greying-Index 1991: 34,4, 2000: 29,1). Der nachfolgende Anstieg folgt aus dem Hineinwachsen der geburtenschwachen Jahrgänge 1945 bis 1950 in die Altersgruppe 60 bis 79 Jahre, während zugleich die stärker besetzten Geburtsjahrgänge der 1920er-Jahre das Alter 80 erreichten und überschritten. Im Jahr 2010 hatte der Greying-Index einen Wert von 34,3, d. h., ein Drittel aller über 65-Jährigen sind heute Hochaltrige. Mit

16,5 20,7 34,4 29,1 34,3 48,7 43,2

3,8 5,7 7,7 10,4 11,9 14,2 24,2

dem Altern der quantitativ großen Jahrgänge der Babyboomer wird sich die Altersstruktur künftig deutlich verschieben. Von 2025 an werden jährlich 1,2 bis über 1,3 Mio. Menschen die Altersschwelle von 65 Jahren erreichen. Erst nach 2030 wird diese Zahl wieder sinken.

Hochaltrige und ihre erwachsenen Kinder – der intergenerationale Unterstützungskoeffizient

Der intergenerationale Unterstützungskoeffizient (auch: parent support ratio) berechnet sich als Verhältnis der 85-Jährigen und Älteren zu den 50- bis 64-Jährigen. Er misst damit das Potenzial sozialer und pflegerischer Unterstützung der Hochaltrigen durch die nachfolgende Generation, die sich ebenfalls bereits im höheren Erwachsenenalter befindet. Dieser Indikator betont die sozialen und pflegerischen Probleme rasch alternder Bevölkerungen. Er kann nur schematisch grobe Kohortenproportionen in einer Bevölkerung und ihre Verschiebungen im Zeitverlauf abbilden und liefert damit einen ersten Anhaltspunkt für die demografischen Potenziale der Pflege durch die Folgegeneration. Der Indikator bezieht nicht ein, dass die erwachsenen Kinder in der Rolle der pflegenden Angehörigen bleiben, auch wenn sie die Berechnungsgrenze des 65. Lebensjahres überschreiten. Dieser Koeffizient lässt sich aber auch zur Beschreibung des Verhältnisses des Pflegekräftepotenzials zu den Pflegebedürftigen verwenden. Ein großer Teil der Pflegekräfte befindet sich in der Altersgruppe 50 bis 64 Jahre. Das ist bei den Pflegekräften auch die Altersgruppe, die

in den vergangenen Jahren seit 2010 am schnellsten gewachsen ist. . Tab. 1 zeigt, mit welcher Dynamik sich der intergenerationale Unterstützungskoeffizient verändert. Er hat sich von 1970 bis 2010 etwa verdreifacht, und bis 2030 ist nochmals eine Verdopplung zu erwarten. Mit anderen Worten: Sind heute noch etwa 12 Hochaltrige durch 100 Erwachsene der Nachfolgegeneration zu versorgen, werden es in 20 Jahren bereits 24 Hochaltrige sein.

Einflussfaktor Gesundheit im hohen Alter: Status quo oder Kompression der Morbidität? Mit der dynamisch gestiegenen Lebenserwartung der Älteren ist die Frage verbunden, in welchem Gesundheitszustand sie die gewonnenen Lebensjahre erleben können, wie viele von ihnen ihre Selbstständigkeit im Alltag erhalten können und wie viele auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen zugewonnener Gesamtlebenserwartung und zugewonnenen Lebensjahren in Gesundheit lässt sich mit unterschiedlichen Hypothesen beantworten.

Expansionsthese der Morbidität bzw. Medikalisierungsthese

Die Expansionsthese der Morbidität bzw. Medikalisierungsthese von Gruenberg geht davon aus, dass die Lebenserwartung durch die gesunkene Mortalität steigt, die in gesundheitlicher Beeinträchtigung verbrachte Zahl an Lebensjahren aber noch stärker zunimmt, sodass der Gewinn an Lebenszeit mit einem Mehr an Krankheit und medizinischem Behandlungsbedarf erkauft wird.1 Dabei 1 Gruenberg zieht den Schluss: „In assessing the

effect of our technical advances in the past four decades, I have attempted to demonstrate that the net contribution of our successes has actually been to worsen the people’s health. The prevalence of chronic diseases and disabilities depends on both the frequency with which they occur and their average duration … However, these few reductions in the occurrence of chronic conditions have been more than offset by the increased average duration of a wide range of condi­tions whose fatal complications we have ­learned how to postpone“ ([2], S. 794).

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Leitthema betonte Gruenberg aber bereits im Jahr 1977 die Rolle der Krankheitsprävention und den Einfluss eines krankheitsorientierten Gesundheitssystems auf die Ausrichtung der Gesundheitsforschung. Die Forschung müsse nicht nur darauf zielen, die Mortalität von Krankheiten zu senken, sondern auch stärker darauf ausgerichtet werden, das Auftreten chronischer Krankheiten zu vermeiden [2].

These des dynamischen Äquilibriums

Die These des dynamischen Äquili­ briums von Manton [3] sieht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem Anstieg der Gesamtlebenszeit und dem Anstieg der Lebenszeit mit leichteren Gesundheitsbeeinträchtigungen. Der Rückgang der Mortalität korrespondiert mit einem Rückgang beim Schweregrad chronischer Krankheiten und mit einer Zunahme von Lebenszeit in Gesundheit bzw. mit nur leichten gesundheitlichen Einschränkungen.2

Kompression der Morbidität (Kompressionsthese)

In der Diskussion um die künftige Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen und in den entsprechenden Projektionen spielt vor allem eine dritte These eine Rolle – die These von der Kompression der Morbidität (Kompressionsthese) von Fries [4, 5]. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass die gesunde Lebenserwartung schneller wächst als die Gesamt­ lebenserwartung. Damit würde die Morbidität im Lebensverlauf auf einen kleineren Zeitraum am Ende des Lebens kom-

2 „The concept of equilibrium, however, implies

that the severity and rate of progression of chronic disease are directly related to mortality changes so that, correlated with mortality reduction, there is a corresponding reduction in the rate of progression of the ‚aging‘ of the vital organ systems of the body. Thus, we require our model of human mortality to have morbidity and mortality in equilibrium and to be dynamic and multidimensional“ ([3], S. 227).

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Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl 2013 · 56:1040–1047  DOI 10.1007/s00103-013-1742-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 S. Nowossadeck

Demografischer Wandel, Pflegebedürftige und der künftige Bedarf an Pflegekräften. Eine Übersicht Zusammenfassung Die Zahl der Pflegebedürftigen und damit auch die der benötigten Pflegekräfte wird künftig stark zunehmen. Diese Entwicklung wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Erstens wird der demografische Wandel die Zahl an Pflegebedürftigen ansteigen lassen. Hier untersucht der vorliegende Beitrag die Veränderungen bei den pflegerelevanten Altersgruppen anhand der Indikatoren „Greying-Index“ und „intergenerationaler Unterstützungskoeffizient“. Zweitens modifizieren Veränderungen im Gesundheitszustand der Älteren den Pflegebedarf. Eine Kompression der Morbidität könnte das Ausmaß künftiger Pflegebedürftigkeit dämpfen. Drittens werden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen heute zu Hause gepflegt, überwie-

gend ausschließlich durch ihre Angehörigen. Das demografische Potenzial für die Pflege durch Angehörige wird künftig nicht wachsen. Damit ist anzunehmen, dass mehr Pflegeleistungen in den Bereich der institutionellen Pflege verlagert werden, was eine Zunahme des Bedarfs an Pflegekräften induzieren könnte. Eine Synopse unterschiedlicher Prognosen zeigt, dass der künftige Bedarf an Pflegekräften um ein Mehrfaches höher sein wird als der heutige. Schlüsselwörter Demografischer Wandel · Altersstruktur ·   Pflegebedürftige · Pflegekräfte ·   Pflegeprognosen

Demographic change, people needing long-term care, and the future need for carers. An overview Abstract Both the number of people in need of longterm care and the number of carers will grow strongly in the future. This development is influenced by several factors. Firstly, demographic change will increase the number of people in need of long-term care. This article analyzes how demographic change is shifting the balance of age groups that need longterm care using the“greying index” and parent-support ratio. Secondly, changes in the health status of the elderly modify the need for long-term care. A decrease in morbidity could reduce the future need for long-term care. Thirdly, two thirds of all people in need of long-term care are cared for at home to-

primiert.3 Der Gewinn an Lebensjahren insgesamt ginge also mit einem noch größeren Gewinn an Lebenserwartung in Gesundheit einher. Die Frage, ob eher die Kompressionsthese oder aber die Ex3 Fries fasste 2003 seine These wie folgt zusam-

men: „The Compression of Morbidity paradigm, introduced in 1980, maintains that if the average age at first infirmity, disability, or other morbidity is postponed and if this postponement is greater than increases in life expectancy, then cumulative lifetime morbidity will decrease – compressed between a later onset and the time of death“ ([5], S. 455).

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day, for the most part by their relatives exclusively. The demographic potential for family care will not increase in future. Thus, it can be assumed that a greater part of long-term care will be relocated to institutions and that this will increase the demand for professional carers. A synopsis of diverse projections reveals that in future, the number of carers required for long-term care will be much higher than that of today. Keywords Demographic change · Age structure · People needing long-term care · Carers · Projections for long-term care

pansionsthese die Entwicklung bestimmt, kann noch nicht endgültig beantwortet werden. Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass die Entwicklung seit Ende der 1980er-Jahre der Kompressionsthese entsprechen könnte [6, 7, 8, 9, 10, 11]. Ein Indikator für den Gesundheitszustand der älteren Menschen und zur Bestimmung des Potenzials an Pflegebedürftigen ist die Pflegequote. Sie misst, wie hoch der prozentuale Anteil der (mit einer Pflegestufe anerkannten) Pflegebedürftigen an allen Frauen bzw. Männern

Tab. 2  Ausgewählte Prognosen zur künftigen Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen Autor/Jahr/[Quelle]

(Basisjahr) Prognosehorizont

(Pflegebedürftige im Basisjahr) Prognostizierte Zahl der Pflegebedürftigen – Szenario

Bundesministerium für Gesundheit, 2011/[28]

(2010) 2030 2050 (2005) 2020

(2,2 Mio.) 3,2 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 4,2 Mio. – bei konstanten Pflegequoten (2,12 Mio.) 2,81 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 2,60 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten 4,36 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 4,05 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten Jeweils mittlere Bevölkerungsvariante (2,25 Mio.) 3,37 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 3,00 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten 4,50 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 3,76 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten (2,25 Mio.) 3,28 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 2,93 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten 4,35 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 3,50 Mio. – bei sinkenden Pflegequoten (2,10 Mio.) 2,88 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 4,59 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 3,1 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 3,4 Mio. – bei konstanten Pflegequoten

Bomsdorf, Babel, Kahlenberg, 2010/[29]

2050

Statistisches Bundesamt, 2010/[12]

(2007) 2030 2050

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2009/[30]

(2007) 2030 2050

Schulz, 2008/[31]

(2006) 2020 2050 2030 2040

Kommission Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission), 2003/[32] Schulz, Leidl, König, 2001/[33] (1999) 2020 2050

einer Altersgruppe ist. Erwartungsgemäß steigt die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, mit dem Alter. Das lässt sich an den Daten der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes ablesen: Während bei den 70- bis unter 75-Jährigen im Jahr nur 5% pflegebedürftig waren, wurden für die ab 90-Jährigen die höchsten Pflegequoten von 62% ermittelt. Frauen sind im hohen Alter häufiger pflegebedürftig als Männer. Bei den 85- bis unter 90-jährigen Frauen beträgt die Pflegequote 41%, bei den Männern gleichen Alters hingegen lediglich bei 28% [12]. In den Altersgruppen ab 80 Jahren gingen die altersspezifischen Pflegequo-

(1,93 Mio.) 2,94 Mio. – bei konstanten Pflegequoten 4,73 Mio. – bei konstanten Pflegequoten

ten in den Jahren von 1999 bis 20074 zurück – bei den 80- bis 84-jährigen Männern um 7 Prozentpunkte, bei den 85- bis 89-jährigen Männern um 5 Prozentpunkte und bei den 90-jährigen und älteren Männern um 7 Prozentpunkte [13]. Bei den hochaltrigen Frauen zeigten sich dagegen andere Tendenzen: Zwischen 1999 und 2007 sanken bei den 80- bis 84-jährigen Frauen die Pflegequoten um 4 und bei den 85- bis 89-jährigen Frauen um 2 Prozentpunkte. In der ältesten Gruppe der Frauen im Alter von 90 und mehr

Jahren nahm die Pflegequote hingegen um 5 Prozentpunkte zu.5

Prognosen zur Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen Prognosen modellieren mögliche Entwicklungen, und sie haben nicht unbedingt den Anspruch, den einen „wahren“ Wert der zu prognostizierenden Zielgröße zu ermitteln. Vielmehr bauen sie auf der Basis begründeter Annahmen unterschiedliche Szenarien auf, die nach dem Wenn-Dann-Prinzip obere und untere Grenzen der wahrscheinlichen Entwicklung einer Zielgröße abbilden. In der Diskussion um die Konsequenzen des demografischen Wandels für den Pflegebereich, wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe von Prognosen zur künftigen Zahl der Pflegebedürftigen abgegeben. Sie schätzen die Zahl der Pflegebedürftigen bis zu einem Zeithorizont, der in der Regel zwischen 2030 und 2050 liegt. In . Tab. 2 wurden einige dieser Prognosen zusammengestellt. Ausgewählt wurden Vorausberechnungen, die auf Deutschland bezogen sind (also keine Regionalprognosen) und die nach dem Jahr 2000 verfasst wurden. Die Berechnungen beruhen auf 2 Ausgangsgrößen: auf den Bevölkerungsprojektionen sowie auf den altersspezifischen Pflegequoten des Basisjahres, die entweder konstant gehalten (Status-quo-Prognosen) oder für den Prognosezeitraum abgesenkt wurden. Die vorausgeschätzten Zahlen der Pflegebedürftigen bewegen sich in einem vergleichsweise schmalen Korridor. Für den Zeitpunkt 2050 liegen sie in den Status-quo-Berechnungen zwischen 4,2 und 4,7 Mio. Tendenziell schätzen die jüngeren Prognosen die Zahl der Pflegebedürftigen bei gleichbleibenden Pflegequoten kleiner. Im vorangehenden Kapitel wurde die These der Kompression der Morbidität kurz beschrieben. Bei Annahme der in dieser These konstatierten sinkenden Pflegewahrscheinlichkeiten werden für 5 Die Zahlen von 2009 deuten (trotz einge-

4 Aus der Pflegestatistik des Statistischen Bun-

desamtes liegen auch Daten für das Jahr 2009 vor. Aufgrund methodischer Änderungen sind die Jahre 2007 und 2009 jedoch nicht unmittelbar vergleichbar [13].

schränkter Vergleichbarkeit zu 2007) bei den über 90-jährigen Frauen an, dass sich die Zunahme der Pflegequoten hier nicht fortsetzt. Ob die Pflegequoten einem stabilen Trend folgen, müssen die Daten späterer Jahre zeigen.

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80%

Anteil

60%

40%

51,0 20%

teilstationäre Pflege ambulante Pflege vollstationäre Pflege Pflegegeld

0%

1999

2001

2003

2005 Jahr

2007

2009

Abb. 1 8 Anteile der Betreuungsformen für Pflegebedürftige (in Prozent), 1999 bis 2009. (Daten: Statistisches Bundesamt [26], eigene Berechnungen, Daten für 2009: Durch die geänderte Ermittlung der Gesamtzahl der Pflegebedürftigen ist die zeitliche Vergleichbarkeit der Gesamtzahl der Pflegebedürftigen 2009 mit den vorherigen Erhebungen eingeschränkt)

das Jahr 2050 zwischen 3,5 und 4,1 Mio. Pflegebedürftige geschätzt.

Pflegende Angehörige Von den 2,34 Mio. Pflegebedürftigen im Jahr 2009 wurden knapp 70% (1,6 Mio.) zu Hause versorgt, darunter 1,1 Mio. ausschließlich durch Angehörige. Ein großer Teil der Pflege- und Unterstützungsleistungen wird demnach in den Familien erbracht. Allerdings nimmt der Anteil der zu Hause Gepflegten seit Jahren ab. Im Gegenzug steigen die Zahl und der Anteil der in Pflegeheimen Betreuten. Der Anteil an vollstationär Betreuten stieg zwischen 1999 und 2007 von 28 auf 31%, die Anteile an der ambulanten Pflege nahmen geringfügig von 21 auf 22% zu. Der Anteil der ausschließlich von Familienangehörigen Betreuten, die Pflegegeld empfingen, sank im gleichen Zeitraum von 51 auf 46% (. Abb. 1). Mit der zunehmenden Zahl an Hochaltrigen unter den Pflegebedürftigen ist anzunehmen, dass zukünftig der Anteil derjenigen wächst, die aufgrund ihrer hohen Pflegebedürftigkeit nicht mehr zu Hause versorgt werden können. Zudem nimmt mit sehr fortgeschrittenem Al-

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ter die Wahrscheinlichkeit zu, partnerlos zu leben. Andererseits ist auch das Potenzial der pflegenden Angehörigen begrenzt und künftig als eher rückläufig einzuschätzen. In den Familien pflegen in erster Linie (Ehe-)Partnerinnen und (Ehe-)Partner sowie Kinder und Schwiegerkinder. Das partnerschaftliche Pflegepotenzial wird künftig von unterschiedlichen Tendenzen geprägt: Zum einen nähert sich die Lebenserwartung von Männern und Frauen an, außerdem weisen die heutigen Jahrgänge älterer Menschen deutlich weniger kriegsbedingte Geschlechterdisproportionen auf als frühere Jahrgänge. Das begünstigt ein Leben in Partnerschaft. Allerdings kommen jetzt und künftig Generationen ins hohe Alter, die zu höheren Anteilen aufgrund von Scheidungen im Lebensverlauf und ausbleibenden Wiederverheiratungen partnerlos leben. Für die heutigen Erwachsenen im mittleren Alter wird es künftig weniger Kinder und Schwiegerkinder geben, die die häusliche Pflege übernehmen können. Das ist demografisch dadurch bedingt, dass der quantitativ starken Generation der Babyboomer eine deutlich kleinere Generation ihrer Kinder folgt

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(vgl. dazu [14, 15, 16]). Die Bereitschaft, Familienangehörige zu pflegen, ist nach wie vor hoch [17]. Dennoch sprechen einige Gründe dafür, dass das Angehörigenpotenzial für die Pflege in Zukunft nicht wächst: Angehörigenpflege wird nach wie vor überwiegend von Frauen geleistet. Die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit und mangelnde strukturelle Voraussetzungen für eine gute Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege schränken die Möglichkeiten zur Pflege in der Familie ein. In dieselbe Richtung wirkt die zunehmende Erwerbs- und Wohnmobilität, die bedingt, dass die Wohnentfernungen zwischen dem Haushalt der alten Eltern und dem der erwachsenen Kinder wachsen, was die familiären Pflegearrangements erschwert. Es ist also nicht nur die demografische Alterung, die den Bedarf an professioneller Pflege erhöht. Das als rückläufig einzuschätzende familiäre Pflegepotenzial verstärkt diese Tendenz.

Pflegekräfte in der professionellen Pflege Die Pflegebranche gehört zu den Wirtschaftsbereichen mit seit Jahren wachsenden Beschäftigungszahlen. In den Gesundheits- und Pflegeberufen sind diese Zahlen allein in den letzten 10 Jahren um ein Fünftel angestiegen. Inzwischen arbeitet jede und jeder zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in einem Gesundheits- und Pflegeberuf. In diesen Berufen sind überdurchschnittlich viele Frauen beschäftigt, ihr Anteil liegt bei 74%. Ein Drittel der in Gesundheits- und Pflegeberufen sozialversicherungspflichtig Tätigen ist teilzeitbeschäftigt [18]. Für die Zukunft problematisch ist die Altersstruktur der in den Gesundheitsberufen Tätigen: Im Jahr 2010 waren nach Angaben der Gesundheitsberichterstattung des Bundes 31% der Altenpflegerinnen und 24% der Altenpfleger 50 Jahre alt und älter. Diese Altersgruppe ist die Gruppe unter den Altenpflegekräften, die in den letzten Jahren am stärksten gewachsen ist, bei den Frauen von 45.000 auf 107.000 Beschäftigte, bei den Männern von 5000 auf 13.000 Arbeitskräfte (gerundete Werte). Diese große Gruppe an Altenpflegekräften wird in den kom-

Tab. 3  Übersicht über Prognosen zum Bedarf an professionellem Pflegepersonal Autor/Jahr/ [Quelle]

Zielgröße der Prognose/­ Prognosehorizont

Szenarien und Prognoseergebnis

Pohl 2011/ [19]

Vollzeitäquivalente in ambulanten und stationären Pflege­ einrichtungen Berechnung bis 2030

Afentakis, Maier 2010/ [20]

Pflegevollkräfte in Prognoseeinrichtungen (Krankenhäuser, ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeeinrichtungen) Berechnung bis 2025

Hackmann 2009/[21]

Altenpflegekräfte (nur für primär pflegerische Tätigkeiten eingesetzte Arbeitskräfte) Berechnung bis 2050 Vollzeitäquivalente im Pflegebereich Berechnung bis 2050

Basisszenarien (steigende Zahl pflegender Angehöriger) 907.000 VZÄ (Status quo der Pflegequoten ohne Produktivitätsfortschritt) 806.000 VZÄ (Status quo der Pflegequoten mit Produktivitätsfortschritt) 796.000 VZÄ (Kompressionsszenario ohne Produktivitätsfortschritt) 708.000 VZÄ (Kompressionsszenario mit Produktivitätsfortschritt) Alternativszenarien (stagnierende Zahl pflegender Angehöriger auf dem Niveau von 2010) 1.047.000 VZÄ (Status quo der Pflegequoten ohne Produktivitätsfortschritt) 931.000 VZÄ (Status quo der Pflegequoten mit Produktivitätsfortschritt) 888.000 VZÄ (Kompressionsszenario ohne Produktivitätsfortschritt) 788.000 VZÄ (Kompressionsszenario mit Produktivitätsfortschritt) Status quo der Behandlungsquoten Anstieg von 2005 bis 2025 um 27,3%, davon in Krankenhäusern um 12,4%, in Pflegeeinrichtungen um 48,1% Szenario mit sinkenden Behandlungsquoten Anstieg von 2005 bis 2025 um 19,5%, davon in Krankenhäusern um 8,1%, in Pflegeeinrichtungen um 35,4% Status quo der Pflegequoten und rückläufiges Pflegepotenzial bei den Angehörigen 210.000 VZÄ im ambulanten Bereich 640.000 VZÄ im stationären Bereich Entspricht 850.000 VZÄ im gesamten Pflegebereich Ohne Produktivitätsfortschritt 369.000 VZÄ im ambulanten Bereich 1.180.000 VZÄ im stationären Bereich Entspricht 1.549.800 VZÄ im gesamten Pflegebereich Mit 0,5% Produktivitätsfortschritt im Jahr 294.486 VZÄ im ambulanten Bereich 942.356 VZÄ im stationären Bereich Entspricht 1.236.842 VZÄ im gesamten Pflegebereich Status quo der Pflegequoten und rückläufiges Pflegepotenzial bei den Angehörigen In der mittleren Variante: 390.000 VZÄ im ambulanten Bereich 1,2 Mio. VZÄ im stationären Bereich Entspricht 1,6 Mio. VZÄ im gesamten Pflegebereich

Enste, Pimpertz 2008/ [23]

Hackmann, Moog 2008/ [22]

Vollzeitkräfte im Pflegebereich Berechnung bis 2050

VZÄ Vollzeitäquivalente.

menden Jahren nach und nach aus dem Beruf ausscheiden.

Prognosen zum Bedarf an Pflegepersonal Prognosen zum Bedarf an Pflegepersonal müssen mehr Einflussfaktoren in Betracht ziehen als Prognosen zur Zahl der Pflegebedürftigen. Bei den in . Tab. 3 zusammengefassten Prognosen werden einerseits Status-quo- bzw. Kompressionsszenarien der Morbidität berechnet, die sich auf die Pflegequoten und damit auf die künftige Zahl der Pflegebedürftigen auswirken [19, 20, 21, 22]. Andererseits werden bei einem Teil dieser Prognosen Produktivitätsfortschritte in der pflegerischen Versorgung in Rechnung gestellt, die unter anderem durch den vermehrten Einsatz von medizinisch-techni-

schen Hilfsmitteln oder durch neue Organisationsformen bzw. Arbeitsabläufe in der Pflege erzielt werden können [19, 23]. Die daraus resultierenden effizienteren Relationen von Pflegekräften zu Pflegebedürftigen wirken dämpfend auf den prognostizierten Anstieg des Pflegekräftebedarfs. Ein weiterer Einflussfaktor sind die pflegenden Angehörigen [19, 20, 21, 22]. In Szenarien, die eine sinkende Tendenz des Pflegepotenzials durch Angehörigen annehmen, erhöhen sich die vorausgeschätzten Zahlen der künftig benötigten Pflegekräfte. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Methodik, differierender Annahmen und unterschiedlicher Szenarien sind die Ergebnisse der verschiedenen Prognosen zum Pflegekräftebedarf nur schwer miteinander vergleichbar. Allerdings zeigen

sie einen verallgemeinerbaren Trend: Die Zahl der zukünftig benötigten Pflegekräfte wird stark ansteigen und in wenigen Jahrzehnten ein Mehrfaches der heutigen Beschäftigtenzahlen umfassen. Geht man von gegenwärtig rund 307.000 Altenpflegern aus (Vollzeitäquivalente in der Gesundheitspersonalrechnung für 2010), so werden im Jahr 2050 etwa 850.000 Altenpflegekräfte (Vollzeitäquivalente) benötigt [21]. Erweitert man den Blickwinkel auf alle Beschäftigten in der ambulanten und stationären Pflege, so werden dort für das Jahr 2030 etwa zwischen 700.000 und über eine Million benötigte Pflegekraft-Vollzeitäquivalente prognostiziert [19]. Für das Jahr 2050 erreichen die prognostizierten Bedarfsgrößen zwischen 1,2 und 1,6 Mio. Pflegekraft-Vollzeitäquivalente [22, 23].

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Leitthema Fazit Die Bevölkerung in Deutschland befindet sich mitten in einem umfassenden demografischen Wandlungsprozess, sie schrumpft und wird älter. Insbesondere die Zahl der Hochaltrigen wächst mit einer bisher nicht gekannten Dynamik. Damit werden sich auch die Strukturen innerhalb der älteren Bevölkerung zuungunsten der jungen Älteren verschieben, d. h. hin zu den Hochaltrigen mit einem hohen Risiko, pflegebedürftig zu werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis der Hochaltrigen zu den nachfolgenden Kohorten im späten Erwerbsalter. Diese Generation ist zahlenmäßig noch groß genug, um die pflegerische Versorgung ihrer Vorgängergeneration sicherzustellen, als pflegende Angehörige oder als Pflegepersonal. Wenn die Kinder der Hochaltrigen selbst in ein Alter mit hoher Pflegebedürftigkeit kommen, werden deutlich weniger Erwachsene zur Verfügung stehen, die diese Aufgabe übernehmen können. Die künftige Zahl der Pflegebedürftigen lässt sich allerdings nicht allein aus der Zahl der Hochaltrigen ableiten. Obwohl sich die Frage zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Gesamtlebenserwartung und gesunder Lebenserwartung noch nicht abschließend klären lässt, gibt es Hinweise darauf, dass die jüngeren Kohorten älterer Menschen das Alter in besserer Gesundheit erleben werden als die älteren, sodass die Zeitspanne in Pflegebedürftigkeit auf einen kleineren Lebensabschnitt am Ende des Lebens komprimiert werden könnte. Damit würde die Zahl der Pflegebedürftigen nicht im gleichen Maß ansteigen wie die Zahl der Hochaltrigen. Prognosen zur Zahl der Pflegebedürftigen sagen unter der Annahme bisheriger Pflegequoten einen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2050 auf Werte zwischen 4,2 und 4,7 Mio. voraus. Unter der Annahme sinkender Pflegequoten liegen diese Prognosen bei rund 3,5 bis 4,1 Mio. Pflegebedürftigen. Mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden heute zu Hause durch Angehörige gepflegt, die Mehrheit davon ohne weitere professionelle Unterstüt-

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zung. Der zukünftige Bedarf an Pflegekräften hängt stark vom Umfang der Pflegeleistungen, die künftig durch Angehörige erbracht werden können, ab. Dieses Potenzial ist bereits heute rückläufig und wird auch künftig weiter sinken – bedingt durch strukturelle Veränderungen in der Bevölkerung, aber auch infolge der Veränderungen der partnerschaftlichen Lebensformen, der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit und der größeren Wohnentfernungen zwischen alten Eltern und ihren erwachsenen Kindern. Eine stärkere Verlagerung der Pflegeleistungen in den stationären Bereich bringt einen weiteren Bedarf an professionellen Pflegekräften mit sich, der zu den aus der demografischen Entwicklung resultierenden Werten noch hinzukommt. Einige Prognosen zum künftigen Bedarf an professionellen Pflegekräften binden aus diesem Grund den Faktor der pflegenden Angehörigen in ihre Szenarien ein. Die im vorliegenden Beitrag verwendeten Prognosen zum künftigen Pflegekräftebedarf sind nicht miteinander vergleichbar, da sie unterschiedliche Bereiche der Pflege zum Gegenstand haben. Verallgemeinern lässt sich jedoch aus ihren Vorausberechnungen ein zukünftiger Bedarf an Pflegekräften, der die gegenwärtigen Größenordnungen bei Weitem übertrifft, in einigen Prognosen um ein Mehrfaches. Der Gesundheits- und Pflegebereich tritt bereits heute – und wird es in Zukunft noch stärker tun müssen – mit anderen Wirtschaftsbereichen in den Wettbewerb um gut ausgebildete Fachkräfte. Wenn junge Menschen motiviert werden sollen, den Pflegeberuf zu ergreifen, benötigen sie umfassende Informationen über diesen, auch über vorhandene Qualifizierungsmöglichkeiten und berufliche Aufstiegschancen [24, 25]. Wenn die in der Altenpflege Arbeitenden ihre Tätigkeit langfristig und gesund ausüben sollen, bedarf diese eine Aufwertung materieller und immaterieller Art. Der demografische Wandel setzt hierfür einen quantitativen Rahmen und er verstärkt die Notwendigkeit dieser Entwicklung.

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Korrespondenzadresse S. Nowossadeck Deutsches Zentrum für Altersfragen Manfred-von-Richthofen-Str. 2, 12101 Berlin [email protected] Interessenkonflikt.  Die korrespondierende Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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30. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2009) Gutachten Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens. Drucksache 16/13770. Deutscher Bundestag (Hrsg), Berlin 31. Schulz E (2008) Zahl der Pflegefälle wird deutlich steigen. Wochenbericht des DIW Nr. 47/2008. Eigenverlag, Berlin 32. Kommission Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission) (2003) Reformvorschläge zur Sozialen Pflegeversicherung. In: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg) Bericht der Kommission Berlin. Eigenverlag, S 185–224 33. Schulz E, Leidl R, König H-H (2001) Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Zahl der Pflegefälle. Vorausschätzungen bis 2020 mit Ausblick auf 2050. DIW Diskussionspapier Nr. 240. Eigenverlag, Berlin

Demenz im Akutkrankenhaus Bereits im Jahr 2020 könnten rund 20% aller älteren Krankenhauspatienten an einer Demenz leiden. Das Krankenhaus ist auf die initiale Versorgung der Menschen mit Demenz in der realen Aufnahmesituation im klinischen Alltag nicht eingestellt. Wegen einer akut einsetzenden körperlichen Erkrankung ins Krankenhaus eingewiesen, reagiert der Demenzkranke auf die fremde Umgebung häufig mit Angst, Unruhe und Wutausbrüchen. Die Ausgabe 03/13 der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie befasst sich ausführlich mit dem Thema „Demenz im Akutkrankenhaus“. Neben einem Überblick zum aktuellen Forschungstand geben die Beiträge viele praxistaugliche Hinweise für den Umgang mit der Demenz. Das Schwerpunktheft beinhaltet u.a.   folgende Beiträge: – Demenz im Akutkrankenhaus:   Was war neu 2012? – Die Versorgungssituation kognitiv eingeschränkter Patienten im Krankenhaus – Patienten mit Begleitdiagnose Demenz. Versorgung in der stationären geriatrischen Rehabilitation – Selbst- oder Fremdeinschätzung im Schmerzassessment bei Menschen mit und ohne kognitive Einschränkung. Erfahrungen aus einer geriatrischen Akutklinik – Patienten mit Demenz im Krankenhaus. Ein Schulungsprogramm der Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen – „We cannot care alone“. Ehrenamtliche Demenzbegleiter am Klinikum Nürnberg – Tiergestützte Therapie im Demenzbereich eines Akutkrankenhauses Bestellen Sie diese Ausgabe zum Preis von 35,- Euro zzgl. Versandkosten bei Springer Customer Service Center Kundenservice Zeitschriften Haberstr. 7, 69126 Heidelberg Tel.: +49 6221-345-4303 Fax: +49 6221-345-4229 E-Mail: [email protected] Weitere Infos unter   springermedizin.de/eMed.

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