2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

22 2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie scheidung, ob Polysemie oder Homonymie vorliegt, keine Rolle. Das Gegensatzpaar Polysemie versus Homo...
Author: Gert Weiß
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2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie

scheidung, ob Polysemie oder Homonymie vorliegt, keine Rolle. Das Gegensatzpaar Polysemie versus Homonymie bezieht sich strikt auf das in einem bestimmten Zeitabschnitt (typischerweise einer Generation) zur Verfügung stehende Alltagswissen von Sprechern. Diese Unterscheidung ist daher nur in synchroner Perspektive sinnvoll. Wenn man das Kriterium der vorhandenen bzw. fehlenden Nähe zwischen den Bedeutungen einer Wortform als entscheidend für den Gegensatz zwischen Homonymie und Polysemie ansieht, begibt man sich allerdings auf unsicheres Gelände. Es bleibt noch zu klären, wie diese Nähe in nachvollziehbarer Weise bestimmt werden kann (s. dazu Kap. 4). Vorläufig genügt die Feststellung, dass im Fall von Polysemie einer Wortform (genauer gesagt: einem Wortformenparadigma) mehrere verwandte Bedeutungen entsprechen, während bei Homonymie einer Wortform mehrere nicht verwandte Bedeutungen gegenüberstehen. Für die Definition des Lexems ist dies insofern relevant, als im Fall von Polysemie ein Lexem mit zwei (oder mehr) Bedeutungen vorliegt, während bei Homonymie zwei Lexeme angesetzt werden.

2.6 Fazit Was ein Wort ist, kann trotz einer ganzen Reihe von Kriterien und Testverfahren, die die Sprachwissenschaft entwickelt hat, nur näherungsweise bestimmt werden. Diese Schwierigkeit hängt zum einen mit der Komplexität des Gegenstandes zusammen – die Frage, was ein Wort sei, kann aus unterschiedlichen Perspektiven, vor allem von den verschiedenen Beschreibungsebenen der Sprache her, jeweils unterschiedlich beantwortet werden. Ein zweiter Grund für das Definitionsproblem ist, dass ,Wort‘ ein Begriff aus der Alltagssprache ist. Ein solcher lässt sich nun einmal schwer in einen wissenschaftlichen Begriff überführen, ohne dass die eine oder andere intuitive Vorannahme revidiert oder verworfen werden muss. Wir haben uns daher im Weiteren mit einem Wortbegriff zu begnügen, der keinem streng wissenschaftlichen, nach notwendigen und hinreichenden Merkmalen bestimmbaren Terminus entspricht, sondern der zwischen zentralen und peripheren Vertretern der Kategorie unterscheidet und insofern Züge eines Alltagskonzepts trägt. Zum Zentrum der lexikologischen Kategorie ,Wort‘ gehören Inhaltswörter, und zwar vorzugsweise solche, die als Ganzheiten im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Funktionswörter, Namen, ad-hoc-Bildungen und Phraseologismen sind dagegen der Peripherie zuzurechnen. Als primären Beschreibungsgegenstand der Lexikologie haben wir hier das Lexem identifiziert. Darunter ist eine abstrakte Wortschatzeinheit zu verstehen, die in verschiedenen Wortformen und grammatischen Funktionen realisiert sein kann. Ein Lexem ist zudem Träger von Bedeutung, und zwar im Idealfall Träger einer einzigen Bedeutung bzw. eines eng zusammengehörigen Bedeutungskomplexes. Mit diesen Begriffsklärungen ist vorläufig eine Basis geschaffen, auf der wir Lexikologie als Wissenschaft vom Wort und Wortschatz betreiben können.

2.6 Fazit

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Lektürehinweise

Die einzelnen Tests zur Abgrenzung des Begriffs ,Wort‘, vor allem die Distributionstests, werden in dem Beitrag von Haspelmath (2011) ausführlich diskutiert. Hier geht es auch um die Frage, ob ein übereinzelsprachlicher Wortbegriff möglich ist. Dieses Problem wird auch in Dixon/Aikhenvald (2007) behandelt. Zur vertiefenden Lektüre empfohlen seien ferner Bauer (2000), Basbøll (2000) und Wurzel (2000). Wer sich für die Herkunft des Wortes Wort und vergleichbarer Ausdrücke anderer indogermanischer Sprachen (z. B. lat. verbum) interessiert, sei auf den Beitrag von Haebler (2002) sowie den etwas veralteten, aber immer noch sehr nützlichen Wörterbucheintrag in DSSPIL 1261 f. verwiesen.

- Übungsaufgaben 1. Zählen Sie a) die Wortformen, b) die syntaktischen Wörter, c) die Lexeme, die in den unterstrichenen Substantiven des folgenden Satzes enthalten sind: Hunde beißen Katzen, Katzen kratzen Hunde, Hamster tun Hunden und Katzen nichts zu Leide 2. a) Wort hat zwei Pluralformen: Worte und Wörter. Gibt es semantische Unterschiede zwischen beiden Formen? Wenn ja, welche? b) Informieren Sie sich in einem einschlägigen Wörterbuch (z. B. Pfeifer, 1DWB) über die Geschichte dieser Pluralformen. c) Überprüfen Sie anhand von Korpora (s. auch Kap. 8.5), durch Befragung von Sprechern oder durch eigene Beobachtung, wie beide Pluralformen heute verwendet werden. Was sagt das jeweilige Ergebnis über das alltagssprachliche Verständnis von ,Wort‘ aus? 3. In der Schreibung von Laien werden die Bestandteile von Komposita häufig durch Spatien getrennt: Susi‘s Frisier Boutique, erster Kindergarten Tag. Welche Aufschlüsse über das alltagssprachliche Wortverständnis erlauben solche „Fehler“? Tragen Sie dazu zunächst weitere Beispiele zusammen! 4. Diskutieren Sie, inwieweit es sich bei Lothar Matthäus in der Selbstaussage Ein Lothar Matthäus spricht kein Französisch noch um einen Namen handelt. Suchen Sie nach vergleichbaren Ausdrücken zur Unterstützung Ihrer Hypothese. Was bedeutet die Konstruktion „ein + Personenname“? 5. Adjektive stehen typischerweise nicht allein, sondern in Verbindung mit Substantiven. Legen Sie dar, ob es sich bei Adjektiven grundsätzlich um Synsemantika oder um Autosemantika handelt.

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3. Die Wortbildung Das Wort ist im vorangehenden Kapitel als Sprachzeichen eingeführt worden, das, wie jedes Zeichen, eine Formseite (Ausdrucksseite) und eine Inhaltsseite besitzt. Die Beschreibung der Inhaltsseite von Wörtern, die lexikalische Semantik, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der Lexikologie. Diese wird ihr jedenfalls von keiner anderen Disziplin abgenommen oder streitig gemacht. Die formalen Aspekte des Wortes werden hingegen zu einem großen Teil auch in anderen sprachwissenschaftlichen Disziplinen behandelt, d. h. in der Phonologie, der Morphologie und auch in der Syntax, und dies natürlich viel tiefgehender, als es der Lexikologie möglich ist. Daher können wir uns hier auf den wichtigsten Bereich, die Wortbildung, beschränken.

3.1 Grundformen der Wortbildung ein ,Bauplan‘ für Wörter

Grundtypen der Wortbildung

In der Morphologie (z. B. Vogel/Sahel 2013) lernt man, wie durch die Verfahren der Segmentierung und Klassifikation die Morpheme als die elementaren Bausteine von Wörtern ermittelt werden können. Ein brauchbarer ,Bauplan‘ für Wörter liegt damit allerdings noch nicht vor. Diesen liefert die Wortbildungslehre. Die Wortbildungslehre beschreibt, kurz gesagt, wie aus bestehenden Wörtern neue Wörter gebildet werden. Genauer müsste man allerdings sagen, dass die Wortbildung beschreibt, wie aus Morphemen neue Lexeme gebildet werden. Dass Morpheme und nicht Lexeme vorliegen, ist leicht einzusehen: Das Erstelement in Schreibarbeit ist das Basismorphem schreib-, nicht das Lexem schreiben (es heißt ja nicht *Schreibenarbeit). Dies im Hinterkopf behaltend, werden wir im Weiteren der Einfachheit halber trotzdem gelegentlich davon sprechen, dass ein Wort mit einem anderen Wort zusammengesetzt ist oder ein Wort von einem anderen abgeleitet ist, obwohl es korrekterweise ,Stamm‘, ,Verbalstamm‘ oder ,Nominalstamm‘ heißen müsste. Das am meisten genutzte Mittel der Wortbildung ist die Erweiterung eines Basismorphems, und zwar typischerweise entweder um ein weiteres Basismorphem (Tür > Haustür) oder um ein Affix (Mut > mut-ig). Etwas seltener gegenüber der Basiserweiterung ist die bloße Übertragung eines Basismorphems in eine andere Wortart (treffen > Treff), noch seltener die Kürzung (Omnibus > Bus) und die Vermischung (Kurlaub < Kur und Urlaub). Die im Einzelnen vorzustellenden Wortbildungsmuster lassen sich daher zunächst folgenden Grundtypen zuordnen:

3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition

Abb. 1: Grundtypen der Wortbildung (vgl. auch Erben 2000: 29; Lühr 1986: 149)

Von der Wortbildung ist grundsätzlich die Wortschöpfung zu unterscheiden. Hier werden Wörter nicht auf der Grundlage bereits bestehender Wörter gebildet, sondern erfunden oder als Nachahmungen von Lauten geschaffen (Kuckuck, platsch, dingdong). Im letzten Fall spricht man auch von ,Onomatopoetika‘. Wortschöpfungen finden sich häufig in der Werbesprache, etwa bei Produktbezeichnungen (Koleos, Twix), oder in Literatur und Film (Warp, Ork).

3.2 Ausdruckserweiterung und -transposition 3.2.1 Die Komposition Wird ein Basismorphem an ein anderes gehängt, spricht man von Komposition (zu lat. componere ,zusammensetzen, -stellen‘). Meist werden Substantive miteinander verbunden: Haustür, Tischbein, Autodach, Regenschirm etc. Neben diesem äußerst produktiven Typus gibt es auch das Muster Adjektiv + Substantiv: Altmeister, Gutmensch. Auch Komposita mit adjektivischem Letztglied kommen in großer Zahl vor: stadtbekannt, knittersicher, hautfreundlich, stressgeplagt, deutsch-französisch, geistig-moralisch. Für verbale Komposita finden sich nur wenige Beispiele (vielleicht mähdreschen aus mähen und dreschen, s. dazu aber auch die unten angesprochene Rückbildung). Man kann folgende Typen von Komposita unterscheiden: – Determinativkompositum: Brautschuhe, Haustür, Schultasche, gehfähig, knittersicher. Hier bestimmt (determiniert) das erste Kompositionsglied (,Bestimmungswort‘) das zweite Glied (,Grundwort‘). Dabei gibt das Grundwort die Klasse an, der der jeweilige Gegenstand oder Sachverhalt zuzurechnen ist, durch den das gesamte Wort bezeichnet wird (Schuh, Tür, sicher usw.). Das Bestimmungswort dagegen spezifiziert die Subklasse, zu der das Gemeinte gehört: ,Haustür ist eine bestimmte Art von Tür‘ etc. Das Grundwort legt natürlich auch die grammatische Eigenschaften (Genus, Flexionsklasse) des gesamten Kompositums fest: Es heißt die Haustür nach Tür und nicht *das Haustür. Das Element -tür ist in diesem Fall also der sog. ,Kopf‘ des gesamten Wortes. Da der Kopf des Wortes bei deutschen Determinativkomposita immer das am weitesten rechts stehende Basismorphem ist, spricht man auch vom Prinzip der Rechtsköpfigkeit. – Rektionskompositum: Museumsbesucher, Käseverkäufer, Gemüsehändler, Kindererziehung, herzzerreißend. Hier steht das Bestimmungswort in

Wortschöpfung Onomatopoetika

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3. Die Wortbildung

einer syntaktischen Beziehung zum Grundwort: Ein Museumsbesucher ist ,jmd., der ein Museum besucht‘, wobei Museum als Objekt zu besucht fungiert, ein Gemüsehändler ,jemand, der mit Gemüse handelt‘, herzzerreißend ist ,etwas, das das Herz zerreißt‘ (vgl. Vater 1994: 87). – Possessivkompositum: Spatzenhirn, Grünschnabel, Leichtfuß, Weißkittel, Blauhelm, Rothemden. Hier wird zwar wie bei den Determinativkomposita das Letztglied durch das Erstglied bestimmt; die Bedeutung des Kompositums ist jedoch nicht ,Hirn eines Spatzen‘, ,grüner Schnabel‘ etc., sondern ,jemand, der ein Spatzenhirn, einen grünen Schnabel hat‘, ,jemand, der einen blauen Helm hat bzw. trägt‘. Wegen der für diesen Typus charakteristischen Möglichkeit einer Bedeutungsumschreibung mittels ,haben‘ spricht man hier von einem ,Possessivkompositum‘ (eine weiterführende Erörterung zu diesem Typus bietet Pittner 2013: 58). Während bei den drei bisher genannten Typen von Komposita ein Determinationsverhältnis zwischen Erst- und Letztglied vorliegt, zeigen die folgenden Bildungen eine anders geartete Relation zwischen den beteiligten Basen: – Kopulativkompositum: deutsch-französisch, schwarz-rot-gold, Marxismus-Lenismus, Dichterkomponist. Die Konstituenten sind gleichwertig und bilden eine semantische Addition. Im Unterschied zu den Determinativkomposita könnten die Konstituenten prinzipiell sogar umgestellt werden, ohne dass sich die Bedeutung änderte. – Zusammenrückung: Gernegroß, Habenichts, Schlagetot, Stelldichein, Vergissmeinnicht, Muttergottes, Gottseibeiuns, seinerzeit, imstande. Dieser Typus befindet sich im Übergang von einem Syntagma zu einem Wortbildungsprodukt. Die Zusammenrückung enthält daher oft noch syntaktische Spuren. So sind teils Flexionselemente erkennbar (seinerzeit, Vergissmeinnicht), und auch die Reihenfolge der Wörter entspricht häufig der Anordnung im Satz (Habenichts wie ich habe nichts). Produktivität

Die einzelnen Arten der Komposition sind unterschiedlich produktiv. Während die Determinativkomposition nahezu unbegrenzte Wortbildungsmöglichkeiten eröffnet, handelt es sich bei den Possessivkomposita und den Zusammenrückungen um Bildungsweisen, nach deren Muster nur relativ wenige neue Wörter gebildet werden.

3.2.2 Die Ableitung Die Zusammenfügung zweier oder mehrerer lexikalischer Stämme bildet die eine wichtige Art der Wortbildung. Sie ist gerade für das Deutsche kennzeichnend, im Gegensatz etwa zum Französischen oder Italienischen, die sich bei der Schaffung komplexer Ausdrücke eher syntaktischer Mittel bedienen (vgl. dt. Geschäftsmann vs. frz. homme d’affaires, ital. uomo d’affari). Die andere wichtige Art der Wortbildung ist die Ableitung (häufig auch ,Derivation‘ genannt). Bei der Ableitung wird ein neues Wort mit Hilfe von grammatischen Morphemen (schön > unschön, Fleisch > fleischlich, fleischlos) oder mittels einer Änderung der Basis gebildet (trinken > Trunk, werfen > Wurf), wobei das zuletzt genannte Muster nicht mehr produktiv

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