2 Analytische Funktionen 2.1 Ableitung nach einer komplexen Variablen Wir stossen nun zum Kern der komplexen Analysis vor: Es geht ums Differenzieren “im Komplexen”. In der reellen Analysis ist die Ableitung einer art als Grenzwert von Funktion f : R y R an der Stelle t0 ∈ dom(f ) erkl¨ Differenzenquotienten: f 0 (t0 ) := lim

t→t0

f (t) − f (t0 ) f (t0 + ∆t) − f (t0 ) = lim . ∆t→0 t − t0 ∆t

Die angeschriebenen Quotienten lassen sich f¨ ur t 6= t0 bzw. ∆t 6= 0 ohne weiteres bilden, da R ein K¨orper ist. Nun ist aber auch C ein K¨orper, so dass wir rein formal f¨ ur Funktionen f : C y C genau gleich definieren k¨ onnen: Die Funktion f heisst an der Stelle z0 komplex differenzierbar, wenn f in einer ganzen Umgebung von z0 definiert ist und wenn der Grenzwert f (z) − f (z0 ) f (z0 + ∆z) − f (z0 ) = lim (1) lim z→z0 ∆z→0 z − z0 ∆z existiert. Dieser Grenzwert, eine komplexe Zahl, heisst (komplexe) Ableitung urlich mit von f an der Stelle z0 und wird nat¨ ¯ df df ¯¯ 0 f (z0 ) , (z0 ) , dz dz ¯ z=z0

oder ¨ahnlich bezeichnet.

34

2 Analytische Funktionen

Es wird nun darum gehen, diese formale Definition mit lebendigem Inhalt zu erf¨ ullen. Dabei verwenden wir gelegentlich die Abk¨ urzung ∆f := f (z0 + ∆z) − f (z0 ) und betrachten diesen Wertzuwachs ∆f (Fig. 2.1.1) als eine Funktion der Variablen ∆z ; der Punkt z0 ist im Augenblick fest.

f(z0 + ∆z) z0 + ∆z

∆f

f

∆z

o(∆z)

f 0(z0) ∆z

z0

w0 = f(z0)

C.z

C.w Fig. 2.1.1

Zun¨achst einmal muss man sich vergegenw¨ artigen, dass in (1) das variable Inkrement ∆z “aus allen Richtungen kommend gegen 0 geht”: Komplexe Differenzierbarkeit impliziert ¯ ¯ ¯ ¯ f (z0 + ∆z) − f (z0 ) 0 ¯ − f (z0 )¯¯ < ε ¯ ∆z

(2)

f¨ ur alle hinreichend kleinen Inkremente ∆z, unabh¨ angig von arg ∆z. “Hinreichend klein” bedeutet: |∆z| < δ, wobei δ von der Toleranz ε in (2) abh¨ angt. Wir wollen diesen Sachverhalt nennerfrei formulieren. Hierzu geben wir der in (2) betrachteten “Differenz zwischen Sekanten- und Tangentensteigung” einen Namen: ν(∆z) :=

f (z0 + ∆z) − f (z0 ) − f 0 (z0 ) ∆z

Nach Definition von f 0 (z0 ) gilt lim ν(∆z) = 0 .

∆z→0

(∆z 6= 0) .

(3)

2.1 Ableitung nach einer komplexen Variablen

35

Setzen wir also ν(0) := 0, so ist ν(·) in einer vollen Umgebung von ∆z = 0 definiert und im Nullpunkt stetig. Aus (3) folgt durch Heraufmultiplizieren und Umordnen f (z0 + ∆z) − f (z0 ) = f 0 (z0 ) ∆z + ν(∆z) ∆z , und zwar gilt dies trivialerweise auch f¨ ur ∆z = 0. Zusammenfassend k¨ onnen wir daher folgendes sagen: (2.1) Ist die Funktion f : C y C an der Stelle z0 komplex differenzierbar, so besitzt ∆f eine Darstellung der Form ¡ ¢ f (z0 + ∆z) − f (z0 ) = f 0 (z0 ) + ν(∆z) ∆z ,

lim ν(∆z) = 0

∆z→0

(4)

bzw.

∆f = f 0 (z0 ) ∆z + o(∆z)

(∆z → 0) ;

in Worten: Der Wertzuwachs von f ist “in erster N¨aherung” ein konstantes komplexes Vielfaches des komplexen Inkrements ∆z. In (4) strebt die rechte Seite mit ∆z → 0 gegen 0, ergo auch die linke Seite. Daraus ziehen wir noch den folgenden Schluss: Ist f an der Stelle z0 differenzierbar, so ist f dort erst recht stetig. F¨ ur die komplexe Ableitung gelten dieselben Rechenregeln wie im Reellen, denn zu deren Herleitung wurden nur K¨ orper- und Stetigkeitseigenschaften benutzt, die sowohl in R wie in C vorhanden sind. Es handelt sich um die folgenden Regeln (wir schreiben z anstelle von z0 ): (2.2) (a) Linearit¨at: F¨ ur beliebige λ, µ ∈ C gilt (λ f + µ g)0 (z) = λ f 0 (z) + µg 0 (z) . (b) Produkt- und Quotientenregel: (f g)0 (z) = f 0 (z)g(z) + f (z)g 0 (z) , (f /g)0 (z) =

f 0 (z)g(z) − f (z)g 0 (z) g 2 (z)

¡

¢ g(z) 6= 0 .

36

2 Analytische Funktionen

(c) Kettenregel: Ist f komplex differenzierbar an der Stelle z und g an der Stelle w := f (z), so ist g ◦ f differenzierbar an der Stelle z, und es gilt ¡ ¢ ¢ d ¡ g f (z) = g 0 f (z) f 0 (z) . dz (c) Wir bezeichnen die unabh¨ angige Zuwachsvariable wieder mit ∆z und ben¨ utzen die Abk¨ urzung f (z + ∆z) − f (z) =: ∆w, dann ist f (z + ∆z) = w + ∆w. Mit zweimaliger Ben¨ utzung von (4) ergibt sich jetzt ¡ ¢ (g ◦ f )(z + ∆z) − (g ◦ f )(z) = g w + ∆w −g(w) ¢ ¡ = g 0 (w) + νg (∆w) ∆w ¢¡ ¢ ¡ = g 0 (w) + νg (∆w) f 0 (z) + νf (∆z) ∆z

und folglich

¢¡ ¢ (g ◦ f )(z + ∆z) − (g ◦ f )(z) ¡ 0 = g (w) + νg (∆w) f 0 (z) + νf (∆z) . ∆z

Da mit ∆z → 0 auch ∆w gegen 0 konvergiert, strebt hier die rechte Seite f¨ ur ∆z → 0 gegen g 0 (w)f 0 (z), wie behauptet.

2.2 Begriff der analytischen Funktion Es sei Ω ⊂ C ein Gebiet. Die Funktion f : Ω → C heisst (komplex) analytisch oder auch holomorph auf Ω, wenn sie an jeder Stelle z ∈ Ω komplex differenuhmten zierbar und die Ableitung f 0 : Ω → C stetig ist. (Nach einem ber¨ Satz von E. Goursat ist f 0 von selbst stetig. Wir machen es uns hier einfacher und nehmen die Stetigkeit von f 0 in die Definition auf.) Die Menge aller analytischen Funktionen f : Ω → C bezeichnen wir mit O(Ω). Analytizit¨at ist eine lokale Eigenschaft: Besitzt jeder Punkt z ∈ Ω eine Umgebung U (z), in der f analytisch ist, so ist f ∈ O(Ω). Eine Funktion, die auf ganz C analytisch ist, heisst eine ganz-analytische oder kurz eine ganze Funktion.

2.2 Begriff der analytischen Funktion

37

Mit (2.2) folgt: Summe und Produkt von analytischen Funktionen f , g sind wieder analytisch, ein Quotient f /g nur, wenn g auf Ω nirgends verschwindet. Nat¨ urlich sind konstante Funktionen sowie die Funktion f (z) :≡ z ganzanalytisch. Hieraus folgt sofort mit (2.2): Beliebige Polynomfunktionen p(z) := an z n + an−1 z n−1 + . . . + a0 mit komplexen Koeffizienten sind ganz-analytisch, und es gelten f¨ ur sie die bekannten Differentiationsregeln. Die Funktion z 7→ 1/z ist analytisch in der punktierten Ebene C∗ ; allgemein ist eine rationale Funktion R(z) :=

p(z) , q(z)

p, q Polynome , q 6≡ 0 ,

analytisch auf der Menge C\{z | q(z) = 0}. Aus der Kettenregel (2.2)(d) ergibt sich unmittelbar das folgende Prinzip: Sind f : Ω → C und g : Ω0 → C¡ analytisch und gilt f (Ω) ⊂ Ω0 , so ist auch ¢ die Zusammensetzung h(z) := g f (z) analytisch auf Ω.

Die Exponentialfunktion ist eine ganze Funktion, und es gilt wie erwartet ur beliebiges z ∈ C ergibt sich mit Hilfe der Funktionalgleiexp0 = exp : F¨ chung und eines Standardgrenzwerts exp(z + ∆z) − exp z exp ∆z − 1 = exp z → exp z · 1 ∆z ∆z

(∆z → 0) .

Damit sind zum Beispiel auch die ins Komplexe fortgesetzten trigonometrischen Funktionen cos z :=

eiz + e−iz , 2

sin z :=

eiz − e−iz 2i

ganz-analytisch, ebenso f¨ ur festes a ∈ C−∗ die allgemeine Potenz z 7→ pv az . Mit diesem Material k¨onnen wir schon eine ganze Menge von “analytischen Ausdr¨ ucken” bilden, die auf ihrem √ Definitionsbereich analytische Funktionen repr¨asentieren. Log und pv n · werden wir uns im folgenden Abschnitt vornehmen; diese als Umkehrfunktionen erkl¨ arten Funktionen sind von selbst −∗ analytisch auf ihrem Definitionsbereich C . Wir ben¨otigen aber noch ein allgemeines Prinzip, das uns gestattet, sozusagen “beliebige” analytische Funktionen herzustellen. Dieses Prinzip ist der folgende Satz von Weierstrass, den wir allerdings erst in Abschnitt 3.3 beweisen werden:

38

2 Analytische Funktionen

(2.3) Es seien fk : Ω → C (k = 0, 1, . . .) gegebene analytische Funktionen; dabei gelte ∞ X |fk (z)| ≤ ck (z ∈ Ω) , ck < ∞ . (1) k=0

Dann stellt die Reihe s(z) := dar, und es gilt s0 (z) =

P∞

k=0

∞ X

fk (z) eine auf Ω analytische Funktion

fk0 (z)

k=0

(z ∈ Ω) .

Die wichtigste Anwendung dieses Satzes bezieht sich auf Potenzreihen: (2.4) Es sei f (z) :=

∞ X

ak z k

(2)

k=0

eine Potenzreihe ρ > 0. Dann ist f auf der Kreis¯ © mit Konvergenzradius ª scheibe Dρ := z ∈ C ¯ |z| < ρ analytisch, und es gilt 0

f (z) =

∞ X

k ak z k−1

k=1

(z ∈ Dρ ) .

Eine Garantie der Form (1), also k

|ak z | ≤ ck

(z ∈ Dρ ) ,

∞ X

k=0

ck < ∞ ,

kann im allgemeinen nicht gegeben werden, da die meisten Reihen (2) immer ahert. Wir schlechter konvergieren, je mehr man sich dem Rand von Dρ n¨ k¨ onnen aber (auch in anderen, ¨ ahnlich gelagerten F¨ a llen) folgendermassen P argumentieren: F¨ ur jedes ρ0 < ρ ist die Reihe k ck mit ck := |ak | ρ0k konvergent, und es gilt (z ∈ Dρ0 ) . |ak z k | ≤ ck Satz (2.4) ist somit anwendbar, und f ist analytisch auf Dρ0 . Da jeder Punkt z ∈ Dρ von einem geeigneten Dρ0 umgeben wird, ist folglich f ∈ O(Dρ ).

2.3 Die CR-Differentialgleichungen

° 1 Die Binomialreihe bα (z) :=

∞ µ ¶ X α

k=0

k

39

z k = 1 + αz +

α(α − 1) 2 z + ... 2

(siehe die Analysis I) besitzt f¨ ur jedes feste α ∈ C\N den Konvergenzradius 1 (und f¨ ur α ∈ N trivialerweise den Konvergenzradius ∞). Somit ist bα (z) eine auf D analytische Funktion. In der Analysis I haben wir gesehen, dass bα der Differentialgleichung (1 + x)b0α (x) = αbα (x)

(−1 < x < 1)

(3)

gen¨ ugt, und hieraus hergeleitet, dass in Wirklichkeit bα (x) = (1 + x)α

(−1 < x < 1)

gilt. Dieselbe Rechnung beweist nat¨ urlich (1 + z) b0α (z) = α bα (z)

(z ∈ D) ;

und sobald wir Log0 zur Verf¨ ugung haben, werden wir verifizieren k¨ onnen, dass auch die Identit¨at bα (z) = pv (1 + z)α

(z ∈ D)

richtig ist.

(4)

°

2.3 Die CR-Differentialgleichungen Bis dahin sind analytische Funktionen immer als “analytische Ausdr¨ ucke in der Variablen z ” in Erscheinung getreten. Wir wollen nun untersuchen, was sich u ¨ber Real- und Imagin¨arteil einer analytischen Funktion f : Ω → C sagen l¨asst. Es geht also um die Zerlegung ¡ ¢ f (x + iy) = u(x, y) + iv(x, y) x + iy ∈ Ω . (1)

40

2 Analytische Funktionen

Wir halten einen Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ Ω bis auf weiteres fest und schreiben f 0 (z0 ) =: A + iB . Es sei jetzt ∆z = ∆x + i∆y ein variabler von z0 = x0 + iy0 aus gemessener Zuwachs, siehe die Fig. 2.3.1. Mit den Abk¨ urzungen ∆f := f (z0 + ∆z) − f (z0 ) , ∆u := u(x0 + ∆x, y0 + ∆y) − u(x0 , y0 ) ,

(2)

∆v := v(x0 + ∆x, y0 + ∆y) − v(x0 , y0 )

folgt aus (1) die f¨ ur alle hinreichend kleinen ∆z g¨ ultige Zerlegung ∆f = ∆u + i∆v .

y

v

f(z0 + ∆z)

z0 + ∆z ∆z z0 C.z

∆x

∆f

f

i∆y

w0 = f(z0)

i∆v

∆u u

x

C.w Fig. 2.3.1

Tragen wir dies in die fundamentale Beziehung (2.1) ein, so ergibt sich ∆u + i∆v = (A + iB) (∆x + i∆y) + o(∆z) , und Trennung von Real- und Imagin¨ arteil liefert ) ∆u = A ∆x − B ∆y + o(∆z) , ∆v = B ∆x + A ∆y + o(∆z)

(∆z → 0) .

(3)

Wir betrachten jetzt ein reelles ∆z := ∆x 6= 0. Dann folgt aus der ersten Formel (3) die Relation ∆u = A + o(1) ∆x

(∆x → 0) .

2.3 Die CR-Differentialgleichungen

41

F¨ uhren wir hier den Grenz¨ ubergang ∆x → 0 tats¨ achlich durch, so erscheint auf der linken Seite die partielle Ableitung lim

∆x→0

u(x0 + ∆x, y0 ) − u(x0 , y0 ) =: ux (x0 , y0 ) , ∆x

womit wir ux (x0 , y0 ) = A bewiesen haben. Analog ergibt sich aus der zweiten Formel (3) die partielle Ableitung vx (x0 , y0 ) = B, und die Betrachtung eines rein imagin¨aren ∆z = i∆y liefert die weiteren Formeln uy (x0 , y0 ) = −B und vy (x0 , y0 ) = A. Damit haben wir insgesamt ux (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0 ) = A ,

−uy (x0 , y0 ) = vx (x0 , y0 ) = B .

(4)

F¨ ur eine analytische Funktion f : Ω → C ergibt sich daher der folgende Satz: (2.5.) Die Funktion f = u + iv sei analytisch in dem Gebiet Ω. Dann besitzen u, v : Ω → R stetige partielle Ableitungen nach x und nach y, und diese partiellen Ableitungen sind miteinander verkn¨ upft durch die CauchyRiemannschen Differentialgleichungen ux (x, y) = vy (x, y) ,

uy (x, y) = −vx (x, y)

(x + iy ∈ Ω) .

(CR)

Ferner gelten die Formeln f 0 = ux + ivx = fx ,

f 0 = vy − iuy = −ify

(5)

und weitere dieser Art.

Eine Bemerkung noch zu (5): Die komplexwertige Funktion f = u + iv hat nat¨ urlich auch komplexwertige partielle Ableitungen nach x und nach y; uckt u.a. aus, wie diese partiellen dabei ist fx = ux +ivx . Die Gleichung (5) dr¨ Ableitungen fx , fy mit der komplexen Ableitung f 0 verkn¨ upft sind. Das Bestehen der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen ist f¨ ur die Analytizit¨at einer Funktion f = u+iv notwendig und hinreichend. In anderen Worten, von (2.5) gilt auch die Umkehrung:

42

2 Analytische Funktionen

(2.6) Besitzen die beiden Funktionen u, v : Ω → R stetige partielle Ableitungen nach x und nach y und gelten die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen (CR), so ist die komplexe Funktion f (x + iy) := u(x, y) + iv(x, y) auf Ω analytisch, und es gelten die Formeln (5). Wir betrachten wieder einen festen Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ Ω. Wir ur die u ¨brigen drei. schreiben zur Abk¨ urzung ux (x0 , y0 ) =: ux und analog f¨ Nach Voraussetzung u ¨ber u und v gilt dann ux = vy =: A ,

vx = −uy =: B .

¨ Uber die Zuw¨achse (2) wird in der reellen Differentialrechnung mehrerer Variablen das folgende bewiesen: Sind u und v im Punkt (x0 , y0 ) stetig differenzierbar, so gilt ¡ ¢ ) ∆u = ux ∆x + uy ∆y + o |∆z| , ¡ ¢ ∆v = vx ∆x + vy ∆y + o |∆z|

(∆z → 0) .

Damit ergibt sich

∆u + i∆v = A∆x − B∆y + i(B∆x + A∆y) + o(∆z) = (A + iB) (∆x + i∆y) + o(∆z)

und folglich ∆f = (A + iB) ∆z + o(∆z)

(∆z → 0) .

Die letzte Formel l¨asst sich lesen als ∆f = A + iB ; ∆z→0 ∆z lim

somit ist f im Punkt z0 komplex differenzierbar, und es gilt f 0 (z0 ) = ux (x0 , y0 ) + ivx (x0 , y0 ) . Da der Punkt z0 ∈ Ω beliebig war und ux , vx nach Voraussetzung stetig sind, ist damit alles bewiesen.

2.3 Die CR-Differentialgleichungen

43

° 1 Wir beweisen: Der Hauptwert des Logarithmus ist analytisch auf C−∗ . Es geht also um die Funktion

Log z := ln |z| + iArg z

(z ∈ C−∗ ) .

F¨ ur den Nachweis von (CR) beschr¨ anken wir uns der Einfachheit halber auf die rechte Halbebene x > 0. Dort ist u(x, y) =

1 ln(x2 + y 2 ) , 2

v(x, y) = arctan

y , x

und eine kurze Rechnung liefert ux = v y =

x , x2 + y 2

vx = −uy =

−y . x2 + y 2

Da diese partiellen Ableitungen in dem betrachteten Bereich stetig sind, ist damit Log als analytische Funktion erwiesen. Ferner ergibt sich mit (5): Log0 (z) = ux + ivx =

x − iy 1 = . 2 2 x +y x + iy

Damit haben wir folgendes bewiesen: 1 d Log z = dz z

(z ∈ C−∗ ) .

Wir kommen zur¨ uck auf Beispiel 2.2.° 1 . Es sei ein α ∈ C gegeben. F¨ ur |z| < 1 liegt der Punkt 1 + z in C−∗ . Die zusammengesetzte Funktion ¡ ¢ f (z) := pv (1 + z)α := exp αLog (1 + z) ¯ © ª ist folglich auf D := z ∈ C ¯ |z| < 1 analytisch, und es gilt f 0 (z) = exp(. . .)

α α = f (z) 1+z 1+z

(= α pv (1 + z)α−1 , wie im Reellen). Insbesondere gen¨ ugt f wie bα der Differentialgleichung (1 + z)f 0 (z) = α f (z)

(z ∈ D) ,

und hieraus folgt leicht (bα /f )0 (z) ≡ 0. Mit (2.9) (s.u.) schliesst man auf bα (z)/f (z) = const., und diese Konstante hat den Wert bα (0)/f (0) = 1. Damit ist 2.2(4) erwiesen. °

44

2 Analytische Funktionen

Wir ben¨otigen noch mehr Material aus der reellen mehrdimensionalen Differentialrechnung. Ist eine stetig differenzierbare Abbildung f:

R2 y R 2 ,

(x, y) 7→

(

u := u(x, y) v := v(x, y)

gegeben, so lassen sich die partiellen Ableitungen von u und v zusammenfassen zu der sogenannten Funktionalmatrix ¸ · ux uy , vx vy und deren Determinante ·

u Jf := det x vx

uy vy

¸

= ux v y − v x uy

heisst Funktionaldeterminante oder Jacobische Determinante der betrachteten Abbildung f . Sind u und v Real- und Imagin¨ arteil einer analytischen Funktion f , so erhalten wir mit (4) den folgenden Ausdruck f¨ ur die Funktionaldeterminante Jf : (6) Jf (z) = A2 + B 2 = |f 0 (z)|2 . Diese Feststellung erlaubt, einen Hauptsatz der mehrdimensionalen Differentialrechnung zu einem Satz u ¨ber analytische Funktionen umzumodeln. Wir beziehen uns dabei auf Fig. 2.3.2.

y

v

f U

V g

U

f

z0

w0 = f(z0)

Ω C.z

u

x

C.w Fig. 2.3.2

2.3 Die CR-Differentialgleichungen

45

(2.7) Die Funktion f : C.z y C.w sei analytisch, und es sei f 0 (z0 ) 6= 0. Dann trifft folgendes zu: (a) f bildet eine geeignete offene Umgebung U von z0 bijektiv auf eine offene Umgebung V von w0 := f (z0 ) ab. (b) Die Umkehrfunktion ¡ ¢−1 : g := f ¹ U

V →U,

w 7→ z := g(w)

ist analytisch. (c)

g 0 (w0 ) =

1 f 0 (z

0)

bzw.

¡

¢0 f −1 (w0 ) =

f0

¡

1 f −1 (w

0)

¢ .

Auf Grund von (6) ist Jf (z0 ) 6= 0. Der angef¨ uhrte Hauptsatz garantiert daher (a) sowie die stetige Differenzierbarkeit der Umkehrabbildung g:

V →U,

(u, v) 7→ (x, y)

bzw. der komplexen Funktion g : w 7→ z. Weiter: Die Funktionalmatrix von f (bzw. f ) ist in allen Punkten z ∈ U vom Typ · ¸ A −B . B A Die Funktionalmatrix von g in den zugeh¨ origen Punkten w ∈ V ist die Inverse hiervon, d.h. es gilt ¸ · ¸ · 1 A B xu xv = 2 . yu y v A + B 2 −B A Hieraus folgt, dass g in allen Punkten w ∈ V den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen gen¨ ugt; somit ist g nach (2.6) analytisch. Aus ¡ ¢ g f (z) ≡ z (z ∈ U )

ergibt sich nun mit Hilfe der Kettenregel ¡ ¢ g 0 f (z) f 0 (z) ≡ 1

und damit (c).

46

2 Analytische Funktionen

° 1 (Forts.) Log ist die Umkehrfunktion der Einschr¨ ankung exp ¹ S, wobei S den Streifen |Im z| < π bezeichnet, und exp0 (z) = exp z ist f¨ ur alle z ungleich 0. Damit wird (2.7)(c) f¨ ur alle w ∈ C−∗ anwendbar, und man erh¨ alt Log0 (w) =

1 exp0 (Log w)

=

1 1 = exp(Log w) w

(w ∈ C−∗ ) ,

wie vorher.

°



° 2 pv n · (=: g) ist die Umkehrfunktion der auf den Sektor S :=

n

¯ π πo ¯ z ∈ C∗ ¯ − < Arg z < n n

eingeschr¨ankten Funktion f (z) := z n , und f 0 (z) = n z n−1 ist 6= 0 auf diesem √ n Sektor. Hiernach ist pv · auf C−∗ analytisch, und mit (2.7)(c) ergibt sich nacheinander g 0 (w) =

g(w) 1 1 ¡ ¢= ¡ ¢n ¢n−1 = ¡ f 0 g(w) n g(w) n g(w)

(w ∈ C−∗ ) .

¡ ¢n Wegen g(w) ≡ w erhalten wir damit definitiv ¢ √ 1 d ¡ √ pv n w = pv n w dw nw

(w ∈ C−∗ ) .

(In dieser Form geschrieben stimmt die Formel auch, wenn anstelle des Hauptwerts ein anderer “Zweig” der Wurzel gew¨ ahlt wird.)

°

2.4 Winkeltreue

47

2.4 Winkeltreue Bis dahin haben wir analytische Funktionen f : Ω → C eher als komplexe Skalarfelder betrachtet. Bei dieser Interpretation dient die Ableitung f 0 (z0 ) zur Approximation des Wertzuwachses bei einer kleinen Verschiebung des Messpunktes von z0 nach z0 + ∆z: Nach (2.1) gilt f (z0 + ∆z) − f (z0 ) = f 0 (z0 ) ∆z + o(∆z)

(∆z → 0) .

(1)

Wir wechseln nun die Betrachtungsweise und fassen eine analytische Funktion f in erster Linie als eine Abbildung von der z-Ebene in die w-Ebene auf. Es geht dann um die folgenden Fragen: Welche besonderen geometrischen Eigenschaften hat eine derartige Abbildung? Welche geometrische Interpretation hat der Ableitungswert f 0 (z0 ) ? Wir halten den Punkt z0 ∈ Ω bis auf weiteres fest, schreiben f (z0 ) =: w0 und setzen ausdr¨ ucklich (2) f 0 (z0 ) =: A = |A| eiα 6= 0 voraus. Die Formel (1) handelt von der Abbildung ∆f :

C.∆z → C.∆w ,

∆z 7→ f (z0 + ∆z) − f (z0 )

(Fig. 2.4.1) und besagt, dass diese “Transformation der Zuw¨ achse” f¨ ur kleine |∆z| durch eine komplex-lineare Abbildung, n¨ amlich die Drehstreckung SA :

C.∆z → C.∆w ,

∆z 7→ ∆w := A ∆z

¡ gut approximiert wird. Im Sinn der mehrdimensionalen Differentialrechnung ¢ w¨ urde man diese komplex-lineare Abbildung mit df (z0 ) bezeichnen. Der agt lineare Streckungsfaktor von SA ist |A| = |f 0 (z0 )|, der Drehwinkel betr¨ 0 α = arg f (z0 ). Dabei geht ein “infinitesimaler” Kreis γ:

t 7→ ∆z(t) := reit

(0 ≤ t ≤ 2π) ,

0 0 und einem gewissen Drehwinkel α. Der Elementvergleich liefert ux (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0 ) ,

−uy (x0 , y0 ) = vx (x0 , y0 ) ;

ferner hat man Jf (z0 ) = A2 6= 0. Da z0 ∈ Ω beliebig war, folgt mit Satz (2.6) und 2.3.(6) die Behauptung. Was bleibt von alledem u ¨brig, wenn f 0 (z0 ) = 0 ist? Nichts! Man kann dazu folgendes sagen (einiges davon wird sp¨ ater noch bewiesen): Ist f nicht konstant, so liegen die Nullstellen der Ableitung isoliert, und in jeder von ihnen verh¨alt sich die Funktion f wie eine Funktion z 7→ z n , n ≥ 2, im Ursprung. Kleine Umgebungen eines derartigen Punktes z0 werden durch f nicht injektiv, sondern “n : 1” auf eine Umgebung von w0 = f (z0 ) abgebildet. Eine winkeltreue Abbildung ist “in kleinsten Teilen ¨ ahnlich” und l¨ asst die Schnittwinkel von Kurven unver¨ andert. Insbesondere gehen orthogonale Kurvennetze in orthogonale Netze u ¨ber. Aus diesem Grund spielen winkeltreue Abbildungen seit altersher in der Kartographie eine Rolle, wo es darum geht, die sph¨arische Erdoberfl¨ache m¨ oglichst unverzerrt auf ein ebenes Blatt Papier abzubilden. Wir beweisen in diesem Zusammenhang: (2.12) Die stereographische Projektion σ : C → S 2 ist in allen Punkten z ∈ C winkeltreu. Das stereographische Bild σ(g) einer Geraden g ⊂ C wird erhalten, indem man die Ebene durch g und N = (0, 0, 1) mit S 2 schneidet, siehe die Fig. 1.2.2. Somit ist σ(g) ein Kreis κ ⊂ S 2 , der durch den Nordpol

52

2 Analytische Funktionen

x3 N κ = σ(g)

g

C

S2

Fig. 2.4.4

N = (0, 0, 1) geht. In der Fig. 2.4.4 ist g projizierend dargestellt, der Kreis κ erscheint dann als Strecke. Man erkennt, dass im Punkt N die Tangente an κ ebenfalls projizierend und damit zur Ausgangsgeraden g parallel ist. Betrachte nun einen beliebigen Punkt z ∈ C und zwei Geraden g1 , g2 , die sich im Punkt z unter dem Winkel ψ schneiden. Deren stereographische Bilder κ1 , κ2 schneiden sich in den beiden Punkten σ(z) und N . Die beiden Tangenten im Punkt N sind parallel zu g1 bzw. g2 , schneiden sich also ebenfalls unter dem Winkel ψ. Dann schneiden sich aber die beiden Kreise κ1 , κ2 auch in ihrem zweiten Schnittpunkt σ(z) unter dem Winkel ψ. Nach “allgemeinen Prinzipien der Differentialgeometrie” folgt hieraus die Behauptung des Satzes.

2.5 Konforme Abbildungen von Gebieten Es seien Ω1 ⊂ C.z und Ω2 ⊂ C.w zwei Gebiete. Eine analytische Funktion f , die Ω1 bijektiv auf Ω2 abbildet, heisst eine konforme Abbildung von Ω1 auf Ω2 . Unter den genannten Umst¨ anden ist automatisch f 0 (z) 6= 0 f¨ ur alle −1 z ∈ Ω1 , und mit Satz (2.7) folgt, dass die Inverse f das Gebiet Ω2 konform auf Ω1 abbildet. Zwei Gebiete Ω1 und Ω2 , die sich konform aufeinander abbilden lassen, werden konform ¨aquivalent genannt.

2.5 Konforme Abbildungen von Gebieten

53

Obwohl eine konforme Abbildung “in kleinsten Teilen ¨ ahnlich” abbildet, k¨ onnen konform ¨aquivalente Gebiete global sehr verschieden aussehen. So ist zum Beispiel das Gebiet Ω1 := “offene Schweiz 1 : 1 Mio” konform ¨ aquivalent zu dem unendlichlangen Streifen Ω2 := {z ∈ C | 0 < Im z < 1}. Es gilt n¨ amlich der folgende zentrale Existenzsatz, genannt Riemannscher Abbildungssatz: (2.13) Es sei Ω ⊂ C ein beliebiges einfach zusammenh¨angendes Gebiet 6= C. Dann gibt es eine konforme Abbildung von Ω auf die Einheitskreisscheibe D. Aber nicht alles ist m¨oglich. So lassen sich zum Beispiel zwei Kreisringe © ¯ ª ª © ¯ Ω := z ¯ a < |z| < b , Ω0 := z ¯ a0 < |z| < b0

(Fig. 2.5.1) nur dann konform aufeinander abbilden, wenn b0 /a0 = b/a ist. Vornehm ausgedr¨ uckt: Die “logarithmische Breite” eines Kreisrings ist eine konforme Invariante. Bevor wir erkl¨aren, warum konforme Abbildungen von Gebieten auch f¨ ur den Anwender interessant sind, behandeln wir einige Beispiele.

a

a0

b

Fig. 2.5.1

° 1 Die Exponentialfunktion exp : C.z → C.w bildet Rechtecke ©

¯ ª z = x + iy ¯ a < x < b , α < y < β ,

−π ≤ α < β ≤ π ,

konform auf Kreisringsektoren © ¯ a ª w ¯ e < |w| < eb , α < Arg w < β

b0

54

2 Analytische Funktionen

ab und zum Beispiel den Streifen © ¯ ª Sη := z ¯ |Im z| < η ,

0 0} abzubilden: Wir setzen ´ ³π Log w = pv wπ/(2η) f (w) := exp (w ∈ Kη ) . 2η Der erste Schritt “Log” bildet Kη auf Sη ab; im zweiten Schritt wird Sη ¨hnlich vergr¨ossert auf die Breite π, und im dritten Schritt bildet exp den a Streifen Sπ/2 auf den Sektor Kπ/2 = P ab. Man erkennt an diesem Beispiel, dass Ecken eines gegebenen Gebiets durch geeignete Tricks zum Verschwinden gebracht werden k¨onnen. °

P π/2 Sπ/2



η 0



η

–η –π/2 Fig. 2.5.2

° 2 Die Abbildung

1 + iz 1 − iz ist eine M¨obiustransformation. Wir parametrisieren die reelle Achse durch ¡ π ¢ γ : t 7→ z(t) := tan t − 2 < t < π2 T (z) :=

2.5 Konforme Abbildungen von Gebieten

55

und erhalten als Bild die Kurve T (γ) :

t 7→

1 + i tan t cos t + i sin t = = e2it 1 − i tan t cos t − i sin t

¡

− π2 < t
0} unter T ins Innere von ∂D u ¨bergeht; in anderen Worten: T bildet H konform auf D ab, siehe die Fig 2.5.3. Wie man leicht nachrechnet, ist die Umkehrabbildung durch den folgenden Ausdruck gegeben: 1−w T −1 (w) = i . 1+w

H

∂D

i D 0

0

C.z

1

C.w Fig. 2.5.3

Die Abbildung T ist nach Satz (1.2) kreistreu. Ohne weitere Rechnungen ziehen wir daraus die folgenden Schl¨ usse: Geraden y = const., y > 0, werden in Kreise abgebildet, die durch den Punkt T (∞) = −1 gehen, aber keinen weiteren Schnittpunkt mit ∂D haben. Es handelt sich offenbar um die Schar der Kreise, die ∂D im Punkt −1 von innen ber¨ uhren. Halbgeraden x = const., y > 0, gehen in Kreisb¨ogen u ¨ber, die im Punkt −1 beginnen und ∂D senkrecht treffen. °

56

2 Analytische Funktionen

° 3 Die Funktion 1 J(z) := 2

µ

1 z+ z



¡

¢ |z| > 1

wird gelegentlich Joukowski-Funktion genannt, nach einem russischen Aerodynamiker. Um die Abbildung J : C.z y C.w geometrisch zu beschreiben, untersuchen wir die Bilder der Kreise γr :

t 7→ r eit

(0 ≤ t ≤ 2π) ,

r ≥1,

sowie die Bilder der Strahlen σφ :

t 7→ et eiφ

(0 ≤ t < ∞) ,

0 ≤ φ ≤ 2π

(Fig. 2.5.4). F¨ ur J(γr ) erhalten wir die Parameterdarstellung J(γr ) :

1 ³ it 1 −it ´ re + e 2 r ³ 1´ 1´ 1³ 1 r+ cos t + i r − sin t = 2 r 2 r

t 7→ w(t) =

(0 ≤ t ≤ 2π) .

Es handelt sich offensichtlich um eine einmal im Gegenuhrzeigersinn umlaufende Ellipse mit Halbachsen a :=

1´ 1³ r+ , 2 r

b :=

1³ 1´ r− . 2 r

Im Grenzfall r = 1 ist b = 0. Das Bild von ∂D ist somit die bei 1 beginnend hin und zur¨ uck durchlaufene Strecke [ −1, 1 ] auf der reellen Achse. Unabh¨angig von r ≥ 1 ist a2 − b2 = 1; die Ellipsen J(γr ) besitzen daher alle die gleichen beiden Brennpunkte ±1, sie sind, wie man sagt, konfokal. F¨ ur r → ∞ strebt b/a gegen 1; diese Ellipsen werden also immer kreis¨ ahnlicher. Man kann aber noch mehr sagen: F¨ ur grosse |z| ist J(z) mit guter N¨ aherung = z/2 ; in Worten: Umgebungen von ∞ werden durch J im wesentlichen ahnlich abgebildet. ¨ F¨ ur die Strahlen σφ erhalten wir analog J(σφ ) :

¢ 1 ¡ t iφ e e + e−t e−iφ 2 = cosh t cos φ + i sinh t sin φ

t 7→ w(t) =

(0 ≤ t < ∞) .

2.5 Konforme Abbildungen von Gebieten

57

v

–1

1

–1

1

u

Fig. 2.5.4

Somit gen¨ ugen die Punkte w = u + iv ∈ J(σφ ) der Gleichung v2 u2 − = cosh2 t − sinh2 t ≡ 1 ; cos2 φ sin2 φ sie liegen also auf einer Hyperbel mit Halbachsen a := cos φ, b := sin φ und Brennpunkten ±1. Die Bildkurve J(σφ ) macht aber nur einen Viertel dieser Hyperbel aus: Der laufende Punkt w(t) startet im Punkt u = cos φ auf der reellen Achse und l¨auft dann auf einem Ast der betreffenden Hyperbel ins Unendliche. In der Fig. 2.5.4 macht es den Anschein, dass wir eine Schar von konfokalen Hyperbeln vor uns haben; in Wirklichkeit liegt eine mit φ ∈ R/2π parametrisierte Schar von Halb¨ asten vor. Zusammengefasst ergibt sich folgendes: Die Joukowskifunktion J bildet das ¨ Aussere der Kreisscheibe D konform auf die von −1 bis 1 geschlitzte Ebene Ω := C \ {z ∈ C | − 1 ≤ z ≤ 1} ab. ¯ © ª Wie steht es mit der Umkehrabbildung J −1 : Ω → z ∈ C ¯ |z| > 1 ? Wird die Gleichung µ ¶ 1 1 z+ w = 2 z nach z aufgel¨ost, so ergibt sich rein formal zun¨ achst z=w±

p

Ã

w2 − 1 = w 1 ±

r

1 1− 2 w

!

.

(1)

58

2 Analytische Funktionen

Von den beiden L¨osungen m¨ ussen wir diejenige w¨ ahlen, die f¨ ur grosse |w| ungef¨ahr mit 2w u ¨bereinstimmt. Wir w¨ urden also in (1) auf das Pluszeichen tendieren. Aber macht das auch im Komplexen Sinn? Hier hilft uns die ¨ folgende Uberlegung weiter: Ist w ∈ Ω, so ist w ∈ / [ −1, 1 ] und folglich 2 2 w ∈ / [ 0, 1 ]. Hieraus schliesst man auf 1/w ∈ / [1, ∞[ , also 1 1 1− 2 ∈ / ]−∞, 0 ] bzw. 1 − 2 ∈ C−∗ . w w Wir d¨ urfen daher von der Quadratwurzel in (1) den Hauptwert nehmen. Der gesuchte “analytische Ausdruck” f¨ ur die Umkehrabbildung J −1 ist damit definitiv gegeben durch à ! r 1 J −1 (w) = w 1 + pv 1 − 2 (w ∈ Ω) . w ° Der Zweck des Unternehmens “Konforme Abbildung” ist im allgemeinen folgender: Gegeben ist eine technische Form, zum Beispiel ein Rechteck, ein L-Profil, ein Transformatorblech, das Aussengebiet eines Tragfl¨ ugelprofils. In einem derartigen zweidimensionalen Bereich Ω ∪ ∂Ω soll ein gewisses, sagen wir einmal, Potentialproblem oder ein Str¨ omungsproblem behandelt werden. Wenn es gelingt, den gegebenen Bereich auf einen Standardbereich, zum Beispiel D oder einen Kreisring, abzubilden, so lassen sich die Symmetrien des Standardbereichs (Fig. 2.5.5), die dort vorhandenen Formeln ur die L¨ osung des urund speziellen Funktionen, zum Beispiel φ 7→ eikφ , f¨ spr¨ unglichen, den Bereich Ω betreffenden, Problems heranziehen. Leider ist es nur in ganz wenigen F¨allen m¨ oglich, eine konforme Abbildung von Ω auf einen Standardbereich explizit anzugeben, und man ist im allgemeinen auf numerische Methoden angewiesen.

∂D

∂Ω

D

Ω 1

Fig. 2.5.5