Skriptum zur Vorlesung

Analytische Mechanik Christoph Karrasch [email protected]

SS 2017 (Stand: 22. Februar 2018)

Einfu ¨hrung Die klassische Mechanik ist nach der Einf¨ uhrungsvorlesung im letzten Semester Ihre n¨achste Vorlesung im Bereich der theoretischen Physik. Im Wesentlichen werden wir in den kommenden Monaten Formulierungen der Mechanik kennenlernen (wie den Lagrange- und HamiltonFormalismus), welche zwar der Newtonschen ¨aquivalent, in der Praxis aber viel einfacher zu benutzen sind; außerdem – und wichtiger noch – sind diese Formulierungen sehr elegant und lassen sich (im Gegensatz zum Newtonschen Zugang) als Basis anderer, verallgemeinerter Theorien nutzen. Insbesondere wird die Hamiltonsche Formulierung der klassischen Mechanik der Ausgangspunkt f¨ ur die Konstruktion der Quantenmechanik sein. Letztlich werden wir Ihnen bereits Bekanntes wie bspw. bewegte Bezugssyteme nochmals sauber und auf elegante Weise diskutieren. Die Vorlesung zur klassischen Mechanik gibt Ihnen somit die M¨oglichkeit, Konzepte der theoretischen Physik in halbwegs vertrautem Terrain kennenzulernen – wir werden s¨amtliche Ergebnisse ausschließlich aus den Newtonschen Axiomen (plus einer Annahme u ¨ber sogennante Zwangskr¨afte) herleiten. Aus Sicht der Mathematik werden wir nur relativ einfache Techniken der Analysis (und in weit geringerem Maße der linearen Algebra) verwenden; zuvorderst sind dies Ableitungsregeln im Rn (insb. die Kettenregel), Vektorfelder, Kurvenintegrale oder Gradienten. Sie haben die meisten dieser Techniken in der Einf¨ uhrunsvorlesung des letzten Semesters kennengelernt; wir werden sie aber trotzdem an geeigneter Stelle kurz wiederholen. Wir werden in dieser Vorlesung ein Mittelmaß an mathematischer Strenge verwenden, was repr¨asentativ f¨ ur die Arbeit des theoretischen Physikers ist. Den mathematisch Interessierten unter Ihnen kann ich (neben dem Besuch der Analysis- und Algebra-Vorlesungen aus dem Mathematik-Studium) bei Bedarf gerne geeignete Lehrb¨ ucher empfehlen. H¨aufig versteht man die hier eingef¨ uhrten Konzepte erst dann vollst¨andig, wenn man selber ¨ Beispiele dazu gerechnet hat. Es ist daher essentiell, dass Sie aktiv an den Ubungen teilnehmen ¨ und vor allem versuchen, m¨ oglichst viele der Ubungsaufgaben alleine oder in Gruppen selbst zu bearbeiten. Oft ist es dabei sinnvoll, sich schrittweise mit steigendem Schwierigkeitsgrad durch die Problemstellungen zu arbeiten und zun¨achst zu versuchen, hiervon die einfachen (aber fundamentalen) eigenst¨andig zu l¨osen.

3

4 Trotz der Existenz dieses Skripts ermutige ich Sie, in der Vorlesung mitzuschreiben – durch das Verfassen eigener Notizen in eigenen Worten lernt man oft viel mehr, als dies zun¨achst den Anschein hat. Weiterhin kann (und soll) dieses Skript auf keinen Fall ein Lehrbuch ersetzen. Es gibt eine Vielzahl guter B¨ ucher; pers¨ onlich kann ich Ihnen das Werk von Goldstein empfehlen. Letztlich sollten Sie bedenken, dass dieses Skript schrittweise u ¨berarbeitet, weiterentwickelt und korrigiert wird. Es empfiehlt sich daher, es in m¨oglichst kleinen Schritten (oder besser noch erst am Ende der Vorlesung) auszudrucken. Ich selbst m¨ ochte mich an dieser Stelle bei Gerhard Hegerfeldt bedanken, durch dessen exzellente Vorlesung ich die Mechanik im Jahr 2002 kennengelernt habe. Teile dieses Skripts sind durch meine eigene Vorlesungsmitschrift inspiriert. Eine kurze technische Anmerkung: In der elektronischen Version dieses Skriptes sind alle Referenzen auf Gleichungen, Kapitel und Abbildungen mit (optisch unsichtbaren) Hyperlinks versehen. Sollten Sie Fragen oder Kommentare haben, schreiben Sie mir einfach eine Email oder kommen Sie pers¨onlich bei mir vorbei. F¨ urs Erste w¨ unsche ich Ihnen viel Freude beim Kennenlernen der theoretischen Physik. Christoph Karrasch

Inhaltsverzeichnis 1 Newtonsche Mechanik 1.1

1.2

1.3

1.4

Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1.1.1

Koordinaten- und Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1.1.2

Definition des Kraftbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1.1.3

Newtons Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

1.1.4

Bewegungsgleichung, Bahnkurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Kurvenintegrale, konservative Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2.1

Ableitungsregeln f¨ ur Funktionen mehrerer Variablen . . . . . . . . . . . 11

1.2.2

Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.2.3

Konservative Kraftfelder

2.2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Impuls, Energie, Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3.1

Energieerhaltung

1.3.2

Drehimpuls; Zentralfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Mechanik von N Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4.1

Kr¨afte, Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1.4.2

Impulssatz; Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.4.3

Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1.4.4

Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2 Lagrange-Formalismus 2.1

9

25

Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1.1

Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

2.1.2

Holonome und anholonome Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . 26

2.1.3

Verallgemeinerte Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Zwangskr¨afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.1

Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

2.2.2

Annahme Z u ¨ber Zwangskr¨afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2.2.3

d’Alembertsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

5

6

Inhaltsverzeichnis 2.3

2.4

Lagrange-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.3.1

Lagrange-Gleichungen 2. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2.3.2

Lagrange-Gleichungen 1. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4.1

Energieerhaltung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2.4.2

Kanonisch konjugierte Impulse; Zyklische Koordinaten . . . . . . . . . 51

2.4.3

Noether-Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

3 Elemente der Variationsrechnung

55

3.1

Extremwertprobleme f¨ ur Funktionale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

3.2

Extremwertprobleme mit Nebenbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

3.3

Hamiltonsches Variationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

4 Hamilton-Formalismus 4.1

61

Grundlagen des Hamilton-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4.1.1

Kanonische Impulse, Hamilton-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

4.1.2

Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

4.1.3

Zyklische Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

4.2

Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

4.3

Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

4.4

4.3.1

Definition: Invarianz der Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . 70

4.3.2

Transformation der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 72

4.3.3

Erzeugende Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

4.3.4

Alternative Definition der kanonischen Transformation . . . . . . . . . 78

4.3.5

Hamilton-Jacobi Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Liouvillescher Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.4.1

Invarianz des Phasenraumvolumens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

4.4.2

Bewegung im Phasenraum als kanonische Transformation . . . . . . . . 81

5 Kleine Schwingungen

83

5.1

Gleichgewichtslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

5.2

Linearisierte Bewegungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

5.3

L¨ osungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

5.4

5.3.1

Funktionen symmetrischer Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

5.3.2

Normalkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

5.3.3

Entkopplung der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Gekoppelte Oszillatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Inhaltsverzeichnis 6 Bewegte Bezugssysteme

7 93

6.1

Basistransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

6.2

Transformation der Newtonschen Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

6.3

6.2.1

Koordinatentransformation einer Kurve im Raum . . . . . . . . . . . . 96

6.2.2

Transformation der Newtonschen Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . 98

Rotation mit konstanter Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.3.1

Bedeutung des Vektors ω ~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

6.3.2

Bewegungsgleichung im mitrotierenden Bezugssystem . . . . . . . . . . 102

7 Starrer K¨ orper

103

7.1

Dirac-Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

7.2

Eigenschaften des starrer K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 7.2.1

Tr¨agheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

7.2.2

Kinetische Energie und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

7.2.3

Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

1 Newtonsche Mechanik Da die Newtonsche Mechanik den Ausgangspunkt der Konstruktion des Lagrange- und HamiltonFormalismus bildet, wollen wir in diesem Kapitel ihre Grundlagen (und dabei insbesondere Systeme von N Teilchen) wiederholen. Nebenbei gibt uns dies die Gelegenheit, nochmal wichtige Techniken der Analysis zu rekapitulieren. Da Sie die Newtonsche Formulierung der Mechanik bereits im letzten Semester kennengelernt haben, werden wir hier sehr kompakt vorgehen und kaum Beispiele diskutieren.

1.1 Grundlegendes 1.1.1 Koordinaten- und Bezugssysteme Ein physikalisches Bezugssystem ist definiert durch reale, nicht ver¨anderliche Bezugsk¨orper sowie einer Uhr. Ein Koordinatensystem ist eine mathematische Parametrisierung eines gegebenen Bezugssystems (z.B. kartesische Koordinaten oder Kugelkoordinaten). Die Wahl verschiedener Koordinatensysteme in einem Bezugssystem ¨andert die Physik nicht – Koordinatensysteme sind lediglich ein mathematisches Hilfsmittel. Kartesische Koordinaten werden wir im folgenden in der Form ~x = (x1 , x2 , x3 )T schreiben und die zugeh¨origen Einheitsvektoren als ~e1,2,3 bezeichnen. Der Bewegungszustand eines Massepunktes (den wir im folgenden auch als K¨orper oder Teilchen bezeichnen werden) wird durch seine Trajektorie ~x (t) beschrieben; die zeitlichen Ableitungen bezeichnet man als Geschwindigkeit ~x˙ (t) und Beschleunigung ~x¨(t).

1.1.2 Definition des Kraftbegriffs Wir definieren den Begriff der Kraft u ¨ber eine Messvorschrift. Insbesondere kann man eine ‘Krafteinheit’ u ¨ber eine gegebene Feder bestimmter Auslenkung definieren; Vielfache dieser Krafteinheit sind dann definiert durch identische, parallele Federn (bei dieser Definition muss das Hook’sche Gesetz nicht benutzt werden). In der Physik stellt man typischerweise mit experimentellen Beobachtungen vertr¨agliche Kraft-

9

10

NEWTONSCHE MECHANIK

~ (~x , ~x˙ , t) auf. Ein Beispiel hierf¨ gesetze F ur ist das Gravitationsgesetz.

1.1.3 Newtons Axiome Wir wiederholen kurz die von Newton aufgestellten Gesetze in moderner Fassung. Erstes Axiom: Es gibt Bezugssyteme, in denen jeder Massepunkt, auf den keine ¨außeren Einfl¨ usse wirken, sich gradlinig und gleichf¨ormig bewegt. Ein Bezugssytem, in welchem dieses Axiom erf¨ ullt ist, wird Inertialsystem genannt. Zweites Axiom: In einem Inertialsystem gilt f¨ ur einen gegebenen Massepunkt ¨ ~ F ∼ ~x (t). Die Proportionalit¨atskonstante definieren wir als die tr¨age Masse mt . Gleichermaßen definiert man die Proportionalit¨atskonstante im Gravitationsgesetz als schwere Masse ms . Experimentell zeigt sich, dass mt = ms ; wir werden von nun an daher nur noch von der Masse m sprechen. ~ 12 , die ein Massepunkt 1 auf einen Massepunkt Drittes Axiom: Die Kraft F ~ 21 , die der Massepunkt 2 2 aus¨ ubt, ist entgegengesetzt gleich der Kraft F ~ 12 = −F ~ 21 . auf den Massepunkt 1 aus¨ ubt: F

1.1.4 Bewegungsgleichung, Bahnkurve Die Newtonschen Axiome bilden in Verbindung mit (experimentell motivierten) Kraftgesetzen ~ (~x , ~x˙ , t) die vollst¨andige Grundlage der klassischen Mechanik. Insbesondere bestimmt in einem F Inertialsystem die Newtonsche Bewegungsgleichung ~ ~x (t), ~x˙ (t), t m~x¨(t) = F



(1.1)

zusammen mit den Anfangsbedingungen ~x (t = 0) = ~x0 , ~x˙ (t = 0) = ~v0 die Position ~x (t) eines K¨orpers der Masse m f¨ ur beliebige Zeiten t. In der Mathematik bezeichnet man dies als ein Anfangswertproblem f¨ ur ein System gew¨ohnlicher Differentialgleichungen zweiter Ordnung, f¨ ur welche eine allgemeine L¨ osungstheorie existiert. Wir definieren: Eine L¨ osung ~x (t) der Newtonschen Bewegungsgleichung nennen wir im folgenden auch Bahnkurve oder physikalische Bahn. Da Gl. (1.1) die klassische Mechanik eines Teilchens vollst¨andig beschreibt, k¨onnten wir uns an dieser Stelle auf den Standpunkt stellen, dass es nichts Weiteres zu tun gibt. Im Prinzip ist

1.2. Kurvenintegrale, konservative Felder

11

dies sicher richtig – in der Praxis gibt es aber einige ‘Tricks’, mit deren Hilfe sich die Bewegung viel einfacher beschreiben l¨asst als durch direktes L¨osen der Bewegungsgleichung; gleichzeitig lernt man so oft Eigenschaften des Systems kennen, die aus Gl. (1.1) nicht sofort ersichtlich sind. Die wichtigsten dieser ‘Tricks’ sind sog. Erhaltungsgr¨oßen, die wir in K¨ urze diskutieren wollen. Als Hilfsmittel ben¨ otigen wir hierzu Kurvenintegrale.

1.2 Kurvenintegrale, konservative Felder Wir wollen nun kurz die Konzepte des Kurvenintegrals sowie konservativer Felder rekapitulieren. Es ist instruktiv, zun¨achst einige Ableitungsregeln f¨ ur Funktionen mehrerer Ver¨anderlicher zu wiederholen.

1.2.1 Ableitungsregeln f¨ ur Funktionen mehrerer Variablen Funktionen f : Rn → R Wir betrachten eine reellwertige Funktion f : Rn →

R, deren Argument wir kurz als ~x =

(x1 , ... , xn )T bezeichnen wollen. Im letzten Semester haben Sie die partielle Ableitung kennengelernt: f (~y ) − f (~x ) ∂f (~x ) = lim , ~y = (x1 , ... , xi + , ... , xn )T . →0 ∂xi  In der Praxis leitet man zur Berechnung von

∂f ∂xi

einfach nach xi ab und betrachtet alle anderen

Variablen als Konstanten. H¨angt eine Funktion nur von einer Variablen ab, so schreibt man gleichbedeutend

df dx

=

∂f ∂x .

Die Ihnen aus der Schule bekannten Summen- und Produktregel

verallgemeinern sich wie folgt f¨ ur Funktionen mehrerer Ver¨anderlicher: ∂[f (~x ) + g (~x )] ∂f (~x ) ∂g (~x ) = + , ∂xi ∂xi ∂xi Beispiel:

∂[f (~x )g (~x )] ∂f (~x ) ∂g (~x ) = g (~x ) + f (~x ) . ∂xi ∂xi ∂xi

Die partiellen Ableitungen der Funktion f (~x ) = x1 sin(x2 ) + exp(x2 ) lauten ∂f = sin(x2 ) , ∂x1

∂f = x1 cos(x2 ) + exp(x2 ) . ∂x2

Weiterhin haben Sie den Begriff des Gradienten kennengelernt:   ∂f ∂f ∂f T grad f (~x ) = , , ... , . ∂x1 ∂x2 ∂xn Funktionen ~f : Rn → Rm F¨ ur vektorwertige Funktionen ~f : Rn → Rm definieren wir die Ableitungen komponentenweise:   ∂f1 ∂~f (~x ) ∂fm T = , ... , . ∂xi ∂xi ∂xi

12

NEWTONSCHE MECHANIK

Dies haben wir auf ganz nat¨ urliche Weise bereits benutzt, um die Geschwindigkeit und Beschleunigung von Bahnkurven ~x (t) einzuf¨ uhren: ~x˙ (t) = ( dx1 , dx2 , dx3 )T . dt

dt

dt

Verallgemeinerte Kettenregel Eine sehr wichtige Ableitungsregel ist die verallgemeinerte Kettenregel. Aus der Schule wissen Sie, dass f¨ ur die Ableitungen zweier reeller Funktionen f : R → R und y : R → R folgendes gilt: df (y ) df (y (x)) = dx dy

y =y (x)

dy (x) ∗ df dy = . dx dy dx

Betrachten wir nun zwei Funktionen ~f : Rn → Rm sowie ~y : Rp → Rn , dann gilt  n X ∂~f ~y (~x ) ∂yj (~x ) ∗ X ∂~f ∂yj ∂~f (~y ) = . = ∂xi ∂yj ∂xi ∂yj ∂xi j=1

~y =~y (~x )

j

Zun¨achst waren wir sehr sorgf¨altig und haben alle Funktionsargumente explizit ausgeschrieben; an den Stellen ∗ waren wir dann etwas sorgloser. Letzteres ist oft n¨ utzlich, um die Notation kompakt zu halten. Den Beweis der Kettenregel wird die Analysis-Vorlesung der Mathematik liefern. In der Praxis treten sehr oft Funktionen ~f (~x , t) auf, die von einem Ortsvektor ~x ∈ Rn und einer Zeitvariablen t abh¨angen. M¨ ochte man nun f¨ ur ~x eine Bahnkurve ~x (t) einsetzen und nach der Zeit ableiten, dann definiert man eine Hilfsfunktion ~y : R → Rn+1 mittels ~y (t) = (x1 (t), ... xn (t), t)T und verwendet Gl. (1.2): n+1 d~f (~y (t)) X ∂~f (~y ) ∂yi (t) d~f (~x (t), t) = = dt dt ∂yi ∂t i=1 ~y =~y (t)  n  ~ X ∂ f (~x , t) ∂xi (t) ∂~f (~x , t) = + . ∂xi ~x =~x (t) ∂t ∂t ~x =~x (t) i=1

Wenn wir wieder zu unserer ‘sorglosen’ Notation u ¨bergehen, so finden wir die gebr¨auchlichste Form der Kettenregel: In der Physik wird die allgemeine Kettenregel oft in der Form d~f (~x (t), t) X ∂~f ∂~f = x˙ i + , dt ∂xi ∂t i

df (~x (t), t) ∂f = grad f · ~x˙ + dt ∂t

(1.2)

geschrieben, wobei wir f¨ ur den Spezialfall einer skalaren Funktion eine elegante Schreibweise mittels des Gradienten eingef¨ uhrt haben. Die Notation in Gl. (1.2) wird uns viel Schreibarbeit sparen, aber man muss genau im Auge behalten, wonach man eigentlich ableitet. Es ist insbesondere sinnvoll, nochmal kurz den Unterschied der Symbole

df dt

und

∂f ∂t

zu rekapitulieren. Da wir f¨ ur ~x eine Kurve ~x (t) eingesetzt

1.2. Kurvenintegrale, konservative Felder

13

haben, h¨angt die linke Seite f (~x (t), t) von Gl. (1.2) nur von einer einzigen Variablen ab (der Zeit t), nach welcher wir ableiten wollen. In unserer ‘sorglosen’ Schreibweise auf der rechten Seite kennzeichnet

∂f ∂t

die Ableitung nach der expliziten Zeitabh¨angigkeit, die die Funktion

f (~x , t) vor dem Einsetzen von ~x = ~x (t) bereits selbst besitzt. Sollten an irgendeiner Stelle Unklarheiten bzgl. der Bedeutung der Ableitungen bestehen, so kann man einfach zu der vollst¨andigen Notation in Gl. (1.2) zur¨ uckgehen. Beispiel:

Wir betrachten die Funktion f (~x , t) = sin(x1 ) + x22 + x3 cos(t) und eine beliebige Kurve ~x (t) im R3 . Dann gilt df (~x (t), t) = cos(x1 (t))x˙ 1 (t) + 2x2 (t)x˙ 2 (t) + x˙ 3 (t) cos(t) − x3 (t) sin(t) . dt

1.2.2 Kurvenintegrale Wir wollen nun den Begriff des Kurvenintegrals wiederholen. Um sp¨ater ganz einfach die Newtonsche Mechanik mehrerer Teilchen diskutieren zu k¨onnen, betrachten wir hier nicht den R3 sondern allgemein den Vektorraum Rn versehen mit dem Standard-Skalarprodukt ~x · ~y = Pn ur das folgende nirgendwo ein Rolle; Sie k¨onnen bildlich i=1 xi yi . Die Dimension n spielt f¨ stets an den R3 denken. Sei C = {~x (t) ∈ Rn , ta ≤ t ≤ tb } eine beliebige, durch t parametrisierte Kurve im Rn ; dies muss nicht zwangsweise die physikalische Bahnkurve eines K¨orpers sein, t ist hier vorerst ein ~ (~x , ~x˙ , t) ∈ Rn entlang beliebiger, reeller Parameter. Dann ist das Kurvenintegral eines Feldes F dieser Kurve definiert als (das Vorzeichen ist Konvention und hat keine Bedeutung) Z −W = C

~ (~x , ~x˙ , t)d~x := F

Z

tb

ta

~ (~x (t), ~x˙ (t), t) · d~x (t) dt . F dt

(1.3)

~ (~x ) ist das Kurvenintegral unabh¨angig von der konkreten F¨ ur rein ortsabh¨angige Kraftfelder F ¨ Parametrisierung der Kurve (Ubung). Dann hat Gl. (1.3) anschaulich folgende Bedeutung: Die x Tangentialrichtung der Kurve ~x (t) ist durch ∼ d~ dt gegeben; mit dem Skalarprodukt projiziert ~ auf die Kurve. Das Kurvenintegral ist also das Integral der Komponente von F ~ in man F

Kurvenrichtung. Beispiel:

Ein Halbkreis mit Radius R in der x1 x2 −Ebene des R3 wird durch C = {~x (t), 0 ≤ ~ (~x , ~x˙ , t) = t ≤ π} mit ~x (t) = (R cos(t), R sin(t), 0)T parametrisiert. Es sei F

14

NEWTONSCHE MECHANIK

Abbildung 1.1: Zwei verschiedene Wege in der x1 x3 −Ebene des R3 , die den gleichen Anfangs- und Endpunkt haben.

~ u (g , 0, 0)T gegeben. Dann berechnet sich das Wegintegral von F ¨ber C wie folgt:     g −R sin(t) Z π Z π      0  ·  R cos(t) dt = − −W = gR sin(t)dt = −2gR .     0 0 0 0

1.2.3 Konservative Kraftfelder Als skalares Feld bezeichnen wir eine Funktion F : Rn → R, die jedem Punkt im Raum einen skalaren Wert zuordnet (Beispiel: Dichteverteilung ρ(~x ) im R3 ). Als Vektorfeld bezeichnen wir ~ : Rn → Rn , die jedem Punkt einen Vektor zuordnet. Ein Beispiel f¨ eine Funktion F ur letzteres ~ (~x ) (unabh¨angig von ~x˙ und t) im R3 . Wir definieren: sind rein ortsabh¨angige Kraftfelder F ~ (~x ) heißt konservativ, falls wenn es ein Gradientenfeld ist, Ein Vektorfeld F ~ (~x ) = −gradV (~x ) gibt. es also ein skalares Feld V (~x ) mit der Eigenschaft F Man kann nun folgendes zeigen: Ein Vektorfeld ist genau dann konservativ, wenn

R C

~ (~x )d~x nur vom F

Anfangs- und Endpunkt des Weges C abh¨angt, nicht aber von seiner Form. ~ (~x ) Beweis: Wir beweisen zun¨achst die “Hinrichtung” obige Satzes, nehmen also an, dass F ein Gradientenfeld ist. Wir m¨ ussen zeigen, dass jedes Kurvenintegral nur vom Anfangs- und Endpunkt anh¨angt. Wir betrachten also einen beliebigen Weg C = {~x (t), ta ≤ t ≤ tb } mit

1.3. Impuls, Energie, Drehimpuls

15

Anfangs- und Endpunkten ~x (ta ) = ~xa , ~x (tb ) = ~xb und berechnen Z Z tb Z tb d~x d~x ~ ~ F (~x (t)) · gradV (~x (t)) · F (~x )d~x = dt = − dt dt dt ta ta C Z tb d =− V (~x (t)) dt = V (~xa ) − V (~xb ) .  ta dt R ~ (~x )d~x f¨ Als n¨achstes beweisen wir die “R¨ uckrichtung”, nehmen also an, dass C F ur beliebige Wege nur von deren Anfangs- und Endpunkt abh¨angt. Wir definieren Z ~ (~y )d~y , V (~x ) = − F C

wobei C = {~y (t), ta ≤ t ≤ tb } ein beliebiger Weg ist, der von einem festen Punkt ~y (ta ) = ~ya ~ (~x ) = −gradV (~x ) gilt. startet und im Punkt ~y (tb ) = ~x endet. Wir m¨ ussen zeigen, dass F Hierzu k¨ onnen wir aufgrund der Wegunabh¨angigkeit oBdA annehmen, dass C in der N¨ahe des Endpunktes ~x in x1 -Richtung verl¨auft und durch eine Funktion der Form ~e1 t parametrisiert wird (~en bezeichnen die Basisvektoren des Rn ); da wir am Ende differenzieren, brauchen wir uns um Konstanten keine Gedanken machen und finden: Z tb ~ (~x ) · ~e1 , ~ (~x (t)) · ~e1 dt ⇒ ∂V (~x ) = −F F V (~x ) = V0 − ∂x1 und analog f¨ ur alle anderen xi .  Kommentar: Es gibt ein praktisches Kriterium um festzustellen, ob ein Feld konservativ ist: ~ (~x ) = −gradV (~x ) ⇔ rot F ~ (~x ) = 0. Den Beweis hierzu werden sie in den Vorlesungen der F Mathematik kennenlernen (Satz von Stokes).

1.3 Impuls, Energie, Drehimpuls Das wichtigste Hilfsmittel zum elegantem L¨osen der Bewegungsgleichung besteht in dem Ausnutzen von sogennanten Erhaltungsgr¨oßen. Diese sind wie folgt definiert: Eine Gr¨ oße A(~x , ~x˙ , t), welche entlang jeder physikalischen Bahn zeitlich konstant ist, nennt man Erhaltungsgr¨oße. Mit anderen Worten gilt f¨ ur jedes ~x (t), welches Gl. (1.1) erf¨ ullt, A(~x (t), ~x˙ (t), t) = const.. ~ nennen wir Erhaltungsgr¨oße, wenn alle ihre Komponenten ErhalEine vektorielle Gr¨ oße A tungsgr¨oßen sind. Wir werden sp¨ater sehen, dass Erhaltungsgr¨oßen mit den Symmetrien des zugrundeliegenden Problems verkn¨ upft sind (Noether-Theorem). Ein sehr einfaches Beispiel sind die drei Komponenten des Impulses ~p (~x , ~x˙ , t) = m~x˙ in kartesischen Koordinaten. Nach Newtonscher Bewegungsgleichung sind diese eine Erhaltungsgr¨oße,

16

NEWTONSCHE MECHANIK

falls die zugeh¨ orige Komponente der Kraft verschwindet; der Vollst¨andigkeit halber notieren wir den Impulssatz (1 Teilchen): Verschwindet die Kraft, so ist der Impuls ~p (~x , ~x˙ , t) = m~x˙ eine Erhaltungsgr¨oße. Ein etwas komplizierteres Beispiel ist die Erhaltung der Gesamtenergie.

1.3.1 Energieerhaltung Um das Konzept der Energieerhaltung einzuf¨ uhren, integrieren wir die (zun¨achst beliebige) Kraft entlang einer physikalischen Bahn, also einer Kurve ~x (t) ∈ R3 , welche Gl. (1.1) erf¨ ullt: Z C

Z tb Z tb  d  m ˙ 2 ∗ ~ ~x (t), ~x˙ (t), t · ~x˙ (t) dt = ~x (t) dt F m~x¨(t) · ~x˙ (t) dt = 2 C ta ta dt  m  m   ~x˙ (tb )2 − ~x˙ (ta )2 =: T ~x˙ (tb ) − T ~x˙ (ta ) . = 2 2

~ (~x , ~x˙ , t)d~x = F

Z

An der Stelle ∗ haben wir die Bewegungsgleichung eingesetzt. Die physikalische Bedeutung des Kurvenintegrals der Kraft ist die verrichtete Arbeit; diese ist gleich der Differenz der kinetischen Energie T (~x˙ ) = m2 ~x˙ 2 . Wenn wir nun annehmen, dass die Kraft konservativ ist mit R ~ (~x ) = −gradV (~x ), so ergibt sich weiterhin ~ x )d~x = V (~x (ta )) − V (~x (tb )) und damit der F C F (~ Energiesatz (1 Teilchen): In einem konservativen Kraftfeld ist die Gesamt energie E (~x , ~x˙ , t) = m ~x˙ 2 + V ~x eine Erhaltungsgr¨oße, also entlang einer 2

physikalischen Bahn ~x (t) zeitlich konstant.

1.3.2 Drehimpuls; Zentralfelder Bzgl. eines gegebenen festen Bezugspunktes ~xL sind der Drehimpuls ~l eines Teilchens und das wirkende Drehmoment ~d definiert als ~l := ~r × m~r˙ , ~d := ~r × F ~ ,

(1.4)

wobei ~r = ~x − ~xL der Relativvektor bezogen auf ~xL ist. Es gilt der Drehimpulssatz (1 Teilchen): Der Drehimpuls erf¨ ullt entlang einer Bahnkurve die Bewegungsgleichung ~l˙ = ~d .

(1.5)

Verschwindet das Drehmoment ~d, so ist ~l(~x , ~x˙ , t) eine Erhaltungsgr¨oße.

1.4. Mechanik von N Teilchen

17

Beweis: Wir berechnen unter Verwendung von ~xL = const. ⇒ ~¨r = ~x¨ ~ = ~d . ~l˙ = ~r˙ × m~r˙ +~r × m~¨r = ~r × F | {z }



=0

Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen der Drehimpuls erhalten ist. Hierzu f¨ uhren wir den wichtigen Begriff des Zentralfeldes ein: Ein Kraftfeld ist ein allgemeines Zentralkraftfeld, wenn sich die Verl¨angerung der Kraftvektoren in einem Punkt (oBdA dem Ursprung) schneiden. Ein solches Feld kann immer in der Form ~ (~x , ~x˙ , t) = f (~x , ~x˙ , t) ~x F |~x |

(1.6)

geschrieben werden. In allgemeinen Zentralfeldern mit dem Urprung als Zentrum ist der Drehimpuls bezogen auf ~xL = 0 eine Erhaltungsgr¨oße: ~d = ~x × f (~x , ~x˙ , t) ~x = 0 . |~x | Weiterhin gilt in einem solchen Feld bspw. der Fl¨achensatz, den Sie im letzten Semester kennengelernt haben. Die meisten Zentralfelder in der Physik sind (kugelsymmetrische) Zentralfelder im engeren Sinn; hier h¨angt die Gr¨ oße der Kraft nur vom Zentrumsabstand (aber z.B. nicht vom Winkel) ab: ~ (~x ) = f (|~x |) ~x . F |~x |

(1.7)

Solche Felder sind konservativ; es gilt also sowohl Energie- wie auch Drehimpulserhaltung. Der Beweis ist einfach; wir definieren Z |~x | ~x .  V (~x ) = − f (|~x |)d|~x | ⇒ gradV (~x ) = −f (|~x |) |~x | |~x0 |

(1.8)

1.4 Mechanik von N Teilchen In diesem Abschnitt wollen wir kurz einige wesentliche Aspekte der Newtonschen Mechanik von N Teilchen diskutieren.

1.4.1 Kr¨ afte, Bewegungsgleichungen Wir betrachten ein System aus N Teilchen (Punktmassen) der Masse mi . Ihre Bewegung ist bzgl. eines gegebenen Bezugssystems durch Ortsverktoren ~xi (t), i = 1 ... N charakterisiert. Die Komponenten einer kartesischen Basis wollen wir als ~xi = (xi,1 , xi,2 , xi,3 )T bezeichnen. F¨ ur die auf das i-te Teilchen wirkenden Kr¨afte verwenden wir folgende Notation:

18

NEWTONSCHE MECHANIK ~ E (~xi , ~x˙ i , t) bezeichen wir die Resultante (Summe) der auf das i-te Teilchen wirken1. Als F i ~ E. ~ E = PN F den ¨außeren Kr¨afte. Die Summe aller ¨außeren Kr¨afte nennen wir F i=1

i

~ ij (~xi , ~x˙ i , ~xj , ~x˙ j , t) bezeichnen wir die Kraft, die vom j-ten Teilchen auf das i-te 2. Als F ~ ii = 0 Teilchen ausge¨ ubt wird, wobei wir der Einfachheit halber i = j zulassen und F definieren. Man bezeichnet diese Kr¨afte als innere Kr¨afte. Das dritte Newtonsche Gesetz (actio=reactio) liefert sofort ~ ij = −F ~ ji . F

(1.9)

~ ij in Richtung der Verbindungslinie des i-ten und Die bedeutet allerdings nicht, dass F j-ten Teilchens wirken muss. Erst sp¨ater (bei der Diskussion des Drehimpulses) werden wir annehmen, dass die inneren Kr¨afte Zentralkr¨afte sind. ~ i als die auf das i-te Teilchen wirkende Gesamtkraft; f¨ 3. Wir bezeichnen F ur diese gilt per Definition ~ i (~x1 , ~x˙ 1 , ... , ~xN , ~x˙ N , t) := F ~ E (~xi , ~x˙ i , t) + F i

N X

~ ij (~xi , ~x˙ i , ~xj , ~x˙ j , t) . F

j=1

Die Newtonschen Bewegungsgleichungen haben dann die Form: ~ i (~x1 , ~x˙ 1 , ... , ~xN , ~x˙ N , t) , i = 1 ... N . mi ~x¨i = F

(1.10)

Dies sind 3N gekoppelte, gew¨ ohnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung, welche zusammen mit den Anfangsbedingungen ~xi (t = 0) = ~xi,0 , ~x˙ i (t = 0) = ~vi,0 die Bewegung aller Teilchen vollst¨andig bestimmen. Es wird sich als elegant herausstellen, die Koordinaten s¨amtlicher Teilchen sowie die wirkenden ~ ∈ R3N mit 3N Komponenten zu kombinieren Gesamtkr¨afte in einem Vektor ~x ∈ R3N bzw. F und eine 3N-dimensionale ‘Massematrix’ m ˆ einzuf¨ uhren:      m ~1  1 ~x1 F      m1   ~x2  F ~2       ~ :=   , m m1 ~x :=  .  , F ˆ :=    ..   ...        m2  ~N ~xN F



..

.

     .    

(1.11)

F¨ ur die einzelnen Komponenten gilt per Definition z.B. x1 = x1,1 , x2 = x1,2 , x3 = x1,3 , x4 = x2,1 usw. Diese Notation ist nat¨ urlich so gew¨ahlt, dass sie mit der oben f¨ ur N = 1 eingef¨ uhrten Notation konsistent ist! Der Vektor ~x bezeichnet also immer die Gesamtheit aller Ortsvektoren f¨ ur alle N ≥ 1. (Lassen Sie sich sp¨ater nicht von den Begriffen Schwerpunkt, Gesamtimpuls und Gesamtdrehimpuls verwirren; diese Gr¨oßen sind Elemente des R3 !). Als Skalarprodukt zweier

1.4. Mechanik von N Teilchen

19

Vektoren w¨ahlen wir das Standard-Skalarprodukt des R3N . Die Newtonschen Bewegungsgleichungen aller Teilchen lassen sich dann als ~ ~x (t), ~x˙ (t), t m ˆ ~x¨(t) = F



schreiben. Um Verwirrung zu vermeiden, werden wir in Zukunft stets versuchen, darauf hin~ arbeiten, die im R3N leben. weisen, wenn wir mit Vektoren ~x , F Als n¨achstes wollen wir die wichtigsten (potentiellen) Erhaltungsgr¨oßen in N-Teilchensystemen diskutieren: Impuls, Drehimpuls und Energie. Wie oben bereits erw¨ahnt, kann man die Newtonsche Bewegungsgleichung oft sehr elegant durch Ausnutzen von Erhaltungsgr¨oßen l¨osen. Ein typisches Beispiel ist die L¨ osung des Zweik¨orperproblems durch Ausnutzen von Energie, Impuls- und Drehimpulserhaltung, welches Sie im letzten Semester kennengelernt haben.

1.4.2 Impulssatz; Schwerpunkt ~ ∈ R3 eines Der Impuls des i-ten Teilchens ist definiert als ~pi := mi ~x˙ i ; den Gesamtimpuls P Systems aus N Teilchen definieren wir als die Summe der Einzelimpulse ~ x , ~x˙ , t) := P(~

N X

~pi =

i=1

N X

mi ~x˙ i .

(1.12)

i=1

Es gilt der Impulssatz: Die Zeitableitung des Gesamtimpulses eines Systems aus N Teilchen ist entlang einer Bahnkurve gleich der Resultante der auf das System wirkenden ¨außeren Kr¨afte, ~˙ = F ~E . P

(1.13)

~ x , ~x˙ , t) eine ErVerschwindet diese Resultante, so ist der Gesamtimpuls P(~ haltungsgr¨ oße; dies gilt insbesondere in jedem abgeschlossenen System, E ~ d.h. f¨ ur F = 0 ∀i. i

~ ij = −F ~ ji f¨ Beweis: Wir addieren die Newtonschen Bewegungsgleichungen und verwenden F ur die inneren Kr¨afte: ~˙ = P

N X i=1

mi ~x¨i =

N X i=1

 ~E + F i

N X j=1

 ~ ij  = F

N X

~E + F i

i=1

N X N X i=1 j=1

| Schließlich f¨ uhren wir den Begriff des Schwerpunktes ein:

~E .  ~ ij = F F

{z

=0

}

20

NEWTONSCHE MECHANIK Der Schwerpunkt ~xS eines Systems von N Teilchen ist definiert als PN ~xS :=

xi i=1 mi ~ M

, M :=

N X

mi .

(1.14)

i=1

Diese Definition ist unabh¨angig von der Wahl des Urprungs des Bezugssystems. Der Schwerpunkt bewegt sich so, als ob in ihm die Gesamtmasse M des Systems konzentriert ist und an ihm die Resultante aller ¨außeren Kr¨afte angreift; er erf¨ ullt also die Bewegungsgleichung ~E . M ~x¨S = F

(1.15)

Beweis: Um zu zeigen, dass ~xS unabh¨angig von der Wahl des Ursprungs ist, verschieben wir letzteren um einen Vektor ~x0 ; die N Teilchen haben dann die Ortsvektoren ~yi = ~xi −~x0 bzgl. des neuen Ursprungs, und es gilt PN PN PN xi mi ~x0 yi i=1 mi ~ i=1 mi ~ ~yS = = − i=1 = ~xS − ~x0 . M M M PN N X x¨i i=1 mi ~ ¨ ~E = F ~E .  M ~xS = M F = i M i=1

1.4.3 Energiesatz Wir haben in Abschnitt 1.2 das Kurvenintegral sowie den Begriff eines konservativen Feldes ganz allgemein im Rn eingef¨ uhrt, was die Diskussion an dieser Stelle stark vereinfacht. Die Integration der Newtonschen Bewegungsgleichungen liefert ganz analog zum Fall eines Teilchens !2 r Z Z tb Z tb m ˆ d ~ (~x , ~x˙ , t) d~x = ~x˙ (t) dt F m ˆ ~x¨(t) · ~x˙ (t) dt = 2 C ta ta dt   = T ~x˙ (tb ) − T ~x˙ (tb ) , ~ ∈ R3N und wir die gesamte kinetische Energie eingef¨ wobei ~x , F uhrt haben: !2 r N X  m ˆ mi ˙ 2 ˙ ˙ ~x ~x . T ~x := = 2 2 i

(1.16)

i=1

Weiterhin haben wir die Wurzel der Matrix m ˆ definiert als die Diagonalmatrix mit Eintr¨agen √ ˆ y ) = (A ˆ T ~x ) · ~y verwendet. mi anstelle von mi , und wir haben ~x · (A~ In Worten besagt obige Gleichung, dass Differenz der kinetischen Energie gerade gleich der ~ aller inneren und ¨außeren Kr¨afte verrichteten Arbeit ist. Wenn diese von der Resultante F Resultante ein konservatives Feld ist, die Kr¨afte also zeit- und geschwindigkeitsunabh¨angig

1.4. Mechanik von N Teilchen

21

~ = −grad V (~x ) gibt, dann folgt aus Abschnitt sind und es ein Potential V : R3N → R mit F 1.2 unmittelbar der Energiesatz: Ist in einem System aus N Teilchen die Resultante aller Kr¨afte konservativ mit Potential V (~x ) = V (~x1 ... ~xN ), dann ist die Gesamtenergie E (~x , ~x˙ , t) = T (~x˙ ) + V (~x )

(1.17)

eine Erhaltungsgr¨ oße. Kommentar: Wenn die inneren Kr¨afte kugelsymmetrische Zentralkr¨afte im engeren Sinn sind, also die Form ~ ij = fij (|~xi − ~xj |) ~xi − ~xj = −F ~ ji F |~xi − ~xj |

(1.18)

haben, so k¨ onnen sie auf jeden Fall aus einem Potential gewonnen werden. Dies sieht man, indem man ~x = ~x1 − ~x2 in Gl. (1.8) setzt. Schwerpunkts- und Relativanteil Wir wollen abschließend zeigen, dass man die gesamte kinetische Energie in einen Schwerpunktsund Relativanteil zerlegen kann: N

T =

M ˙ 2 X mi ˙ 2 ~x + ~r =: T S + T rel , 2 S 2 i

(1.19)

i=1

wobei ~ri = ~xi − ~xS . Dies sieht man wie folgt: T

rel

=

N X mi i=1

2

~r˙i2 =

N N  X M ˙2 ˙ mi  ˙ 2 ˙ 2 d X ˙ ˙ ~xi + ~xS − 2~xS · ~xi = T + ~xS − ~xS · mi ~xi 2 2 dt i=1

i=1

= T + T − M ~x˙ S · ~x˙ S = T + T − 2T = T − T .  S

S

S

S

1.4.4 Drehimpuls Der Gesamtdrehimpuls eines Systems aus N Teilchen ist definiert als die Summe der einzelnen Drehimpulse; das gesamte ¨außere Drehmoment ist definiert als die Summe der einzelnen, ausschließlich von den ¨außeren Kr¨aften hervorgerufenen Drehmomente: ~L :=

N X i=1

~li =

N X i=1

~ E := ~ri × mi~r˙i , D

N X

~E . ~ri × F i

(1.20)

i=1

Hierbei ist ~ri = ~xi − ~xL , und ~xL ist der Bezugspunkt f¨ ur Drehimpuls/moment. Es gilt der

22

NEWTONSCHE MECHANIK Drehimpulssatz: In einem System aus N Teilchen m¨ogen die inneren Kr¨afte ~ ij = fij (~xi , ~x˙ i , ~xj , ~x˙ j , t) ~xi −~xj = in Richtung der Verbindungslinien zeigen, F |~xi −~xj | ~ ji ; dies schließt den wichtigen Spezialfall von kugelsymmetrischen Zen−F tralkr¨aften in Form von Gl. (1.18) ein. Dann ist (bzgl. des festen Punktes ~xL ) die Zeitableitung des Gesamtdrehimpulses entlang einer Bahnkurve gleich der Summe der ¨außeren Drehmomente ~L˙ = D ~E .

(1.21)

~ E , so ist der Drehimpuls ~L(~x , ~x˙ , t) eine Erhaltungsgr¨oße. Verschwindet D ~ E = 0 ∀i) oder f¨ Dies gilt insbesondere in abgeschlossenen Systemen (F ur i den Fall, dass die externen Kr¨afte verallgemeinerte Zentralkr¨afte mit ~xL als gemeinsamen Kraftzentrum sind. Beweis: Wir berechnen die Zeitableitung (~xL ist zeitunabh¨angig ⇒ ~¨ri = ~x¨i )     N N N N X X X X d ~E + ~ ij  . ~L˙ = ~r˙i × mi~r˙i +~ri × mi~¨ri  = ~ri × mi~r˙i = ~ri × F F i | {z } dt i=1

i=1

i=1

=0

j=1

~ ij einen In der Doppelsumme u ¨ber die inneren Kr¨afte gibt es zu jedem Summanden ~ri × F ~ ji ; wegen F ~ ij = −F ~ ji ∼ ~xi − ~xj heben sich diese gegenseitig auf: Summanden ~rj × F ~ ij + ~rj × F ~ ji = (~xi − ~xj ) × F ~ ij = 0 . ~ri × F Es bleibt N

X ~L˙ = ~E = D ~E . ~ri × F



i=1

Rolle des Bezugspunkts Wir wollen abschließend untersuchen, welche Rolle der Bezugspunkt ~xL bei der Definition des Drehimpulses spielt. Hierzu w¨ahlen wir einen anderen Bezugspunkt ~xL0 und versuchen, den zugeh¨origen neuen Drehimpuls ~L0 mit ~L in Verbindung zu setzen. Mit ~ri0 := ~xi − ~xL0 und ~r00 := ~xL − ~xL0 als Verbindungsvektor der beiden Bezugspunkte finden wir dann ~L0 =

N X i=1

~ri0

× mi~r˙i0 =

N X

(~ri + ~r00 )

i=1

× mi~r˙i =

N X i=1

~ri × mi~r˙i +

N X

~, ~r00 × mi~r˙i = ~L + ~r00 × P

i=1

wobei wir ~r˙i0 = ~r˙i benutzt haben, da beide Bezugspunkte ruhen. Folglich ist der Gesamtdre~ verschwindet, himpuls genau dann unabh¨angig vom Bezugspunkt, wenn der Gesamtimpuls P d.h. wenn der Schwerpunkt ruht.

1.4. Mechanik von N Teilchen

23

Letztere Einsicht motiviert die Frage, ob man sinnvoll eine Bewegungsgleichung f¨ ur den Drehimpuls bezogen auf den bewegten Schwerpunkt aufstellen kann. Wenn wir Ortsvektoren ~ri = ~xi − ~xS relativ zum Schwerpunkt einf¨ uhren (und oBdA ~xL = 0 w¨ahlen), so nimmt ~L folgende Form an: ~L =

N X

∗ ~xi × mi ~x˙ i =

i=1

N X

~xS × mi ~x˙ S +

|i=1

{z

=~xS ×M~x˙ S

N X

~ri × mi~r˙i +

|i=1 {z

}

=:~LS

N X

|i=1 {z

}

=

N X

~ri × mi ~x˙ S + }

ri ×~x˙ S =0 i=1 mi ~

PN

~xS × mi~r˙i

|i=1 {z

}

P =~xS × N r˙i =0 i=1 mi ~

= ~xS × M ~x˙ S + L , ~S

wobei wir an der Stelle ∗ einfach ~xi = ~ri + ~xS eingesetzt haben. Das Verschwinden der ‘Kreuzterme’ folgt dabei unmittelbar aus N X

mi~ri =

i=1

N X

mi ~xi −

i=1

N X

mi ~xS = M~xS − M~xS = 0 ⇒

i=1

N X

mi~ri =

i=1

N X

mi~r˙i =

N X

i=1

mi~¨ri = 0 .

i=1

In Worten ausgedr¨ uckt: ~L l¨asst sich schreiben als Summe aus dem Drehimpuls einer im Schwer~ tr¨agt und dem Drehimpuls ~xS punkt konzentrierten Punktmasse M, die den Gesamtimpuls P bezogen auf den bewegten Schwerpunkt. Weiterhin erf¨ ullt ~LS die u ¨bliche Bewegungsgleichung (da hierbei der Bezugspunkt ~xS bewegt ist, ist dies nicht trivial!) N

X ~L˙ S = ~E. ~ri × F i i=1

Um dies Einzusehen, dr¨ ucken wir allgemein das Drehmoment und den Drehimpuls durch ~xS und ~ri aus: ~E = D

N X

N N X X E E ~E, ~ ~ ~ri × F (~xS + ~ri ) × Fi = ~xS × F + i

~E = ~xi × F i

i=1

i=1

i=1

und außerdem N N X X ~L˙ = d ~xi × mi ~x˙ i = ~xi × mi ~x¨i dt

=

=

i=1 N X

i=1

~xS × mi ~x¨S + ~ri × mi~¨ri + ~ri × mi ~x¨S + ~xS × mi~¨ri

i=1 N X

~xS × mi ~x¨S +

i=1

N X i=1

~ri × mi~¨ri +

N X

mi~ri ×~x¨S + ~xS ×

|i=1{z }

= ~xS × M ~x¨S +

i=1

~ E + ~L˙ S , = ~xS × F

N X

mi~¨ri

|i=1{z }

=0

N X



=0

N d X ¨ ¨ ~ri × mi~r˙i ~ri × mi~ri = ~xS × M ~xS + dt i=1

24

NEWTONSCHE MECHANIK

wobei wir im letzten Schritt die Bewegungsgleichung (1.15) f¨ ur den Schwerpunkt verwendet ˙ ~ haben. Wenn wir nun die letzten beiden Gleichungen mittels L = D E kombinieren, so ergibt sich die gesuchte Bewegungsgleichung f¨ ur ~LS .

2 Lagrange-Formalismus Wir werden in diesem Kapitel eine neue Formulierung der klassischen Mechanik kennenlernen – den Lagrange-Formalismus. Dieser ist ¨aquivalent zur Newtonschen Formulierung; es gibt im wesentlichen drei Gr¨ unde, warum wir uns mit ihm besch¨aftigen wollen: 1. Der Lagrange-Formalismus erlaubt es, direkt Bewegungsgleichungen f¨ ur beliebige verallgemeinerte Koordinaten ohne Umweg u ¨ber die in zeitunabh¨angigen, kartesischen Koordinaten formulierte Newtonsche Bewegungsgleichung gehen zu m¨ ussen. Mit anderen Worten: Die Bewegungsleichungen im Lagrange-Formalismus sind zwar ¨aquivalent zur Newtonschen Bewegungsgleichung, sind aber in komplizierten Systemen (z.B. in Anwesenheit von sog. Zwangsbedingungen) ‘viel praktischer’. 2. Ausgehend von der Lagrange-Formulierung werden wir sp¨ater den Hamiltonschen Zugang zur Mechanik kennenlernen. Dieser wiederum bildet den Startpunkt der Formulierung der Quantenmechanik. 3. In der Diskussion des Lagrange-Formalismus (sowie des Hamilton-Formalismus) lernen Sie nebenbei wichtige Konzepte (z.B. ‘Symmetrien’) sowie Rechentechniken der theoretischen Physik kennen.

2.1 Zwangsbedingungen Oft ist man in der klassischen Mechanik mit Problemen konfrontriert, bei denen sich Teilchen nicht frei im Raum bewegen k¨ onnen, sondern sogennanten Zwangsbedingungen unterliegen. Dies ist in der Praxis zwar eher f¨ ur Ingenieure als f¨ ur Physiker relevant, aber die folgende Diskussion ist sehr instruktiv, und man lernt nebenbei anschaulich die Bedeutung wichtiger Konzepte wie bspw. generalisierter Koordinaten kennen. Wir werden zeigen, wie man die klassische Mechanik in Anwesenheit von Zwangsbedingungen ausschließlich mittels den Newtonschen Gesetzen sowie einer einzigen zus¨atzlichen Annahme vollst¨andig und geschlossen formulieren kann.

25

26

LAGRANGE-FORMALISMUS

Abbildung 2.1: Beispiele f¨ ur Systeme mit Zwangsbedingungen: Teilchen auf Kreis (= durch masselose Stange mit Ursprung verbunden) bzw. auf rotierendem, masselosen Draht.

2.1.1 Beispiele Typische Beispiele f¨ ur Systeme mit Zwangsbedingungen sind: • Ein Teilchen, welches sich in einer Ebene bewegt und durch eine masselose Stange der L¨ange l mit dem Ursprung verbunden ist (siehe Abb. 2.1, links). Mathematisch wird dies durch die Bedingungen x12 + x32 − l 2 = 0 , x2 = 0 beschrieben. In Anwesenheit der Gravitationskraft bezeichnet man dieses Problem auch als mathematisches Pendel. • Ein Teilchen, das sich auf einem parabelf¨ormigen, masselosen Draht bewegen kann, der mit einer Winkelgeschwindigkeit ω um die x3 -Achse rotiert (siehe Abb. 2.1, rechts). Dies impliziert die Einschr¨ankungen x3 − x12 + x22 = 0 , x2 − x1 tan(ωt) = 0 . • Zwei Teilchen, die durch eine masselose Stange der L¨ange l verbunden sind – mit anderen Worten: deren Abstand konstant ist. Mathematisch entspricht dies der Bedingung (x1,1 − x2,1 )2 + (x1,2 − x2,2 )2 + (x1,3 − x2,3 )2 − l 2 = 0 .

2.1.2 Holonome und anholonome Zwangsbedingungen Wir k¨onnen obige Beispiele verallgemeinern und definieren:

2.1. Zwangsbedingungen

27

Zwangsbedingungen der Form fi (~x , t) = 0 , i = 1 ... k

(2.1)

mit ~x ∈ R3N nennt man holonome Zwangsbedingungen. Sie schr¨anken die Bewegung auf eine n = 3N −k - dimensionale Hyperfl¨ache des R3N ein. Man nennt n die Zahl der Freiheitsgrade. H¨angen die Funktionen fi nicht von der Zeit t ab, so nennt man die Zwangsbedingungen auch holonom-skleronom.

Mit anderen Worten werden k Koordinaten des Systems durch die Gleichungen fi = 0 eliminiert. Zum Beispiel: N = 1, k = 1:

Gibt es f¨ ur ein Teilchen eine Zwangsbedingung f1 = 0, so findet die Bewegung auf einer 3N − k = 2-dimensionalen Fl¨ache im R3 statt. Es gibt n = 2 unabh¨angige Koordinaten.

N = 1, k = 2:

Gibt es f¨ ur ein Teilchen zwei Zwangsbedingungen f1 = 0 und f2 = 0, so findet die Bewegung auf einer 3N − k = 1-dimensionalen Fl¨ache (= Kurve) im R3 statt. Beispiele sind das oben erw¨ahnte Teilchen auf dem Kreis oder dem parabelf¨ormigen Draht. Es gibt n = 1 unabh¨angige Koordinaten.

N = 2, k = 1:

Gibt es f¨ ur zwei Teilchen eine Zwangsbedingung f1 = 0, so findet die Bewegung auf einer 3N − k = 5-dimensionalen Fl¨ache im R6 statt. Ein Beispiel sind die zwei Teilchen mit konstantem Abstand. Es gibt n = 5 unabh¨angige Koordinaten.

In differentieller Form l¨asst sich Gl. (2.1) auch schreiben als (Taylor-Entwicklung, verallgemeinerte Kettenregel)  ∂fi ∆t = 0 . fi = 0 ⇒ ∆fi = gradfi ~x , t · ∆~x + ∂t Die Bewegung in einem lokalen Fl¨achen- und Zeitst¨ uck ∆~x , ∆t ist also lokal eingeschr¨ankt! F¨ ur eine Bahnkurve ~x (t) impliziert dies (man ‘teile obige Gleichung durch ∆t’)   dfi ~x (t), t ∂fi = gradfi ~x , t · ~x˙ + =0, dt ∂t

(2.2)

also eine differentielle Zwangsbedingung, die linear in der Geschwindigkeit ist. Gl. (2.1) und Gl. (2.2) sind hierbei bis auf eine Konstante ¨aquivalent. Allerdings kann man die differentiell geschriebene Form verallgemeinern:

28

LAGRANGE-FORMALISMUS Lokale Zwangsbedingungen f¨ ur die Koordinaten ~x ∈ R3N , ~ai (~x , t) · ∆~x + ai,0 (~x , t)∆t = 0 ⇔ ~ai · ~x˙ + ai,0 = 0 ,

(2.3)

deren Koeffizienten ~ai (~x , t) ∈ R3N und ai,0 (~x , t) ∈ R, sich nicht aus einem ‘Potential’ fi (~x , t) mittels ai = grad fi , ai,0 = ∂t fi ausdr¨ ucken lassen, nennt man anholonome Zwangsbedingungen. Die Bewegung ist also nur lokal eingeschr¨ankt, nicht aber global, oder anders: Bei holonomen Zwangsbedingungen k¨ onnen Variablen direkt ‘durch Aufl¨osen’ der Gleichungen fi = 0 eliminiert werden, und die Bewegung ist global auf eine Hyperfl¨ache beschr¨ankt. Bei anholonomen Zwangsbedingungen ist dies nicht m¨ oglich, denn ein solches Aufl¨osen w¨ urde ja gerade auf eine Bedingung der Form fi = 0 f¨ uhren. Eine Bahnkurve muss aber an jedem Punkt ~x (t) lokal der Bedingung in Gl. (2.3) gen¨ ugen. Ein anschauliches Beispiel f¨ ur anholonome Zwangsbedingungen ist die Bewegung eines Schlittschuhs: Global ist jeder Punkt der ‘Eisfl¨ache’ bei jedem Winkel erreichbar, lokal kann sich der Schuh aber nur vorw¨arts/r¨ uckw¨arts bewegen. Wir werden sp¨ater ein konkretes Rechenbeispiel anholonomer Zwangsbedingungen diskutieren.

2.1.3 Verallgemeinerte Koordinaten Oft ist es sinnvoll, nicht in kartesischen Koordinaten zu rechnen. 3N verallgemeinerte Koordinaten qk , k = 1 ... 3N (abgek¨ urzt ~q ∈ R3N ) sind definiert durch eine (bis auf singul¨are Punkte) eineindeutige Abbildung ~x = ~x (q1 , ... q3N , t) ,

(2.4)

wobei wir explizit eine Zeitabh¨angigkeit – also ein System verallgemeinerter Koordinaten, das sich mit der Zeit ¨andert – zulassen wollen. Eine ganz beliebige Kurve (nicht notwendigerweise eine physikalische Bahnkurve!) im Raum kann dann entweder in kartesischen Koordinaten durch ~x (t) oder in verallgemeinerten Koordinaten durch ~q (t) beschrieben werden: ~x (t) = ~x ~q (t), t



⇒ ~x˙ (t) = ~x˙ ~q (t), ~q˙ (t), t



(2.5)

Die Geschwindigkeit ~x˙ (t) in kartesischen Koordinaten kann hierbei auch von den verallgemeinerten Koordinaten ~q (t) – und nicht nur von den ‘verallgemeinerten Geschwindigkeiten’ ~q˙ (t) – abh¨angen (siehe folgendes Beispiel). Beispiel:

Typische Beispiele f¨ ur verallgemeinerte Koordinaten sind die Ihnen sicher bekannten Polar-, Zylinder- oder Kugelkoordinaten. Wenn wir bspw. f¨ ur ein Teilchen Polarko-

2.1. Zwangsbedingungen

29

ordinaten in der x1 − x3 -Ebene einf¨ uhren: x1 = r sin(ϑ) , x3 = −r cos(ϑ) dann ist der Ort ~x v¨ ollig durch die verallgemeinerten Koordinaten ~q = (r , ϑ, x2 ) festgelegt. F¨ ur eine beliebige Kurve ~x (t) im Raum gilt dann     ˙ cos ϑ(t) + r˙ (t) sin ϑ(t) r (t) sin ϑ(t) r (t)ϑ(t)      ⇒ ~x˙ (t) =  . ~x (t) =  x (t) x ˙ (t) 2 2     ˙ sin ϑ(t) − r˙ (t) cos ϑ(t) −r (t) cos ϑ(t) r (t)ϑ(t) ˙ x˙ 2 ab, sondern auch von r und ϑ. Also h¨angt ~x˙ (t) nicht nur von r˙ , ϑ, Verallgemeinerte Koordinaten: Zwangsbedingungen Holonome Zwangsbedingungen k¨ onnen nat¨ urlich durch Einsetzen der Transformation ~x = ~x (~q , t)T direkt durch beliebige Koordinaten ausgedr¨ uckt werden: fi (~x , t) = 0 ⇔ fi (~q , t) = 0 . Nun werden durch die Gleichungen fi = 0 gerade k Unbekannte eliminiert, und man sollte generalisierte Koordinaten geschickt so w¨ahlen, dass dies auf ganz nat¨ urliche Weise passiert. Das verbleibende Problem wird dann durch n = 3N−k unabh¨angige, generalisierte Koordinaten beschrieben (die verbleibenden k Koordinaten sind einfach konstant). Beispiel:

F¨ ur das Teilchen auf dem Kreis (siehe Abb. 2.1) w¨ahlt man z.B. wie oben erw¨ahnt Polarkoordinaten; die Zwangsbedingungen lauten dann f1 (~q , t) = r − l = 0 , f2 (~q , t) = x2 = 0 , und der Winkel ϑ ist die einzige freie Koordinate des Systems.

Um die anholonomen Zwangsbedingungen aus Gl. (2.3) bzw. die in differentieller Form geschriebenen holonomen Zwangsbedingungen in verallgemeinerten Koordinaten auszudr¨ ucken, verwendet man die Kettenregel: n n  X d~x (~q (t), t) X ∂~x ∂~x ∂~x  ∂~x ˙ ~ ~ ~ = q˙ j + ⇒ ai · x + ai,0 = ai · q˙ j +~ai · + ai,0 = 0 . (2.6) dt ∂qj ∂t ∂qj | ∂t{z } j=1 j=1 | {z } =:bi,j (~q ,t)

=:bi,0 (~q ,t)

Ganz bewusst haben wir hier eine beliebige Zahl n verallgemeinerter Koordinaten zugelassen; Gl. (2.6) gilt unabh¨angig von n. F¨ ur differentiell ausgedr¨ uckte holonome Zwangsbedingungen – falls also ~ai = grad fi und ai,0 = ∂t fi gilt – findet man also einfach bi,j = grad fi ·

∂~x (~q , t) ∂fi (~q , t) ∂~x (~q , t) ∂fi (~x , t) ∂fi (~q , t) = , bi,0 = grad fi · + = . (2.7) ∂qj ∂qj ∂t ∂t ∂t

30

LAGRANGE-FORMALISMUS

Im Fall anholonomer Zwangsbedingungen ist es per Definition unm¨oglich, Koordinaten global zu eliminieren. Man muss stets mit n = 3N Koordinaten arbeiten, die allerdings nicht unabh¨angig voneinander sind, sondern an jedem Punkt im Raum der lokalen Einschr¨ankung durch Gl. (2.6) unterliegen. Nat¨ urlich sollte man aber 3N verallgemeinerte Koordinaten so w¨ahlen, dass sie das zugrundeliegende Problem m¨oglichst elegant beschreiben. Wir werden weiter unten ein Beispiel daf¨ ur kennenlernen.

2.2 Zwangskr¨ afte Die Newtonsche Bewegungsgleichung gilt in Systemen mit Zwangsbedingungen nicht, da ihre L¨osung i.A. die Zwangsbedingungen verletzt. Ein gutes Beispiel ist das mathematische Pendel: Hier wird in der Newtonschen Bewegungsleichung nicht die nach unten zeigende Gravitationskraft verwendet, sondern diese wird (der physikalischen Intuition folgend) durch die auf die tangentiale Bewegungsrichtung projizierte Kraft ersetzt. Wir m¨ ussen uns also Gedanken machen, wie man in komplizierteren Systemen analog vorgehen w¨ urde.

2.2.1 Motivation ~ ∈ R3N erzwungen werden, Die Einhaltung von Zwangsbedingungen kann durch Zwangskr¨afte Z ~ ∈ R3N wirken. Anschaulich welche zus¨atzlich zu der Summe der ¨außeren und inneren Kr¨afte F u ¨ben die Zwangsfl¨achen also Zwangskr¨afte aus, die verhindern, dass Teilchen diese Fl¨ache verlassen. Wie groß sind diese Kr¨afte bzw. welche Richtung haben sie? Wir wollen dies an zwei der obigen Beispiele motivieren. • Teilchen auf Kreis: Es gibt zwei Zwangsbedingungen, die jeweils eine Zwangskraft hervorrufen k¨ onnen. Die Bedingung f1 (~x ) = x2 = 0 zwingt die Bewegung in die Ebene x2 = 0; diese Ebene u ¨bt also eine Zwangskraft aus, welche in ~e2 -Richtung zeigt, es gibt keine Komponente in der Ebene. Weiterhin ist es sinnvoll, anzunehmen, dass die aus f2 (~x ) = x12 + x32 − l 2 = 0 folgende Zwangskraft in Richtung der masselosen Stange wirkt, ~ 1,2 jeweils senkrecht auf nicht aber senkrecht dazu. Folglich stehen die Zwangskr¨afte Z der Zwangsfl¨ache und zeigen damit in Richtung des Gradienten:     0 x1     ~ ~    Z1 ∼ 1 ∼ grad f1 (~x ) , Z2 ∼  0   ∼ grad f2 (~x ) . 0 x3 ~ 2 ist explizit in Abb. 2.1 gezeigt. Die Richtung der Zwangskraft Z • Zwei durch masselose Stange verbundene Teilchen: Auch hier ist es sinnvoll, anzunehmen, dass die auf das erste und zweite Teilchen ausge¨ ubten Teile der Zwangskraft jeweils

2.2. Zwangskr¨afte

31

~ steht zu jeder Zeit t senkrecht auf der momentaAbbildung 2.2: Annahme Z: Die Zwangskraft Z nen Zwangsfl¨ache f = 0 und sorgt damit daf¨ ur, dass das Teilchen diese Fl¨ache nicht verlassen kann. Das Teilchen kann sich also an jedem Punkt nur in tangentialer Richtung uneingeschr¨ankt bewegen. Diese Annahme u ¨ber die Richtung der Zwangskraft ist (zus¨atzlich zu den Newtonschen Gesetzen) ausreichend, um die Bewegung in Anwesenheit von Zwangsbedingungen vollst¨andig festzulegen. Die Bewegungsgleichungen sind durch das d’Alembertsche Prinzip in Gl. (2.10) gegeben.

nur in Richtung der masselosen Stange (also der Verbindungslinie der beiden Teilchen) zeigen; außerdem sollten diese beiden Teile gerade entgegengesetzt gleich sein. Man sieht durch Nachrechnen, dass eine solche Kraft proportional zum Gradienten von f1 = (x1,1 − x2,1 )2 + (x1,2 − x2,2 )2 + (x1,3 − x2,3 )2 − l 2 ist: 

x1,1 − x2,1



  x1,2 − x2,2      x1,3 − x2,3  ~   ∼ grad f1 (~x ) . Z1 ∼   x2,1 − x1,1    x2,2 − x1,2    x2,3 − x1,3 Also steht auch hier die Zwangskraft senkrecht auf der Zwangsfl¨ache f1 = 0.

2.2.2 Annahme Z u afte ¨ber Zwangskr¨ Diese heuristischen Betrachtungen motivieren folgende, in Abb. 2.2 veranschaulichte

(2.8)

32

LAGRANGE-FORMALISMUS Annahme Z: In einem System mit Zwangsbedingungen gelten die Newtonschen Bewegungsgleichungen, wobei neben den inneren und ¨außeren Kr¨aften ~ zus¨atzlich Zwangskr¨afte Z ~ i zu ber¨ F ucksichtigen sind. Eine Zwangskraft steht dabei stets senkrecht auf der zugeh¨origen momentanen Zwangsbedingung. Im Fall von den in Gl. (2.1) definierten holonomen Zwangsbedingun~ i also in Richtung der momentanen Gradienten: gen zeigen die Z ~ i (~x , t) ∼ grad fi (~x , t) ∈ R3N . Z

(2.9)

Im Fall zeitabh¨angiger Zwangsbedingungen nimmt man also an, dass die Zwangskr¨afte f¨ ur jede Zeit t senkrecht auf der zugeh¨ origen Zwangsfl¨ache fi (~x , t) stehen (dies ist mit ‘momentan’ gemeint). Analog zeigen im Fall anholonomer Zwangsbedingungen die Zwangskr¨afte in Richtung der Vektoren ~ai (~x , t) ∈ R3N , welche senkrecht zur momentanen, lokalen Zwangsfl¨ache stehen. Beispiel:

F¨ ur die Bewegung eines Teilchens auf einem masselosen, parabelf¨ormigen, rotierenden Draht (siehe Abb. 2.1) lauten die holonomen Zwangsbedingungen f1 (~x ) = x12 + x22 − x3 = 0, f2 (~x , t) = x1 tan(ωt) − x2 = 0. Die zugeh¨origen Zwangskr¨afte haben also die Form 2x1





 tan(ωt)     ~ 2 (~x , t) ∼  −1  . ~ 1 (~x ) ∼ 2x2  , Z Z     −1 0 

Kommentar 1: Gl. (2.9) ist nur eine Aussage u ¨ber die Richtung der Zwangskr¨afte, welche sich aber (wie wir im n¨achsten Abschnitt zeigen werden) als hinreichend zur L¨osung des Problems herausstellen wird; die Bewegung ist durch die Annahme Z eindeutig festgelegt. Kommentar 2: Eine derartige Behandlung von Zwangsbedingungen ist ein gutes Beispiel f¨ ur die Theoriebildung in der Physik. Es ist oft schwierig bis unm¨oglich, die genaue mikroskopische Wechselwirkung zu beschreiben, welche am Ende in einem System aus ‘externen’ Teilchen und ‘internen’, mit der Zwangsbedingung assoziierten Teilchen (der ‘masselosen Stange’) zur ungef¨ahren Einschr¨ankung der Bewegung auf die vorgegebene Form f¨ uhrt. Aus diesem Grund macht man eine heuristisch motivierte Annahme (unsere Annahme Z), welche das Problem vollst¨andig definiert und die Rechnungen stark vereinfacht. F¨ ur alle bekannten Beispiele sind dann die Vorhersagen dieser Theorie konsistent mit bspw. experimentellen Beobachtungen. Wir werden im folgenden diskutieren, welche Schlussfolgerungen ausschließlich aus der Newtonschen Bewegungsgleichung kombiniert mit der Annahme Z gezogen werden k¨onnen.

2.2. Zwangskr¨afte

33

2.2.3 d’Alembertsches Prinzip Wir werden nun zun¨achst zeigen, dass mittels der Annahme Z die Bewegung vollst¨andig bestimmt ist. Gegeben seien dazu k (holonome oder anholonome) Zwangsbedingungen. Die Bewegung findet also auf einer n = 3N −k - dimensionalen Hyperfl¨ache des R3N statt (bzw. einer lokalen Hyperfl¨ache im anholonomen Fall). Eine solche Fl¨ache besitzt in jedem Punkt ~x ∈ R3N genau n Tangentialvektoren ~si (~x , t) ∈ R3N ; dies sind die Vektoren, welche im Punkt ~x senkrecht auf den Vektoren grad fi=1...k ∈ R3N bzw. ~ai=1...k ∈ R3N stehen. Wenn wir nun die Newtonsche Bewegungsgleichung mit den Tangentialvektoren multiplizieren:   k h i X ~ (~x , ~x˙ , t) − ~ j  · ~si (~x , t) = m ~ (~x , ~x˙ , t) · ~si (~x , t), i = 1 ... 3N − k, 0 = m ˆ ~x¨ − F Z ˆ ~x¨ − F j=1

(2.10) so erhalten wir genau n = 3N − k Bewegungsgleichungen f¨ ur n (lokal) unabh¨angige Variablen, und das Problem ist vollst¨andig definiert. Mit anderen Worten: In einer n-dimensionalen Fl¨ache k¨ onnen sich die Teilchen in n Richtungen (den Tangentialrichtungen) frei bewegen, und ~ j = 0 f¨ Gl. (2.10) liefert gerade n Bewegungsgleichungen; wegen ~si · Z ur alle i, j sind die a priori unbekannten Zwangskr¨afte in diesen nicht mehr enthalten. Gl. (2.10) bezeichnet man als das d’Alembertsche Prinzip. Es ist instruktiv, sich die Bedeutung und Zahl der m¨oglichen Tangentenvektoren am Beispiel holonomer Zwangsbedingungen und f¨ ur ein Teilchen explizit vor Augen zu f¨ uhren: N = 1, k = 1:

Wenn es nur eine Zwangsbedingung gibt, so ist die Bewegung auf eine n = 3N −k = 2-dimensionale Fl¨ache eingeschr¨ankt (siehe z.B. Abb. 2.2), welche in jedem Punkt gerade n = 2 unabh¨angige Tangentialvektoren besitzt. Gl. (2.10) liefert n = 2 Bewegungsgleichungen f¨ ur die zwei freien ‘Bewegungsrichtungen’.

N = 1, k = 2:

Gibt es zwei Zwangsbedingungen, so ist die Bewegung auf eine n = 3N − 2 = 1-dimensionale Fl¨ache (Kurve) eingeschr¨ankt; diese hat an jeder Stelle nur n = 1 unabh¨angige Tangentenvektoren. Dies ist in Abb. 2.1 explizit f¨ ur das Teilchen auf dem Kreis angedeutet. Gl. (2.10) liefert n = 1 Bewegungsgleichungen f¨ ur die eine freie ‘Bewegungsrichtung’.

Kommentar 1: In der Literatur wird das d’Alembertsche Prinzip aus historischen Gr¨ unden manchmal u uckung eingef¨ uhrt, worauf wir ¨ber den (altmodischen) Begriff der virtuellen Verr¨ hier verzichten. ¨ Kommentar 2: Die Anderung jeder mit den Zwangsbedingungen vertr¨aglichen Bahnkurve ~x (t) ist durch Gl. (2.2) bzw. Gl. (2.3) lokal eingeschr¨ankt; mit anderen Worten bestimmen diese

34

LAGRANGE-FORMALISMUS

Gleichungen die m¨ oglichen Formen jedes Tangentenvektors der Bahnkurve ∆~x (t). Nur falls die Zwangsbedingungen zeitunabh¨angig (skleronom) sind, sind diese Tangentenvektoren auch Tangentialvektoren der Zwangsfl¨ache (da dann die Terme ∼ ∂t verschwinden). Dies verdeutlicht nochmal die Bedeutung der Annahme Z: Die Zwangskr¨afte stehen zu jeder Zeit t senkrecht auf der zugeh¨ origen momentanen Zwangsfl¨ache. Nur im skleronomen Fall stehen sie gleichzeitig senkrecht auf der Bahnkurve. Anwendungen des d’Alembertschen Prinzips Im Fall holonomer Zwangsbedingungen kann man das d’Alembertsche Prinzip wie folgt implementieren: Zun¨achst eliminiert man k Freiheitsgrade mittels der Gleichungen fi = 0, wobei man m¨oglichst elegant gew¨ahlte verallgemeinerte Koordinaten verwendet. Die n = 3N − k Tangentialvektoren sind dann durch die partiellen Ableitungen fi = 0 ⇒ 0 =

∂~x ∂~x (~q , t) ∂fi (~x (~q , t), t) = grad fi · ∀i, j ⇒ ~si (~q , t) = , i = 1 ... n (2.11) ∂qj ∂qj ∂qi

nach den unabh¨angigen Koordinaten gegeben, und Gl. (2.10) hat die Form h i ∂~x (~q , t) ¨ ˙ ¨ ˙ ~ m ˆ ~x (~q , ~q , ~q , t) − F (~q , ~q , t) · = 0 , i = 1 ... n . ∂qi ~q=~q(t)

(2.12)

Kommentar: Nat¨ urlich gilt Gl. (2.12) auch f¨ ur k = 0, also in Abwesenheit von Zwangsbedingungen. In diesem Fall beschreibt diese Gleichung einfach, welche Form die Newtonsche Bewegungsgleichung in beliebigen Koordinaten hat. Beispiel:

~ = −mg~e3 Wir wollen die Bewegung auf dem Kreis aus Abb. 2.1 im Schwerefeld F studieren. Dieses Problem wird auch mathematisches Pendel genannt. Wir w¨ahlen Polarkoordinaten in der Ebene x2 = 0 und eliminieren die beiden Zwangsbedingungen, was auf ~x (t) = (l sin ϑ, 0, −l cos ϑ)T f¨ uhrt. Wir haben also ϑ als einzige unabh¨angige Variable; der zugeh¨orige Tangentialvektor lautet ~s = ∂ϑ~x . Gl. (2.10) liefert dann     l ϑ¨ cos ϑ − l ϑ˙ 2 sin ϑ + g l cos ϑ     ~ ) · ~s = m  · 0  0 = (m~x¨ − F 0     2 ¨ ˙ l ϑ sin ϑ + l ϑ cos ϑ + g l sin ϑ g ⇒ ϑ¨ = − sin ϑ , l was Ihnen aus dem letzten Semester bekannt sein sollte. Dieses Beispiel veranschau~ = −mg~e3 licht sch¨ on die Bedeutung des d’Alembertschen Prinzips: Anstelle von F m¨ ussen wir in der Newtonschen Bewegungsgleichung die auf die Bewegungsrichtung projizierte Komponente verwenden – dies ist aber (bis auf einen konstanten ~ · ~s ! Faktor l) genau F

2.2. Zwangskr¨afte

35

2

x1(t)

ω=0 ω=1 ω=2

1

x2(t) 0 -2

-1

0

1

2

-1

-2

Abbildung 2.3: Numerische L¨ osung der Bewegungsgleichung Gl. (2.13) f¨ ur g = 1, r (0) = 1, r˙ (0) = 0 und verschiedene Winkelgeschwindigkeiten ω.

Beispiel:

Als etwas komplexeres Beispiel studieren wir die Bewegung auf dem mit gegebener Winkelgeschwindigkeit ω rotierendem Draht aus Abb. 2.1 ebenfalls unter Einfluss ~ = −mg~e3 . Wie verwenden Polarkoordinaten in der x1 −x2 - Ebeder Schwerkraft F ne und eliminieren die Zwangsbedingungen zugunsten einer einzigen unabh¨angigen Variable r (t):     r cos(ωt) −r ω 2 cos(ωt) − 2˙r ω sin(ωt) + ¨r cos(ωt)     2 ¨    ~x (t) =   r sin(ωt)  ⇒ ~x =  −r ω sin(ωt) − 2˙r ω cos(ωt) + ¨r sin(ωt)  . r2 2˙r 2 + 2r¨r Der Tangentialvektor berechnet sich als ~s = ∂r ~x (r ) = cos(ωt), sin(ωt), 2r

T

, und

die Bewegungsgleichung lautet ~ ) · ~s = (1 + 4r 2 )¨r + 4r r˙ 2 + (2g − ω 2 )r . 0 = (m~x¨ − F

(2.13)

Dies ist eine gew¨ ohnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung f¨ ur die Koordinate r (t), welche man leicht numerisch l¨osen kann. Abb. 2.3 zeigt die Bewegung der Perle in der ‘Sicht von oben’ (also in Richtung der ~e3 −Achse blickend). Wenn der Draht ruht (ω = 0), so oszilliert die Perle einfach entlang der Linie x1 = 0. F¨ ur kleines ω > 0 bewegt sich die Perle in einem begrenzten Raumgebiet, f¨ ur großes ω entfernt sie sich beliebig weit vom Ursprung.

36

LAGRANGE-FORMALISMUS

Abbildung 2.4: Zwei Massen m1 und m2 seien durch masselose Stangen der L¨ange l mit dem Ursprung bzw. miteinander verbunden (Doppelpendel). Die Gewichtskraft wirke in negative ~e3 −Richtung.

Beispiel:

Schließlich wollen wir ein System aus N = 2 Massepunkten m1 und m2 studieren, welche sich in der x1 x3 − Ebene bewegen d¨ urfen und u ¨ber masselosen Stangen der L¨ange l miteinander bzw. mit dem Urprung verbunden seien (siehe Abb. 2.4). Es gibt also k = 4 holonome Zwangsbedingungen:

2 2 f1 (~x , t) = x1,2 = 0 , f2 (~x , t) = x1,1 + x1,3 − l2 = 0

f3 (~x , t) = x2,2 = 0 , f4 (~x , t) = (x1,1 − x2,1 )2 + (x1,3 − x2,3 )2 − l 2 = 0 .

Wir w¨ahlen von nun der Einfachheit halber l = 1 und Massen m1 = m2 = 1. Durch Verwenden von Polarkoordinaten (siehe wieder Abb. 2.4) k¨onnen diese Zwansgbedingungen ganz nat¨ urlich ber¨ ucksichtigt werden, und als n = 3N − k = 2 freie Koordinaten haben wir die Winkel φ1,2 ; es gibt n = 2 Tangentenvektoren ~s1,2 :

    cos φ1 0        0   0    0                   − cos φ1  , ~s1 = ∂~x =  sin φ1  , ~s2 = ∂~x =  0  . ~x =       ∂φ1 cos φ1  ∂φ2 cos φ2    sin φ1 + sin φ2              0  0   0    sin φ1 sin φ2 − cos φ1 − cos φ2 (2.14) 

sin φ1



Eine Bahnkurve ~x (t) wird durch φ1 (t) und φ2 (t) beschrieben, und die zeitlichen

2.3. Lagrange-Gleichungen

37

Ableitungen lauten     φ¨1 cos φ1 − φ˙ 21 sin φ1 φ˙ 1 cos φ1         0 0         2 ¨ ˙ ˙     φ1 sin φ1 + φ1 cos φ1 φ1 sin φ1 ˙~x =  .  , ~x¨ =     ˙ 2 2 ¨ ˙ ¨ ˙ ˙ φ cos φ − φ sin φ + φ cos φ − φ sin φ φ cos φ + φ cos φ  1  1 1 1 2 2 2 1 2 2 1 2         0 0     φ¨1 sin φ1 + φ˙ 21 cos φ1 + φ¨2 sin φ2 + φ˙ 22 cos φ2 φ˙ 1 sin φ1 + φ˙ 2 sin φ2 (2.15) Auf jede der Massen wirke die Gewichtskraft in negative ~e3 −Richtung:  T ~ = 0, 0, −m1 g , 0, 0, −m2 g . F Das d’Alembertsche Prinzip liefert nun (bedenken Sie l = 1, m1 = m2 = 1): ~ ] · ~s1 = 2[φ¨1 cos φ1 − φ˙ 2 sin φ1 ] cos φ1 + 2[φ¨1 sin φ1 + φ˙ 2 cos φ1 ] sin φ1 0 = [m ˆ ~x¨ − F 1 1 + [φ¨2 cos φ2 − φ˙ 22 sin φ2 ] cos φ1 + [φ¨2 sin φ2 + φ˙ 22 cos φ2 ] sin φ1 + 2g sin φ1 = 2[φ¨1 + g sin φ1 ] + φ¨2 cos(φ1 − φ2 ) + φ˙ 22 sin(φ1 − φ2 ) , und weiterhin ~ ] · ~s2 = [φ¨1 cos φ1 − φ˙ 2 sin φ1 ] cos φ2 + [φ¨1 sin φ1 + φ˙ 2 cos φ1 ] sin φ2 0 = [m ˆ ~x¨ − F 1 1 + [φ¨2 cos φ2 − φ˙ 22 sin φ2 ] cos φ2 + [φ¨2 sin φ2 + φ˙ 22 cos φ2 ] sin φ2 + g sin φ2 = [φ¨2 + g sin φ2 ] + φ¨1 cos(φ2 − φ1 ) + φ˙ 21 sin(φ2 − φ1 ) . Dies sind zwei gekoppelte Bewegungsgleichungen f¨ ur die zwei Koordinaten φ1,2 .

2.3 Lagrange-Gleichungen Die Bewegung von N Teilchen in Anwesenheit von k Zwangsbedingungen ist im Prinzip vollst¨andig durch das d’Alembertsche Prinzip festgelegt, das genau 3N − k Bewegungsgleichungen liefert, in welchen die Zwangskr¨afte nicht mehr auftauchen. Ein großer praktischer Nachteil des d’Alembertschen Prinzips ist aber, dass dies von der Newtonschen Bewegungsgleichung ausgeht, welche in kartesischen Koordinaten formuliert ist. Erst nach Aufstellen von Gl. (2.10) kann man zu elegant gew¨ahlten, verallgemeinerten Koordinaten u ¨bergehen. Wir werden nun erl¨auteren, wie man das d’Alembertsche Prinzip so umformulieren kann, dass Bewegungsgleichungen direkt f¨ ur solche Koordinaten aufgestellt werden k¨onnen.

38

LAGRANGE-FORMALISMUS

2.3.1 Lagrange-Gleichungen 2. Art F¨ ur holonome Zwangbedingungen k¨ onnen wir direkt k Freiheitsgrade eliminieren und betrachten also n = 3N −k verallgemeinerte (m¨oglicherweise auch zeitabh¨angige) Koordinaten qi=1...n , deren Gesamtheit wir kurz als ~q ∈ Rn bezeichnen. Per Definition (siehe auch Gl. (2.5)) k¨onnen die kartesischen Koordinaten ~x ∈ R3N in der Form ~x = ~x (~q , t), ~x˙ = ~x˙ (~q , ~q˙ , t) eindeutig durch die qi ausgdr¨ uckt werden. Da wir sie sp¨ater brauchen werden, berechnen wir zun¨achst folgende Ableitung unter Verwendung der verallgemeinerten Kettenregel aus Gl. (1.2): n n X X  ∂~x (~q , t) ∂~x ∂~x ∂~x (~q , t) ∗ ˙~x ~q , ~q˙ , t = d~x (~q (t), t) = = q˙ j (t) + q˙ j + . ~q =~q (t) dt ∂qj ~q=~q(t) ∂t ∂qj ∂t j=1

j=1

(2.16) An der Stelle ∗ haben wir eine Kurzschreibweise (Weglassen von Argumenten) analog wie in Gl. (1.2) eingef¨ uhrt. Wir wollen nun vor dem Einsetzen einer Kurve ~q = ~q (t) die Variablen ~q und ~q˙ als formal unabh¨angig voneinander auffassen und Ableitungen nach q˙ durch Ableitungen nach q ausdr¨ ucken. Dieses Vorgehen wird auf der Ebene einer Definition eingef¨ uhrt, die sich als sehr praktisch herausstellen wird. Es ist instruktiv, zun¨achst ein Beispiel zu betrachten: Beispiel:

Gegeben sei die Transformation x1 = r sin φ, x2 = r cos φ. Dann gilt z.B. x˙ 1 = r˙ sin φ + r φ˙ cos φ ⇒

∂x1 ∂ x˙ 1 = r cos φ = . ∂φ ∂ φ˙

Wir werden nun zeigen, dass der beobachtete Zusammenhang zwischen den Ableitungen kein Zufall ist, sondern allgemein gilt. Aus Gl. (2.16) folgen direkt zwei Gleichungen:   n ∂~x˙ (~q , ~q˙ , t) ∂ h X ∂~x (~q , t) ∂~x (~q , t) i ∂~x (~q , t) = q ˙ + = , j ∂ q˙ i ∂ q˙ i ∂qj ∂t ∂qi ~q=~q(t) ~q =~q (t) ~q =~q (t) j=1

  n ∂~x˙ (~q , ~q˙ , t) ∂ h X ∂~x (~q , t) ∂~x (~q , t) i = q ˙ + j ∂qi ∂qi ∂qj ∂t ~q =~q (t) ~q =~q (t) j=1   n X ∂ 2~x (~q , t) ∂ 2~x (~q , t) x (~q , t) ∗ d ∂~ = q˙ j (t) + = , ∂qi ∂qj ~q=~q(t) ∂qi ∂t ~q=~q(t) dt ∂qi ~q=~q(t) j=1

kurz:

∂~x˙ ∂~x = , ∂ q˙ i ∂qi

∂~x˙ d ∂~x = , ∂qi dt ∂qi (2.17)

2.3. Lagrange-Gleichungen

39

da nat¨ urlich per Definition ~x (~q , t) nicht von q˙ i abh¨angt, also z.B. ~x = ~x (~q , t) ⇒

∂~x =0 ⇒ ∂ q˙ i

∂ ∂~x ∂ ∂~x ∂ ∂~x ∂ ∂~x = = 0, =0 = ∂ q˙ i ∂qj ∂qj ∂ q˙ i ∂ q˙ i ∂t ∂t ∂ q˙ i

gilt. An der Stelle ∗ haben wir die Kettenregel r¨ uckw¨arts verwendet haben. Die Gl. (2.17) beschreiben ganz allgemein den Zusammenhang zwischen kartesischen und beliebigen verallgemeinerten Koordinaten. Wir betrachten nun speziell eine durch die verallgemeinerten Koordinaten ausgedr¨ uckte physikalische Bahnkurve ~x (t) = ~x (~q (t), t). In kartesischen Koordinaten ist die Bewegung durch das d’Alembertsche Prinzip bestimmt; als n unabh¨angige Tangentenvektoren w¨ahlen wir die Vekto ∂~x auf, ren ∂qi ~x , was uns auf Gl. (2.12) f¨ uhrt. In dieser Gleichung tritt bspw. die Gr¨oße ∂q q =~q (t) i ~ ˙ die wir mittels Gl. (2.17) durch ∂∂q~˙xi ~q=~q(t) ersetzen d¨ urfen. Wir wollen im folgenden das “Einsetzen von Stellen” weglassen und unsere u ¨bliche Kurzschreibweise verwenden. Dann finden wir: ∂~x ∂~x d ∂~x d ∂~x ~ · ∂~x = m ˆ ~x¨ · =m ˆ ~x¨ · +m ˆ ~x˙ · −m ˆ ~x˙ · Qi := F ∂qi ∂qi ∂qi dt ∂qi dt ∂qi | | {z } {z } =0 d’Alembert   d ∂~x d ∂~x = m ˆ ~x˙ · −m ˆ ~x˙ · dt ∂qi dt ∂qi ! ∂~x˙ ∂~x˙ i d = m ˆ ~x˙ · −m ˆ ~x˙ · dt ∂ q˙ i ∂qi d ∂T = dt ∂ q˙ i ii

∂T − , ∂qi

r T =

 m ˆ ˙ ~x ~q , ~q˙ , t 2

!2 , (2.18)

wobei wir in (i) die Gl. (2.17) eingesetzt haben und in (ii) die Ableitungen als Ableitungen der gesamten kinetischen Energie (ausgedr¨ uckt durch die verallgemeinerten Koordinaten) identifizieren: i ∂T ∂ hm ˆ ˙ ~x (~q , ~q˙ , t) · ~x˙ (~q , ~q˙ , t) = = ∂qi ∂qi 2 i ∂T ∂ hm ˆ ˙ ~x (~q , ~q˙ , t) · ~x˙ (~q , ~q˙ , t) = = ∂ q˙ i ∂ q˙ i 2

m ˆ ∂~x˙ ˙ m ˆ ∂~x˙ · ~x + ~x˙ · =m ˆ ~x˙ 2 ∂qi 2 ∂qi m ˆ ∂~x˙ ˙ m ˆ ∂~x˙ · ~x + ~x˙ · =m ˆ ~x˙ 2 ∂ q˙ i 2 ∂ q˙ i

· ·

∂~x˙ ∂qi ∂~x˙ ∂ q˙ i

.

~ (also ohne die Zwangskr¨afte) konserFalls die Resultante der ¨außeren und inneren Kr¨afte F vativ ist, so lassen sich die in Gl. (2.18) definierten verallgemeinerten Kraftkomponenten Qi ~ ∈ R3N ist die Gesamtheit aller Ortsvektoren bzw. Kr¨afte): umschreiben (zur Erinnerung: ~x , F  ∂~x ∂~x ∗ ∂V ~x (~q , t) ∂V (~q , t) ~ ~ F = −grad V (~x ) ⇒ Qi = F · = −grad V (~x ) · =− =− , ∂qi ∂qi ∂qi ∂qi (2.19)

40

LAGRANGE-FORMALISMUS

wobei wir an der Stelle ∗ die Kettenregel verwendet haben. Wir nehmen nun verallgemeinert an, dass sich die Qi aus einem allgemeinen Potential wie folgt ableiten lassen: ˙ ˙ ~ (~x , ~x˙ , t) · ∂~x = − ∂V (~q , ~q , t) + d ∂V (~q , ~q , t) , Qi = F ∂qi ∂qi dt ∂ q˙ i

(2.20)

was wie eben gesehen auf jeden Fall f¨ ur konservative Kr¨afte der Fall ist (dort verschwindet der zweite, geschwindigkeitsabh¨angige Term). Es gibt aber auch einige nicht-konservative Kr¨afte (z.B. elektromagnetische Kr¨afte), welche sich in der Form von Gl. (2.20) schreiben lassen; in diesem Fall hat V nichts mehr mit der potentiellen Energie zu tun. Kombiniert man Gl. (2.18) und Gl. (2.20): −

d ∂V (~q , ~q˙ , t) 2.20 q , ~q˙ , t) ∂T (~q , ~q˙ , t) ∂V (~q , ~q˙ , t) 2.18 d ∂T (~ + = Qi = − , ∂qi dt ∂ q˙ i dt ∂ q˙ i ∂qi

so bekommt man zusammengefasst die Lagrange-Gleichungen zweiter Art: Gegeben sei ein System mit k holonomen Zwangsbedingungen. Dieses System sei durch n = 3N − k beliebige verallgemeinerte Koordinaten ~q beschrieben. Dann haben die Bewegungsgleichungen f¨ ur ~q (t) die Form ∂L d ∂L − =0, dt ∂ q˙ i ∂qi

L(~q , ~q˙ , t) = T (~q , ~q˙ , t) − V (~q , ~q˙ , t) ,

(2.21)

wobei die kinetische Energie T und das verallgemeinerte Potential V durch ~q sowie ~q˙ ausgedr¨ uckt sind. F¨ ur konservative Systeme ist V die potentielle Energie. L = T − V nennt man die Lagrange-Funktion. Kommentar 1: Nat¨ urlich gilt Gl. (2.21) auch wieder f¨ ur k = 0, also in Abwesenheit von Zwangsbedingungen. ¨ Kommentar 2: Da wir in Gl. (2.18) nur Aquivalenzumformungen vorgenommen haben, ist sofort klar, dass die Lagrange-Gleichungen zweiter Art und das d’Alembertsche Prinzip (also die Newtonsche Bewegungsgleichung plus die Annahme Z) zueinander ¨aquivalent sind. Kommentar 3: Da wir nirgends eine Annahme u ¨ber die Form der qi gemacht haben, ist klar, dass die Lagrange-Gleichungen zweiter Art f¨ ur beliebige (auch zeitabh¨angige) Koordinaten gelten. Weiterhin tauchen die Zwangskr¨afte in Gl. (2.21) nicht mehr auf. Im Lagrange-Formalismus hat man also die komplette Problematik der Zwangsbedingungen elimiert, indem man diese einfach von Vornherein mittels einer geeigneten Wahl der Koordinaten ganz nat¨ urlich ber¨ ucksichtigt und dann anschließend Gl. (2.21) als Bewegungsgleichungen verwendet. Kommentar 4: Wenn die Zwangsbedingungen holonom-skleromen (zeitunabh¨angig) sind und wir außerdem zeitunabh¨angige verallgemeinerte Koordinaten ~x = ~x (~q ) w¨ahlen, k¨onnen wir die

2.3. Lagrange-Gleichungen

41

kinetische Energie ganz allgemein wie folgt ausdr¨ ucken: T =

N X mi i=1

2

~x˙ i2 =

N n X mi X ∂~xi ∂~xi q˙ j q˙ k , 2 ∂qj ∂qk i=1

(2.22)

j,k=1

wobei wir eine Gleichung wie in Gl. (2.16) mit ∂t ~xi = 0 verwendet haben. Die kinetische Energie ist also quadratisch in den Geschwindigkeiten q˙ i . Dies wird sp¨ater n¨ utzlich sein. Phasenraum Um Verwirrung zu vermeiden, wollen die Lagrange-Gleichungen noch einmal ganz ausf¨ uhrlich aufschreiben:

∂L(~q , ~q˙ , t) d ∂L(~q , ~q˙ , t) − =0. dt ∂ q˙ i ∂qi ~q =~q (t) ~q =~q (t)

Man kann vor dem Einsetzen einer Bahnkurve ~q (t) die Funktion L(~q , ~q˙ , t) – und ebenso auch die kinetische Energie T oder das Potential V – als eine Funktion der formal unabh¨angigen Variablen ~q und ~q˙ auffassen. Die Gesamtheit dieser Koordinaten (~q , ~q˙ ) nennt man auch den 2ndimensionalen Phasenraum. Wenn das System Erhaltungsgr¨oßen besitzt, so wird die Bewegung im Phasenraum eingeschr¨ankt, woraus man oft etwas u ¨ber die Bewegung lernen kann, ohne die Bewegungsgleichungen l¨ osen zu m¨ ussen. Bspw. ist in einem konservativen System die Energie erhalten, und folglich wird durch T (~q , ~q˙ , t) + V (~q , t) = 0 eine Einschr¨ankung der Koordinaten (~q , ~q˙ ) vorgegeben, die jede Bahnkurve erf¨ ullen muss. Anwendungen der Lagrange-Gleichungen 2. Art Beispiel:

Wir diskutieren das mathematische Pendel im Lagrange-Formalismus. Wie oben verwenden wir Polarkoordinaten in der x1 x3 −Ebene,     −l sin ϑ l ϑ˙ cos ϑ     ˙    ~x (t) =   0  ⇒ ~x (t) =  0  −l cos ϑ l ϑ˙ sin ϑ 2 2  ˙ = m ~x˙ 2 = ml [(cos ϑ)2 + (sin ϑ)2 ]ϑ˙ 2 = ml ϑ˙ 2 . ⇒ T (~x˙ ϑ, ϑ) 2 2 2

Die Lagrange-Funktion lautet also ˙ =T −V = L(ϑ, ϑ)

ml 2 ˙ 2 ϑ + mgl cos(ϑ), 2

was die bekannte Bewegungsgleichung liefert: d ∂L ∂L d  2 ˙ 0= − = ml ϑ + mg sin(ϑ) = ml 2 ϑ¨ + mgl sin(ϑ) . dt ∂ ϑ˙ ∂ϑ dt

42 Beispiel:

LAGRANGE-FORMALISMUS Wir diskutieren das ebenfalls bereits bekannte Problem des Teilchens auf einem rotierenden Draht im Schwerefeld. Wie oben verwenden wir Polarkoordinaten in der x1 x2 −Ebene und w¨ahlen r (t) als einzige unabh¨angige generalisierte Koordinate:     r cos(ωt) r˙ cos(ωt) − r ω sin(ωt)     ˙    ~x (r ) =   r sin(ωt)  ⇒ ~x = r˙ sin(ωt) + r ω cos(ωt) r2 2r r˙ Die kinetische Energie und das Potential haben die Form (man verwende wieder [sin(ωt)]2 + [cos(ωt)]2 = 1) i2 m  m h˙ ~x (r , r˙ ) = r˙ 2 + ω 2 r 2 + 4r 2 r˙ 2 , V = mgx3 = mgr 2 , T (r , r˙ ) = 2 2 und die Lagrange-Gleichung lautet d ∂L ∂L d − = (mr˙ + 4mr 2 r˙ ) − mω 2 r − 4mr r˙ 2 + 2mgr dt ∂ r˙ ∂r dt 2 = m¨r + 4mr ¨r + 4mr r˙ 2 − mω 2 r + 2mgr ,

0=

was nat¨ urlich mit der aus dem d’Alembertschen Prinzip bestimmten Bewegungsgleichung (siehe Abschnitt 2.2) u ¨bereinstimmt.

Beispiel:

Wir studieren das Doppelpendel im Schwerefeld aus Abb. 2.4; als verallgemeinerte Koordinaten w¨ahlen wir nat¨ urlich φ1,2 wie in Gl. (2.14). Diesmal lassen wir beliebige Massen m1 und m2 sowie Stangenl¨angen l 6= 1 zu. Die potentielle Energie hat dann die Form V = m1 g x1,3 + m2 g x2,3 = −m1 gl cos φ1 − m2 gl cos φ1 − m2 gl cos φ2 , und die kinetische Energie finden wir mittels Gl. (2.15): T =

m ˆ ˙ ˙ m1 ˙ ~x · ~x = [(l φ1 cos φ1 )2 + (l φ˙ 1 sin φ1 )2 ] 2 2 m2 ˙ + [(l φ1 cos φ1 + l φ˙ 2 cos φ2 )2 + (l φ˙ 1 sin φ1 + l φ˙ 2 sin φ2 )2 ] 2 m1 + m2 2 ˙ 2 m2 l 2 ˙ 2 = l φ1 + φ + m2 l 2 φ˙ 1 φ˙ 2 cos(φ1 − φ2 ) . 2 2 2

Die Bewegungsgleichungen lauten dann  d ∂L d = (m1 + m2 )l 2 φ˙ 1 + m2 l 2 φ˙ 2 cos(φ1 − φ2 ) dt ∂ φ˙ 1 dt = (m1 + m2 )l 2 φ¨1 + m2 l 2 φ¨2 cos(φ1 − φ2 ) − m2 l 2 φ˙ 2 (φ˙ 1 − φ˙ 2 ) sin(φ1 − φ2 ) =

∂L ∂φ1

= −m2 l 2 φ˙ 1 φ˙ 2 sin(φ1 − φ2 ) − (m1 + m2 )gl sin φ1

2.3. Lagrange-Gleichungen

43

Abbildung 2.5: Im Schwerefeld abrollende Garnrolle mit bewegtem Aufh¨angepunkt. Die einzige freie Koordinate des Systems ist die L¨ange l(t) des masselosen Fadens. Dieses Beispiel kann elegant mittels der Lagrange-Gleichungen zweiter Art gel¨ost werden.

sowie  d d ∂L = m2 l 2 φ˙ 2 + m2 l 2 φ˙ 1 cos(φ1 − φ2 ) dt ∂ φ˙ 2 dt = m2 l 2 φ¨2 + m2 l 2 φ¨1 cos(φ1 − φ2 ) − m2 l 2 φ˙ 1 (φ˙ 1 − φ˙ 2 ) sin(φ1 − φ2 ) =

∂L ∂φ2

=

m2 l 2 φ˙ 1 φ˙ 2 sin(φ1 − φ2 ) − m2 gl sin φ2

Wenn man nun m1 = m2 = 1 und l = 1 setzt, so erh¨alt man die oben mittels des d’Alembertschen Prinzips hergeleiteten Gleichungen. Oftmals ist man in der Mechanik mit Systemen konfrontiert, die aus einer großen Zahl von Punktmassen bestehen, deren Abst¨ande konstant sind. Solche Systeme werden auch als starre K¨orper bezeichnet, und wir werden sie sp¨ater noch ausf¨ uhrlicher diskutieren. Im LagrangeFormalismus kann man derartige Probleme unmittelbar und elegant angehen: Es gibt zwar anf¨anglich eine sehr große Zahl von Freiheitsgraden, aber aufgrund der konstanten Teilchenabst¨ande verbleiben hiervon letztlich nur sehr wenig als unabh¨angige Koordinaten – und der Lagrange-Formalismus erlaubt es gerade, die gesamte Problematik der Zwangsbedingungen zu umgehen und unmittelbar Bewegungsgleichungen nur f¨ ur die verbleibenden Koordinaten aufzustellen. Wir wollen dies kurz an einem Beispiel verdeutlichen. Beispiel:

Wir betrachten eine ‘zweidimensionale’ Garnrolle (siehe Abb. 2.5), die aus einer sehr großen Zahl N homogen verteilter identischer Teilchen mit konstantem Abstand bestehe. Die Rolle liege in der x1 x2 −Ebene, habe Radius R und Gesamtmasse M und sei u ¨ber einen masselosen Faden der L¨ange l(t) an einem bewegten Aufh¨angepunkt ~x0 = x0 (t)~e3 befestigt (x0 (t) sei vorgegeben). Der masselose Faden treffe die Rol-

44

LAGRANGE-FORMALISMUS le am Punkt ~x = ~x0 (t) − l(t)~e3 ; dieser Punkt habe den festen Abstand r vom Mittelpunkt. Es wirke die Gravitationskraft −g~e3 auf jedes Teilchen. Die einzige freie Koordinate des Systems ist die Fadenl¨ange l(t), und wir m¨ ussen nun die kinetische und potentielle Energie durch diese ausdr¨ ucken. Zun¨achst erinnern wir uns, dass T wg. Gl. (1.19) in einen Schwerpunkts- und Relativanteil zerf¨allt; aufgrund der homogenen Verteilung der Punktmassen ist klar, dass T S = M ~x˙ 2 gilt. 2

Der Relativanteil hat die Form T rel =

MR 2 2 MR 2 ˙2 l , ϕ˙ = 2 2r 2

wobei wir den Drehwinkel ϕ der Rolle gem¨ass Abb. 2.5 benutzt haben. Dass T rel diese Form hat, wissen Sie aus dem letzten Semester; alternativ werden wir es nochmal bei der Diskussion des rollenden Reifens im n¨achsten Abschnitt herleiten. Die potentielle Energie l¨asst sich (wiederum mittels geometrischer Argumente) als V = Mg (x0 (t) − l) schreiben. Damit finden wir die Lagrange-Funktion ˙ = L(l, l)

2 MR 2 2  M ˙ − Mg x0 (t) − l x˙ 0 (t) − l˙ + l 2 2r 2

und die Bewegungsgleichung i  d ∂L d h MR 2  ∂L MR 2  = M + 2 l˙ − M x˙ 0 = M + 2 ¨l − M x¨0 = = Mg dt ∂ l˙ dt r r ∂l   R2  R2  g ⇒ 1 + 2 ¨l = x¨0 + g ⇒ 1 + 2 l(t) = t 2 + x0 (t) , r r 2 wobei wir bereits Anfangbedingungen gew¨ahlt haben. F¨ ur konstanten Aufh¨angepunkt x0 = 0 rollt die Rolle langsamer als im freien Fall ab (da auch Rotationsenergie aufgebaut wird). Falls x˙ 0 > 0 wickelt sich der Faden schneller ab; die Rolle sinkt noch langsamer und kann sogar steigen. In der Praxis: Wir fassen nochmal zusammen, wie man ein gegebenes Problem mit k holonomen Zwangsbedingungen mittels des Lagrange-Formalismus l¨ost. 1. W¨ahle m¨ oglichst elegant n = 3N − k verallgemeinerte Koordinaten ~q . 2. Dr¨ ucke ~x = ~x (~q , t) ∈ R3N und ~x˙ = ~x˙ (~q , ~q˙ , t) durch diese Koordinaten aus.  3. Schreibe die kinetische Energie als T ~x˙ (~q , ~q˙ , t) . 4. Finde ein verallgemeinertes Potential V (~q , ~q˙ , t), dessen Ableitung die verallgemeinerten ~ der ¨außeren und inneren Kr¨afte (ohKraftkomponenten liefert. Ist die Resultante F ne die Zwangskr¨afte!) konservativ, so ist V einfach die zugeh¨orige potentielle Energie  V ~x (~q , t) .

2.3. Lagrange-Gleichungen

45

5. Stelle die n Lagrangeschen Bewegungsgleichungen f¨ ur die Koordinaten qn auf (siehe Gl. (2.21)).

2.3.2 Lagrange-Gleichungen 1. Art Ein großer praktischer Vorteil der Lagrange-Gleichungen zweiter Art ist das Eliminieren der Zwangskr¨afte – diese tauchen in Gl. (2.21) nicht mehr auf. Manchmal ist man jedoch explizit an den Zwangskr¨aften interessiert, z.B. wenn man die ‘Belastung’ der Konstruktion berechnen m¨ochte, von welcher die Zwangskr¨afte ausgehen. Weiterhin sind die Lagrange-Gleichungen zweiter Art nur f¨ ur holonome Zwangsbedingungen g¨ ultig. Wir wollen daher an dieser Stelle die Lagrange-Gleichungen erster Art herleiten, welche sowohl f¨ ur holonome und anholonome Zwangsbedingungen g¨ ultig sind und außerdem direkt die Zwangskr¨afte liefern. Wir betrachten zun¨achst kartesische Koordinaten sowie k (anholonome oder differentiell geschriebene holonome) Zwangsbedingungen in Form von Gl. (2.3): ~ai · ~x˙ + ai,0 = 0, i = 1 ... k ,

(2.23)

wobei ~x ,~ai ∈ R3N . Nach der Annahme Z zeigen die zugeh¨origen Zwangskr¨afte in Richtung der Vektoren ~ai ; im Fall holonomer Zwangsbedingungen gilt ~ai = grad fi . Die Newtonschen ~ ∈ R3N ) Bewegungsgleichungen lauten damit (~x , F ~ = m ˆ ~x¨ − F

k X i=1

~i = Z

k X

λi ~ai (~x , t)

holonom

=

i=1

k X

λi grad fi (~x , t) .

(2.24)

i=1

Die St¨arke der Zwangskr¨afte wird durch die zun¨achst unbekannten Vorfaktoren λi festgelegt; folglich muss ein System aus 3N +k Unbekannten (3N Orte und k Faktoren λi ) gel¨ost werden. Gl. (2.23) und Gl. (2.24) liefern aber zusammen genau 3N + k Bestimmungsgleichungen. Zur Erinnerung: Durch Multiplikation von Gl. (2.24) mit den k Tagentenvektoren ~sj der (loka~ i = 0 sind die Zwangslen) Zwangsfl¨ache erh¨alt man das d’Alembertsche Prinzip; wegen ~sj · Z kr¨afte in diesem nicht mehr enthalten. Als n¨achstes wollen wir die Gl. (2.24) durch 3N verallgemeinerte Koordinaten qj ausdr¨ ucken; hierzu multiplizieren wir mit den 3N Vektoren ∂qj ~x : 

k k  X X ∂~x ~ · ∂~x = λi ~ai · = λi bi,j m ˆ ~x¨ − F ∂qj ∂qj i=1

i=1

holonom

=

k X i=1

λi

∂fi , ∂qj

(2.25)

wobei wir f¨ ur das Umschreiben der Zwangsbedingungen Gl. (2.6) und Gl. (2.7) verwendet haben. Zur Erinnerung: Im Fall holonomer Zwangsbedingungen konnten wir direkt k Koordinaten mittels der Gleichungen fi = 0 eliminieren; dann sind die verbleibenden ∂qj ~x gerade die 3N − k

46

LAGRANGE-FORMALISMUS

unabh¨angigen Tangentialvektoren, und die rechte Seite von Gl. (2.25) verschwindet wegen der Annahme Z. Dieses Vorgehen ist bei anholonomen Zwangsbedingungen prinzipiell nicht mehr m¨oglich, und wir m¨ ussen mit 3N verallgemeinerten Koordinaten arbeiten; bei differentiell geschriebenen holonomen Zwangsbedingungen verzichten wir an dieser Stelle explizit darauf, Koordinaten zu eliminieren. Die linke Seite von Gl. (2.25) kann genau wie zuvor durch die Lagrange-Funktion ausgedr¨ uckt werden: 

 ~ · ∂~x m ˆ ~x¨ − F ∂qj

2.18+2.20

=

d ∂L ∂L − , dt ∂ q˙ j ∂qj

denn sowohl Gl. (2.18) wie auch Gl. (2.20) gelten unabh¨angig von der Zahl der generalisierten Koordinaten: Es wird in der Herleitung von Gl. (2.18) und Gl. (2.20) nur Gl. (2.17) sowie die Kettenregel verwendet, und Gl. (2.17) gilt unabh¨angig von der Zahl der verallgemeinerten P P Koordinaten (in der Herleitung von Gl. (2.17) muss an jeder Stelle nur nj=1 durch 3N j=1 ersetzt werden). Damit bekommen wir zusammengefasst die Lagrange-Gleichungen erster Art: Gegeben seien 3N verallgemeinerte Koordinaten ~q sowie k (anholonome oder differentiell geschriebene holonome) Zwangsbedingungen der Form 3N X

bi,j q˙ j + bi,0 = 0 , i = 1 ... k .

j=1

F¨ ur holonome Zwangsbedingungen gilt nach Gl. (2.7) dabei bi,j = ∂qj fi . Dann lauten die Bewegungsgleichungen k

X d ∂L ∂L − = λi bi,j , j = 1 ... 3N , dt ∂ q˙ j ∂qj

(2.26)

i=1

was zusammen mit den Zwangsbedingungen genau 3N + k Bestimmungsgleichungen f¨ ur qi=1...3N sowie λi=1...k liefert. Die zun¨achst unbekannten Vorfaktoren λi bestimmen die St¨arke der Zwangskr¨afte. Holonome Zwangsbedingungen in Lagrange 1 – Eliminieren von Koordinaten Wir wollen annehmen, dass mindestens khol der k Zwangsbedingungen ~bi · ~q˙ + bi,0 = 0 auf jeden Fall der differentiellen Form einer holonomen Zwangsbedingung fi = 0 entsprechen; die zugeh¨origen Indizes wollen wir als {ihol } bezeichnen. In diesem Fall kann man khol Koordinaten eliminieren. Wir k¨ onnen also von vornherein Koordinaten qj so w¨ahlen, dass nur n = 3N − khol hiervon unabh¨angig sind und die verbleibenden bedeutungslose Konstanten darstellen. Nun muss f¨ ur j = 1 ... n und i ∈ {ihol } gelten bi,j = ∂qj fi = 0, denn fi = 0 ist ja f¨ ur beliebige

2.3. Lagrange-Gleichungen

47

Wahl der n freien Koordinaten qj erf¨ ullt. Weiterhin treten in den verbleibenden Zwangsbedingungen (i ∈ / {ihol }) die Koeffizienten bi,j f¨ ur die konstanten Koordinaten nicht auf, da f¨ ur diese Koordinaten q˙ j = 0 gilt. Es verbleiben die Gleichungen X ∂L d ∂L λi bi,j , j = 1 ... n , − = dt ∂ q˙ j ∂qj i ∈{i / hol }

n X

bi,j q˙ j + bi,0 = 0, i ∈ / {ihol } .

j=1

Dies sind n + (k − khol ) Gleichungen f¨ ur n Koordinaten qj und k − khol Vorfaktoren λi ∈{i / hol } . Falls k = khol , es also keine zus¨atzlichen Zwangbedingungen gibt, verschwindet die rechte Seite der Bewegungsgsgleichung, und man findet Gl. (2.21) wieder. Obige Diskussion wird z.B. bei dem nun studierten Beispiel n¨ utzlich sein, bei dem wir eine große Zahl von Massepunkten (einen Reifen) mit paarweise konstanten Abst¨anden untersuchen. Die konstanten Abst¨ande sind holonome Zwangsbedingungen, die wir von vornherein eliminieren; wir m¨ ussen dann nur die verbleibenden Freiheitsgrade betrachten. Anwendungen der Lagrange-Gleichungen 1. Art Beispiel:

Wir werden nun ein anschauliches Beispiel f¨ ur ein System mit anholonomen Zwangsbedingungen mittels der Lagrange-Gleichungen erster Art l¨osen. Wir betrachten einen Reifen mit Radius r und Gesamtmasse m, der ohne Schlupf senkrecht in der ~ = −mg~e3 rollen soll. Die Koorx1 x2 −Ebene unter Einfluss des Schwerefeldes F dinaten des Aufpunkts des Reifens bezeichnen wir als (x, y ), und die Winkel ψ und ϕ bestimmen den Orientierungswinkel (Drehwinkel) des Reifens sowie die Orientierung der Reifenebene relativ zur x1 -Achse. Unser System wird also durch vier verallgemeinerte Koordinaten (x, y , ψ, ϕ) beschrieben. Dies ist nochmals in Abb. 2.6 veranschaulicht. Das ‘Rollen ohne Schlupf’ wird durch die anholonomen Zwangsbedingungen dx + rdψ cos ϕ = 0 ⇒ x˙ + r ψ˙ cos ϕ = 0, ~b1 = (1, 0, r cos ϕ, 0) dy + rdψ sin ϕ = 0 ⇒ y˙ + r ψ˙ sin ϕ = 0, ~b2 = (0, 1, r sin ϕ, 0)

(2.27)

beschrieben. Man kann sich leicht davon u ¨berzeugen, dass es nicht m¨oglich ist, Gl. (2.27) in der Form fi (x, y , ψ, ϕ) = 0 zu schreiben. Wir m¨ ussen nun die kinetische und die potentielle Energie durch die verallgemeinerten Koordinaten ausdr¨ ucken. Wiederum erinnern wir uns, dass T wg. Gl. (1.19) in einen Schwerpunkts- und Relativanteil zerf¨allt; da der Schwerpunkt senkrecht u ¨ber dem Aufpunkt liegt, ist es anschaulich klar, dass T S =

m 2 2 2 (x˙ + y˙ )

gilt. Um T rel zu

berechnen, parametrisieren wir die Punkte des Reifens mittels eines Winkels α (welcher also die Drehung eines Reifensegments ∆m relativ zum Orientierungswinkel ψ

48

LAGRANGE-FORMALISMUS

Abbildung 2.6: Ein ohne Schlupf rollender Reifen ist ein Beispiel f¨ ur anholonome Zwangsbedingungen. Dieses Problem kann mittels der Lagrange-Gleichungen erster Art elegant gel¨ost werden.

beschreibt):   cos ϕ sin(ψ + α)    . ~r = ~x − ~x S = r  sin ϕ sin(ψ + α)   cos(ψ + α) Diese Form ist sofort klar, wenn Sie ~x S = 0 setzen und an Kugelkoordinaten mit Drehwinkeln ϕ sowie ψ + α denken. Eine einfache Rechnung liefert dann mit sin(x)2 + cos(x)2 = 1   ~r˙ 2 = r 2 ϕ˙ 2 sin(ψ + α)2 + ψ˙ 2 , was wir nun zwecks ‘Summierung u ¨ber alle Reifensegmente ∆m’ noch u ¨ber α inteR 2π grieren m¨ ussen. Unter Verwendung von 0 sin(x)2 dx = π findet man abschließend T

rel

m 1 = 2 2π

Z 0



mr 2 2 ~r˙ 2 dα = (ϕ˙ + 2ψ˙ 2 ) . 4

Gleichermassen findet man f¨ ur die potentielle Energie Z 2π Z  1 mg 2π S V = mg ~x + ~r 3 dα = [r + r cos(ψ + α)]dα = mgr . 2π 0 2π 0 Diese h¨angt also von keiner der verallgemeinerten Koordinaten ab und ist nur eine bedeutungslose Konstante. Zusammengefasst ergibt sich die Lagrange-Funktion   m r2 2 2 2 2 ˙2 L=T −V = x˙ + y˙ + ϕ˙ + r ψ − mgr , 2 2

(2.28)

2.4. Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen

49

und die Lagrange-Gleichungen erster Art f¨ ur x, y , ψ und ϕ lauten m¨ x = λ1 ,

mr 2 ψ¨ = λ1 r cos ϕ + λ2 r sin ϕ

m¨ y = λ2 ,

mr 2 ϕ¨ = 0 , 2

(2.29)

wobei wir die Vektoren ~bi aus Gl. (2.27) eingesetzt haben. Wir wollen nun Gl. (2.27) und Gl. (2.29) f¨ ur die vier verallgemeinerten Koordinaten sowie λ1,2 l¨ osen (6 Gleichungen f¨ ur 6 Unbekannte). Zun¨achst betrachten wir    d ˙ 2.29 2.27 ψ cos ϕ = −mr ψ¨ cos ϕ − ψ˙ ϕ˙ sin ϕ x = −mr λ1 = m¨ dt    d ˙ 2.29 2.27 λ2 = m¨ y = −rm ψ sin ϕ = −mr ψ¨ sin ϕ + ψ˙ ϕ˙ cos ϕ , dt womit wir umgehend λ1,2 in der Gleichung f¨ ur ψ aus (2.29) eliminieren k¨onnen (wir k¨ urzen mr 2 ):     ψ¨ = − cos ϕ ψ¨ cos ϕ − ψ˙ ϕ˙ sin ϕ − sin ϕ ψ¨ sin ϕ + ψ˙ ϕ˙ cos ϕ = −ψ¨ ⇒ ψ¨ = 0 . Die Bewegungsgleichungen f¨ ur die Winkel lauten also ψ¨ = ϕ¨ = 0 und werden durch ψ(t) = ψ0 + Ωt, ϕ(t) = ϕ0 + ωt gel¨ ost; im Folgenden setzen wir oBdA ψ0 = ϕ0 = 0. Die Rotation erfolgt also mit konstanter Winkelgeschwindigkeit. Dies k¨onnen wir nun wiederum in Gl. (2.27) einsetzen und integrieren:  −Ωt ω=0 0 0 0 ˙ ψ(t ) cos[ϕ(t )]dt = r x(t) − x0 = −r − Ω sin(ωt) ω = 0 6 0 ω  Z t 0 ω=0 ˙ 0 ) sin[ϕ(t 0 )]dt 0 = r y (t) − y0 = −r ψ(t .  Ω [cos(ωt) − 1] ω 6= 0 0 Z

t

ω

F¨ ur ω = 0 besitzt der Reifen anf¨anglich keine Drehung um seine eigene Achse; er l¨auft dann entlang einer Geraden. Gibt man ihm anfangs eine Drehung mit, so l¨auft er auf einer Kreisbahn.

2.4 Symmetrien und Erhaltungsgr¨ oßen ¨ Die Uberlegungen zur Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung aus Abschnitt 1.4 gelten ~ E und F ~ ij hinzuaddiert werden. Beispielsunver¨andert, wenn alle Zwangskr¨afte zu den Kr¨aften F i

weise haben wir oben erl¨autert, dass die Zwangkr¨afte im Fall skleronomer Zwangsbedingungen

50

LAGRANGE-FORMALISMUS

senkrecht auf der Bahnkurve stehen; damit k¨onnen sie keine Arbeit verrichten, und es gilt Energieerhaltung genau dann, wenn sie f¨ ur das System ohne Zwangsbedingungen gilt. Der ˙~ E ~ und der Drehimpulssatz ~L˙ = D ~ E gelten dann, wenn die Resultante der Impulssatz P = F Zwangskr¨afte bzw. das von diesen hervorrufene gesamte Drehmoment verschwinden. Dies ist typischerweise f¨ ur ‘Paar-Zwangskr¨afte’ wie die in Gl. (2.8) auftauchenden Kr¨aften, welche den Abstand zweier Teilchen konstant halten, der Fall. In diesem Abschnitt wollen wir Erhaltungsgr¨oßen allgemeiner und eleganter diskutieren. Wir beschr¨anken uns dabei auf Systeme mit holonomen Zwangsbedingungen und n = 3N − k Freiheitsgraden, deren Bewegung mittels der Lagrange-Gleichungen zweiter Art beschreibbar ist. Dies gilt also f¨ ur all solche Systeme, deren verallgemeinerte Kraftkomponenten mittels Gl. (2.20) durch ein Potential ausdr¨ uckbar sind (und damit im speziellen nat¨ urlich f¨ ur alle konservativen Systeme).

2.4.1 Energieerhaltung Wir wollen zuerst untersuchen, welche Eigenschaften Systeme haben, deren Lagrange-Funktion nicht explizit von der Zeit abh¨angt. Mit anderen Worten sind solche Systeme ‘invariant unter Zeittranslationen’: ∂L(~q , ~q˙ , t) = 0 ⇔ L(~q , ~q˙ , t) = L(~q , ~q˙ , t + α) ∀α . ∂t Wenn wir nun eine L¨ osung ~q (t) der Bewegungsgleichung betrachten und die totale zeitliche Ableitung (welche also auch nach der t-Abh¨angigkeit im ~q (t) differenziert) von L berechnen, so finden wir " #  n dL ~q (t), ~q˙ (t) ∗∗ X ∂L(~q , ~q˙ ) dqi (t) ∂L(~q , ~q˙ ) d dqi (t) = + dt ∂qi ~q=~q(t) dt ∂ q˙ i ~q=~q(t) dt dt i=1  X   n n  n  X X ∂L d ∂L ∂L ∂L ∂L + ∗ ∗∗ d = q˙ i + q¨i = q˙ i + q¨i = q˙ i , ∂qi ∂ q˙ i dt ∂ q˙ i ∂ q˙ i dt ∂ q˙ i i=1

i=1

i=1

wobei wir nat¨ urlich den Term ∂t L = 0 aus der verallgemeinerten Kettenregel vernachl¨assigen konnten. In ∗ haben wir die Bewegungsgleichungen aus Gl. (2.21) eingesetzt; an den Stellen ∗∗ wurde die Ketten- bzw. Produktregel verwendet, und bei + sind wir zu unserer ‘Kurznotation’ u ¨bergegangen, die wir von jetzt an ausschließlich verwenden wollen. Wenn man die linke und rechte Seite der letzten Gleichung voneinander abzieht, folgt sofort, dass n X ∂L H := q˙ i − L ∂ q˙ i

(2.30)

i=1

eine Erhaltungsgr¨ osse ist. Man nennt H auch die Hamilton-Funktion; sie wird im Abschnitt 4 eine zentrale Rolle spielen.

2.4. Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen

51

Bedeutung der Gr¨ oße H Wir wollen nun untersuchen, welche physikalische Bedeutung die in Gl. (2.30) definierte Gr¨oße H hat. Hierzu konzentrieren wir uns auf Systeme mit geschwindigkeitsunabh¨angigem Potential V (~q , t) (siehe Gl. (2.20)), was nat¨ urlich insb. alle konservativen Systeme einschließt. Es folgt: ∂T ∂L = . ∂ q˙ i ∂ q˙ i

(2.31)

Außerdem betrachten wir holonom-skleronome Systeme mit zeitunabh¨angigen Koordinaten ~x = ~x (~q ); hier hat die kinetische Energie die Form von Gl. (2.22), und es gilt N n X mi X ∂~xi ∂~xi T = q˙ i q˙ j 2 ∂qj ∂qk 2.22

i=1

N

n

i=1

j=1

X X ∂~xi ∂~xi ∂T = q˙ j , mi ∂ q˙ l ∂qj ∂ql



j,k=1

(2.32)

und damit weiterhin n X ∂L q˙ l H +L = ∂ q˙ l 2.30

2.31

n X ∂T

2.32

l=1 N X

=

l=1

=

i=1

∂ q˙ l

q˙ l (2.33)

n X ∂~xi ∂~xi 2.32 mi q˙ j q˙ l = 2T . ∂qj ∂ql j,l=1

Wegen L = T − V folgt also, dass in diesen Systemen gerade H = T (~q , ~q˙ , t) + V (~q , t) gilt. Falls V weiterhin nicht explizit von der Zeit abh¨angt (also in konservativen Systemen), ist H damit die Gesamtenergie. Wir haben also gezeigt, dass aus der Invarianz (Symmetrie) der Langrage-Funktion unter Zeittranslationen die Erhaltung der Energie folgt.

2.4.2 Kanonisch konjugierte Impulse; Zyklische Koordinaten Wir definieren: Gegeben sei die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) auf dem Phasenraum (~q , ~q˙ ). Der zu einer Koordinate qi kanonisch konjugierte Impuls ist definiert als ∂L(~q , ~q˙ , t) . pi (~q , ~q˙ , t) := ∂ q˙ i

(2.34)

Wenn L nicht von qi abh¨angt, so ist das zugeh¨orige pi entlang einer physikalischen Bahn eine Erhaltungsgr¨oße. Eine solche Koordinate nennt man zyklisch. Beweis: Die Bewegungsgleichung liefert sofort 0=

d ∂L ∂L − ⇒ pi = const.  dt ∂ q˙ i ∂qi |{z} |{z} =pi

=0

52

LAGRANGE-FORMALISMUS

Das Noether-Theorem wird uns die M¨oglichkeit geben, zyklische Koordinaten mit Symmetrien des zugrundeliegenden Systems in Verbindung zu bringen, also aus Symmetrien Erhaltungsgr¨oßen zu konstruieren.

2.4.3 Noether-Theorem Das Noether-Theorem erlaubt es, Erhaltungsgr¨oßen direkt aus den Symmetrien (z.B. Translationsinvarianz oder Rotationssymmetrie) eines Problems abzuleiten. Wir wollen es hier nicht in voller Sch¨ onheit, sondern nur in vereinfachter Form diskutieren. Wir betrachten neben den urspr¨ unglich gew¨ahlten ~q einen neuen Satz verallgemeinerter Ko~ (also eine Koordinatentransformation), welche stetig differenzierbar von einem ordinaten Q Parameter α abh¨ange: ~ = Q(~ ~ q , t, α) ⇔ ~q = ~q (Q, ~ t, α) , Q wobei wir weiterhin fordern, dass wir f¨ ur α = 0 die urspr¨ unglichen Koordinaten ~q erhalten. Als Beispiel k¨ onnen Sie an kartesische Koordinaten ~x denken, welche durch Verschiebung des ~ transformiert werden. Wir Urprungs um einen Vektor α~a in neue kartesische Koordinaten X wollen nun annehmen, dass die Form der Lagrange-Funktion invariant (=symmetrisch) unter dieser Koordinatentransformation ist, also     ~ t, α), ~q˙ (Q, ~ Q, ~˙ t, α), t = L ~q → Q, ~ ~q˙ → Q, ~˙ t ∀α L ~q (Q,

(2.35)

gilt. In Worten bedeutet dies: Wenn wir die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) nehmen und die ~ t, α) dort einsetzen, dann bekommen wir das gleiche Koordinaten-Transformation ~q = ~q (Q, ~ ersetzt h¨atten (ohne Ergebnis, als wenn wir einfach in L(~q , ~q˙ , t) die Variablen ~q durch Q Einsetzen der Transformation). Dies heißt wiederum: Wenn wir die Koordinaten-Transformation in L einsetzen, so kann das Ergebnis nicht von α abh¨angen. Wir werden all dies weiter unten nochmal an einem Beispiel verdeutlichen. Wir wollen nun untersuchen, welche Schlussfolgerungen man aus der durch Gl. (2.35) be~ schriebenen Symmetrie der Lagrange-Funktion f¨ ur eine durch ~q (t) oder ¨aquivalent durch Q(t) beschriebene Bahnkurve ziehen kann. Hierzu nutzen wir aus, dass nach Einsetzen der Koordinatentransformation keine Abh¨angigkeit von α verbleibt:    ~ α, t), ~q˙ (Q, ~ ~q˙ , α, t), t n  dL ~q (Q, X ∂L ∂qi ∂L ∂ q˙ i ∗∗ = + 0= dα ∂qi ∂α ∂ q˙ i ∂α i=1   n  X d ∂L ∂qi ∂L d ∂qi ∗ = + dt ∂ q˙ i ∂α ∂ q˙ i dt ∂α i=1

n d X ∂L ∂qi = , dt ∂ q˙ i ∂α ∗∗

i=1

(2.36)

2.4. Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen

53

wobei wir in ∗ die Bewegungsgleichung eingesetzt und an den Stellen ∗∗ die Ketten- bzw. Produktregel verwendet haben. Wir k¨ onnen Gl. (2.36) nun an beliebiger Stelle α = 0 auswerten und erhalten das Noether-Theorem (vereinfacht): Ist die Lagrange-Funktion invariant (sym~ α, t), gilt also metrisch) unter einer Koordinaten-Transformation ~q = ~q (Q, ~ Q, ~˙ t) f¨ L(~q , ~q˙ , t) = L(Q, ur alle α, so ist die Gr¨oße W (~q , ~q˙ , t) :=

n X ∂L ∂qi ∂ q˙ i ∂α α=0

(2.37)

i=1

entlang einer physikalischen Bahnkurve zeitlich konstant, also eine Erhaltungsgr¨ oße. Wir wollen nun die Bedeutung des Noether-Theorems f¨ ur ein konservatives System ohne Zwangsbedingungen an zwei Beispielen diskutieren: 1. Translationsinvarianz — Wenn die Lagrange-Funktion invariant unter der durch ~ i = ~xi + α~a ∀i = 1 ... N X beschriebenen Verschiebung des Ursprungs ist, so lautet die zugeh¨orige Erhaltungsgr¨oße W (~x , ~x˙ , t) =

3N N X 3 N X 3 X X X ∂L ∂xi (α) ∂L ∂xi,j (α) ∂T = =− aj ∂ x˙ i ∂α α=0 ∂ x˙ i,j ∂α α=0 ∂ x˙ i,j i=1

=−

N X 3 X i=1 j=1

i=1 j=1

mi x˙ i,j aj = −

N X

i=1 j=1

~ · ~a . mi ~x˙ i · ~a = −P

i=1

(Zur Erinnerung: Wir benutzen die in Abschnitt 1.4.1 eingef¨ uhrte Notation. Es sind ~xi = (xi,1 , xi,2 , xi,3 )T die kartesischen Koordinaten der N Teilchen, ~x ∈ R3N ist die Ansammlung s¨amtlicher kartesischer Koordinaten aller Teilchen. Es gilt also z.B. x1 = x1,1 , x2 = x1,2 , x3 = x1,3 x4 = x2,1 usw.) Wenn also die Lagrange-Funktion invariant unter Verschiebungen in Richtung des Vektors ~a ist, so ist die Komponente des Gesamtimpul~ in diese Richtung erhalten. Da die kinetische Energie nat¨ ses P urlich stets unabh¨angig von der Wahl des Urprungs ist, ist L gerade dann invariant unter Verschiebungen, wenn das Potential V dies ist. Wegen actio=reactio kann der Teil von V , der die inneren Kr¨afte hervorruft, stets nur von der Differenz zweier Koordinaten abh¨angen und ist so translationsinvariant; folglich ist L genau dann translationsinvariant, wenn der mit den externen Kr¨aften verbundene Teil von V dies ist, und dies ist genau dann der Fall, wenn der in ~a-Richtung zeigende Teil der Resultante der externen Kr¨afte verschwindet. Dies ¨ ist nat¨ urlich in Ubereinstimmung mit den Ergebnissen aus Abschnitt 1.4.2.

54

LAGRANGE-FORMALISMUS 2. Rotationssymmetrie — Als n¨achstes betrachten eine Koordinatentransformation, die eine Drehung beschreibt (wir w¨ahlen oBdA die x3 -Achse als Drehachse):   cos α sin α 0   ~ ~xi (α) =  − sin α cos α 0 Xi ∀i = 1 ... N . 0 0 1 Dann gilt 

0

1 0





xi,2



    ∂~xi ~xi =  = −1 0 0 −xi,1     ,  ∂α α=0 0 0 0 0 und wir finden die Erhaltungsgr¨oße  W (~x , ~x˙ , t) =

=

xi,2



N X 3 N 3N X X X   ∂xi,j ∂L ∂xi mi x˙ i,j mi ~x˙ i ·  = = −xi,1    ∂ x˙ i ∂α α=0 ∂α α=0 i=1 j=1 i=1 i=1 0 N X

 mi x˙ i,1 xi,2 − x˙ i,2 xi,1 = ~L · ~e3 .

i=1

Wenn also die Lagrange-Funktion invariant unter der Rotation um eine gegebene Achse ist, so ist die zugeh¨ orige Komponente des Gesamtdrehimpulses erhalten. Nat¨ urlich ist die kinetische Energie stets rotationsinvariant, und gleiches gilt f¨ ur die typischerweise kugelsymmetrischen inneren Kr¨afte (siehe Gl. (1.18)). Also ist L genau dann rotationssymmetrisch um eine gegebene Achse, wenn der mit den externen Kr¨aften verbundene Teil von V dies ist. Man kann sich anschaulich davon u ¨berzeugen, dass dies wiederum gerade dann der Fall ist, wenn die Komponente des gesamte Drehmoments entlang dieser Achse verschwindet. Diese beiden Beispiel verdeutlichen die fundamentale Bedeutung des Impulses und des Drehimpulses in der Physik – dies sind genau die Gr¨oßen, welche in Anwesenheit fundamentaler Symmetrien des Systems (Translationsinvarianz bzw. Rotationssymmetrie) erhalten sind. Eine entsprechende Aussage werden Sie auch in der Quantenmechanik wiederfinden.

3 Elemente der Variationsrechnung Sicherlich sind Ihnen bereits Aussagen der statistischen Physik der Form “Ein System nimmt im Gleichgewicht den Zustand minimaler Energie an” begegnet. Wir wollen in diesem Abschnitt zeigen, wie sich die klassische Mechanik mittels eines (etwas komplizierteren) Extremalprinzips formulieren l¨asst. Sie lernen so ein wichtiges Konzept der theoretischen Physik kennen, was in vielen anderen Bereichen Anwendung findet. Als erstes m¨ ussen wir kurz Elemente der Variationsrechnung diskutieren.

3.1 Extremwertprobleme f¨ ur Funktionale Bereits in der Schule haben Sie sicher Extremwertprobleme f¨ ur Funktionen, die von einer endlichen Zahl von Variablen (Koordinaten) abh¨angen, kennengelernt. Wir wollen dieses Konzept nun verallgemeinern. Wir nehmen an, dass uns eine Abbildung gegeben sei, welche jeder vorgegebenen Funktion einen Wert zuordnet. Eine solche Abbildung ist also eine Funktion, deren Argument wiederum eine Funktion ist (und nicht eine endliche Zahl von Koordinaten); dies wird auch Funktional genannt. Beispiel:

Als einfaches Beispiel f¨ ur ein Funktional betrachten wir den Raum R2 und darin eine beliebige Kurve y (x) mit vorgegebenen Anfangs- und Endpunkten y (xa ) = ya und y (xb ) = yb . Wir wollen nun die L¨ange dieser Kurve bestimmen. Hierzu notieren wir, dass ein lokales Kurvenst¨ uck ds die L¨ange p p dy ds = dx 2 + dy 2 = 1 + y˙ 2 dx , y˙ = dx hat. Die gesamte Kurve hat also die L¨ange Z xb q   I y (x) = 1 + y˙ (x)2 dx . xa

Dies ist ein Beispiel f¨ ur ein Funktional: Jeder Funktion y (x) wird mittels der Abbildung I [y (x)] eine L¨ange zugeordnet. Wir wollen nun untersuchen, wie man Extremwertprobleme f¨ ur Funktionale l¨osen kann. (Im obigen Beispiel k¨ onnte man also fragen: F¨ ur welche Form der Kurve y (x) wird bei gegebenem

55

56

ELEMENTE DER VARIATIONSRECHNUNG

Start- und Endpunkt die L¨ange I [y (x)] minimal? Nat¨ urlich ist die Antwort hier klar: f¨ ur eine Gerade!) Wir wollen uns dazu auf die wichtige Klasse der Funktionale beschr¨anken, die durch ein Integral ausgedr¨ uckt werden k¨ onnen. Wir betrachten eine Zahl n von Funktionen yi=1...n : R → R, deren Gesamtheit wir auch kurz als ~y (x) bezeichnen wollen. Weiterhin sei ein Funktional der Form Z xb     d~y ~ F ~y (x), ~y˙ (x), x dx , ~y˙ = I y (x) = dx xa gegeben, wobei F eine beliebige Funktion sei (in einem sp¨ater wichtigen Beispiel wird F die Lagrange-Funktion sein). Nun fragen wir allgemein: Wie m¨ ussen die n Funktionen yi (x) gew¨ahlt werden, damit bei vorgegebenen Start- und Endpunkten ~y (xa ) und ~y (xb ) aber beliebigen ~y˙ (xa ) und ~y˙ (xb ) das Integral I station¨ar (i.A. extremal) wird? Um dies zu untersuchen, f¨ ugen wir der Kurve ~y (x) eine kleine St¨ orung ~η (x) hinzu, wobei ~η (x) beliebige Funktionen mit ~η (xa ) = ~η (xb ) = 0 sind (da ja Start- und Endpunkt festgehalten werden). Dies ist nochmal in Abb. 3.1 veranschaulicht. Nun k¨ onnen wir fordern, dass I bzgl. des skalaren Parameters  station¨ar wird:   Z xb Z xb h i Z xb X n    dF ∂F ∂F  d ∗ ˙ ˙ F ~y + ~η , ~y + ~η , x dx = ηi + η˙ i dx dx = 0= d xa d =0 ∂ y˙ i xa xa i=1 ∂yi =0 X xb Z xb X n  n ∂F d ∂F  ∂F ∗∗ = − ηi dx + ηi , ∂yi dx ∂ y˙ i ∂ y˙ i xa i=1 x a i=1 | {z } | {z } =:∗∗∗

=Randterm=0

wobei wir an der Stelle ∗ die Kettenregel verwendet haben. Im Schritt ∗∗ wurde der zweite Term

∂F dηi ∂ y˙ i dx

des Integranden partiell integriert; wegen ~η (xa ) = ~η (xb ) = 0 verschwindet der Randterm (die Geschwindigkeiten ~η˙ (xa ) und ~η˙ (xb ) verschwinden hingegen nicht, daher die partielle Integration, um derartige Terme loszuwerden). Da die Funktionen ~η sonst aber v¨ollig beliebig sind, muss jeder einzelne der Terme ∗∗∗ verschwinden (sonst k¨onnte nicht das gesamte Integral stets Null sein; man kann dies auch strikt mathematisch zeigen). Es folgt: Ein von n Funktionen yi (x) abh¨angiges Funktional der Form Z xb     F ~y (x), ~y˙ (x), x dx I ~y (x) =

(3.1)

xa

ist genau dann station¨ar (i.A. sogar extremal), wenn d ∂F ∂F − = 0 , i = 1 ... n ∂yi dx ∂ y˙ i

(3.2)

gilt. Dies schreiben wir auch als δI = 0. Selbstverst¨andlich ist es kein Zufall, dass Sie in Gl. (3.2) die Lagrangesche Bewegungsgleichung wiedererkennen. Wir werden in K¨ urze hierauf zur¨ uckkommen, wollen aber zun¨achst zu obigem Beispiel zur¨ uckkehren.

3.2. Extremwertprobleme mit Nebenbedingung

Abbildung 3.1: Wir suchen eine Kurve y (x), f¨ ur welche der Wert des Integrals

R xb xa

57

F [y (x), y˙ (x), x]dx

bei festem Start- und Endpunkt y (xa ) und y (xb ) extremal bzw. station¨ar wird (die Geschwindigkeiten y˙ (xa ) und y˙ (xb ) m¨ ussen am Rand nicht verschwinden); hierbei ist F eine beliebige (hinreichend brave) Funktion. Wir betrachten dazu einen weiteren, geringf¨ ugig verschobenen Weg y (x) + η(x) und berechnen die Ableitung nach .

Beispiel:

Wir diskutieren obiges Beispiel der Kurve im R2 , deren L¨ange durch   I y (x) =

Z

xb

p   F y (x), y˙ (x), x dx , F [y , y˙ , x] = 1 + y˙ 2

xa

gegeben war. Damit diese L¨ange extremal wird, muss also 0=

y¨ ∂F d ∂F d y˙ p = p − = 3 2 ∂y dx ∂ y˙ dx 1 + y˙ 1 + y˙ 2 |{z} =0

gelten. Es folgt y¨ = 0 und damit y (x) = mx + c, was wie erwartet eine Gerade beschreibt. Historischer Kommentar: Eines der bedeutendsten fr¨ uhen Probleme der Variationsrechnung war das 1696 von Bernoulli aufgestellte Problem der Brachystochrone. Dies beschreibt einen Massepunkt, der sich unter dem Einfluss der Schwerkraft auf einer vorgegebenen Kurve zwischen zwei Punkten bewegen m¨ oge, und man fragt: F¨ ur welche Form dieser Kurve wird die zum Durchlaufen ben¨ otigte Zeit minimal? F¨ uhrt eine l¨angere Kurve, die mit h¨oherer Geschwindigkeit durchlaufen wird, letztlich schneller ans Ziel? Sie werden dieses Problem explizit in den ¨ Ubungen diskutieren.

3.2 Extremwertprobleme mit Nebenbedingung Als n¨achstes wollen wir untersuchen, wie man Extremwertprobleme mit Nebenbedingungen l¨osen kann. Eine notwendige Bedingung daf¨ ur, dass eine Funktion f (~x ) : Rn → R ein Extremum an der Stelle ~x hat, ist das Verschwinden des Gradienten, grad f (~x ) = 0. Was machen wir nun

58

ELEMENTE DER VARIATIONSRECHNUNG

aber, wenn wir k zus¨atzliche Funktionen gi=1...k (~x ) betrachten und wissen wollen, wann f unter der Einschr¨ankung gi (~x ) = 0 ∀i extremal wird, oder anders: Wir suchen nicht nach Extrema von f (~x ) im ganzen Raum Rn , sondern nur auf der durch gi (~x ) = 0 bestimmten, n − k dimensionalen Hyperfl¨ache. Im einfachsten Fall kann man nat¨ urlich einfach die Gleichungen gi (~x ) = 0 aufl¨ osen, k Koordinaten eliminieren und nach dem Extremum von f bzgl. der verbleibenden n − k Koordinaten suchen. Beispiel:

Wir betrachten einen Quader im R3 und suchen nach den Kantenl¨angen x, y , z, f¨ ur welche das Volumen bei vorgegebener Summe 4U der Kantenl¨angen extremal wird. Wir suchen also nach einem Extremum von f (x, y , z) = xyz unter der Bedingung g (x, y , z) = x + y + z − U = 0. Wir k¨onnen g = 0 nach z aufl¨osen, in f einsetzen und dann nach dem Extremum bzgl. x und y suchen: f˜(x, y ) = f (x, y , U − x − y ) = xy (U − x − y ) , ∂ f˜ ∂ f˜ = −y 2 + Uy − 2xy = 0 , = −x 2 + Ux − 2xy = 0 . ∂x ∂y Man sieht leicht ein, dass dies auf x = y = z =

U 3

f¨ uhrt; das Volumen wird also

maximal, wenn der Quader ein W¨ urfel ist. Es gibt jedoch F¨alle, in denen es nicht sehr einfach ist, die Gleichungen gi = 0 nach einer Koordinate aufzul¨ osen. Man kann sich dann eines Tricks bedienen, um das Extremwertproblem trotzem zu l¨ osen. Hierzu f¨ uhren wir in Gedanken via ~x = ~x (~q ) ∈ Rn verallgemeinerte Koordinaten qi=1...n−k ein, welche die Hyperfl¨ache gj=1...k = 0 parametrisieren. Per Konstruktion gilt dann 0=

∂gj ∂~x = grad gj · ∀ i = 1 ... n − k , j = 1 ... k , ∂qi ∂qi

(3.3)

da ja gj = 0 f¨ ur beliebige Wahl der Koordinaten qi gelten muss. Damit nun die Funktion f an einer Stelle dieser Fl¨ache extremal wird, muss ∂qi f = 0 gelten und damit mittels der Kettenregel 0=

∂~x ∂f = grad f · ∀ i = 1 ... n − k , ∂qi ∂qi

(3.4)

was man sich auch in Worten veranschaulichen kann: Da die Vektoren ∂qi ~x gerade die Tangentenvektoren der Hyperfl¨ache sind, kann f auf dieser Fl¨ache nur dann extremal werden, wenn die Tangentialkomponente des Gradienten verschwindet. Das bedeutet, dass sich f lokal in alle Richtungen der Fl¨ache nicht ¨andert, was sehr anschaulich ist. Mathematisch k¨ onnen wir Folgendes notieren: Da es h¨ochstens k linear unabh¨angige Vektoren geben kann, die senkrecht auf allen Vektoren ∂qi ~x stehen, folgt aus Gl. (3.3) und Gl. (3.4), dass grad f eine Linearkombination der grad gj sein muss:

3.3. Hamiltonsches Variationsprinzip

59

Eine Funktion f (~x ) : Rn → R kann unter den k Nebenbedingungen gi (~x ) = 0, i = 1 ... k, nur dann extremal werden, wenn h

grad f (~x ) −

k X

i λi gi (~x ) = 0

(3.5)

i=1

gilt, wobei λi zun¨achst unbekannte Lagrange-Multiplikatoren sind. Die Gl. (3.5) stellt also zusammen mit gj=1...k = 0 genau n + k Gleichungen f¨ ur n + k Unbekannte da. Durch das Einf¨ uhren der Lagrange-Multiplikatoren muss man also ein Problem mit zus¨atzlichen Freiheitsgraden l¨ osen, spart sich aber das Aufl¨osen der Gleichungen gi = 0; man sucht statt P dessen nach dem Extremum von f − i λi gi . Beispiel:

Wir wollen das Problem des Quaders mittels Lagrange-Multiplikatoren l¨osen. Wir betrachten also 

yz − λ



       = 0. grad f − λg = grad xyz − λ(x + y + z − U) =  xz − λ   xy − λ Hieraus folgt sofort x = y = z; Einsetzen in g = 0 liefert dann x =

U 3.

3.3 Hamiltonsches Variationsprinzip Wie wir bereits oben angedeutet haben, hat die Gl. (3.2) die Form der Lagrange-Gleichungen zweiter Art. Damit k¨ onnen wir letztere auch wie folgt formulieren: Hamiltonsches Extremalprinzip: Gegeben sei ein System mit k holonomen Zwangsbedingungen. Dieses System sei durch n = 3N − k beliebige verallgemeinerte Koordinaten ~q beschrieben. Eine Kurve ~q (t), welche die vorgegebenen Punkte ~q (ta ) = ~qa und ~q (tb ) = ~qb verbindet, ist genau dann eine physikalische Bahnkurve, wenn die sog. Wirkung Z tb    S ~q (t)] := L ~q (t), ~q˙ (t), t dt

(3.6)

ta

extremal oder station¨ar wird. Hierbei ist L = T − V die Lagrange-Funktion. Es gilt also kurz (f¨ ur holonome Zwangsbedingungen) Newton + Annahme Z ⇔ Lagrange II ⇔ Hamiltonsches Extremalprinzip .

60

ELEMENTE DER VARIATIONSRECHNUNG

Eine interessante Folgerung aus dieser Formulierung ist, dass die Lagrange-Funktion ˜ = L + dS(~q , t) L dt

(3.7)

f¨ ur beliebiges S dieselbe Bewegungsgleichung liefert, denn die Variation einer totalen Zeitableitung verschwindet nat¨ urlich am Rand. Man sieht dies auch durch explizites Nachrechnen:  ∂ d ∂  dS(~q , t)  ∂ d ∂  X ∂S ∂S  − − q˙ j + = ∂qi dt ∂ q˙ i dt ∂qi dt ∂ q˙ i ∂qj ∂t =

X j

∂2S ∂qi ∂qj

q˙ j +

j 2 ∂ S

∂qi ∂t



d ∂S = 0. dt ∂qi

Es ist an dieser Stelle instruktiv, nochmal an einem Beipiel das Konzept der Lagrange-Multiplikatoren zu illustrieren. Wir nehmen an, dass k holonome Zwangsbedingungen fi=1...k = 0 gegeben seien, wollen diese aber nicht aufl¨ osen, um Koordinaten zu eliminieren. Wir betrachten folglich 3N verallgemeinerte Koordinaten ~q . Unter Verwendung der Lagrange-Multiplikatoren liegt es nun nahe, zu vermuten, dass f¨ ur eine physikalische Bahn gerade   I2 ~q (t) =

Z

tb

k    X   L ~q , ~q˙ , t − λi fi ~q , t dt

ta

|

i=1 {z

}

=F

station¨ar wird. Dies ist nach Gl. (3.2) aber genau dann der Fall, wenn k

d ∂F ∂L d ∂L X ∂fi ∂F − = − − =0 λi ∂qj dt ∂ q˙ j ∂qj dt ∂ q˙ j ∂qj i=1

gilt; wir haben ∂q˙ i fi = 0 verwendet, da die fi per Definition nicht von den Geschwindigkeiten abh¨angen. Dies sind aber genau die Lagrange-Gleichungen erster Art aus Gl. (2.26)!

4 Hamilton-Formalismus In diesem Kapitel wollen wir eine weitere Formulierung der Newtonschen Mechanik kennenlernen – den Hamilton-Formalismus. Dieser ist zu der Lagrange-Formulierung (und damit zu den Newtonschen Bewegungsgleichung kombiniert mit der Annahme Z) ¨aquivalent. In der Praxis hat der Hamilton-Formalismus den Vorteil, dass eine allgemeine L¨osungstheorie existiert und dass sich Erhaltungss¨atze gut ausnutzen lassen. Wichtiger jedoch ist, dass der HamiltonFormalismus die Grundlage der Formulierung der Quantenmechanik sein wird: Die HamiltonFunktion und die Poisson-Klammern, die Sie in diesem Abschnitt kennenlernen, werden in der Quantenmechanik einfach durch den Hamilton-Operator und durch Kommutator-Klammern ersetzt. Wir werden uns in in diesem Abschnitt ausschließlich auf Systeme mit holonomen Zwangsbedingungen beschr¨anken.

4.1 Grundlagen des Hamilton-Formalismus Bereits in Abschnitt 2.4.2 haben wir die zu einer Koordinate qi geh¨orenden kanonischen Impulse pi definiert. Die grundlegende Idee des Hamilton-Formalismus ist, diese Impulse als unabh¨angige Variablen zu betrachten und 2n Bewegungsgleichungen erster Ordnung f¨ ur die Orte ~q und die Impulse ~p aufzustellen – die n Lagrange-Bewegungsgleichungen hingegen sind zweiter Ordnung und enthalten ~q und ~q˙ . Beispiel:

Die Bewegungsgleichung eines Teilchens in einer Dimension lautet x¨ = F /m . Dies ist eine Gleichung zweiter Ordnung. Alternativ kann man letztere auch als zwei Gleichungen erster Ordnung f¨ ur Variablen x und p schreiben: x˙ = p/m , p˙ = F . Wir wollen uns nun Gedanken machen, wie man in komplizierteren F¨allen (ausgehend von den Lagrange-Gleichungen f¨ ur beliebige verallgemeinerte Koordinaten) analog vorgehen kann.

61

62

HAMILTON-FORMALISMUS

4.1.1 Kanonische Impulse, Hamilton-Funktion Da wir uns auf holonome Zwangsbedingungen konzentrieren, nehmen wir an, dass unser System durch n = 3N − k verallgemeinerte Koordinaten ~q beschrieben sei. Gegeben sei weiterhin die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) auf dem Phasenraum (~q , ~q˙ ). Zur Erinnerung: Dies bedeutet, dass wir zun¨achst keine Bahnkurve ~q (t) betrachten, sondern die Gr¨oße L als Funktion der 2n unabh¨angigen Variablen ~q und ~q˙ auffassen. In Gl. (2.34) hatten wir bereits die kanonischen Impulse ~p definiert: pi (~q , ~q˙ , t) :=

∂L(~q , ~q˙ , t) . ∂ q˙ i

(4.1)

Wir wollen nun annehmen, dass man Gl. (4.1) nach den Geschwindigkeiten ~q˙ aufl¨osen kann: ~p = ~p (~q , ~q˙ , t) ⇔ ~q˙ = ~q˙ (~q , ~p , t) .

(4.2)

Ein Punkt im Phasenraum kann dann entweder durch Angabe der unabh¨angigen Variablen (~q , ~q˙ ) oder (~q , ~p ) beschrieben werden. Wir eliminieren nun in der Lagrange-Funktion ~q˙ zugunsten von ~p und definieren die Hamilton-Funktion: Gegeben sei ein System mit holonomen Zwangsbedingungen sowie die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) auf dem Phasenraum. Dann ist die Hamilton-Funktion durch H(~q , ~p , t) :=

n X

pi q˙ i (~q , ~p , t) − L ~q , ~q˙ (~q , ~p , t), t



(4.3)

i=1

definiert. H h¨angt von den verallgemeinerten Koordinaten ~q und den kanonischen Impulsen ~p als unabh¨angigen Variablen ab. Wenn das Potential geschwindigkeitsunabh¨angig ist, die Zwangsbedingungen holonom-skleronom sind und die verallgemeinerten Koordinaten nicht explizit von der Zeit abh¨angen (~x = ~x (~q )), so gilt H = T (~q , ~p , t) + V (~q , t) .

(4.4)

In konservativen Systemen ist V zeitunabh¨angig; damit ist H dort also einfach die Gesamtenergie des Systems. Die Aussage, dass H unter den genannten Umst¨anden gerade T + V entspricht, hatten wir bereits in Abschnitt 2.4.1 gezeigt – dort hatten wir die Bedeutung der Gr¨oße H diskutiert, nur noch nicht die Impulse ~p als Variablen eingef¨ uhrt. An dieser Stelle mag die Definition der Hamilton-Funktion via Gl. (4.3) willk¨ urlich erscheinen. Wir werden im n¨achsten Abschnitt mittels H Bewegungsgleichungen herleiten, die zu den

4.1. Grundlagen des Hamilton-Formalismus

63

Lagrange-Gleichungen ¨aquivalent sind und damit die klassische Mechanik vollst¨andig beschreiben; somit w¨are unsere Definition von H im Nachhinein gerechtfertigt. Wir wollen die Gl. (4.3) trotzdem kurz im Vorfeld motivieren.

Einschub: Legendre-Transformation Die Hamilton-Funktion H(~q , ~p , t) h¨angt per Definition von pi als unabh¨angigen Variablen ab; die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) hingegen h¨angt von q˙ i ab. Damit dr¨angt sich die Frage auf: Wenn wir von q˙ i zu pi =

∂L ∂ q˙ i

als unabh¨angige Variablen u ¨bergehen wollen, warum eliminieren

wir dann nicht einfach q˙ i in L, oder anders formuliert: Wozu f¨ uhren wir den ersten Term in Gl. (4.3) ein? Hierzu untersuchen wir ein ganz einfaches Beispiel. Wir betrachten die Funktion y (x) = (x − c)2 und wollen anstelle von x die Gr¨oße p =

dy dx

=

2(x − c) als unabh¨angige Variable verwenden (es entspricht also y = L und x = q˙ i ). Einsetzen liefert dann y˜ (p) = y (x(p)) = p 2 /4 – und dies h¨angt nicht mehr von der Konstanten c ab! Wir haben also Information u ungliche Funktion y verloren, oder anders: Der ¨ber die urspr¨ Zusammenhang zwischen den Funktionen y (x) und y˜ (p) ist nicht eineindeutig. Unser Gegenbeispiel zeigt, dass man nicht durch einfaches Eliminieren von x zugunsten von p=

dy dx

zu p als unabh¨angier Variable u ¨bergehen kann. Die L¨osung dieses Dilemmas ist in der

Mathematik als Legendre-Transformation bekannt: Anstelle von y˜ (p) betrachtet man die neue Funktion ψ(p) = px(p) − y (x(p)) , p =

dy . dx

Man kann zeigen (was wir nicht tun wollen), dass unter dieser Transformation keine Information verloren geht, die Funktion ψ(p) also eineindeutig der Funktion y (x) zugeordnet ist. ¨ Aus diesen Uberlegungen folgt, dass Gl. (4.3) keineswegs willk¨ urlich, sondern der ganz nat¨ urliche Weg ist, um von den Geschwindigkeiten q˙ i zu den Impulsen pi =

∂L ∂ q˙ i

als unabh¨angige Variablen

u ¨berzugehen.

4.1.2 Bewegungsgleichungen Wir wollen nun die Lagrangeschen Bewegungsgleichungen in den Hamilton-Formalismus u ¨bersetzen. Hierzu berechnen wir erst ganz allgemein folgende Ableitungen (behalten Sie in Erinnerung, dass H von den unabh¨angigen Variablen ~q und ~p abh¨angt, da wir u ¨berall die Gr¨oßen

64

HAMILTON-FORMALISMUS

~q˙ = ~q˙ (~q , ~p , t) eliminiert haben): n i ∂ hX ∂H(~q , ~p , t) = pi q˙ i (~q , ~p , t) − L ~q , ~q˙ (~q , ~p , t), t ∂pj ∂pj i=1

n X

n ∂ q˙ i (~q , ~p , t) X ∂L(~q , ~q˙ , t) ∂ q˙ i (~q , ~p , t) = q˙ j (~q , ~p , t) + pi − ˙ ˙ ∂pj ∂ q˙ i ∂pj i=1 i=1 | {z } ~q=~q(~q,~p,t) =pi

= q˙ j (~q , ~p , t) , n

i ∂ hX ∂H(~q , ~p , t) = pi q˙ i (~q , ~p , t) − L ~q , ~q˙ (~q , ~p , t), t ∂qj ∂qj i=1 n n X ∂ q˙ i (~q , ~p , t) ∂L(~q , ~q˙ , t) X ∂L(~q , ~q˙ , t) ∂ q˙ i (~q , ~p , t) = pi − − ∂qj ∂qj ∂ q˙ i ∂qj ~q˙ =~q˙ (~q ,~p ,t) i=1 i=1 | {z } ~q˙ =~q˙ (~q,~p,t) =pi ∂L(~q , ~q˙ , t) =− . ˙ ˙ ∂qj ~q =~q (~q ,~p ,t) (4.5) Die Gl. (4.5) gelten ganz allgemein f¨ ur beliebige Punkte (~q , ~p ) im Phasenraum. Als n¨achstes ˙ wollen wir f¨ ur ~q und ~p = ~p (~q , ~q , t) eine physikalische Bahnkurve einsetzen, also eine Kurve (~q (t), ~p (t)), welche die Lagrange-Gleichungen erf¨ ullt. Dann finden wir: dqj (t) ∂H(~q , ~p , t) = q˙ j (~q , ~p , t) = ~ ~ q=~ q(t) q=~ q(t) ∂pj dt ~ p=~ p(t)

~ p=~ p(t)

∂H(~q , ~p , t) ∂L(~q , ~q˙ , t) (4.6) = − ~q=~q(t) ˙ ˙ ~q=~q(t) ∂qj ∂qj ~ ~ q = q (~ q ,~ p ,t) ~ ~ p=~ p(t) p=~ p(t)     ˙ dpj (t) d d ∂L(~q , ~q , t) ∗ pj , =− =− =− ~ q=~ q(t) dt ∂ q˙ j dt dt ~q˙ =~q˙ (~q ,~p ,t) ~q=~q(t) ~ p=~ p(t)

~ p=~ p(t)

wobei wir die Bewegungsgleichung aus Gl. (2.21) explizit an der Stelle ∗ eingesetzt haben. Wenn man Gl. (4.5) und Gl. (4.6) zusammenfasst, so erh¨alt man (in Kurznotation) die Hamiltonsche Bewegungsgleichungen:  ~q (t), ~p (t) ist bestimmt durch

Eine

physikalische

∂H(~q , ~p , t) ∂H(~q , ~p , t) = q˙ j , = −p˙ j . ∂pj ∂qj

Bahnkurve

(4.7)

Dies sind gerade 2n Differentialgleichungen erster Ordnung f¨ ur die 2n Variablen ~q und ~p . Kommentar: Wir haben bis jetzt nur gezeigt, dass die Gl. (4.7) aus den Lagrange-Gleichungen folgen. Es ist instruktiv, kurz die Gegenrichtung zu diskutieren. Gegeben sei also die HamiltonFunktion H sowie eine Kurve ~q (t), ~p (t), welche Gl. (4.7) gen¨ ugt. Wir wollen zeigen, dass

4.1. Grundlagen des Hamilton-Formalismus

65

daraus die Lagrange-Gleichungen folgen. Wir nehmen also an, dass wir die pi zugunsten von q˙ i =

∂H ∂pi

eliminieren und definieren die Lagrange-Funktion L(~q , ~q˙ , t) :=

n X i=1

 ∂H . pi (~q , ~q˙ , t)q˙ i − H ~q , ~p (~q , ~q˙ , t), t , q˙ i = ∂pi

Ableiten liefert n

n

n

i X ∂pi X ∂H ∂pi ∂L ∂ hX = pi q˙ i − H = pj + q˙ i − = pj ∂ q˙ j ∂ q˙ j ∂ q˙ j ∂pi ∂ q˙ j i=1 i=1 i=1 |{z} ∂L ∂ = ∂qj ∂qj

n hX i=1

i pi q˙ i − H =

n X i=1

∂H ∂pi q˙ i − − ∂qj ∂qj

=q˙ i n X

∂H ∂H ∂pi ∗ d ∂L =− = p˙ j = . ∂pi ∂qj ∂qj dt ∂ q˙ j i=1 |{z} =q˙ i

Wir haben an dieser Stelle die Argumente der Funktionen L und H nicht ausgeschrieben, sondern eine ‘Kurznotation’ verwendet (was wir auch im Rest des Kapitels weiterhin tun werden); wenn es Unklarheiten gibt, vergleichen Sie einfach mit der Gl. (4.5). An der Stelle ∗ haben wir die erste in die zweite Gleichung eingesetzt. Damit gilt also Newton + Annahme Z ⇔ Lagrange II ⇔ Hamiltonschsches Extremalprinzip ⇔ Hamilton-Gleichungen .

Beispiel:

Wir wollen zun¨achst die Bewegung eines einzelnen Teilchens im Potential V (~x ) in kartesischen Koordinaten im Hamilton-Formalismus untersuchen. Die kanonisch konjugierten Impulse haben die Form m ∂L = mx˙ i , L(~x , ~x˙ ) = T − V = ~x˙ 2 − V (~x ) ⇒ pi (~x , ~x˙ ) = 2 ∂ x˙ i entsprechen also in diesem Fall gerade den Komponenten des physikalischen Impulses. Damit erhalten wir folgende Hamilton-Funktion: H(~x , ~p ) = T + V =

1 2 ~p + V (~x ) , 2m

und die Bewegungsgleichungen f¨ ur ~x und ~p lauten ∂H 1 = pi = x˙ i , ∂pi m

∂H ∂V = = −p˙ i . ∂xi ∂xi

Dies sind 6 gekoppelte Differentialgleichungen erster Ordnung f¨ ur die 6 Variablen ~x und ~p . Wenn wir beide Gleichungen ineinander einsetzen, so finden wir nat¨ urlich sofort die Newtonsche Bewegungsgleichung wieder: x¨i =

1 1 ∂V 1 p˙ i = − = Fi . m m ∂xi m

66

HAMILTON-FORMALISMUS

F¨ ur Experten: Wie oben bereits erw¨ahnt, bildet der Hamilton-Formalismus den Ausgangspunkt der Formulierung der Quantenmechanik. Grob gesprochen werden einfach in der HamiltonFunktion die Variablen ~x und ~p durch Orts- und Impulsoperatoren ersetzt, was auf den Hamilton-Operator f¨ uhrt: ˆ = 1 ~pˆ2 + V (~xˆ) . H 2m Im Sinn der Mathematik ist ein Operator eine lineare Abbildung – also ‘eine Matrix’. Die Eigenwerte dieser Matrix sind dann die m¨oglichen diskreten Energien (z.B. verbunden mit den Bahnen im Bohr’schen Atommodell), die ein System annehmen kann. Beispiel:

Als zweites wollen wir das mathematische Pendel studieren. Der Winkel ϑ ist die einzige Koordinate des Systems, und der zugeh¨orige kanonische Impuls lautet 2 ˙ = ∂L = ml 2 ϑ˙ . ˙ = ml ϑ˙ 2 + mgl cos ϑ ⇒ pϑ (ϑ, ϑ) L(ϑ, ϑ) 2 ∂ ϑ˙

Die Hamilton-Funktion hat die Form H(ϑ, pϑ ) = T + V =

1 2 p − mgl cos ϑ , 2ml 2 ϑ

und die Bewegungsgleichungen lauten ∂H 1 = pϑ = ϑ˙ , ∂pϑ ml 2

∂H = mgl sin ϑ = −p˙ ϑ . ∂ϑ

Wenn wir diesen beiden Gleichungen ineinander einsetzen, erhalten wir das altbekannte Resultat g 1 p˙ ϑ = − sin ϑ . ϑ¨ = ml 2 l In der Praxis: Wir wollen auch hier nochmal kurz zusammenfassen, wir man ein gegebenes Problem im Hamilton-Formalismus l¨ ost. 1. W¨ahle m¨ oglichst elegant n = 3N −k verallgemeinerte Koordinaten ~q ; stelle die LagrangeFunktion L(~q , ~q˙ , t) auf. 2. Bestimme die kanonischen Impulse pi (~q , ~q˙ , t) =

∂L(~q ,~q˙ ,t) . ∂ q˙ i

3. L¨ose obige Gleichung nach q˙ i = q˙ i (~q , ~p , t) auf. 4. Stelle die Hamilton-Funktion gem¨aß Gl. (4.3) auf; bedenke, dass in vielen F¨allen H einfach die Gesamtenergie ist. 5. Eliminiere q˙ i in H zugunsten der Impulse ~p ; erhalte also H = H(~q , ~p , t). 6. Stelle die Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.7) auf.

4.2. Poisson-Klammern

67

4.1.3 Zyklische Koordinaten In Abschnitt 2.4.2 hatten wir gezeigt, dass zu der nicht in der Lagrange-Funktion vorkommenden Koordinaten qi geh¨ orige kanonische Impuls pi eine Erhaltungsgr¨oße ist; solche Koordinaten nennt man auch zyklisch. Dieses Konzept u ¨bertr¨agt man leicht in den Hamilton-Formalismus: Wenn eine Koordinate qi nicht in L vorkommt, dann kommt sie auch in H nicht vor; wir nennen dieses qi zyklisch. In H hat dann der zugeh¨orige Impuls pi einfach die Bedeutung einer Konstante. Beweis: Aus Gl. (4.5) folgt ∂H ∂L =− ∂qi ∂qi

 ⇒

 ∂L ∂H =0 ⇔ =0 . ∂qi ∂qi

Die Bewegungsleichung (4.7) liefert außerdem 0=

∂H = −p˙ i ∂qi

⇒ pi (t) = Ci .



Wenn ein System j zyklische Koordinaten q1...j besitzt, so m¨ ussen wir nur noch ein Problem aus n − j Freiheitsgraden (also 2n − 2j gekoppelte Differentialgleichungen erster Ordnung f¨ ur die qj+1...n , pj+1...n ) l¨ osen, denn jedes q1...j kommt nicht in H vor, und das zugeh¨orige pi=1...j (t) = Ci ist nur eine durch die Anfangsbedingung festgelegte Konstante. Nach Finden der L¨osung bestimmt man am Ende die Zeitabh¨angigkeit der zyklischen qi=1...j via ∂H(~q , ~p , t) . q˙ i=1...j = ∂pi qj+1...n =qj+1...n (t),pj+1...n =pj+1...n (t),pi=1...j =Ci Man kann sich also fragen, ob es eine M¨oglichkeit gibt, Koordinaten so zu w¨ahlen, dass m¨oglichst viele hiervon zyklisch sind. Dies geht mittels der Poisson-Klammern und kanonischen Transformationen, welche wir nun diskutieren wollen.

4.2 Poisson-Klammern Wir definieren zun¨achst den Begriff der Poisson-Klammer: Gegeben seien zwei beliebige (unendlich oft differenzierbare) Funktionen F (~q , ~p , t) und G (~q , ~p , t) auf dem 2n dimensionalen, durch (~q , ~p ) beschriebenen Phasenraum. Dann nennt man  n  X ∂F ∂G ∂G ∂F [F , G ] := − ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi i=1

die Poisson-Klammer von F und G .

(4.8)

68

HAMILTON-FORMALISMUS

Die N¨ utzlichkeit dieser Objekte wird erst sp¨ater klar werden. Wir notieren folgende allgemeine Eigenschaften: 1. Antisymmetrie: [F , G ] = −[G , F ] ⇒ [F , F ] = 0

(4.9)

[F , λ1 G1 + λ2 G2 ] = λ1 [F , G1 ] + λ2 [F , G2 ]

(4.10)

[G1 , [G2 , G3 ]] + [G3 , [G1 , G2 ]] + [G2 , [G3 , G1 ]] = 0

(4.11)

2. Linearit¨at:

3. Jacobi-Identit¨at:

All dies kann man durch Einsetzen und Ausrechnen sehr leicht nachweisen (was wir hier nicht tun wollen). Es ist instruktiv, folgende zwei Beispiele zu diskutieren: =δij

=0

n  X

z}|{  z}|{ ∂qj ∂G ∂G ∂qj ∂G − = [qj , G ] = ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi ∂pj i=1  n  X ∂pj ∂G ∂G ∂pj ∂G [pj , G ] = − =− , ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi ∂qj i=1 |{z} |{z} =0

(4.12)

=δij

mit dessen Hilfe sich fast unmittelbar folgendes ergibt: Es gelten die fundamentalen Poisson-Klammern [qj , qk ] = 0 , [pj , pk ] = 0 , [qj , pk ] = δjk .

(4.13)

Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.7) lassen sich in der Form q˙ j = [qj , H] , p˙ j = [pj , H]

(4.14)

schreiben. Beweis: Gl. (4.13) folgt sofort aus Gl. (4.12), indem man G = qk bzw. G = pk setzt: [qj , qk ] =

∂qk ∂pk ∂pk = 0 , [pj , pk ] = − = 0 , [qj , pk ] = = δkj . ∂pj ∂qj ∂pj

Gl. (4.14) ergibt sich durch Setzen von G = H und Vergleich mit Gl. (4.7): 4.12

[qj , H] =

Weiterhin wollen wir notieren:

∂H 4.7 = q˙ j , ∂pj

4.12

[pj , H] = −

∂H 4.7 = p˙ j .  ∂qj

4.3. Kanonische Transformationen

69

Wenn F (~q , ~p , t) eine Funktion auf dem Phasenraum ist, dann gilt f¨ ur jede physikalische Bahn ~q (t), ~p (t)  dF ~q (t), ~p (t), t ∂F = [F , H] + . dt ∂t

(4.15)

Eine zeitunabh¨angige Funktion F ist also genau dann eine Erhaltungsgr¨oße, wenn [F , H] = 0 gilt. Beweis: Die Kettenregel liefert   n  n  X dF ∂F ∗ X ∂F ∂H ∂F ∂F ∂H ∂F ∂F ∂F q˙ i + p˙ i + = − + = = [F , H] + , dt ∂qi ∂pi ∂t ∂qi ∂pi ∂pi ∂qi ∂t ∂t i=1

i=1

wobei wir an der Stelle ∗ die Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.7) eingesetzt haben.  Aus Gl. (4.15) folgt unmittelbar, dass f¨ ur eine Bahnkurve ∂H dH = dt ∂t gilt; also ist H genau dann eine Erhaltungsgr¨oße, wenn es nicht explizit von der Zeit abh¨angt. Diese Aussage hatten wir bereits in Abschnitt 2.4.1 auf anderem Weg hergeleitet. F¨ ur Experten: In der Quantenmechanik gehen die Orte- und Impulse u ¨ber in Operatoren qˆi und pˆi . Das Analogon der Poisson-Klammern ist der Kommutator, f¨ ur welchen die gleichen fundamentalen Beziehungen wie in Gl. (4.13) gelten. Die sog. Heisenbergsche Bewegungsgleichung ist durch Gl. (4.15) gegeben, wobei wieder die Poisson-Klammer durch den Kommutator ersetzt wird.

4.3 Kanonische Transformationen In diesem Abschnitt wollen wir uns nun Gedanken u ¨ber Koordinaten-Transformationen im Hamilton-Formalismus machen. Nat¨ urlich ist der Lagrange-Formalismus – und damit auch der Hamilton-Formalismus – f¨ ur beliebige Ortskoordinaten qi formuliert. Ausgehend von L k¨onnen wir also ganz beliebige qi w¨ahlen, und die zugeh¨origen Impulse pi ¨andern sich abh¨angig davon via Gl. (4.1). Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen haben stets die in Gl. (4.7) angegebene Form. Nun k¨onnen wir aber auch fragen: K¨onnen wir direkt im Hamilton-Formalismus Orte und Im~ q , ~p , t) und neuen Impulsen pulse beliebig transformieren? K¨ onnen wir also mit neuen Orten Q(~ ~ q , ~p , t) arbeiten, die in beliebiger Weise (eineindeutig und differenzierbar) von den alten ~q P(~ und ~p abh¨angen? M¨oglich ist eine solche Transformation nat¨ urlich immer – man muss nur die Hamilton-Funktion und die Bewegungsgleichungen durch die neuen Variablen ausdr¨ ucken.

70

HAMILTON-FORMALISMUS

Sinnvoll ist dies aber nur dann, wenn die neuen Bewegungsleichungen f¨ ur die neuen Variablen wieder eine einfache Form haben. Dies wird gerade bei sog. kanonischen Transformationen der Fall sein. Kommentar 1: Mathematisch entspricht eine allgemeine Koordinatentransformation einer bijektiven, differenzierbaren, durch t parametrisierten Abbildung  ~ q , ~p , t), P(~ ~ q , ~p , t) g : Rn × Rn → Rn × Rn , g (~q , ~p ) = Q(~

(4.16)

auf dem Phasenraum. Wir wollen im Rest dieses Kapitels allgemein die Gesamtheit von verallgemeinerten Koordinaten ~q und den Impulsen ~p als Koordinaten bezeichen.

4.3.1 Definition: Invarianz der Poisson-Klammern Wir wollen den Begriff einer kanonischen Transformation wie folgt definieren (manche Autoren verwenden andere, ¨aquivalente Definitionen; mehr dazu sp¨ater): Kanonische Transformationen: Eine Koordinatentransformation ~ q , ~p , t), P(~ ~ q , ~p , t) ~q , ~p −→ Q(~

(4.17)

heißt kanonisch, wenn die fundamentalen Poisson-Klammern aus Gl. (4.13) invariant sind, wenn also [Qi , Qj ] = 0 , [Pi , Pj ] = 0 , [Qi , Pj ] = δij

(4.18)

gilt. Wir wollen uns dies an einem Beispiel verdeutlichen. Beispiel:

Sei die Zahl der Freiheitsgrade n = 1, das System also nur durch eine verallgemeinerte Koordinate q und den zugeh¨origen Impuls p charakterisiert. Dies ist z.B. beim durch ϑ und pϑ beschriebenen mathematischen Pendel der Fall (siehe Abschnitt 4.1.2). Wir wollen folgende neue Koordinaten einf¨ uhren: Q(q, p) = pq 2 , P(q, p) =

1 , q 6= 0 . q

Wir berechnen nun [Q, P] =

 ∂Q ∂P ∂P ∂Q 1  − = 2pq · 0 − − 2 q 2 = 1 , [Q, Q] = [P, P] = 0 . ∂q ∂p ∂q ∂p q

Also ist diese Koordinatentransformation kanonisch.

4.3. Kanonische Transformationen

71

Kommentar: Manchmal betrachtet man auch kanonische Transformation im weiteren Sinn, bei welchen [Qi , Pj ] = cδij gilt. Da man die Konstante c durch eine Reskalierung der Variablen stets wieder loswerden kann, wollen wir an dieser Stelle nicht auf diesen Fall eingehen. Poisson-Klammern bzgl. der neuen Variablen Es wird sich als n¨ utzlich herausstellen, die Poisson-Klammer bzgl. unterschiedlicher Koordinaten zu definieren: Seien dazu F (~q , ~p , t) und G (~q , ~p , t) Funktionen auf dem Phasenraum, ~ q , ~p , t) sowie P(~ ~ q , ~p , t) seien durch eine beliebige (nicht notwendigerweise kanonische) und Q(~ Transformation aus ~q und ~p hervorgegangen. Dann f¨ uhren wir  n    X ∂G ∂F ∂F ∂G ~ P, ~ t), ~p (Q, ~ P, ~ t), t , G analog , − , F = F ~q (Q, [F , G ]QP := ∂Qi ∂Pi ∂Qi ∂Pi i=1

(4.19) ein. In Worten: Man dr¨ uckt zur Berechnung von [ ]QP einfach die Funktionen F und G durch die neuen Koordinaten aus und verwendet dann die u ¨bliche Form der Poisson-Klammer aus Gl. (4.8), wobei man nur die Ableitungen nach qi , pi durch Ableitungen nach Qi , Pi ersetzt. Um Unklarheiten zu vermeiden, notieren wir die in Gl. (4.8) bzgl. ~q und ~p eingef¨ uhrten PoissonKlammern auch als [ ]qp . Wir wollen nun zeigen, dass f¨ ur eine kanonische Transformation alle Poisson-Klammern f¨ ur beliebige Funktionen F und G invariant sind: [F , G ]QP = [F , G ]qp ∀F , G .

(4.20)

Hierbei muss man auf der linken (rechten) Seite F und G mittels Einsetzen der Transformation ~ und P ~ (~q und ~p ) ausdr¨ durch die Koordinaten Q ucken. (F¨ ur F , G ∈ {Qi , Pi } gilt Gl. (4.20) nat¨ urlich per Definition; siehe Gl. (4.13) und Gl. (4.18)). Zum Beweis verwenden wir die Kettenregel: ∂A X = ∂x j



∂A ∂Qj ∂A ∂Pj + ∂Qj ∂x ∂Pj ∂x

 , A ∈ {F , G } , x ∈ {qi , pi }

deren Einsetzen in die Definition von [F , G ]qp aus Gl. (4.13) auf Folgendes f¨ uhrt:  X  ∂F ∂G ∂G ∂F [F , G ]qp = − ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi i    X ∂F ∂Pj ∂F ∂Qj ∂G ∂Qk ∂G ∂Pk = + + ∂Qj ∂qi ∂Pj ∂qi ∂Qk ∂pi ∂P ∂p ijk | {z } | k{z i} | {z } | {z } 1

3

2

4

   ∂G ∂Qk ∂G ∂Pk ∂F ∂Qj ∂F ∂Pj + − + . ∂Q ∂q ∂P ∂q ∂Qj ∂pi ∂Pj ∂pi | k{z i} | k{z i} | {z } | {z } 5

6

7

8

72

HAMILTON-FORMALISMUS

Diesen Ausdruck k¨ onnen wir nun ausmultiplizieren und dann verwenden, dass die fundamentalen Poisson-Klammern aus Gl. (4.18) gelten, da wir eine kanonische Transformation betrachten:  X ∂F ∂G X  ∂Qj ∂Qk ∂Qk ∂Qj − =0 13 − 57 = ∂Qj ∂Qk ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi i jk | {z } =[Qj ,Qk ]qp =0

14 − 67 =

 X ∂F ∂G X  ∂Qj ∂Pk ∂Pk ∂Qj − = ∂Qj ∂Pk ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi jk {z } |i

X ∂F ∂G ∂Qj ∂Pj j

=[Qj ,Pk ]qp =δjk

23 − 58 =

 X ∂F ∂G X ∂F ∂G X  ∂Pj ∂Qk ∂Qk ∂Pj − =− ∂Pj ∂Qk ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi ∂Pj ∂Qj j jk |i {z } =−[Qj ,Pk ]qp =−δjk

 X ∂F ∂G X  ∂Pj ∂Pk ∂Pk ∂Pj 24 − 68 = − = 0. ∂Pj ∂Pk ∂qi ∂pi ∂qi ∂pi i jk | {z } =[Pj ,Pk ]qp =0

Wenn man diese Gleicbungen addiert, so ergibt sich sofort [F , G ]qp = [F , G ]QP . Wenn man kanonische Transformationen betrachtet, kann man also den Index an den PoissonKlammern weglassen und diese entweder bzgl. qp oder QP berechnen.

4.3.2 Transformation der Bewegungsgleichungen Nach den Vor¨ uberlegungen des letzten Abschnitts k¨onnen wir nun folgende zentrale Aussage formulieren: Invarianz des Hamilton-Formalismus unter kanonischen Transformationen: Bei einer kanonischen Transformation erf¨ ullen die neuen Koordinaten einer physikalischen Bahn wieder ‘Standard’-Bewegungsgleichungen der Form   ~ P, ~ t ~ P, ~ t Q, ∂K Q, ∂K Q˙ i = , P˙ i = − . (4.21) ∂Pi ∂Qi F¨ ur zeitunabh¨angige Transformationen bekommt man die neue HamiltonFunktion K , indem man das alte H durch die neuen Koordinaten ausdr¨ uckt:     ~ P, ~ t := H ~q Q, ~ P ~ , ~p Q, ~ P ~ ,t . K Q,

(4.22)

F¨ ur zeitabh¨angige Transformationen ist K durch Gl. (4.23) gegeben. Beweis: Wir betrachten zun¨achst nur zeitunabh¨angige Transformationen. F¨ ur eine physikalische

4.3. Kanonische Transformationen Bahn gilt Gl. (4.15), und unter Vewendung von Gl. (4.20) finden wir:    ~ P ~ , ~p Q, ~ P ~ , t 4.22 ∂H ~q Q, ∂Qi 4.20 4.12 4.15 ˙ = [Qi , H]QP = Qi = [Qi , H]qp + = ∂t ∂Pi |{z}

73

~ P, ~ t) ∂K (Q, ∂Pi

=0

   ~ P ~ , ~p Q, ~ P ~ , t 4.22 ∂K (Q, ~ P, ~ t) ~q Q, ∂H ∂P 4.20 4.12 i P˙ i = [Pi , H]qp + = −  = [Pi , H]QP = − ∂t ∂Qi ∂Qi |{z} 4.15

=0

Wir haben hierbei benutzt, dass [Qi , H]QP = ∂Pi H gilt; dies folgt analog zu Gl. (4.12), man ~ P ~ ersetzen. muss dort nur ~q , ~p durch Q, Zeitabh¨ angige Transformationen Nun wollen wir den komplizierteren Fall zeitabh¨angiger Koordinatentransformationen diskutieren. Wir m¨ ussen zeigen, dass Gl. (4.21) mit einer geeignet gew¨ahlten neuen Hamilton-Funktion K gilt. Wir behaupten, dass dieses neue K folgende Form hat:    n X  ∂S ~q , ~p , t ∂Qi (~q , ~p , t) ~ ~ + Pi (~q , ~p , t) K (Q, P, t) := H ~q , ~p , t + , ~q=~q(Q, ~ ~ P,t) ∂t ∂t ~ ~ i=1 ~ p=~ p(Q, P,t) (4.23)  Z X n  dQi (~q (τ ), ~p (τ ), t) dqi (τ ) − Pi (~q (τ ), ~p (τ ), t) dτ , S(~q , ~p , t) := pi (τ ) dτ dτ i=1  wobei wir u ¨ber eine beliebige Kurve C = ~q (τ ), ~p (τ ) im Phasenraum integrieren, die im Punkt (~q , ~p ) endet. Die partielle Zeitableitung in

∂S ∂t

wirke dabei nur auf die explizite Zeitabh¨angigkeit

von S(~p , ~q , t) (vor dem Einsetzen der Transformation). Im zeitunabh¨angigen Fall verschwinden die letzten beiden Terme in der ersten Zeile, und das hier definierte K stimmt mit Gl. (4.22) u ¨berein. Als erstes m¨ ussen wir zeigen, dass die Definition von K im zeitabh¨angigen Fall eindeutig ist; das ist nur dann so, wenn S in nicht von der konkreten Wahl der Kurve C abh¨angt. Hierzu schreiben wir S unter Verwendung der Kettenregel  X  ∂Qi dqj ∂Qi dpj dQi = + dτ ∂qj dτ ∂pj dτ j

in der Form  Z X Z X  X ∂Qj  dqi X ∂Qj dpi  dQi dqi S= pi − Pi dτ = pi − Pj − Pj dτ . dτ dτ ∂qi dτ ∂pi dτ i

i

j

j

Wir wollen uns nun der Einfachheit halber auf n = 1 beschr¨anken (der Beweis f¨ ur n > 1 verl¨auft analog). Obigen Ausdruck f¨ ur S k¨onnen wir wie folgt auffassen: ! ! Z Z p − P ∂Q dq ∂q ~ (~x )d~x . S(q, p, t) = · =: F −P ∂Q dp C C ∂p | {z } | {z } ~ (~x ) =:F

=:d~x

74

HAMILTON-FORMALISMUS

~ Ein Wegintegral ist nun genau dann wegunabh¨angig, wenn die Rotation des Integranden F verschwindet; da wir hier nur 2 Variablen x1 = q und x2 = p haben, k¨onnen Sie sich einfach ~ ∈ R3 mit F3 = 0. Das Verschwinden der Rotation bedeutet dann vorstellen, dass F   ∂Q  ∂Q  ∂x1 F2 − ∂x2 F1 = ∂q − P − ∂p p − P ∂p ∂q 2 2 ∂P ∂Q ∂ Q ∂P ∂Q ∂ Q ∗ =− −P −1+ +P = [Q, P]qp − 1 = 0 , ∂q ∂p ∂q∂p ∂p ∂q ∂p∂q wobei wir an der Stelle ∗ benutzt haben, dass die Transformation kanonisch ist. Da wir es gleich brauchen werden, wollen wir noch notieren, dass f¨ ur die Ableitungen von S gilt: X ∂Qj X ∂Qj ∂S ∂S = pi − Pj , =− Pj . ∂qi ∂qi ∂pi ∂pi j

(4.24)

j

~ ist, Dies ist sofort klar, wenn Sie daran denken, dass S einfach das ‘Potential’ der ‘Kraft’ F Ableitungen von S nach x1,2 also einfach F1,2 liefern. Also ist K aus Gl. (4.23) eindeutig; es bleibt zu zeigen, dass die Bewegungsgleichungen durch Gl. (4.21) gegeben sind. Wir wollen uns wieder auf n = 1 beschr¨anken und nur die Gleichung f¨ ur Q˙ untersuchen (alles andere verl¨auft analog). Wir berechnen ∂K 4.12 ∂S ∂Q 4.23 = [Q, K ] = [Q, H] + [Q, ] + [Q, P ] ∂P ∂t ∂t und wollen nun zeigen, dass die letzten beiden Terme auf der rechten Seite gerade ∂t Q liefern (in Kombination mit Gl. (4.15) erhalten wir dann die gew¨ unschte Bewegungsgleichung). Da wir kanonische Transformationen betrachten, haben wir den Index an den Poisson-Klammern weggelassen (denn alle Poisson-Klammern sind invariant). F¨ ur die einzelnen Terme gilt = ∂S ∂p

= ∂S ∂q

   z }| {   z }| {  ∂S ∂Q ∂ ∂S ∂ ∂S ∂Q 4.24 ∂Q ∂ ∂Q ∂ ∂Q ∂Q −P p−P [Q, ]= − = − ∂t ∂q ∂p ∂t ∂q ∂t ∂p ∂q ∂t ∂p ∂t ∂q ∂p =−

∂P ∂Q ∂Q [Q, Q] −P[Q, ] = −P[Q, ] ∂t | {z } ∂t ∂t =0

sowie     ∂Q ∂Q ∂ ∂Q ∂ ∂Q ∂Q ∂Q ∂Q ∂Q ∂Q [Q, P ]= P − P = [Q, P] +P[Q, ]= +P[Q, ]. | {z } ∂t ∂t ∂q ∂p ∂t ∂q ∂t ∂p ∂t ∂t ∂t =1

Kombiniert man die letzten beiden Gleichungen, so erh¨alt man ∂K ∂Q 4.15 ˙ = [Q, K ] = [Q, H] + = Q ∂P ∂t



4.3. Kanonische Transformationen

75

4.3.3 Erzeugende Funktionen Wir haben soeben gezeigt, dass nach einer kanonischen Transformation die neuen Koordinaten wieder Standard-Bewegungsgleichungen der Form Gl. (4.21) erf¨ ullen, wobei die neue HamiltonFunktion K durch Gl. (4.22) bzw. allgemeiner durch Gl. (4.23) gegeben ist. In diesem Abschnitt wollen wir versuchen, Transformationen zu konstruieren, die in jedem Fall kanonisch sind. Hierzu schreiben wir die Gl. (4.23), welche das neue K im allgemeinsten Fall definiert, ein wenig mathematisch um. Nebenbei werden wir eine ¨aquivalente Definition des Begriffs der kanonischen Transformation kennenlernen, die von vielen Autoren verwendet wird. Umformulierung der Definitionsgleichung (4.23) Wir betrachten eine ganz beliebige Kurve ~q (t), ~p (t) auf dem Phasenraum (nicht notwendigerweise eine physikalische Bahn) und berechnen    4.24 X ∂S ∂S ∂S d S ~q (t), ~p (t), t = q˙ i + p˙ i + dt ∂qi ∂pi ∂t i   X X ∂Qj  ∂S X ∂Qj 4.24 = q˙ i − p˙ i + pi − Pj Pj ∂qi ∂pi ∂t i

j

j

und analog  X d Qj ~q (t), ~p (t), t = dt



i

Wenn man diese Gleichungen nach

∂S ∂t

bzw.

∂Qj ∂t

∂Qj ∂Qj q˙ i + p˙ i ∂qi ∂pi

 +

∂Qj . ∂t

aufl¨ost, so kann man K wie folgt umschreiben:

∂S X ∂Qi + Pi ∂t ∂t i   X ∂Qj X  ∂Qi X ∂Qj  dS X dQi ∂Qi =H+ − q˙ i − p˙ i − Pi + Pi q˙ j + p˙ j pi − Pj Pj dt ∂qi ∂pi dt ∂qj ∂pj i j j j  dS X  ˙ =H+ + Pi Qi − pi q˙ i . dt

K =H+

i

(4.25) Wie erw¨ahnt gilt Gl. (4.25) f¨ ur beliebige Kurven (nicht nur Bahnkurven) im Phasenraum – es ist nichts anderes als eine Reformulierung der in Gl. (4.23) definierten Gr¨oße K nach Einsetzen einer Kurve; die Bewegungsgleichung ist nirgendwo eingegangen. Wir haben lediglich die Kettenregel sowie Gl. (4.24) verwendet. Erzeugende Funktion Wir wollen nun das in Gl. (4.23) definierte S(~q , ~p , t) noch weiter umschreiben. Dazu nehmen wir an (was außer f¨ ur sehr spezielle Transformationen stets der Fall ist), dass die Koordinaten

76

HAMILTON-FORMALISMUS

~ q , ~p , t) gerade 2n unabh¨angige Koordinaten bilden. Jeder ~q zusammen mit den Koordinaten Q(~ ~ eindeutig beschrieben sein. Damit Punkt im Phasenraum m¨ oge also durch Angabe von ~q und Q ~ ~ ~ kann jede Kurve im Phasenraum statt durch ~q (t), ~p (t) oder Q(t), P(t) auch durch ~q (t), Q(t) charakterisiert werden. Kommentar: Alternativ kann man auch annehmen, dass ein Punkt im Phasenraum eindeutig ~ (~q , P) ~ oder (~p , Q) ~ festgelegt sei. Das Vorgehen ist ¨ahnlich; wir wollen durch Angabe von (~p , P), ~ beschr¨anken. uns auf (~q , Q) Mit obiger Annahme kann jede Funktion auf dem Phasenraum eindeutig als Funktion der ~ ausgedr¨ Koordinaten ~q und Q uckt werden, was wir nun f¨ ur S tun wollen. Um Verwirrung zu vermeiden, wollen wir die Notation   ~ t := S ~q , ~p (~q , Q, ~ t), t S˜ ~q , Q, ~ einf¨ uhren. Wir setzen wieder eine beliebige Kurve (~q (t), Q(t)) im Phasenraum ein und verwenden die Kettenregel: X dS = dt i

Die partielle Ableitung

˜ ∂S ∂t

  ˜ ∂ S˜ ˙ ∂ S˜ ∂S q˙ i + Qi + . ∂qi ∂Qi ∂t

~ t), ˜ q , Q, wirkt nun auf die explizite Zeitabh¨angigkeit der Funktion S(~

die sich wegen der Zeitabh¨angigkeit der Transformation von der Zeitabh¨angigkeit von S(~q , ~p , t) unterscheidet. Nun l¨asst sich K wie folgt umschreiben:  X ∂ S˜ ∂ S˜ ˙ ∂ S˜ 4.25 ˙ Qi + q˙ i − . K = H− pi q˙ i − Pi Qi − ∂qi ∂Qi ∂t i

˜ ∂S ∂t

h¨angen nur von qi (t) und Qi (t) ab (wenn wir den Phasenraum ~ parametrisieren), nicht aber von den Geschwindigkeiten in Gedanken u ¨berall durch ~q und Q q˙ i , Q˙ i ; da nun die qi , Qi und damit auch die q˙ i , Q˙ i unabh¨angige Variablen sein sollen, m¨ ussen Die Funktionen H, K sowie

sich die Terme ∼ q˙ i , Q˙ i wegheben. Anders formuliert ist obige Gleichung nichts anderes als eine umgeschriebene Version der Gl. (4.23) nach Einsetzen einer Kurve; da in Gl. (4.23) keine Terme q˙ i oder Q˙ i auftreten, d¨ urfen sie das auch hier nicht. Koeffizientenvergleich liefert nun pi =

∂ S˜ ∂ S˜ ∂ S˜ , Pi = − , K =H+ , ∂qi ∂Qi ∂t

(4.26)

was nun wieder allgemein auf dem Phasenraum gilt (da die eingesetzte Kurve ja beliebig war). Man nennt die Funktion S˜ auch Erzeugende der Transformation. Zum Umschreiben von Gl. (4.23) in Gl. (4.26) haben wir lediglich die Kettenregel verwendet. Wir haben gerade gezeigt, dass jede kanonische Transformation mittels Gl. (4.26) aus einer ~ ausgedr¨ erzeugenden Funktion S˜ gewonnen werden kann; S˜ ist hierbei die durch ~q und Q uckte

4.3. Kanonische Transformationen

77

Funktion S aus Gl. (4.23). Wir wollen nun beweisen, dass auch die Umkehrung gilt und die aus jeder beliebigen erzeugenden Funktion gewonnene Transformation immer kanonisch ist: ~ t) eine beliebige (stetig differenzierbare) Funktion. Man definiere ˜ q , Q, Sei S(~ pi :=

~ t) ~ t) ˜ q , Q, ˜ q , Q, ∂ S(~ ∂ S(~ , Pi := − . ∂qi ∂Qi

(4.27)

~ P) ~ m¨ogen unDiese Gleichungen seien nach den Qi aufl¨osbar, und die (Q, abh¨angige Koordinaten bilden. Dann ist ~ P ~ ~q , ~p −→ Q, eine kanonische Transformation, und die Funktion S˜ entspricht bis auf eine Konstante der in Gl. (4.23) definierten Funktion. Wenn ~q und ~p die Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.7) erf¨ ullen, dann gelten ~ ~ und die die Standard-Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.21) f¨ ur Q und P, neue Hamilton-Funktion ist also durch K =H+ gegeben (nach dem Bilden von

˜ ∂S ∂t

∂ S˜ ∂t

(4.28)

~ P ~ u muss zu Q, ¨bergegangen werden).

Beweis: Wir m¨ ussen zeigen, dass unter der so definierten Transformation die fundamentalen Poisson-Klammer invariant sind (siehe Gl. (4.18)). Aus der Definition Gl. (4.27) folgt zun¨achst: ∂pj ∂qj ∂ 2 S˜ ∂ 2 S˜ ∂qi ∂pi = = = ⇒ = ∂qj ∂qj ∂qi ∂qi ∂qj ∂qi ∂pi ∂pj 2 2 ∂Pj ∂Qj ∂pi ∂ S˜ ∂ S˜ ∂qi = = =− ⇒ =− ∂Qj ∂Qj ∂qi ∂qi ∂Qj ∂qi ∂pi ∂Pj 2 2 ∂Pj ∂Qj ∂Pi ∂ S˜ ∂ S˜ ∂Qi =− =− = ⇒ = , ∂Qj ∂Qj ∂Qi ∂Qi ∂Qj ∂Qi ∂Pi ∂Pj womit man dann findet:  X  ∂F ∂G ∂F ∂G [F , G ]qp = − ∂qi ∂pi ∂pi ∂qi i       X ∂F ∂G ∂qj ∂G ∂Qj ∂F ∂qj ∂F ∂Qj ∂G = + + − ∂qi ∂qj ∂pi ∂Qj ∂pi ∂qj ∂pi ∂Qj ∂pi ∂qi ij       X ∂F ∂G ∂qi ∂G ∂Qi ∂F ∂qi ∂F ∂Qi ∂G ∗ = + + − ∂Qj ∂qi ∂Pj ∂Qi ∂Pj ∂qi ∂Pj ∂Qi ∂Pj ∂Qj ij   X ∂F ∂G ∂F ∂G = − = [F , G ]QP . ∂Qj ∂Pj ∂Pj ∂Qj j

(4.29)

78

HAMILTON-FORMALISMUS

Es sind also alle Poisson-Klammern (auch die fundamentalen) invariant. An der Stelle ∗ haben wir dabei mehrmals Gl. (4.29) ausgenutzt; insbesondere heben sich (nach Ausmultiplizieren) der erste und dritte Term der zweiten Zeile weg, und in der dritten Zeile sind der zweite und vierte Term entgegengesetzt gleich. Der zweite (vierte) Term der zweiten Zeile entspricht dem dritten (ersten) Term der dritten Zeile. Die Tatsache, dass S˜ unserer ‘¨ ublichen’ Funktion entspricht, folgt einfach aus Einsetzen von Gl. (4.27) in Gl. (4.23) und Verwendung von ~q und ~ als Variablen: Q  Z ˜ Z X n  ˜ dS ∂ S˜ dQi ∂ S dqi dτ = + dτ = S˜ + const. . ∂qi dτ ∂Qi dτ dτ i=1

Dies schließt den Beweis ab. 

4.3.4 Alternative Definition der kanonischen Transformation Wir wollen nochmal zusammenfassen, was wir in den letzten Abschnitten gezeigt hatten: ~ q , ~p , t), P(~ ~ q , ~p , t) l¨asst die fundamentaDef: Eine kanonische Koordinatentransformation Q(~ len Poisson-Klammer invariant. 1

⇒ Die Bewegungsgleichungen f¨ ur die neuen Koordinaten haben wieder die einfache Form ˙ ˙ Qi = ∂P K , Pi = −∂Q K . Die neue Hamilton-Funktion K ist im allgemeinsten Fall durch i

i

Gl. (4.23) gegeben; die Funktion S ist hier explizit angegeben. 2

⇒ Der Zusammenhang zwischen K und H l¨asst sich nach Einsetzen einer beliebigen Kurve auch als Gl. (4.25) schreiben. 3

⇒ Der Zusammenhang zwischen K und H l¨asst sich (nun wieder allgemein auf dem Phasenraum) mittels Gl. (4.26) auch u ¨ber eine erzeugende Funktion S˜ schreiben. Weiterhin haben wir nachgewiesen, dass die aus einer ganz beliebigen erzeugenden Funktion via Gl. (4.27) gewonnene Transformation immer kanonisch ist, also die fundamentalen PoissonKlammern invariant l¨asst. Wir wollen nun folgenden Satz formulieren Eine Koordinatentransformation ist genau dann kanonisch, wenn es zu jeder Hamilton-Funktion H eine neue Funktion K gibt, so dass die Bewegungsgleichungen der neuen Koordinaten folgende Form haben: ∂K ∂K Q˙ i = , P˙ i = − . ∂Pi ∂Qi

(4.30)

Beweis: Die ‘Hinrichtung’ hatten wir oben bereits gezeigt: Wenn die fundamentalen PoissonKlammern invariant sind, dann haben die Bewegungsgleichungen in den neuen Koordinaten

4.3. Kanonische Transformationen

79

die Form aus Gl. (4.30) mit geeignet gew¨ahltem K . Wir m¨ ussen also nur die R¨ uckrichtung nachweisen und zeigen: Wenn Gl. (4.30) mit geeignet gew¨ahltem K f¨ ur eine Transformation gilt, dann sind zwangsweise die fundamentalen Poisson-Klammern invariant. Zun¨achst m¨ ussen wir uns Gedanken machen, wie H und K miteinander zusammenh¨angen. Hierzu notieren wir, dass wir in Abschnitt 4.1.2 gezeigt hatten, dass sich der Lagrange-Formalismus aus dem HamiltonFormalismus ableiten l¨asst; ersterer ist aber wiederum aus einem Variationsprinzip ableitbar. Damit gilt: Z q˙ i = ∂pi H, p˙ i = −∂qi H

tb

⇔ δ

hX

ta

Z

Q˙ i = ∂Pi K , P˙ i = −∂Qi K

tb

⇔ δ

i pi q˙ i − H dt = 0

i

hX

ta

i Pi Q˙ i − K dt = 0 .

i

¨ Die Aquivalenz der Bewegungsgleichungen impliziert nun, dass die Integranden bis auf einen Faktor und eine totale Zeitableitung gleich sein m¨ ussen (siehe z.B. die Argumente um Gl. (3.7) herum): X

pi q˙ i − H = c

X

i

i

 dS(~ ~ t) ˜ q , Q, , Pi Q˙ i − K + dt

wobei wir die Konstante per Reskalierung auf c = 1 setzen k¨onnen (sonst landen wir wieder bei den oben erw¨ahnten Transformationen im weiteren Sinn). Dies ist nun aber genau die Form von Gl. (4.25), welches wir dann (nur unter Verwendung der Kettenregel) durch eine Erzeugende wie in Gl. (4.30) ausdr¨ ucken k¨onnen. Damit ist mit den Ergebnissen des letzten Abschnitts die Transformation kanonisch.  Man kann also auch den Satz aus Gl. (4.30) als ¨aquivalente Definition der kanonischen Transformation benutzen; die Invarianz der Poisson-Klammern ist dann eine Folgerung.

4.3.5 Hamilton-Jacobi Gleichung Wie ganz am Anfang erw¨ahnt, kann man versuchen, mittels kanonischer Transformationen neue Koordinaten so zu w¨ahlen, dass m¨ oglichst viele hiervon zyklisch sind. Einen Schritt weiter geht die sog. Hamilton-Jacobi Gleichung, welche ein allgemeines L¨osungsschema f¨ ur ein gegebenes Problem darstellt. Wir wollen dies nun kurz diskutieren. ~ und P ~ so finden, dass die Bewegungsgleichung Idealerweise m¨ ochte man neue Koordinaten Q f¨ ur diese trivial wird: ∂K ! ∂K ! = 0 , P˙ i = − = 0, Q˙ i = ∂Pi ∂Qi



~ ~ Q P(t) ~ ~ P , K = const. . Q(t) =C =C

Ohne Einschr¨ankung der Allgemeinheit k¨onnen wir also K = 0 w¨ahlen. Wenn man also eine kanonische Transformation gefunden hat, welche auf eine neue Hamiltonfunktion K = 0 f¨ uhrt,

80

HAMILTON-FORMALISMUS

so hat man das mechanische Problem gel¨ost. Wir suchen daher eine erzeugende Funktion ~ t) mit der Eigenschaft ˜ q , Q, S(~   ~Q, t ~Q, t ∂ S˜ ~q , C ∂ S˜ ~q , C pi = , K = H(~q , ~p , t) + ∂qi ∂t (4.31)   ∂ S˜ ∂ S˜ ! K = 0 ⇒ H( {qi }, {pi = }, t + = 0. ∂qi ∂t Dies ist eine partielle Differentialgleichung – die sog. Hamilton-Jacobi Gleichung – nur f¨ ur die Variablen qi . Die L¨ osung dieser Gleichung liefert dann die gesuchte kanonische Transformation.

4.4 Liouvillescher Satz In einem zuk¨ unftigen Semester werden Sie die statistische Mechanik kennenlernen. Viele physikalische Systeme bestehen nicht aus einigen wenigen, sondern einer großen Anzahl von unabh¨angigen Teilchen – ein Beispiel daf¨ ur sind die 1023 Teilchen, die sich in einem ‘makroskopischen Volumen’ (bspw. einem Kubikmeter) eines idealen Gases bewegen. Offensichtlich ist es aussichtslos, 1023 gekoppelte Bewegungsleichungen zu l¨osen; gl¨ ucklicherweise interessiert man sich oft aber gar nicht f¨ ur die einzelnen ‘Bahnen’ der Teilchen, sondern nur f¨ ur ‘makroskopische Eigenschaften’ des gesamten Systems wie z.B. dem Druck oder der spezifischen W¨arme. Die statistische Mechanik versucht, Aussagen u ¨ber solche makroskopischen Eigenschaften zu treffen, ohne s¨amtliche 1023 Bewegungsgleichungen l¨osen zu m¨ ussen. Hierbei wird gerade die Tatsache, dass das System aus sehr vielen Teilchen besteht, hilfreich sein (‘Gesetz der großen Zahlen’). Wir wollen in diesem Abschnitt den sog. Liouvilleschen Satz kennenlernen, der statistische Aussagen u ¨ber eine Menge (im mathematischen Sinn) von Bahnkurven trifft. Dieser Satz wird in der statistischen Mechanik eine zentrale Rolle spielen.

4.4.1 Invarianz des Phasenraumvolumens Wir betrachten ein Gebiet G := {(~q , ~p )} ⊂ R2n des Phasenraums; im Sinn der statistischen Mechanik k¨ onnen Sie sich G z.B. als eine Menge verschiedener Anfangsbedigungen von Bahnkurven vorstellen. Das Volumen dieses Gebietes ist dann durch Z dq1 ... dqn dp1 ... dpn VG = G

~ P ~ eine kanonische Transformation, und G ˜ sei das Bild des gegeben. Weiterhin sei ~q , ~p → Q, Gebiets G unter dieser Transformation (Beispiel: wenn G = [0, 2] ⊂ R und X = x 2 , dann ist ˜ = [0, 4]). Das Volumen von G ˜ ist einfach G Z VG˜ = dQ1 ... dQn dP1 ... dPn . ˜ G

4.4. Liouvillescher Satz

81

Man kann nun zeigen, dass VG = VG˜ gilt: Das Volumen eines Gebietes im Phasenraum ist invariant unter einer kanonischen Transformation. Beweis: Wir wollen uns der Einfachheit halber auf n = 1 beschr¨anken. In den Vorlesungen der Mathematik werden Sie lernen, wie man die ‘Substitutionsregel’ aus der Schule Z Z dx f (y ) dy f (x)dx = dy ˜ G G auf mehrdimensionale Integrale im Rn verallgemeinern kann (dies wurde bereits letztes Semester diskutiert). Kurz gesagt wird hierbei einfach der Faktor

dy dx

durch die sog. Funktionaldeter-

minante ersetzt, welche s¨amtliche partielle Ableitungen enth¨alt:  Z

Z f (x1 ... xn )dx1 ... dxn = G

˜ G

∂x1 ∂y1

...

∂x1 ∂yn

...

 . . f (y1 ... yn ) det (F ) dy1 ... dyn , F =   .

∂xn ∂y1



..  .  .

∂xn ∂yn

In unserem Fall liefert diese Formel also Z Z det (F ) dqdp , VG˜ = dQdP = ˜ G

G

und die auftretende Funktionaldeterminante ist gerade Eins, da die Koordinatentransformation kanonisch ist: det (F ) =

∂Q ∂q ∂Q ∂p

∂P ∂q ∂P ∂p

! =

∂Q ∂P ∂P ∂Q − = [Q, P] = 1 . ∂q ∂P ∂q ∂p

Damit gilt VG˜ = VG . 

4.4.2 Bewegung im Phasenraum als kanonische Transformation Eine kontinuierliche Menge von Anfangsbedingungen {(~q0 , ~p0 )} ⊂ R2n von Bahnkurven kann man als Gebiet im Phasenraum interpretieren. Wir wollen nun zeigen, dass das Volumen dieses Gebietes unter den Bewegungsgleichungen zeitlich konstant bleibt: Wenn wir also die Bewegungsgleichung f¨ ur jede der Anfangsbedigungen l¨osen, dann (so behaupten wir) hat das sich bewegende Gebiet {(~q (t), ~p (t))} ⊂ R2n f¨ ur alle Zeiten das gleiche Volumen. Dies ist eine Aussage u ¨ber eine makroskopische Eigenschaft (Volumen im Phasenraum) einer Menge von Bahnkurven und tr¨agt den Namen Liouvillescher Satz: Das Volumen eines Gebiets im Phasenraum ist invariant unter den durch die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen bestimmten Trajektorien.

82

HAMILTON-FORMALISMUS

Beweis: Wir wollen zeigen, dass man die Bewegung entlang einer Bahnkurve als kanonische Transformation auffassen kann; damit w¨are nach den Ergebnissen des letzten Abschnitts der Satz bewiesen. Der Einfachheit halber beschr¨anken wir uns wieder auf den Fall n = 1. Wir betrachten eine Bahnkurve q(t), p(t), die zur Zeit t = 0 durch die L¨osung der Bewegungsgleichungen aus Gl. (4.7) mit der Anfangsbedingung q(0) = q, p(0) = p bestimmt ist. Hierbei sei (q, p) ein beliebiger fester Punkt. Wir definieren nun die folgende Koordinatentransformation: q, p → Q(q, p, t), P(q, p, t) , Q(q, p, t) := q(t) , P(q, p, t) := p(t) . Die q und p – Abh¨angigkeit dieser Transformation kommt aus der (beliebigen) Anfangsbedigung der Bahnkurve; die explizite Zeitabh¨angigkeit kommt aus der Bewegung gem¨aß der Bewegungsgleichung. Wir wollen zeigen, dass die so definierte Transformation kanonisch ist. Zur Zeit t = 0 gilt nat¨ urlich [Q, P] = [q, p] = 1; wenn wir nachweisen k¨onnen, dass ∂t [Q, P] = 0, so ist der Beweis erbracht. Da Q(q, p, t) und P(q, p, t) als Funktion von t per Definition gerade eine Bahn beschreiben, gelten die Bewegungsgleichungen ∂H(Q, P) ∂P ∂H(Q, P) ∂Q = , =− . ∂t ∂P ∂t ∂Q Damit ergibt sich   ∂ ∂ ∂Q ∂P ∂P ∂Q [Q, P] = − ∂t ∂t ∂q ∂p ∂q ∂p         ∂ ∂Q ∂P ∂Q ∂ ∂P ∂ ∂P ∂Q ∂P ∂ ∂Q = + − − ∂q ∂t ∂p ∂q ∂p ∂t ∂q ∂t ∂p ∂q ∂p ∂t         ∂ ∂H ∂P ∂Q ∂ ∂H ∂ ∂H ∂Q ∂P ∂ ∂H = − + − , ∂q ∂P ∂p ∂q ∂p ∂Q ∂q ∂Q ∂p ∂q ∂p ∂P und weiter mit der Kettenregel f¨ ur die einzelnen Terme:    2  ∂ ∂H ∂P ∂ H ∂Q ∂ 2 H ∂P ∂P = + ∂q ∂P ∂p ∂Q∂P ∂q ∂P∂P ∂q ∂p    2  ∂ ∂H ∂Q ∂ H ∂Q ∂ 2 H ∂P ∂Q − =− + ∂p ∂Q ∂q ∂Q∂Q ∂p ∂P∂Q ∂p ∂q    2  ∂ ∂H ∂Q ∂ H ∂Q ∂ 2 H ∂P ∂Q = + ∂q ∂Q ∂p ∂Q∂Q ∂q ∂P∂Q ∂q ∂p    2  ∂ ∂H ∂P ∂ H ∂Q ∂ 2 H ∂P ∂P − =− + . ∂p ∂P ∂q ∂Q∂P ∂p ∂P∂P ∂p ∂q Die Summe dieser Terme verschwindet; es folgt ∂t [Q, P] = 0 und damit die Behauptung. 

5 Kleine Schwingungen Im letzten Semester haben Sie gelernt, wie man die Bewegungsgleichung des mathematischen Pendels l ϑ¨ + g sin ϑ = 0 l¨osen kann, wenn man nur an kleinen Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage ϑ = 0 interessiert ist. Man entwickelt hierzu sin ϑ in eine Taylorreihe um ϑ = 0: sin ϑ = ϑ + O(ϑ2 ) , was einem sofort erlaubt, die Bewegungsgleichung zu l¨osen: l ϑ¨ + g ϑ = 0 ⇒ ϑ(t) = c+ e

iωt

+ c− e

−iωt

r , ω=

g . l

(5.1)

Wir wollen in diesem Kapitel untersuchen, wie man in komplizierteren Situationen analog vorgehen w¨ urde. Dabei wollen wir uns ausschließlich auf konservative Systeme mit holonomskleronomen Zwangsbedingungen beschr¨anken; weiterhin seien die verallgemeinerten Koordinaten nicht explizit zeitabh¨angig, es gelte also ~x = ~x (~q ).

5.1 Gleichgewichtslagen Zun¨achst wollen wir uns Gedanken machen, was die m¨oglichen Gleichgewichtslagen eines allgemeinen Systems sind (analog zur Ruhelage ϑ = 0 des Pendels). Als erstes erinnern wir uns, dass unter den obigen Voraussetzungen die kinetische Energie nach Gl. (2.22) die Form n 1 X ˙ T (~q , ~q ) = Aij (~q )q˙ i q˙ j , 2

Aij (~q ) =

i,j=1

N X k=1

mk

∂~xk (~q ) ∂~xk (~q ) ∂qi ∂qj

(5.2)

hat. Eine Gleichgewichtslage ~q0 ist nun gerade dadurch definiert, dass ~q (t) = ~q0 = const. ⇒ ~q˙ (t) = ~q¨(t) = 0 eine m¨ogliche L¨ osung der Bewegungsgleichung ist. Also muss f¨ ur eine solche L¨osung gelten 0=

d ∂L ∂L d ∂T ∂T d ∂V ∂V − = − − + , dt ∂ q˙ i ∂qi dt ∂ q˙ i ∂qi dt ∂ q˙ i ∂qi | {z } |{z} |{z} ∗

=0

∗∗

=0

∗∗∗

=0

83

84

KLEINE SCHWINGUNGEN

wobei wir an der Stelle ∗ ∗ ∗ verwendet haben, dass das Potential in konservativen Systemen nat¨ urlich nicht von q˙ i abh¨angt. In ∗ ist eingegangen, dass aufgrund der totalen zeitlichen Ableitung nach t in allen Termen q˙ i (t) oder q¨i (t) vorkommen muss, was f¨ ur Gleichgewichtslagen aber gerade verschwindet. Ebenso kommt in ∂qi T wegen Gl. (5.2) stets q˙ i vor, was ∗∗ liefert. Damit haben wir also die – intuitiv sofort ersichtliche – Tatsache gezeigt, dass Gleichgewichtslagen nur an station¨aren Punkten des Potentials ∂V (~q ) =0 ∂qi ~q0

(5.3)

m¨oglich sind.

5.2 Linearisierte Bewegungsgleichung Als n¨achstes wollen wir annehmen, dass ~q0 eine Gleichgewichtslage unseres Systems ist und neue Koordinaten ~η einf¨ uhren, die die Auslenkung aus dieser beschreiben: ~η := ~q − ~q0 ⇒ ~η˙ = ~q˙ .

(5.4)

Wir wollen nun versuchen, vereinfachte Bewegungsgleichungen zu finden, welche g¨ ultig sind, wenn wir uns nur f¨ ur kleine Auslenkungen ~η um ~q0 interessieren. Daf¨ ur entwicklen wir als erstes das Potential V in eine Taylorreihe um die Stelle ~q0 : n n n X X    5.2 ∂V (~q ) 1 X ∂ 2 V (~q ) 3 ∗ 1 ηi ηj + O η = Vij ηi ηj + O η 3 , V ~η = V (~q0 ) + ηi + ∂qi ~q0 2 ∂qi ∂qj ~q0 2 i,j=1 | i,j=1 i=1 {z } =:Vij

wobei wir an der Stelle ∗ verwendet haben, dass wegen Gl. (5.3) die erste Ordnung verschwindet; außerdem haben wir oBdA angenommen, dass der willk¨ urliche Nullpunkt des Potentials so gew¨ahlt sei, dass V (~q0 ) = 0 gilt. Wenn wir bedenken, dass kleine Auslenkungen ~η auch kleine Geschwindigkeiten ~η˙ implizieren, so k¨onnen wir ebenso die kinetische Energie T in eine Taylorreihe entwicklen; der f¨ uhrende Term ist n n n  5.2 1 X  1 X  1 X Aij (~q )q˙ i q˙ j = Aij (~q0 ) η˙ i η˙ j + O η η˙ 2 = Mij η˙ i η˙ j + O η η˙ 2 . T ~η , ~η˙ = 2 2 2 | {z } i,j=1

i,j=1

i,j=1

=:Mij

Damit lautet also die Lagrange-Funktion in f¨ uhrender Ordnung n n  1 X 1 X L ~η , ~η˙ = Mij η˙ i η˙ j − Vij ηi ηj , 2 2 i,j=1

i,j=1

Mij =

N X k=1

mk

∂~xk (~q ) ∂~xk (~q ) ∂ 2 V (~q ) , V = , ij ∂qi ∂qj ~q0 ∂qi ∂qj ~q0 (5.5)

5.3. L¨osungsstrategie

85

und die Bewegungsgleichungen haben die Form n

n

X X ∂L d ∂L − = 0= Mij η¨j + Vij ηj dt ∂ η˙ i ∂ηi j=1

ˆ ~η¨ + V ˆ ~η = 0 , ⇔ M

(5.6)

j=1

ˆ und V ˆ mit Eintr¨agen Mij bzw. Vij eingef¨ wobei wir Matrizen M uhrt haben. Sie sehen bereits, dass diese Gleichung sehr der Bewegungsgleichung Gl. (5.1) des Pendels ¨ahnelt.

5.3 L¨ osungsstrategie Wir wollen nun ein allgemeines L¨ osungsverfahren f¨ ur die n gekoppelten Bewegungsgleichungen ˆ und V ˆ symmetrisch aus Gl. (5.6) ableiten. Hierzu notieren wir zun¨achst, dass die Matrizen M sind, also ˆ =M ˆT , Mij = Mji ⇔ M

ˆ =V ˆT Vij = Vji ⇔ V

ˆ folgt dies unmittelbar aus der Definition in Gl. (5.5), f¨ ˆ muss man noch gilt. F¨ ur M ur V annehmen, dass die zweiten partiellen Ableitungen von V vertauschen (was wir nat¨ urlich in diesem Skript stets stillschweigend voraussetzen). Wir wollen nun kurz einige Eigenschaften symmetrischer Matrizen rekapitulieren, die wir zur L¨osung von Gl. (5.6) ben¨ otigen werden.

5.3.1 Funktionen symmetrischer Matrizen ˆ stets diagonalisierbar Aus der linearen Algebra wissen Sie, dass eine symmetrische Matrix A ist, sich also wie folgt schreiben l¨aßt:  µ1  .. ˆ ˆ  A=U .

  T U ˆ , 

ˆU ˆ T = 1n . U

(5.7)

µn ˆ eine Orthogonalmatrix, die den Wechsel in die Eigenbasis beschreibt. Die EigenHierbei ist U werte µi einer symmetrischen Matrix sind reell. ˆ (oder allgemeiner sogar f¨ F¨ ur jede symmetrische Matrix A ur jede diagonalisierbare Matrix) kann man nun definieren, was die Funktion einer Matrix sein m¨oge:   f (µ1 )  T  .. ˆ := U ˆ U ˆ . f (A) .   f (µn ) Mit anderen Worten ersetzt man einfach jeden Eigenwert µi durch f (µi ).

(5.8)

86

KLEINE SCHWINGUNGEN

ˆ invertieren, und man kann Wenn alle Eigenwerte von Null verschieden sind, so kann man A sich davon u ¨berzeugen, dass die Inverse gerade durch die Funktion finv (x) = 1/x beschrieben ˆ inv (A) ˆ = 1n gilt: wird; wir m¨ ussen also zeigen, dass Af 



µ1 ..

 ˆ finv (A) ˆ =U ˆ A 



..

 T  U ˆ U ˆ  

.



µ−1 1 . µ−1 n 

µn 

 µ−1 1   

µ1 ..

 ˆ =U 

.

..

µ−1 n

µn ˆU ˆT = U ˆTU ˆ = da U

.

 T U ˆ 

 T U ˆ =U ˆU ˆ T = 1n , 

1n gilt. Gleichermaßen gilt f¨ur die Wurzel Aˆ ±1/2 einer Matrix (die man

auf jeden Fall dann sinnvoll definieren kann, wenn alle Eigenwerte positv sind): ˆ 1/2 A ˆ 1/2 = A ˆ −1/2 = A ˆ, A ˆ −1/2 A ˆ −1 . A Schließlich wollen wir noch notieren, dass eine Funktion einer symmetrischen Matrix wieder symmetrisch ist:  h  ˆ T = U ˆ f (A) 

 f (µ1 )  T i T  T T  ..  ˆ U ˆ = U .   | {z } 

f (µ1 ) ..

. f (µn )

ˆ =U

T   U ˆ T = f (A) ˆ ,  f (µn ) (5.9)

ˆC ˆ )T = C ˆTB ˆ T verwendet haben. wobei wir (B

5.3.2 Normalkoordinaten Wir kommen nun zur¨ uck zur L¨ osungsstrategie der Bewegungsgleichungen aus Gl. (5.6). Wir wollen am Ende versuchen, von den Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage ηi zu neuen verallgemeinerten Koordinaten Qi (sog. Normalkoordinaten) u ¨berzugehen, in welchen die n Bewegungsgleichungen aus Gl. (5.6) entkoppeln und dann einfach gel¨ost werden k¨onnen – jede einzelne dieser entkoppelten Gleichungen wird genau die Form der Bewegungsgleichung des Pendels aus Gl. (5.1) haben. Um diese neuen Koordinaten einzuf¨ uhren, untersuchen wir in ˆ und V ˆ diesem Abschnitt einige weitere Eigenschaften der symmetrischen n × n− Matrizen M (erstmal noch ganz ohne Bezug zur Bewegungsgleichung; diesen werden wir erst im n¨achsten Abschnitt herstellen). ˆ einfach die Einheitsmatrix w¨are, so w¨ Kommentar: Wenn die Matrix M urde die Bewegungsgleiˆ ~η = 0 eine Form annehmen, die suggeriert, dass man zur L¨osung ein Eigenwertchung ~η¨ + V ˆ betrachten muss. F¨ ˆ muss man in der Gleichung M ˆ ~η¨ + V ˆ ~η = 0 problem von V ur beliebiges M

5.3. L¨osungsstrategie

87

also in gewisser Weise ein ‘allgemeineres Eigenwertproblem’ diskutieren. Hierbei ist es nicht ˆ −1 zu multizplizieren, da M ˆ −1 V ˆ i.A. keine symmetrische zielf¨ uhrend, einfach von links mit M Matrix mehr ist. All dies motiviert das folgende Vorgehen. ˆ gr¨oßer als Null sein, Da die kinetische Energie strikt positiv ist, m¨ ussen alle Eigenwerte von M was intuitiv klar ist; um dies ganz formal einzusehen, schreibt man T in der Form n 1 1 X ˆ ~η˙ > 0 Mij η˙ i η˙ j = ~η˙ · M T (~η˙ ) = 2 2 i,j=1

ˆ aus: und wertet dies nun f¨ ur einen Eigenvektor ~ni von M ˆ ni = µi ~ni · ~ni ⇒ µi > 0 . 0 < ~ni · M~ | {z } >0

ˆ via Gl. (5.8) Aufgrund der positiven Eigenwerte k¨ onnen wir sinnvoll die Wurzel der Matrix M definieren. Außerdem wollen wir einf¨ uhren ˆM ˆ −1/2 , ˆ := M ˆ −1/2 V W

(5.10)

was wieder eine symmetrische Matrix ist:   −1/2 ˆM ˆ −1/2 = W ˆ , ˆ T [M ˆ −1/2 ]T = M ˆ −1/2 V ˆM ˆ −1/2 T = [M ˆ −1/2 ]T V ˆ ˆT = M V W ˆ und M ˆ und damit nach Gl. (5.9) auch f (M) ˆ symmetrisch sind. Da die Matrix W ˆ da V symmetrisch ist, besitzt sie gerade n reelle Eigenwerte νi , ˆ ~vi = νi ~vi , W

(5.11)

und die n zugeh¨ origen Eigenvektoren ~vi sind linear unabh¨angig und k¨onnen paarweise orthogonal gew¨ahlt werden. Wir f¨ uhren nun weiterhin ein: ˆ −1/2~vi . ~η0i := M

(5.12)

ˆ keine Eigenwerte Null haben kann (der Kern der Matrix ist trivial), kann man (siehe Da M lineare Algebra) zeigen, dass auch die Vektoren ~η0i wieder linear unabh¨angig sind, also eine Basis des Rn bilden. Wir wollen nun den Vektor ~η in die durch ~η0i gegeben Basis entwiP ckeln: ~η = ni=1 Qi ~η0i . Die Gr¨ oßen Qi nennt man Normalkoordinaten; wir notieren nochmal zusammenfassend: ˆ und V ˆ sowie ein Vektor ~η ∈ Rn . Dann Gegeben seien die n ×n−Matrizen M nennt man die n Entwicklungskoeffizienten Qi aus ~η =

n X

Qi ~η0i

(5.13)

i=1

ˆ −1/2~vi (dies sind feste Vektoren), Normalkoordinaten. Hierbei ist ~η0i = M ˆ =M ˆ −1/2 V ˆM ˆ −1/2 . und ~vi ist die Eigenbasis der Matrix W

88

KLEINE SCHWINGUNGEN

5.3.3 Entkopplung der Bewegungsgleichungen Nach den Vor¨ uberlegungen k¨ onnen wir uns jetzt daran machen, die Bewegungsgleichungen zu entkoppeln. Wir wollen dazu von den ηi zu den Normalkoordinaten Qi als n unabh¨angigen Koordinaten zur Beschreibung der Bewegung u ¨bergehen. Konkret setzen wir Gl. (5.13) in die Bewegungsgleichung Gl. (5.6) ein: ˆ ~η¨ + V ˆ ~η 5.13 0=M =

n h n h i i X X 5.12 ˆM ˆ −1/2 ~vi ˆM ˆ −1/2 + Qi V ¨i M ˆ ¨ ˆ Q M Qi ~η0i + V Qi ~η0i = i=1

i=1 5.10

= M 1/2

n h X

n h i i X 5.11 1/2 ¨ ¨ i + Qi νi ~vi . ˆ Q Qi + Qi W ~vi = M

|i=1

i=1

{z

=:∗

(5.14)

}

ˆ 1/2 keine Eigenwerte Null hat (also außer dem Nullvektor selbst keinen Vektor auf den Da M Nullvektor abbildet), folgt, dass ∗ = 0 gelten muss. Da weiterhin alle Vektoren ~vi linear ˆ ), muss jeder einzelne unabh¨angig sind (sie waren ja gerade die Eigenbasis der Matrix W Term aus der Summe in ∗ verschwinden, und wir haben unser Ziel erreicht: Wenn wir Qi als ¨ i + Qi νi = 0 verallgemeinerte Koordinaten verwenden, dann sind die Bewegungsgleichungen Q entkoppelt (voneinander unabh¨angig), und jede einzelne dieser Gleichungen hat die Form der Bewegungsgleichung des Pendels aus Gl. (5.1). Es folgt zusammengefasst: In den in Gl. (5.13) eingef¨ uhrten Normalkoordinaten Qk nimmt die lineariˆ ~η¨ + V ˆ ~η = 0 aus Gl. (5.6) die Form sierte Bewegungsgleichung M ¨ k + νk Qk = 0 , k = 1 ... n Q

(5.15)

an. Dies wird durch νk 6= 0 : Qk (t) = ck+ e i



νk t

+ ck− e −i



νk t

,

νk = 0 : Qk (t) = ck1 t + ck2 (5.16)

gel¨ ost. Die L¨ osung in den urspr¨ unglichen Koordinaten ~η ist durch ~η (t) =

n X

Qk (t) ~η0k

(5.17)

k=1

gegeben. ¨ Man kann also die allgemeine Bewegung des Systems verstehen als Uberlagerung der ‘Schwingungen’ der Normalkoordinaten; die r¨aumliche Form der jeder einzelnen Schwingung ist durch die festen Vektoren ~η0k festgelegt.

5.4. Gekoppelte Oszillatoren

89

Form der Bewegung Wir wollen nun noch kurz diskutieren, welche Form die Bewegung in Abh¨angigkeit von den Werten νk hat: νk > 0:

In diesem Fall beschreibt die Gl. (5.16) einfach eine Schwingung. Solange deren anf¨angliche Amplitude (beschrieben durch ck± ) klein gew¨ahlt ist, ist die

νk < 0:

urpr¨ ungliche Annahme kleiner Auslenkungen gerechtfertigt. p √ Hier gilt exp(±i νk t) = exp(± |νk |t). Dieser Term kann explodieren, also beliebig groß werden, und wir verlassen ab einer bestimmten Zeit den G¨ ultigkeitsbereich unserer N¨aherung. Man bezeichnet dies als instabile Richtung.

νk = 0:

In diesem Fall findet man eine konstante oder linear anwachsende L¨osung.

Kommentar: Man kann zeigen, dass alle Eigenwerte νk genau dann gr¨oßer als Null sind, wenn die Gleichgewichtslage einem Minimum (also keinem Maximum oder station¨aren Punkt) des Potentials entspricht. Anschaulich ist dies klar; auf den mathematischen Beweis wollen wir verzichten. In der Praxis: Wir fassen nochmal zusammen, wie man ein Problem ‘kleiner Schwingungen’ mit dem hier beschriebenen Formalismus l¨osen kann: 1. Finde die m¨ oglich Gleichgewichtslagen ~q0 . F¨ uhre die Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage ~η = ~q − ~q0 als neue Koordinaten ein. ˆ und V ˆ wie in Gl. (5.5). 2. Bestimmte die Matrizen M ˆ −1/2 V ˆM ˆ −1/2 ; definiere 3. Bestimme die Eigenwerte νi und Eigenvektoren ~vi der Matrix M ˆ −1/2~vi . Vektoren ~η0i = M 4. Die Bewegungsgleichung aus Gl. (5.6) wird durch Gl. (5.17) gel¨ost, wobei die Normalkoordinaten Qi sich via Gl. (5.16) bewegen. Die r¨aumliche Form der einzelnen Bewegungen wird durch ~η0k beschrieben.

5.4 Gekoppelte Oszillatoren Wir wollen abschließend ein Beispiel diskutieren. Wir betrachten drei Punktmassen m1,2,3 , die jeweils u ¨ber Hooksche Federn mit Federkonstante K miteinander verbunden seien (siehe Abb. 5.1). Die Punktmassen m¨ ogen sich nur entlang der Richtung ~e1 bewegen d¨ urfen; es gibt also drei verallgemeinerte Koordinaten. Eine Gleichgewichtslage hat man ganz offensichtlich dann, wenn die Federn nicht ausgedehnt oder gestaucht sind und damit keine Kraft aus¨ uben.

90

KLEINE SCHWINGUNGEN

Abbildung 5.1: Drei Punktmassen seien u ¨ber Hooksche Federn mit Federkonstante K verbunden. Die Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage bezeichen wir als ηi . Wir setzen der Einfachheit halber m1 = m3 = 1, m2 = m und K = 1.

Die Auslenkungen aus dieser Gleichgewichtslage wollen wir als drei Koordinaten ηi bezeichen: ~xi = ηi ~e1 + const. . Die kinetische und potentielle Energie haben dann die exakte Form K K m1 2 m2 2 m3 2 η˙ 1 + η˙ 2 + η˙ 3 , V (~η ) = (η1 − η2 )2 + (η2 − η3 )2 . T (~η , ~η˙ ) = 2 2 2 2 2

(5.18)

Wir wollen von nun an der Einfachheit halber m1 = m3 = 1, m2 = m und K = 1 w¨ahlen. ˆ und V ˆ aus Gl. (5.5) bestimmen. In unserem Fall ist Als erstes m¨ ussen wir die Matrizen M dies sehr einfach, da sowohl T und V rein quadratisch sind (die Taylorentwicklung stellt also ˆ und V ˆ einfach keine N¨aherung dar, denn es gibt keine h¨oheren Terme) und man daher M ¨ ablesen kann. Nat¨ urlich kann man (zur Ubung) auch formal die partiellen Ableitungen bilden und ∂~xk /∂ηi = ~e1 δik verwenden, also z.B. 3 3 3 X X X ∂~xk (~η ) ∂~xk (~η ) ∂~xk (~q ) ∂~xk (~q ) = mk ~e1 · ~e1 δik δjk = mi δij . = m Mij = mk k ∂qi ∂qj ~q0 ∂ηi ∂ηj 0 k=1

k=1

k=1

ˆ Analog findet man f¨ ur V V12

∂(η2 − η1 ) ∂ 2 V (~η ) = = = −1 , ∂η1 ∂η2 0 ∂η1 0

und ebenso f¨ ur alle anderen Komponenten. Somit ergibt sich     1 1 −1 0     ˆ =  m  , V = −1 2 −1 . M     1 0 −1 1 Wie bereits erw¨ahnt, h¨atte man dies auch sofort aus Gl. (5.18) ablesen k¨onnen. Nun m¨ ussen ˆ =M ˆ −1/2 V ˆM ˆ −1/2 aufstellen: wir die Matrix W       1 1 −1 0 1 1 −m−1/2 0       ˆ =  m−1/2  −1 2 −1  m−1/2  = −m−1/2 2m−1 −m−1/2  . W       −1/2 1 0 −1 1 1 0 −m 1

5.4. Gekoppelte Oszillatoren ˆ Die Eigenwerte und Eigenvektoren von W   1 1 −m−1/2 0   −m−1/2 2m−1 −m−1/2  m1/2   −1/2 1 0 −m 1

ˆ −1/2 V ˆM ˆ −1/2 findet =M   1 1 0    0 −2m−1/2   = 0 −1 1 0

91

man u ¨ber die Gleichung 1 + 2m−1

1 0 −1



 −2m−1/2 − 4m−3/2   1 + m−1

wie folgt: 

1



  1/2  ν1 = 0 , ~v1 ∼  m  , 1



1



   ν2 = 1 , ~v2 ∼   0 , −1

ˆ −1/2~vi haben die Form und die Vektoren η0i = M     1 1        ~η01 ∼  1 , ~η02 ∼  0  , 1 −1



1



  −1/2  , ν3 = 1 + 2m−1 , ~v3 ∼  −2m  1



1



  −1  ~η03 ∼  −2m  . 1

¨ Nach Gl. (5.16) ist die Bewegung eine Uberlagerung der Bewegungen der drei Normalkoordinaten in den Richtungen ~η0i . Hierbei beschreibt ~η02 eine Schwingung, bei der die mittlere Masse m ruht und die beiden ¨außeren Massen entgegengesetzt schwingen. Bei ~η03 schwingen die ¨außeren Massen gleichf¨ ormig miteinander, die mittlere Masse bewegt sich entgegengesetzt. Schließlich stellt ~η01 einfach eine lineare Bewegung des gesamten Systems dar.

6 Bewegte Bezugssysteme Bevor wir im n¨achsten Kapitel den Hamiltonschen Zugang kennenlernen, wollen wir an dieser Stelle unser Unterfangen, die klassische Mechanik schrittweise umzuformulieren, kurz unterbrechen und uns mit bewegten Bezugssytemen besch¨aftigen. Insbesondere wollen wir die in Nicht-Inertialsystemen auftretenden ‘Scheinkr¨afte’ (ein irref¨ uhrender Begriff!) mathematisch ganz sauber herleiten. Es wird hilfreich sein, sich zun¨achst ganz allgemein (ohne Bezug zur Physik) Gedanken u ¨ber Basistransformation im R3 zu machen, womit wir nun beginnen wollen.

6.1 Basistransformationen Gegeben sei der Vektorraum R3 und darin zwei verschiedene Orthonormalbasen, die wir mit ~ei bzw. ~ei0 bezeichnen wollen. Die Basen sollen die gleiche Orientierung haben, also durch eine reine Drehung (ohne Spiegelung) aufeinander abbildbar sein. Jeden Vektor ~a ∈ R3 kann man bzgl. der Basis ~ei oder ~ei0 entwickeln,

~a =

3 X i=1

ai ~ei =

3 X i=1

ai0~ei0

    a1 a10     0  0  a :=  a2  , a := a2  . a30 a3

Wir bezeichnen mit dem Tupel a die Gesamtheit der drei Komponenten bzgl. ~ei und mit dem ur alle anderen Vektoren). Tupel a0 die Gesamtheit der drei Komponenten bzgl. ~ei0 (und analog f¨ Wenn man nur eine einzige Basis betrachtet, so schreibt man normalerweise kurz ~a = a = (a1 , a2 , a3 )T , was wir bisher konsequent getan haben, was aber eigentlich im mathematischen Sinn schlampig ist: ~a ist ganz allgemein ein Element des zugrundeliegenden Vektorraumes R3 , a hingegen kennzeichnet die drei Komponenten bzgl. einer kartesischen Basis. Da wir hier nun mit zwei verschiedenen Basen ~ei und ~ei0 arbeiten wollen, m¨ ussen wir zwischen ~a und den Darstellungen a und a0 unterscheiden. Kommentar: Gleichermaßen muss man streng genommen stets zwischen linearen Abbildungen ˆ : R3 → R3 und den 3 × 3-Matrizen, welche diese bzgl. einer gegebenen Basis darstellen, A unterscheiden; dies wird f¨ ur unsere Zwecke aber nicht n¨otig sein. Aus der linearen Algebra wissen wir, dass der Basiswechsel zwischen ~ei und ~ei0 durch eine

93

94

BEWEGTE BEZUGSSYSTEME

Abbildung 6.1: Zwei verschiedene Orthonormalbasen im R3 : kartesische ‘Standard-Basis’ {~e1 ,~e2 ,~e3 } und die durch Kugelkoordinaten definierte Basis {~eΘ ,~eϕ ,~er }.

3 × 3-Matrix beschrieben wird: ˆ 0. a = Ba

(6.1)

Da wir angenommen haben, dass sowohl ~ei und ~ei0 Orthonormalbasen mit gleicher Orientierung ˆ eine Orthogonalmatrix mit Determinante Eins ist: sind, weiß man weiterhin, dass B ˆT = B ˆ −1 , det B ˆ =1, B

(6.2)

ˆ T die transponierte Matrix kennzeichnet (Spalten und Zeilen sind vertauscht). In der wobei B ˆ stehen die Komponenten des Basisvektors ~e 0 bzgl. der Basis ~ei . Wir wollen i-ten Spalte von B i

sp¨ater zulassen, dass sich die Basen mit der Zeit relativ zueinander ¨andern k¨onnen; die Matrix ˆ B(t) kann also allgemein von der Zeit t anh¨angen. Beispiel:

Im R3 w¨ahlen wir als ~ei die gew¨ohnliche kartesische Basis und als ~ei0 die durch Kugelkoordinaten gegebene Orthonormalbasis ~e10 = ~eΘ = cos Θ cos ϕ~e1 + cos Θ sin ϕ~e2 − sin Θ ~e3 ~e20 = ~eϕ = − sin ϕ~e1 + cos ϕ~e2

(6.3)

~e30 = ~er = sin Θ cos ϕ~e1 + sin Θ sin ϕ~e2 + cos Θ ~e3 . Dies ist in Abb. 6.1 veranschaulicht. Jeden Vektor ~a ∈ R3 k¨onnen wir bzgl. beider Basen darstellen: ~a = a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 = a10 ~e10 + a20 ~e20 + a30 ~e30 , ˆ welche die Komponenten a = (a1 , a2 , a3 )T in die Komponenten und die Matrix B,

6.1. Basistransformationen a0 = (a10 , a20 , a30 )T umrechnet, ist durch   cos Θ cos ϕ − sin ϕ sin Θ cos ϕ   ˆ =  cos Θ sin ϕ B cos ϕ sin Θ sin ϕ    − sin Θ 0 cos Θ

95

(6.4)

gegeben. Wenn wir z.B. den Vektor ~a = ~e1 betrachten, so hat dieser bzgl. der Basis ~ei die Komponenten a = (1, 0, 0)T und bzgl. der Basis ~ei0 die Komponenten     cos Θ cos ϕ 1     =B ˆ T 0 . ~a = cos Θ cos ϕ ~e10 − sin ϕ ~e20 + sin Θ cos ϕ ~e20 ⇔ a0 =  − sin ϕ     | {z } |{z} | {z } =a10 =−a20 =a30 sin Θ cos ϕ 0 Man kann nun bspw. den Winkel ϕ zeitabh¨angig w¨ahlen und mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ϕ = ωt rotieren lassen; damit ¨andert sich die Basis ~ei0 in der Zeit. Dieses Beispiel werden wir sp¨ater weiter diskutieren, wenn wir das mit der Erde mitbewegte Bezugssystem studieren. F¨ ur die folgende Diskussion werden wir zwei Eigenschaften der zeitabh¨angigen Transformatiˆ onsmatrix B(t) ben¨ otigen, die wir nun kurz herleiten wollen. ˆ T = B(t) ˆ −1 . Dann ist die Matrix A(t) ˆ ˆ ˆ −1 = [∂t B(t)] ˆ ˆ T Lemma 1: Sei B(t) := [∂t B(t)] B(t) B(t) ˆ T = −A(t). ˆ schiefsymmetrisch, erf¨ ullt also die Gleichung A(t) Beweis: Aus Gl. (6.2) folgt ˆ T = B(t) ˆ −1 ⇒ B(t) ˆ B(t) ˆ T = 13 B(t) T ˆ B(t) ˆ T ] = [∂t B(t)] ˆ ˆ T + B(t)[∂ ˆ ˆ ˆ ˆ T ⇒ 0 = ∂t [B(t) B(t) t B(t)] = A(t) + A(t) .



ˆ ist eineindeutig einem Vektor ω Lemma 2: Jede schiefsymmetrische 3 × 3-Matrix A ~ ∈ R3 zugeordnet, und es gilt   ω2 b3 − ω3 b2   ˆ b = ω3 b1 − ω1 b3  =: ω × b A   ω1 b2 − ω2 b1

∀ ~b ∈ R3 ,

wobei ω und b die Komponenten bzgl. einer Orthonormalbasis ~ei kennzeichnen. Beweis: Der Raum der schiefsymmetrischen Matrizen ist dreidimensional, was man leicht durch ˆ T = −A ˆ kann offensichtlich Angabe einer Basis zeigen kann – jede schiefsymmetrische Matrix A als Linearkombination von       0 0 0 0 0 1 0 −1 0        ˆ   ˆ   Eˆ1 =  0 0 −1 , E2 =  0 0 0 , E3 = 1 0 0 0 1 0 −1 0 0 0 0 0

96

BEWEGTE BEZUGSSYSTEME

ausgedr¨ uckt werden. Damit gibt es folgenden eineindeutigen Zusammenhang zwischen einem ˆ Vektor ω ~ und einem schiefsymmetrischen A:   0 −ω3 ω2   ˆ = ω1 Eˆ1 + ω2 Eˆ2 + ω3 Eˆ3 =  ω3  . A 0 −ω 1   −ω2 ω1 0 Es bleibt zu zeigen, dass f¨ ur beliebiges ~b folgendes gilt:      0 −ω3 ω2 b1 ω2 b3 − ω3 b2      ˆ b =  ω3  b2  = ω3 b1 − ω1 b3  . A 0 −ω 1      −ω2 ω1 0 b3 ω1 b2 − ω2 b1



Mit diesen Vor¨ uberlegungen k¨ onnen wir uns nun daran machen, die Newtonsche Gleichung in einem bewegten Bezugssystem aufzustellen.

6.2 Transformation der Newtonschen Gleichung Wie oben bereits mehrfach erw¨ahnt, gilt die Newtonsche Bewegungsgleichung in einem Inertialsystem und ist in festen, kartesischen Koordinaten formuliert. Wir wollen uns nun Gedanken machen, welche Form die Bewegungsgleichung annimmt, wenn wir diese im gleichen Bezugssystem durch zeitabh¨angige kartesische Koordinaten ausdr¨ ucken wollen. Im Prinzip k¨onnten wir hierzu den Lagrange-Formalismus verwenden, welcher ja f¨ ur ganz beliebige (auch zeitabh¨angige) Koordinaten g¨ ultig ist. Es ist aber instruktiv, einen anderen Weg zu gehen und die Newtonsche Gleichung durch Einsetzen der Koordinatentransformation direkt umzuschreiben.

6.2.1 Koordinatentransformation einer Kurve im Raum Wir betrachten zwei Orthonormalbasen ~ei und ~ei0 (t) mit gleicher Orientierung im R3 . W¨ahrend erste fest sei, wollen wir f¨ ur letztere eine beliebige Zeitabh¨angigkeit zulassen, u ¨ber deren Form wir hier noch keine Aussage machen wollen (anschaulich k¨onnen Sie an unser Beispiel aus Abb. 6.1 denken). Wie immer bezeichnen wir mit a und a0 die Komponenten eines Vektors ~a bzgl. dieser beiden Basen. Gegeben sei nun eine beliebige Kurve ~x (t) im Raum, die wir durch zwei verschiedene S¨atze von Koordinaten beschreiben wollen (siehe auch Abb. 6.2): 1. Als ersten Satz von Koordinaten nutzen wir einfach die Komponenten x(t) von ~x (t) bzgl. der festen Basis ~ei . 2. Wir verschieben den Ursprung um einen Vektor ~x0 (t): ~x (t) = ~x0 (t) + ~r (t) ,

6.2. Transformation der Newtonschen Gleichung

97

Abbildung 6.2: Im R3 seien zwei Orthonormalbasen ~ei und ~ei0 (t) gegeben, wobei letztere sich zeitlich ¨andern kann. Dann kann eine beliebige Kurve ~x (t) durch zwei S¨atze von Koordinaten beschrieben werden: (a) den Komponenten x = (x1 , x2 , x3 )T bzgl. der Basis ~ei und (b) den Komponenten r 0 = (r10 , r20 , r30 )T des Vektors ~r = ~x − ~x0 bzgl. der Basis ~ei0 , wobei ~x0 (t) eine beliebige Verschiebung ist.

und verwenden als zweiten Satz von Koordinaten die Komponenten r 0 des Relativvektors ~r (t) bzgl. der zeitabh¨angigen Basis ~ei0 . Nach Gl. (6.1) lassen sich die zwei Koordinatensysteme wie folgt ineinander umrechnen: 0 ˆ x(t) = x 0 (t) + B(t)r (t) ,

ˆ eine Orthogonalmatrix (B ˆT = B ˆ −1 ) mit Determinante Eins ist. Nat¨ wobei B urlich haben wir im Sinn, sp¨ater Kontakt zur Newtonschen Bewegungsgleichung herzustellen; daher berechnen wir die Zeitableitung: 0 ˆ ˆ ˆ r 0 (t) . x(t) ˙ = ∂t [x 0 (t) + B(t)r (t)] = x˙ 0 (t) + [∂t B(t)] r 0 (t) + B(t)˙

ˆ −1 B ˆ = 13 wie folgt umschreiben: Den zweiten Term k¨ onnen wir durch Einf¨ ugen von B   ∗ 0 ˆ ˆ −1 B(t) ˆ ˆ ˆ B(t) r 0 (t) = ω(t) × B(t)r (t) , [∂t B(t)] r 0 (t) = [∂t B(t)] | {z } schiefsymmetrisch

wobei wir an der Stelle ∗ benutzt haben, dass nach Lemma 1 des vorigen Abschnitts die Matrix ˆ ˆ −1 schiefsymmetrisch ist, ihre Wirkung nach Lemma 2 also als Kreuzprodukt mit [∂t B(t)] B(t) einem geeignet gew¨ahlten Vektor ω ~ (t) darstellbar ist. An dieser Stelle ist die anschauliche Bedeutung von ω ~ noch nicht klar. Damit ergibt sich zusammengefasst   0 ˆ ˆ r 0 (t) . x(t) ˙ = x˙ 0 (t) + ω(t) × B(t)r (t) + B(t)˙

(6.5)

98

BEWEGTE BEZUGSSYSTEME

Die zweite zeitliche Ableitung berechnet sich analog (um die Notation u ¨bersichtlich zu halten, unterdr¨ ucken wir die Zeitargumente): n o ˆ 0+B ˆ r˙ 0 x¨ = ∂t x˙ 0 + ω × Br  ˆ 0 + [∂t B ˆ r˙ 0 +B¨ ˆ 0+ω×B ˆ r˙ 0 + ω × [∂t B]r ˆr0 . = x¨0 + ω˙ × Br | {z } | {z } ˆ 0 =ω×Br

(6.6)

ˆ r˙ 0 =ω×B

An dieser Stelle k¨ onnen Sie bereits Terme identifizieren, die der Form der Coriolis- und Zentrifugalkraft ¨ahnlich sehen. Um Gl. (6.5) und Gl. (6.6) nach ¨r 0 auszul¨osen, multiplizieren wir ˆ −1 : mit B h i  ˆ −1 x¨ − x¨0 − 2ω × B ˆ r˙ 0 − ω × ω × Br ˆ 0 − ω˙ × Br ˆ 0 ¨r 0 = B   ˆ −1 x¨ − B ˆ −1 ω˙ × r 0 , ˆ −1 x¨0 − 2ω 0 × r˙ 0 − ω 0 × ω 0 × r 0 − B =B

(6.7)

ˆ l¨angen- und winkelerhaltend ist, wobei wir benutzt haben, dass die Transformationsmatrix B also bswp.   ˆ −1 ω × B ˆ −1 ω] × [B ˆ r˙ 0 ] = ω 0 × r˙ 0 , ˆ r˙ 0 = [B ˆ −1 B B     ˆ −1 ω × ω × Br ˆ 0 = [B ˆ −1 ω] × [B ˆ −1 ω] × [B ˆ −1 Br ˆ 0] = ω0 × ω0 × r 0 B gilt.

6.2.2 Transformation der Newtonschen Gleichung Bis jetzt haben wir nur untersucht, wie sich eine beliebige vorgegebene Kurve ~x (t) im Raum (bzw. ihre zeitlichen Ableitungen) in unseren zwei verschiedenen Koordinatensystemen ausdr¨ ucken l¨asst. Wir nehmen nun an, dass wir uns in einem Inertialsystem befinden und ~x (t) eine physikalische Bahnkurve ist, welche also der Newtonschen Bewegungsgleichung gen¨ ugt. Da x kartesische Koordinaten bzgl. einer festen Basis sind, gilt nat¨ urlich

F (x, x, ˙ t) = m¨ x.

(6.8)

Bezogen auf die bewegten Koordinaten l¨asst sich unter Verwendung von Gl. (6.7) sofort folgendes notieren:

6.2. Transformation der Newtonschen Gleichung

99

Newtonsche Gleichung in bewegten Koordinaten: Gegeben seien zwei gleichorientierte Orthonormalbasen ~ei und ~ei0 (t), von denen sich letztere beliebig zeitlich ¨andern kann. Die Komponenten eines Vektors ~a bzgl. dieser Basen 0 . Wenn nun die Newtonsche ˆ seien die Tupel a und a0 , es gelte a = B(t)a Bewegungsgleichung in Koordinaten x gilt und wir bewegte Koordinaten r 0 mittels 0 ˆ (t) x(t) = x 0 (t) + B(t)r

(6.9)

einf¨ uhren, so hat die Bewegungsgleichung in diesen neuen Koordinaten folgende Form:   ˆ −1 x¨0 − 2mω 0 × r˙ 0 − mω 0 × ω 0 × r 0 − m B ˆ −1 ω˙ × r 0 . m¨r 0 = F 0 (r 0 , r˙ 0 , t) − mB (6.10) Den dritten und vierten Term auf der rechten Seite bezeichnet man auch als Coriolis- bzw. Zentrifugalkraft. Der Vektor ω ~ ist hierbei u ¨ber die Gleichung ˆ ˆ −1 a = ω × a ∀a [∂t B(t)] B(t)

(6.11)

ˆ durch B(t) festgelegt.

Bis jetzt sind Gl. (6.8) und Gl. (6.10) per Definition zueinander ¨aquivalent – wir haben lediglich in einem festen Bezugssystem zwei verschiedene Koordinatensysteme eingef¨ uhrt und dann Gl. (6.8) mathematisch in Gl. (6.10) umgeschrieben. Um eine Aussage dar¨ uber zu machen, wie sich die Newtonsche Gleichung ¨andert, wenn wir in ein bewegtes Bezugssystem u ¨bergehen, m¨ ussen wir an dieser Stelle eine Annahme machen. Gegeben seien zwei Bezugssyteme A und A0 , welche durch eine Zahl von jeweils in ihnen festen Bezugsk¨orpern (und einer Uhr) charakterisiert seien. Mittels der festen K¨orper k¨onnen wir in A und A0 einen Ursprung definieren und Basen ~ei bzw. ~ei0 einf¨ uhren. Vom System A aus betrachtet sei der Ursprungspunkt des Systems A0 um einen Vektor ~x0 (t) verschoben. Wenn nun ein in A0 ruhender Beobachter die Bewegung eines Teilchens bzgl. seiner Basis (Bezugspunkte) durch Koordinaten r 0 (t) beschreibt, so nehmen wir an, dass ein in A ruhender Beobachter 0 (t) beˆ bzgl. seiner Basen (Bezugspunkte) die gleiche Bewegung durch x(t) = x 0 (t) + B(t)r schreiben wird. Mit anderen Worten: Wir nehmen an, dass die physikalische Transformation zwischen zwei Bezugssytemen einfach durch die mathematische Transformation der Koordinatensysteme gegeben ist. Diese Anname gilt streng genommen nur bei Geschwindigkeiten, die klein gegen¨ uber der Lichtgeschwindigkeit sind – allgemeiner wird die Transformation zwischen Bezugssystemen durch die spezielle Relativit¨atstheorie beschrieben.

100

BEWEGTE BEZUGSSYSTEME

Abbildung 6.3: Die Orthonormalbasis ~ei ruht in einem raumfesten Bezugssystem; die Erde rotiert mit einer Winkelgeschwindigkeit Ωt um die ~e3 −Achse. Es sei ~x0 (t) ein fester Punkt der Erdoberfl¨ache; ein an dieser Stelle ruhender Beobachter – der sich also in einem mit der Erde mitbewegten Bezugssystem befindet – wird Bewegungen bzgl. einer f¨ ur ihn ruhenden (aber im raumfesten System bewegten) Basis ~ei0 (t) beschreiben.

6.3 Rotation mit konstanter Winkelgeschwindigkeit In diesem Abschnitt wollen wir schließlich ein wichtiges Beispiel diskutieren – das auf der Erde ruhende Bezugssystem. Hierzu nehmen wir an, dass die Erde eine Kugel mit Radius L ist und mit einer gegebenen Winkelgeschwindigkeit Ω um eine feste Achse rotiert. Ein raumfestes Bezugssystem (in welchem sich die Erde dreht) ist in guter N¨aherung ein Inertialsystem; es sei wie u ¨blich durch die raumfeste Basis ~ei charakterisiert. Den Mittelpunkt der Erde wollen wir an die Stelle x = 0 legen und als Drehachse die ~e3 −Achse w¨ahlen. In den Koordinaten x gilt die Newtonsche Bewegungsgleichung. Wir wollen nun untersuchen, welche Form die Bewegungsleichung in einem an einem festen Punkt auf der Erdoberfl¨ache ruhenden Bezugssystem animmt. Hierzu setzen wir uns auf einen beliebigen Punkt ~x0 (t), der auf der Erdoberfl¨ache fest ist. In Standard-Kugelkoordinaten (siehe auch Abb. 6.3) gilt   sin Θ0 cos(Ωt)    x 0 (t) = L   sin Θ0 sin(Ωt)  , cos Θ0

(6.12)

wobei Θ0 den ‘Breitengrad’ unseres festen Punktes bestimmt. Den zugeh¨origen ‘L¨angengrad’ haben wir willk¨ urlich so gew¨ahlt, dass dieser zur Zeit t = 0 gleich Null ist. Ein am Punkt ~x0 auf der Erde ruhender Beobachter wird zur Beschreibung einer Kurve ~x (t) f¨ ur ihn zeitunabh¨angige Koordinaten w¨ahlen; dies k¨ onnen z.B. die Komponenten des Relativvektors ~r (t) = ~x (t)−~x0 (t) bzgl. der durch Kugelkoordinaten am Punkt ~x0 definierten Orthonormalbasis ~ei0 sein (siehe

6.3. Rotation mit konstanter Winkelgeschwindigkeit

101

wieder Abb. 6.3). Zusammengefasst haben wir also folgende Gr¨oßen eingef¨ uhrt: ~x (t)

beliebige Kurve im Raum

x(t)

Komponenten von ~x (t) bzgl. einer festen Basis ~ei im raumfesten Bezugssystem

~x0 (t) fester Punkt auf der Erdoberfl¨ache [siehe Gl. (6.12)] r 0 (t)

Komponenten des Relativvektors ~r (t) = ~x − ~x0 bzgl. der mitrotierenden ~ei0 (t)

Die Koordinaten h¨angen wie immer durch 0 ˆ x(t) = x 0 (t) + B(t)r (t)

voneinander ab. Die Transformation der Newtonschen Gleichung aus dem raumfesten Bezugssystem in das mit der Erde mitbewegte Bezugssystem ist durch Gl. (6.10) gegeben, wobei die ˆ Matrix B(t) nach Gl. (6.4) folgende Form hat:   cos Θ0 cos(Ωt) − sin(Ωt) sin Θ0 cos(Ωt)   ˆ . B(t) = (6.13) cos Θ sin(Ωt) cos(Ωt) sin Θ sin(Ωt) 0 0   − sin Θ0 0 cos Θ0

6.3.1 Bedeutung des Vektors ω ~ Wir wollen nun konkret die (bisher v¨ ollig unanschauliche) Gr¨oße ω ~ f¨ ur das vorliegende Problem bestimmen; dies geht mittels der Gleichung ˆ ˆ −1 a = ω × a ∀a . [∂t B(t)] B(t) ˆ ˆ −1 berechnen: Also m¨ ussen wir ∂t B(t) und B(t)  − cos Θ0 sin(Ωt) − cos(Ωt)  ˆ ∂t B(t) =Ω  cos Θ0 cos(Ωt) − sin(Ωt) 0 0

− sin Θ0 sin(Ωt)



 ˆ −1 ˆ T sin Θ0 cos(Ωt)  , B(t) = B(t) , 0

und damit unter Ausnutzung von sin(x)2 + cos(x)2 = 1   0 −1 0   ˆ ˆ −1 = Ω 1 0 0 , [∂t B(t)] B(t)   0 0 0 was schließlich folgenden Vektor ω ~ liefert:     0 − sin Θ0      ⇔ ω0 = Ω   ⇔ ω ~ = Ω~e3 . ω=Ω 0 0     1 cos Θ0 Also hat ω ~ in der Tat die physikalische Bedeutung einer Winkelgeschwindigkeit.

102

BEWEGTE BEZUGSSYSTEME

6.3.2 Bewegungsgleichung im mitrotierenden Bezugssystem Wir wollen nun noch kurz zusammenfassen, welche Form die Newtonsche Bewegungsgleichung im mit der Erde mitbewegten Bezugssystem hat. Die allgemeine Form ist nat¨ urlich durch Gl. (6.10) gegeben; da in unserem Fall ω zeitunabh¨angig ist, verschwindet der letzte Term. ˆ −1 x¨0 umzuschreiben; hierf¨ Außerdem k¨ onnen wir Gl. (6.6) verwenden, um den Term mB ur setzen wir in dieser Gleichung einfach zuerst x 0 = 0 und w¨ahlen dann anschließend x = x 0 :   ˆ 00 + 2ω × B ˆ x˙ 00 + ω × ω × Bx ˆ 00 + B ˆ x¨00 = ω × ω × Bx ˆ 00 , x¨0 = 0 + ω˙ × Bx | {z } | {z } |{z} =0

=0

=0

wobei wir verwendet haben, dass x˙ 00 = x¨00 = 0, da sich per Konstruktion die Komponenten des Vektors ~x0 (t) bzgl. der ~ei0 (t) nicht ¨andern. Zusammengefasst finden wir also folgende Bewegungsgleichung im mitrotierenden Bezugssystem:  m¨r 0 = F 0 (r 0 , r˙ 0 , t) − 2mω 0 × r˙ 0 − mω 0 × ω 0 × (r 0 + x 00 ) . Wegen x 0 = r 0 + x 00 und x˙ 00 = x¨00 = 0 k¨onnen wir x˙ 0 = r˙ 0 und x¨0 = ¨r 0 setzen und somit auch im mitbewegten System den Mittelpunkt der Erde als Ursprung des Koordinatensystems w¨ahlen (was man manchmal tut):  m¨ x 0 = F 0 (x 0 , x˙ 0 , t) − 2mω 0 × x˙ 0 − mω 0 × ω 0 × x 0 .

(6.14)

Nat¨ urlich h¨atten wir das gleiche Ergebnis auch bekommen, indem wir direkt in Gl. (6.10) x 0 = 0 und r 0 = x 0 gesetzt h¨atten.

7 Starrer Ko ¨rper In diesem Kapitel wollen wir einige Aspekte der Newtonschen Mechanik kontinuierlicher Systeme diskutieren. Insbesondere wollen wir den starren K¨orper, den Sie bereits in der Vorlesung des letzten Semesters kennengelernt haben, nochmal auf allgemeinere, formalere Weise studieren. Als Hilfsmittel f¨ uhren wir zun¨achst eine neue, ungemein elegante Art ein, mit Vektoren und Matrizen im R3 (oder allgemeiner im

Cn ) umzugehen – die Dirac-Notation. Diese ist

das ‘Standard-Handwerkszeug’ der Quantenmechanik und wird sicher auch im kommenden Semester nochmal erl¨autert werden; als Vorgriff haben Sie hier die Gelegenheit, sich mit ihr in bekanntem Terrain vertraut zu machen.

7.1 Dirac-Notation Hilbertr¨ aume Wir erinnern uns zun¨achst an ein paar elementare Konzepte der linearen Algebra und Analysis: Einen komplexen Vektorraum

V mit einem Skalarprodukt s : V × V → C

bezeichnet man als unit¨aren Raum. In einem unit¨aren Raum kann man die Norm (L¨ange) sowie den Abstand von Vektoren wie folgt definieren: ||x|| :=

p

s(x, x) , d(x, y ) := ||x − y || .

Wenn man weiß, welchen Abstand Vektoren haben, so kann man weiterhin den Begriff von Konvergenz erkl¨aren: Ein Raum heißt vollst¨andig, wenn jede Cauchyfolge gegen ein Element des Raumes konvergiert. Einen vollst¨andigen unit¨aren R¨aum nennt man auch Hilbertraum H. Im Folgenden werden wir stets den Raum H =

Cn mit dem Standard-Skalarprodukt w¨ahlen;

man kann leicht zeigen, dass dieser vollst¨andig und damit ein Hilbertraum ist. Die Dimension n

103

104

¨ STARRER KORPER

spielt nirgends eine Rolle, und in der Diskussion des Tr¨agheitstensors werden nur reelle Vektoren auftreten. Wenn Ihnen der

Cn zu ‘unanschaulich’ ist, k¨onnen Sie also an jeder Stelle auch

einfach an Vektoren im H = R3 denken (und die ggf. in Gleichhungen auftauchende komplexe Konjugation weglassen). Wir arbeiten also stets im vertrauten Raum

Cn (oder R3 ) und ver-

wenden das große Wort ‘Hilbertraum’ erg¨anzend nur deshalb, weil die Quantenmechanik, die Sie in K¨ urze kennenlernen werden, in Hilbertr¨aumen lebt. F¨ ur Experten: In den Vorlesungen der Mathematik haben Sie sicher eine Vielzahl weiterer Raumbegriffe kennengelernt; um den Unterschied zu Hilbertr¨aumen herauszustellen, ist es sinnvoll, diese kurz zu rekapitulieren. Es gibt Normen, die sich nicht aus einem Skalarprodukt erzeugen lassen; mit einer Norm versehene Vektorr¨aume nennt man normierte R¨aume, vollst¨andige normierte R¨aume sind Banachr¨aume. Genauso gibt es Abstandsbegriffe (Metriken), die nicht aus einer Norm gewonnen werden k¨onnen. Die Vollst¨andigkeit der

Cn ist im

Wesentlichen einfach die Vollst¨andigkeit der reellen Zahlen, die sich recht leicht auf endlich viele Dimensionen vererbt; erst im unendlichdimensionalen Fall werden Dinge delikat. Vektoren und Skalarprodukte in Dirac-Notation Wie oben bereits erw¨ahnt wollen wir nun eine neue Notation f¨ ur Vektoren, Skalarprodukte und lineare Abbildungen einf¨ uhren. Es ist wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass an keiner Stelle neue mathematische Konzepte auftauchen werden – die Dirac-Notation ist lediglich eine sehr elegante Art und Weise, die lineare Algebra auf einem unit¨aren Raum zu formulieren. Als erstes f¨ uhren wir ein: Elemente des Hilbertraums H = Cn (oder anschaulicher H = R3 ) bezeichnen wir im Folgenden als |xi, Multiplikation mit einer komplexen Zahl µ ˆ notieren wir als µ|xi bzw. A|xi. ˆ und Anwendung linearer Abbildungen A Das Skalarprodukt zweier Vektoren |xi und |y i schreiben wir in der Form hx|y i. Es ist instruktiv, die Eigenschaften eines Skalarprodukts in Dirac-Notation zu rekapitulieren: 1. Positivit¨at: hx|xi ≥ 0 und hx|xi = 0 genau dann, wenn |xi der Nullvektor ist. 2. Verhalten unter komplexer Konjugation: hx|y i = hy |xi∗ .

7.1. Dirac-Notation

105

3. Linearit¨at: F¨ ur |y i = λ1 |y1 i + λ2 |y2 i und λi ∈ C gilt hx|y i = λ1 hx|y1 i + λ2 hx|y2 i . Hieraus folgt direkt, dass das Skalaprodukt antilinear im ersten Argument sein muss, denn f¨ ur |y i = λ1 |y1 i + λ2 |y2 i ergibt sich  ∗ hy |xi = hx|y i∗ = λ1 hx|y1 i + λ2 hx|y2 i = λ∗1 hx|y1 i∗ + λ∗2 hx|y2 i∗ = λ∗1 hy1 |xi + λ∗2 hy2 |xi . Man kann nun den Objekten hx| eine eigenst¨andige Bedeutung geben:

F¨ ur gegebenes |xi sei hx| das lineare Funktional, welches jedem Element eines Hilbertraums H =

Cn (oder anschaulicher H = R3 ) wie folgt eine

komplexe Zahl zuordnet: hx| : H → C , |y i → hx|y i .

(7.1)

Die Linearit¨at dieser Abbildung folgt dabei sofort aus der Linearit¨at des Skalarprodukts. Die in Gl. (7.1) definierte Abbildung liefert also angewandt auf beliebiges |y i einfach das Skalarprodukt mit dem vorgegebenen Vektor |xi; damit kann hx| wieder als Element des urspr¨ unglichen Raums interpretiert werden, und man kann die Addition zweier Elemente und die Multiplikation mit einer komplexen Zahl wie u ¨blich erkl¨aren: |xi = λ1 |x1 i + λ2 |x2 i ⇒ hx| : |y i → hx|y i = λ∗1 hx1 |y i + λ∗2 hx2 |y i .

(7.2)

Da die Notation hx|y i suggeriert, diese Gr¨oße als ‘bra-ket’ (Klammer) zu bezeichnen, nennt man hx| auch ‘bra-Vektoren’ und |xi ‘ket-Vektoren’ oder k¨ urzer noch bra’s und ket’s. F¨ ur Experten: Man kann obige Aussage wie folgt mathematisch pr¨azisieren: hx| ist ein lineares Funktional auf H und damit ein Element des dualen Vektorraums; man kann zeigen, dass der Dualraum jedes Hilbertraum isomorph zu dem Raum selbst ist und daher hx| wieder als Element des urspr¨ unglichen Raums auffassen. Lineare Operatoren In v¨olliger Analogie kann man lineare Abbildungen eines Hilbertraums auf sich selbst wie folgt definieren

106

¨ STARRER KORPER Auf einem Hilbertraum H =

Cn (oder anschaulicher H = R3 ) sei f¨ur

gegebenes |y i und |xi eine lineare Abbildung wie folgt definiert: |xihy | : H → H , |zi → |xihy |zi .

(7.3)

Die Linearit¨at folgt auch hier direkt aus der Linearit¨at des Skalarprodukts. Die Abbildung |xihy | bildet also einen Vektor |zi auf einen Vektor |xi multipliziert mit der komplexen Zahl hy |zi ab. Wieder kann man Summen von Abbildungen und Multiplikationen mit komplexen Zahlen erkl¨aren: X X X |xi = λi |xi i, |y i = µj |yj i ⇒ |xihy | : |zi → λi µ∗j |xi ihyj |zi i

j

ij

⇒ |xihy | =

X

(7.4)

λi µ∗j |xi ihyj | .

ij

Genauso erh¨alt man die Multiplikation zweier Abbildungen wie folgt:   ˆ = |x1 ihy1 | , B ˆ = |x2 ihy2 | ⇒ A ˆ B|zi ˆ A = |x1 ihy1 | |x2 ihy2 |zi = |x1 ihy1 |x2 ihy2 |zi ˆB ˆ = |x1 ihy1 |x2 ihy2 | = hy1 |x2 i|x1 ihy2 | . ⇒ A

(7.5)

Eine ungemein wichtige Identit¨at ist die ‘Zerlegung der Eins’. Wenn |ei i eine beliebige Orthogonalbasis ist, so gilt

1=

X

|ei ihei | .

(7.6)

i

Um die G¨ ultigkeit dieser Gleichung zu zeigen, betrachten wir einen beliebigen Vektor |ai und entwicklen diesen in die Basis |ei i: X X X X aj |ej i = |ai .  |ai = aj |ej i ⇒ 1|ai = |ei ihei |ai = aj |ei i hei |ej i = | {z } j

i

ij

=δij

j

Damit k¨onnen wir als n¨achstes zeigen/definieren: ˆ : H → H auf dem Hilbertraum H = Cn Jede beliebige lineare Abbildung A (oder anschaulicher H = R3 ) l¨asst sich in der Form ˆ= A

X

ˆ ji Aij |ei ihej | Aij = hei |A|e

(7.7)

ij

schreiben. Lineare Abbildungen im Allgemeinen wollen wir im Folgenden auch als lineare Operatoren bezeichnen. Beweis: Unter Verwendung von Gl. (7.6) finden wir X X ˆ = 1A ˆ1 = ˆ j ihej | = A |ei ihei |A|e Aij |ei ihej | . ij

ij



7.2. Eigenschaften des starrer K¨orpers

107

Wir wiederholen kurz: ˆ † eines Operators ist definiert als Die Adjungierte A ˆ † |y i = hy |A|xi ˆ ∗ hx|A

∀ |xi, |y i .

(7.8)

ˆ =A ˆ † gilt. Ein Operator heißt selbstadjungiert, falls A ˆ † der transponierten und komplex In der Ihnen bekannten Sprache von Matrizen entspricht A konjugierten Matrix, was man wie folgt einsieht:   ˆ † |ej i = hej |A|e ˆ i i∗ = Aji ∗ . A† ij = hei |A Außerdem rechnet man leicht nach, dass f¨ ur die Adjungierte gilt  †     ha| |xihy | |bi =hb| |xihy | |ai∗ = hb|xi∗ hy |ai∗ = ha|y ihx|bi = ha| |y ihx| |bi ⇒

 † |xihy | = |y ihx|

(7.9)

sowie ˆ ˆ ∗ = hx|A ˆ † |zi ⇒ hy | = hx|A ˆ† . |y i = A|xi ⇒ hy |zi = hz|y i∗ = hz|A|xi

(7.10)

Kommentar: Streng genommen bedeutet selbstadjungiert, dass ein Operator hermitesch (symˆ † den gleichen Definitionsbereich wie A ˆ hat. Wenn man diesen (nur auf metrisch) ist und A unendlichdimensionalen R¨aumen relevanten) Aspekt außer Acht l¨asst, kann man also bei selbstˆ immer an hermitesche (symmetrische) Operatoren (‘Matrizen’) denken. adjungierten A Ausgestattet mit der Dirac-Notation als Hilfsmittel k¨onnen wir uns nun der Diskussion des starren K¨orpers zuwenden.

7.2 Eigenschaften des starrer K¨ orpers Als starren K¨orper bezeichnet man eine Zahl N von Punktmassen mk mit Ortsvektoren ~xk und paarweise konstantem Abstand. Um seine Bewegung zu beschreiben, ist es sinnvoll, wie in Abschnitt 6.2 zwei verschiedene Koordinatensysteme zu w¨ahlen: 1. Mit x k bezeichen wir ein System kartesischer Koordinaten bzgl. einer im Raum ruhenden Basis ~ei und mit festem Ursprung im Nullpunkt. 2. Wir w¨ahlen einen beliebigen Bezugspunkt ~x0 (welcher sich im Raum bewegen kann) als neuen Ursprung und weiterhin eine zeitabh¨angige Basis ~ei0 so, dass die Koordinaten r 0k der Relativvektoren ~rk = ~xk − ~x0 aller Massepunkte sich nicht ¨andern, also r˙ 0k = 0 gilt. Durch Angabe des bewegten Ursprungs (‘Bezugspunkt’) sowie der bewegten Basis definieren wir also ein k¨ orperfestes System kartesischer Koordinaten.

108

¨ STARRER KORPER

Nach Gl. (6.1) h¨angen beide Koordinatensysteme wie folgt zusammen: ˆ 0 , x k = x 0 + Br k ˆ gerade die Komponenten von ~e 0 bzgl. der Basis ~ei sind. Sowohl wobei die Spalten der Matrix B i ˆ sind an dieser Stelle noch unbekannt; beide Gr¨oßen werden erst sp¨ater durch x 0 wie auch B Angabe von Bewegungsgleichungen festgelegt, an dieser Stelle wissen wir nur, dass sie so gew¨ahlt seien, dass r˙ 0k = 0 gilt (also alle Punkte des K¨orpers in Ruhe sind). Da sowohl x k wie auch r 0k Tupel von drei Zahlen sind (und damit in einem Raum leben, der isomorph zum R3 ist), kann man obige Gleichung auch als Gleichung f¨ ur Elemente im Hilbertraum H = R3 auffassen und in Dirac-Notation wie folgt schreiben: ˆ 0i. |xk i = |x0 i + B|r k

(7.11)

Es ist wichtig, sich im Rest dieses Kapitels stets daran zu erinnern, dass wir mit reellen Vektoren ˆ l¨asst sich wie immer in arbeiten, also z.B. hxk |r 0 i∗ = hr 0 |xk i = hxk |r 0 i gilt. Die Abbildung B k

k

k

der Form ˆ = B

X

Bij |ei ihej0 |

ij

schreiben. Die Geschwindigkeit eines Massepunktes rechnet man mittels Gl. (6.5) um: ˆ 0i, ˆ r 0 i = |x˙ 0 i + |ωi × B|r ˆ 0 i + B|˙ |x˙ k i = |x˙ 0 i + |ωi × B|r k k k

(7.12)

wobei wir benutzt haben, dass im k¨ orperfesten System per Konstruktion |˙rk0 i = 0 gilt. Letztlich wollen wir zur sp¨ateren Verwendung den Vektor des Schwerpunkts (im raumfesten bzw. im k¨orperfesten System) einf¨ uhren: N N 1 X 1 X 0 |xS i := mk |xk i , |rS i := mk |rk0 i . M M k=1

(7.13)

k=1

Kommentar 1: F¨ ur N  1 ist es oft praktisch, mit einer Massendichte ρ(~x ) zu arbeiten; in diesem Fall werden alle diskreten Summen in diesem Kapitel einfach durch Integrale ersetzt: Z N X mk −→ d~x ρ(~x ) . k=1

Kommentar 2: Manche Autoren verwenden nicht den Begriff verschiedener Koordinatensysteme (beschrieben durch x und r 0 ), sondern arbeiten mit raum- und k¨orperfesten Bezugssystemen und kennzeichnen Vektoren in beiden Systemen durch ~x bzw. ~r 0 . Da wie oben erw¨ahnt der Raum der Koordinaten-Tupel isomorph zum R3 ist, ist dies nur eine andere Art, dieselben ˆ 0 schreibt mathematischen Zusammenh¨ange physikalisch zu interpretieren; statt x k = x 0 + Br k

ˆ r 0 bzw. Gl. (7.11) in Dirac-Notation; beide Gleichungen leben man also einfach ~xk = ~x0 + B~ k auf gleichen (bzw. zueinander isomorphen) R¨aumen.

7.2. Eigenschaften des starrer K¨orpers

109

7.2.1 Tr¨ agheitstensor Wir werden in den folgenden Abschnitten zeigen, dass die physikalischen Eigenschaften des starren K¨ orpers durch folgende Gr¨ oße charakterisiert werden k¨onnen: Gegeben seien N Punktmassen mk mit Ortsvektoren |rk0 i. Dann nennt man den linearen Operator ˆ := Θ

N X

  mk hrk0 |rk0 i1 − |rk0 ihrk0 |

(7.14)

k=1

den Tr¨agheitstensor des Systems. Kommentar 1: Im Rest dieses Abschnitts wird noch an keiner Stelle eingehen, dass die Vektoren |rk0 i zeitunabh¨angig sind; der Tr¨agheitstensor kann gem¨aß Gl. (7.14) in beliebigen Bezugssystemen definiert werden, und |rk0 i sind einfach die dortigen Ortsvektoren der Massepunkte. Erst ˆ ausdr¨ wenn wir in Abschnitt 7.2.2 die kinetische Energie und den Drehimpuls durch Θ ucken, werden wir verwenden, dass |r˙k0 i = 0 gilt; da dies nat¨ urlich der in der Praxis relevanteste Fall ist, geben wir bereits an dieser Stelle den Ortsvektoren die Namen |rk0 i. Kommentar 2: Die Definition des Tr¨agheitstensors aus Gl. (7.14) ist basisunabh¨angig. Dies ist ein großer Vorteil der Dirac-Notation. Wenn wir die Matrixelemente bzgl. einer Basis|ei0 i berechnen, so sehen wir, dass diese die aus dem letzten Semester bekannte Form haben: ˆ j0 i = Θij = hei0 |Θ|e

N X

N i h i X h 0 0 rk,j mk hrk0 |rk0 iδij − rk,i mk hrk0 |rk0 ihei0 |ej0 i − hei0 |rk0 ihrk0 |ej0 i = k=1

k=1

 N r 2 + r 2 X k,l1 k,l2 = mk −r r k=1 k,i k,j

i = j 6= l1 6= l2 i 6= j .

Gleiches gilt f¨ ur das wie folgt definierte Tr¨agheitsmoment bezogen auf eine Achse |ni mit hn|ni = 1: ˆ Θ~n : = hn|Θ|ni =

N X

h i mk hn|nihrk0 |rk0 i − hn|rk0 ihrk0 |ni

k=1

=

N X k=1

N h i X mk hrk0 |rk0 i − hn|rk0 i2 = mk ρ2k . k=1

Hierbei ist ρk der senkrechte Abstand der Masse mk zur dieser Achse.

(7.15)

¨ STARRER KORPER

110

Hauptachsen Man kann leicht zeigen, dass der lineare Operator aus Gl. (7.14) selbstadjungiert ist: ˆ† = Θ

N X

N h i† X h i ˆ, mk hrk0 |rk0 i1 − |rk0 ihrk0 | = mk hrk0 |rk0 i1 − |rk0 ihrk0 | = Θ

k=1

k=1

wobei wir ausgenutzt haben, dass hrk0 |rk0 i∗ = hrk0 |rk0 i sowie (|rk0 ihrk0 |)† = |rk0 ihrk0 | gilt. Folglich ˆ diagonalisieren: kann man Θ X ˆ = Θ Θi |˜ ei ih˜ ei | . (7.16) i

ˆ diagonal ist, nennt man auch Hauptachsen. Die Eigenwerte Θi Die Basis |˜ ei i, in welcher Θ sind rell; es muss sogar Θi ≥ 0 gelten (der Tr¨agheitstensor ist positiv semidefinit), was man wie folgt einsieht: ∗

ˆ e1 i ≥ 0 . Θ1 = Θ1 h˜ e1 |˜ e1 i = h˜ e1 |Θ|˜ Im Schritt ∗ haben wir Gl. (7.15) mit |ni = |˜ e1 i benutzt (die rechte Seite dieser Gleichung ist immer positiv). Satz von Steiner Um uns weiter mit der Dirac-Notation vertraut zu machen, wollen wir kurz die Herleitung des Satzes von Steiner wiederholen. Wir wollen zun¨achst zeigen, dass folgendes gilt:   ˆ =Θ ˆ S + M hr 0 |r 0 i1 − |r 0 ihr 0 | , Θ S S S S

(7.17)

ˆ S der Punkt |r 0 i wobei |rS0 i der Ortsvektor des Schwerpunkts ist und in der Definition von Θ S als der Urspung des Koordinatensystems gew¨ahlt sei. Beweis: Die Urspungsverschiebung wird durch |zk0 i := |rk0 i − |rS0 i beschrieben. Damit gilt (wir unterdr¨ ucken die ˆ = Θ

=

N X k=1 N X

mk

1 in der Notation) h

   i hzk0 | + hrS0 | |zk0 i + |rS0 i − |zk0 i + |rS0 i hzk0 | + hrS0 |

h i mk hzk0 |zk0 i + 2hrS0 |zk0 i + hrS0 |rS0 i − |zk0 ihzk0 | − |zk0 ihrS0 | − |rS0 ihzk0 | − |rS0 ihrS0 |

k=1 ∗

=

N X

h i   ˆ S + M hr 0 |r 0 i − |r 0 ihr 0 | . mk hzk0 |zk0 i + hrS0 |rS0 i − |zk0 ihzk0 | − |rS0 ihrS0 | = Θ S S S S

k=1

Hierbei haben wir an der Stelle ∗ ausgenutzt, dass X

mk |zk0 i =

X

X   mk |rk0 i − |rS0 i = M|rS0 i − M|rS0 i = 0 ⇒ mk hzk0 | = 0 . 

7.2. Eigenschaften des starrer K¨orpers

111

Es sei nun ~n eine beliebige Achse. Dann gilt f¨ ur die Tr¨agheitsmomente   ˆ S + Mhr 0 |r 0 i − M|r 0 ihr 0 | |ni = hn|Θ ˆ S |ni + Mhr 0 |r 0 i − Mhn|r 0 i2 hn|Θ|ni = hn| Θ S S S S S S S ˆ S |ni + Mρ2 , = hn|Θ wobei ρ der bzgl. |ni senkrechte Abstand von |rS0 i zum Ursprung ist. Dies ist die Ihnen bekannte Form des Satzes von Steiner.

7.2.2 Kinetische Energie und Drehimpuls Wir wollen nun zeigen, dass sich wichtige physikalische Eigenschaften des starren K¨opers elegant mit Hilfe des Tr¨agheitstensors ausdr¨ ucken lassen. Hierzu setzen wir von jetzt an stets voraus, dass die Vektoren |rk0 i in Gl. (7.14) zeitunabh¨angig sind. Der Zusammenhang zwischen diesem k¨orperfesten System und einem raumfesten System ist durch Gl. (7.11) gegeben; u ¨ber ˆ die dort auftretenden Gr¨ oßen |x0 i und B wissen wir an dieser Stelle nur, dass diese so gew¨ahlt ur alle Zeiten in Ruseien, dass |r˙k0 i = 0 gilt, also die Masspunkte im k¨orperfesten System f¨ he sind. Da die k¨ orperfesten Vektoren |rk0 i via Gl. (7.11) von der Wahl des Ursprungs |x0 i ˆ der Tr¨agheitstensor ist also im Folgenden ‘auf den Punkt |x0 i abh¨angen, gilt dies auch f¨ ur Θ; bezogen’. Kinetische Energie Die kinetische Energie eines Systems aus N] Punktmassen hat die allgemeine Form T =

N X mk k=1

=

2

hx˙ k |x˙ k i =

N X mk h k=1

i  0 ˆ hx˙ 0 |x˙ 0 i + 2hx˙ 0 | |ωi × B|rk i + hvk |vk i | {z } 2

 M ˆ 0i + hx˙ 0 |x˙ 0 i + Mhx˙ 0 | |ωi × B|r S 2

=:|vk i

N X k=1

mk hvk |vk i , 2

wobei wir im ersten Schritt Gl. (7.12) eingesetzt und außerdem Gl. (7.10) benutzt haben. Der zweite Term in der Gleichung f¨ ur T ist die sog. ‘wechselseitige Energie’. Diese verschwindet, falls |x˙ 0 i = 0, also der Bezugspunkt ruht oder auch wenn |x0 i der Schwerpunkt ist, also |rS0 i = 0 gilt – dies sind beiden in der Praxis relevantesten F¨alle. Die sog. Rotationsenergie Trot kann man mit Hilfe der Identit¨at (~a × ~b)2 = ~a2~b 2 − (~a · ~b)2 wie folgt umschreiben: Trot :=

=

N X mk

k=1 N X k=1

2

hvk |vk i =

N i X mk h ˆ † B|r ˆ 0 i − hω|B|r ˆ 0 i2 hω|ωihrk0 |B k k 2 k=1

N i X i mk h ˆ ˆ † mk h 0 0 0 0 hω|B B |ωihrk0 |rk0 i − hω 0 |rk0 i2 = hω |ω ihrk |rk i − hω 0 |rk0 i2 2 2

1 ˆ 0i , = hω 0 |Θ|ω 2

k=1

112

¨ STARRER KORPER

ˆB ˆ † = 1 verwendet haben. Damit finden wir zusammengefasst: wobei wir B Die kinetische Energie des starren K¨orpers hat die Form (i) T =

M 1 ˆ 0i , hx˙ S |x˙ S i + hω 0 |Θ|ω 2 2

1 ˆ 0i , (ii) T = hω 0 |Θ|ω 2

(7.18)

wenn der Ursprung |x0 i des k¨orperfesten Systems (i) der – ggf. bewegte – Schwerpunkt ist oder (ii) im raumfesten System ruht, also der Punkt |x0 i sich nicht bewegt. ˆ (also den Hauptachsen) Kommentar: Wenn die Basis |ei0 i mit den Eigenvektoren von Θ u ¨bereinstimmt, so gilt h i 1 ˆ 0 i = 1 Θ1 (ω10 )2 + Θ2 (ω20 )2 + Θ3 (ω30 )2 . Trot = hω 0 |Θ|ω 2 2 Drehimpuls Der Drehimpuls bezogen auf den Ursprung des raumfesten Systems (~xL = 0) hat die Form: |Li =

N X

mk |xk i × |x˙ k i =

k=1

N X

mk

h

 i ˆ 0i ˆ 0 i × |x˙ 0 i + |ωi × B|r |x0 i + B|r k k

k=1

 ˆ 0 i + |LS i , = M|xS i × |x˙ 0 i + M|x0 i × |ωi × B|r S wobei wir wieder Gl. (7.11) und Gl. (7.12) eingesetzt haben. Der zweite Term verschwindet, wenn der Urspung des k¨ orperfesten Systems der Schwerpunkt ist (|rS0 i = 0) oder mit dem Ursprung des raumfesten Systems u ¨bereinstimmt (|x0 i = 0). Den dritten Term bezeichnet man als Eigendrehimpuls und kann ihn unter Vewendung der ‘bac-cab Regel’ ~a × (~b × ~c ) = ~b(~a · ~c ) − ~c (~a · ~b) durch den Tr¨agheitstensor ausdr¨ ucken: |LS i : =

N X

N i h  X 0 0 ˆ† 0 ˆ† ˆ 0 ˆ ˆ 0 i × |ωi × B|r ˆ 0i = | B |ωi ihr | B B|r i − B|r |ωihr m mk B|r k k k k k k k

k=1 N X

ˆ =B

k=1

i ˆ Θ|ω ˆ 0i . mk |ω 0 ihrk0 |rk0 i − |rk0 ihrk0 |ω 0 i = B h

k=1

Damit gilt zusammengefasst: Der Drehimpuls eines starren K¨orpers hat die Form ˆ Θ|ω ˆ 0i , (i) |Li = M|xS i × |x˙ S i + B

ˆ Θ|ω ˆ 0i , (ii) |Li = B

(7.19)

wenn der Ursprung |x0 i des k¨orperfesten Systems (i) der – ggf. bewegte – Schwerpunkt ist oder (ii) mit dem Ursprung des raumfesten Systems u ¨bereinstimmt, also der Punkt |x0 i = 0 sich nicht bewegt. Die zwei Terme in (i) bezeichnet man auch als Bahn- und Eigendrehimpuls.

7.2. Eigenschaften des starrer K¨orpers

113

Kommentar 1: Wenn bei der Bewegung ein Punkt des K¨orpers (oBdA der Ursprung |x0 i = 0) im raumfesten System festgehalten wird, so folgt aus der Kombination von Gl. (7.18) und Gl. (7.19): 1 ˆ 0 i = 1 hω 0 |B ˆ † |Li = 1 hω 0 |L0 i = 1 hω|Li . T = hω 0 |Θ|ω 2 2 2 2

(7.20)

Kommentar 2: Der Bahndrehimpuls |LS i und die Winkelgeschwindigkeit |ωi sind genau dann parallel zueinander, wenn letztere entlang einer der Hauptachsen zeigt, also ein Eigenvektor ˆ ist. von Θ Kommentar 3: Wir werden in K¨ urze eine Bewegungsgleichung f¨ ur den Drehimpuls aufstellen und berechnen daher   † d ˆˆ 0 ∗ ˆ ˆ ˆ Θ| ˆ ω˙ 0 i + ∂t B ˆ B ˆ B ˆ Θ|ω ˆ 0i = ˆ Θ|ω ˆ 0i B Θ|ω i = B B Θ|ω˙ 0 i + |ωi × B |{z} dt =1 i h 0 0 0 ˆ ω˙ i + |ω i × Θ|ω ˆ i , ˆ Θ| =B

|L˙ S i =

(7.21)

ˆ B ˆ † wieder Lemma 1 und Lemma 2 aus wobei wir an der Stelle ∗ zum Umschreiben von [∂t B] Abschnitt 6.1 verwendet haben.

7.2.3 Bewegungsgleichungen Schwerpunkts- und Drehimpulssatz; Eulersche Gleichungen Wenn sich der starre K¨ orper ohne Einschr¨ankungen bewegen kann, so ist seine Bewegung durch ˆ kann man aus |ωi durch L¨osen Angabe der Vektoren |x0 i sowie |ωi festgelegt; die Matrix B der Differentialgleichung aus Gl. (6.11) erhalten (siehe auch Gl. (7.24) f¨ ur konkret gew¨ahlte verallgemeinerte Koordinaten). Wenn man ohne Einf¨ uhrung neuer Koordinaten Bewegungsgleichungen aufstellen m¨ ochte, so w¨ahlt man den Schwerpunkt als Bezugspunkt und verwendet dann einfach den Schwerpunkts- und Drehimpulssatz: M|¨ xS i = |F i , |L˙ S i = E

N X

|rk i × |FkE i ,

(7.22)

k=1

wobei letztere Gleichung gilt, da wir in Abschnitt 1.4.4 gezeigt hatten, dass die Bewegungsgleichung des Drehimpulses auch in Bezug auf den bewegten Schwerpunkt g¨ ultig ist. Die Gl. (7.22) sind 6 Gleichungen f¨ ur 6 Unbekannte, die das System im Allgemeinen vollst¨andig bestimmen. Die Bewegungsgleichung f¨ ur den Bahndrehimpuls kann man mittels Gl. (7.21) wie folgt explizit aufschreiben: ˆ† B

N X k=1

ˆ † |L˙ S i = Θ| ˆ ω˙ 0 i + |ω 0 i × Θ|ω ˆ 0i . |rk i × |FkE i = B

(7.23)

114

¨ STARRER KORPER

Abbildung 7.1: Das Drehung des raumfesten Systems |ei i auf das k¨operfeste System |ei0 i kann mittels der Eulerschen Winkel ϑ, ψ und φ beschrieben werden.

Diese Bestimmungsgleichungen f¨ ur den Vektor |ωi werden auch als Eulersche Gleichungen bezeichnet (welche Sie im letzten Semester bereits kennengelernt haben). Im kr¨aftefreien Fall verschwindet nat¨ urlich die linke Seite. Zwangsbedingungen In Anwesenheit von Zwangsbedingungen m¨ ussen die Zwangskr¨afte in den Gl. (7.22) ber¨ ucksichtigt werden. Es gibt zwei wichtige Beispiele: 1. Bei dem sog. ‘Kreisel’ wird ein Punkt des K¨orpers festgehalten; oBdA sei dies der Punkt |x0 i = 0. Die zugeh¨ orige Zwangskraft liefert dann keinen Beitrag zum Drehmoment, ˙ = |L˙ S i = |D E i, und wieder kann man die linke Seite mittels Gl. (7.21) es gilt |Li ausdr¨ ucken. Wenn keine ¨außeren Kr¨afte wirken oder aber im Schwerefeld der Erde der Schwerpunkt |xS i = 0 festgehalten wird, so verschwindet das wirkende ¨außere Drehmoment und |Li ist erhalten. Da die potentielle Energie in diesen F¨allen konstant ist, folgt aus Gl. (7.20), dass hω|Li = const. gilt. Also ‘rotiert’ die Winkelgeschwindigkeit um den raumfesten Vektor |Li. 2. Wenn eine Drehachse |ωi festgehalten wird, so u ¨ben die Zwangskr¨afte ein Drehmoment E ˙ = |D i gilt nicht mehr. Wenn die potentielle Energie konstant ist, so folgt aus, und |Li aus der Energieerhaltung hω|Li = const.; also rotiert |Li in diesem Fall um das feste |ωi. Lagrange-Gleichungen Eleganter kann man vorgehen, indem man zum Ber¨ ucksichtigen der Zwangsbedingungen den Lagrange-Formalismus verwendent. Als verallgemeinerte Koordinaten kann man die drei Ko-

7.2. Eigenschaften des starrer K¨orpers

115

ordinaten des Bezugspunkts |x0 i sowie drei Drehwinkel (die sog. Eulerschen Winkel) w¨ahlen (siehe Abb. 7.1). Ohne Rechnung wollen wir notieren, wie sich die Winkelgeschwindigkeit durch diese Winkel ausdr¨ ucken l¨asst: ω10 = φ˙ sin ϑ sin Ψ + ϑ˙ cos Ψ , ω20 = φ˙ sin ϑ cos Ψ − ϑ˙ sin Ψ , ω30 = φ˙ cos ϑ + Ψ˙ .

(7.24)

Wird ein Punkt des K¨ orpers festgehalten (oBdA der Punkt |x0 i), so verbleiben nur die Eulerschen Winkel als verallgemeinerte Koordinaten. Man kann nun mittel Gl. (7.18) die kinetische Energie und damit auch die Lagrange-Funktion durch die Eulerschen Winkel ausdr¨ ucken, wobei man sinnvollerweise die Basis |ei0 i wieder entlang der Hauptachsen w¨ahlt. F¨ ur einen symmetrischen Kreisel (Θ1 = Θ2 ) im Schwerefeld der Erde ergibt sich L=T −V =

 Θ  2 Θ1  ˙ 2 3 ˙ 2 ϑ + φ˙ 2 sin2 ϑ + Ψ + φ˙ cos ϑ − Mgl cos ϑ , 2 2

wobei l der Abstand des Schwerpunkts vom Ursprung ist. Nun kann man leicht die u ¨blichen Bewegungsgleichungen aus Gl. (2.21) aufstellen. Die Diskussion der L¨osung finden Sie bspw. im Buch von Goldstein. K ommentar: Man sieht Gl. (7.24) sofort an, dass die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit nicht als verallgemeinerte Koordinaten gew¨ahlt werden k¨onnen (denn die rechte Seite ˙ Ψ, ˙ ϑ). ˙ Wenn man ohne Einf¨ enth¨alt φ, uhrung der Euler-Winkel Bewegungsgleichungen aufstellen m¨ochte, muss man also bswp. den Drehimpulssatz verwenden.